Niemand kennt mich so wie du - Anna McPartlin - E-Book
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Anna McPartlin

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Beschreibung

Die erste Liebe. Der größte Schmerz. Eve und Lily waren von klein auf ein Herz und eine Seele. Doch dann, an der Schwelle zum Erwachsenwerden, zerrissen die Ereignisse eines Sommers das Band, das sie zusammenhielt. Seitdem haben sie sich nicht wiedergesehen. Zwanzig Jahre später überlebt Eve nur knapp einen schweren Unfall. Als sie erwacht, steht eine Krankenschwester an ihrer Seite – Lily. Beide merken schnell: Jede wünscht sich sehnlichst die Freundin aus vergangenen Tagen zurück. Doch die alten Wunden sind nicht verheilt, und Lily ist noch immer mit dem Mann verheiratet, den Eve so sehr hasst…

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Anna McPartlin

Niemand kennt mich so wie du

Roman

 

 

Aus dem Englischen von Sabine Längsfeld

 

Über dieses Buch

Die erste Liebe.

Der größte Schmerz.

Eve und Lily waren von klein auf ein Herz und eine Seele. Doch dann, an der Schwelle zum Erwachsenwerden, zerrissen die Ereignisse eines Sommers das Band, das sie zusammenhielt. Seitdem haben sie sich nicht wiedergesehen.

Zwanzig Jahre später überlebt Eve nur knapp einen schweren Unfall. Als sie erwacht, steht eine Krankenschwester an ihrer Seite – Lily. Beide merken schnell: Jede wünscht sich sehnlichst die Freundin aus vergangenen Tagen zurück. Doch die alten Wunden sind nicht verheilt, und Lily ist noch immer mit dem Mann verheiratet, den Eve so sehr hasst…

Vita

Anna McPartlin wurde 1972 in Dublin geboren und verbrachte dort ihre frühe Kindheit. Wegen einer Krankheit in ihrer engsten Familie zog sie als Teenager nach Kerry, wo Onkel und Tante sie als Pflegekind aufnahmen. Nach der Schule studierte Anna ziemlich unwillig Marketing. Nebenbei stand sie auch als Comedienne auf der Bühne, doch ihre wahre Liebe galt dem Schreiben, das sie bald zum Beruf machte. Bei der künstlerischen Arbeit lernte sie ihren späteren Ehemann Donal kennen. Die beiden leben heute zusammen mit ihren drei Hunden und zwei Katzen in Dublin.

Bereits ihr Debüt «Weil du bei mir bist» war international ein Bestseller. Mit dem Roman «Die letzten Tage von Rabbit Hayes», in dem Anna McPartlin viel von ihrer eigenen Vergangenheit verarbeitet hat, rührte und begeisterte sie unzählige Leserinnen und Leser und landete einen Riesenerfolg.

Für alle meine Freunde.

Die Welt wäre ein trostloser Ort ohne euch.

1Darf ich vorstellen? Die einzigartige Eve Hayes!

SONNTAG, 1. JULI 1990

 

Liebe Lily,

du bist gerade mal eine Woche weg, und mir kommt es vor wie ein Jahr! Also, was gibt’s Neues an der Heimatfront? Eigentlich nicht viel. Kennst du den Spinner, der in der Bowlingbahn arbeitet? (Ich meine den, der aussieht wie Glenn Medeiros, nicht den Popelfresser.) Der ist mir von der Pommesbude bis zum Hafen nachgelaufen. Ich konnte ihn die ganze Zeit hinter mir spüren, aber ich habe mir nichts anmerken lassen. Doch dann wurde es langsam dunkel, und es war niemand sonst in der Nähe. Also habe ich mich zu ihm umgedreht und gefragt: Was willst du? Er zeigte auf sein Fahrrad, das direkt vor mir angekettet war, und sagte: Mein Fahrrad. ECHT PEINLICH! Wir haben uns dann über Musik unterhalten, er ist REM-Fan (Gähn! Wie alle), und auf einmal hat er gesagt, dass er mich mag! Einfach so. Ich habe ihm gesagt, er wäre mir zu klein. War das fies von mir? Du bist schließlich mein Filter, wenn es um soziale Kontakte zur Arbeiterklasse geht. Er sah gekränkt aus, aber mein Gott, ich bin nun mal eins achtzig. Und er? Eins fünfundsechzig, wenn’s hochkommt? Wir würden dermaßen doof zusammen aussehen! Außerdem ist er schräg drauf. Und dann sagte er – und ich lüge jetzt nicht: Im Liegen wären wir gleich groß!!! Kannst du das glauben, Lily? Der redet von Sex! Frechheit! Also habe ich gesagt, ich fände, er wäre schräg drauf, und das hat er natürlich abgestritten. Er meinte, er wäre einfach anders, und anders zu sein wäre sexy. Glaubst du das? Schon klar, habe ich gesagt, aber nur, wenn anders bedeuten würde, in irgendwas megamäßig gut zu sein oder absolut originell und eine Vision zu haben, aber nicht, sich eine Dauerwelle legen zu lassen, in den Blusen seiner Schwester rumzulaufen und an irgendwelchen Straßenecken grottenschlechte Gedichte in die Welt rauszuposaunen. Das hat gesessen. Das mit der Dauerwelle und den Blusen schien ihn nicht zu tangieren, aber das mit den Gedichten hat ihn echt getroffen. Ich habe sofort ein schlechtes Gewissen bekommen, weil er aussah, als hätte ich ihn mit einer Nadel gepiekt. Ich habe mich entschuldigt, aber er sah trotzdem aus, als würde er gleich anfangen zu heulen. Er nannte mich eine eingebildete dumme Ziege und raste davon. Ich setzte mich auf eine Mauer und wollte meine Pommes essen, aber die waren inzwischen kalt geworden, sodass ich den Großteil an einen Hund verfüttert habe, der am Strand die Scheiße von anderen Hunden gefressen hat. Dann kamen Gar, Declan und Paul vorbei. Declan geht es echt schlecht ohne dich. Er wollte wissen, ob ich was von dir gehört habe. Ich sagte, nur den einen Anruf Mittwochabend aus der Telefonzelle, und er meinte, da hättest du ihn auch angerufen.

Und, wie läuft’s da unten in Dingle so? Klappt es mit dem Kellnern schon besser? Verdienst du genug Kohle, um zu bleiben? Ich vermisse dich total. Ich bin hier so einsam ohne dich. Gar versucht die ganze Zeit, wieder mit mir zusammenzukommen. Ich habe zwar echt kein Interesse daran, aber – bitte schlag mich jetzt nicht – ich habe ihn gestern Abend trotzdem geküsst. Ich war ein bisschen betrunken, und er war so nett und sagte, meine Augen würden so grün leuchten wie Smaragde. Ich weiß schon – würg! –, aber wenn man blau ist, fühlt man sich bei solchen Sachen ganz toll. Na ja, wenigstens fühlte ich mich toll, bis wir uns geküsst haben und mir klarwurde, dass ich das echt nicht noch mal will. Ich mag Gar wirklich gern, als Freund und so, aber mehr auch nicht. Ich habe irgendeine Ausrede erfunden und gesagt, dass ich leider gehen müsste, und jetzt bleibt mir nichts anderes übrig, als ihm nüchtern unter die Augen zu treten und ernsthaft mit ihm zu sprechen!

Meinst du, du kannst im August nach Hause kommen – vorausgesetzt, das Trinkgeld stimmt und es gelingt dir bis dahin, genug auf die Seite zu schaffen? Ich kann einfach nicht glauben, dass das wirklich unser letzter gemeinsamer Sommer sein könnte, und du bist da unten und ich hier oben. Ohne dich ist alles so unglaublich langweilig. Ich weiß, dass deine Mutter pleite ist, aber könnte sie deinen Vater nicht um etwas Geld bitten? Es kann doch nicht so schwer sein, in Griechenland anzurufen und ihn daran zu erinnern, dass er in Irland eine Tochter hat, die aufs College gehen möchte und Unterstützung bei den Studiengebühren braucht? Es ist ja nicht gerade so, als wäre er jemals für dich da gewesen, und ich weiß, wie weh dir das tut, und es tut mir auch leid, dass ich davon anfange, aber es muss nun mal gesagt werden. Das ist er dir schuldig.

Ich nutze die Zeit, um zu recherchieren. Ich verbringe meine Tage oft in der Bücherei. Die Jungs glauben schon, ich wäre endgültig übergeschnappt, aber ich liebe die Bücherei. Ich habe viel über die Mode im Laufe der Jahrhunderte gelesen. Es ist echt interessant. Um mich darüber hinwegzutrösten, dass du weg bist, hat Dad mir eine neue Nähmaschine gekauft. Die ist viel besser als meine alte, und letzten Donnerstag habe ich mir bei der Wohlfahrt jede Menge viel zu große Klamotten gekauft. Die trenne ich auf und nähe sie neu. Bis jetzt würde ich die Sachen, die ich genäht habe, allerdings nicht mal tragen, wenn ich tot bin – dazu ist das Material viel zu geschmacklos, aber so habe ich wenigstens was zu tun.

Clooney ist so gut wie nie zu Hause, und falls ich ihn doch mal sehe, hat er jedes Mal ein anderes Mädchen dabei. Dad findet das offensichtlich lustig. Ich nicht. Er hat sich total verändert, und seit er bei diesem bescheuerten Collegesender angefangen hat, rennt er durch die Gegend, als wäre er Bono persönlich. Lächerlich! Die, die er gestern dabeihatte, war vielleicht drauf! Wilde schwarze Locken, als hätte Kate Bush in die Steckdose gefasst, eine Million Armreifen und ein T-Shirt, das seit mindestens einem Jahr nicht mehr gewaschen wurde. Sie haben zusammen in seinem Zimmer übernachtet, weil Dad nicht da war. Ich frage mich, ob Dad das auch noch so lustig fände. Das kommt mein Brüderchen teuer zu stehen! Das nächste Mal, wenn er mich nervt, verlange ich zwanzig Mäuse Schweigegeld. Und sie nennt ihn Puschelchen!!! Kannst du das fassen? Wirklich widerlich. Ich habe gestern Abend noch mal «Young Guns 2» gesehen (extra laut aufgedreht). Also, sag mir bitte, mit wem du gehen würdest, in absteigender Reihenfolge:

Emilio Estevez, Kiefer Sutherland, Lou Diamond Phillips, Christian Slater.

Meine Liste sieht so aus:

Emilio Estevez (sehr süß, auf ernste Weise)

Lou Diamond Phillips (exotisch)

Kiefer Sutherland (In «Lost Boys» hat er mir gefallen, aber in «Young Guns 2» war er einfach nur so dabei.)

Christian Slater (Redet der echt so?)

Also, ich muss Schluss machen, ich trenne gerade eine Latzhose in Größe 48 auf. Keine Ahnung, was ich daraus mache, aber ich hoffe auf mindestens drei neue Teile.

 

ICH VERMISSE DICH, ICH VERMISSE DICH, ICH HAB DICH LIEB.

Deine beste Freundin Eve

PS: Paul hat mir erzählt, dass Glenn Medeiros aus der Bowlingbahn (sein echter Name ist Ben Logan) diese Gedichte über seine tote Schwester schreibt. Jetzt habe ich erst recht ein schlechtes Gewissen. Sie ist mit zehn Jahren gestorben. Darum geht es in diesem Gedicht (das er immer mit dieser komischen Stimme wiederholt) – zehn, zehn, alles dahin. Ich finde es immer noch schräg. Ich vermisse meine Mum auch, trotzdem schreibe ich keine Gedichte über ihren Tod.

 

Damals, ich war fünf, war meine Mutter noch am Leben, doch kaum wurde ich sieben, hat es sie nicht mehr gegeben!

 

PPS: Wie ist das Wetter da unten eigentlich? Hier regnet es seit drei Tagen durch. Ich habe die Nase voll von nassen Haaren. Denke ernsthaft über einen Sinéad-O’Connor-Look nach. So viel zum Sommer.

***

Am 1. Juli 2010 und zwanzig Jahre, nachdem die achtzehnjährige Eve Hayes an einem regnerischen Sonntagnachmittag an ihrem Schreibtisch gesessen und ihrer besten Freundin Lily Brennan einen Brief geschrieben hatte, saß eine sehr viel ältere und klügere Eve an genau demselben Tisch. Es regnete, wie es in all den Jahren zuvor geregnet hatte. Eves Gedanken kehrten wie so oft, wenn sie traurig oder einsam war, zu jenem Sommer zurück. Damals kam einem eine Woche noch wie ein ganzes Jahr vor. Bei der Erinnerung an die übertriebene Verzweiflung in ihr musste sie lächeln. Sie hatte ihre beste Freundin dermaßen vermisst, dass ihr das Herz weh tat und sie wie ein Zombie durch die Gegend lief, weil sie wegen eingebildeter Zwiegespräche mit Lily nachts kaum zum Schlafen kam. In Gedanken sagte Eve zum Beispiel: He, Lily, nächstes Jahr um diese Zeit sind wir …, und die Lily in ihrem Kopf beendete ihren Satz mit: Millionäre. Sie waren beide große Fans der Fernsehserie Only Fools & Horses und kannten sämtliche Dialoge auswendig. Eve nannte Lily Dusselchen, woraufhin die Lily in ihrem Kopf Eve als dreiste alte Schachtel bezeichnete. Wenn es Eve zu langweilig wurde, sich im Grunde selbst zu beschimpfen, erzählte sie der Lily in ihrem Kopf sämtliche Kleinigkeiten und widrigen Ereignisse aus ihrem Alltag. Sie schilderte ihr zum Beispiel den Morgen, als sie dachte, ihr Bruder Clooney wäre auf dem Klo gestorben, weil er nicht antwortete, als sie unter wüsten Beschimpfungen gegen die Tür hämmerte. Mit überkreuzten Beinen stand sie vor dem Bad, hielt sich den Bauch und überlegte, ob sie lieber in die Spüle oder unter den Baum im Garten pinkeln sollte. Die Spüle siegte. Kannst du das glauben, Lily? Ich habe in unsere Küchenspüle gepinkelt. Der Garten ging auf gar keinen Fall, weil man von den Noonans aus zuuns rüberschauen kann und wir schließlich alle wissen, dass Terry «der Tourist» ein perverser Spanner ist, der ständig sein Fernglas und die alte Polaroidkamera zur Hand hat. Ich wollte nicht riskieren, dass mein Hinterteil künftig seine Wände ziert! Eve erinnerte sich daran, dass Clooney, zehn Minuten, nachdem sie in die Spüle gepinkelt hatte, mit einem Mädchen und selbstgefälligem Blick im Gesicht aus dem Bad kam, während sie bis zu den Ellbogen in Desinfektionsmittel und Seifenlauge steckte. Sie hätte ihm am liebsten eine gescheuert, doch diesen Wunsch hatte die achtzehnjährige Eve sehr häufig, was den zwanzigjährigen Clooney betraf. Stattdessen schrie sie nur, sie würde alles ihrem Vater erzählen, sobald der nach Hause käme. Clooney lachte sie aus, und als sie der Lily in ihrem Kopf davon erzählte, lachte die ebenfalls. Lily und Clooney hielten zusammen wie Pech und Schwefel.

Damals hatte Lily sich auf den Rat der Beratungslehrerin Mrs. Moriarty hin entschieden, an die medizinische Hochschule zu gehen und Medizin zu studieren. Ihr gefiel die Vorstellung, Ärztin zu sein, aber sie wollte niemanden aufschlitzen, und Gynäkologin zu werden kam erst recht nicht in Frage, weil sie und Eve der einhelligen Meinung waren, dass der weibliche Intimbereich ekelhaft war. Außerdem war die Arbeit als Allgemeinmedizinerin kinderfreundlicher. Solange Eve denken konnte, wollte Lily Mutter werden, und die beiden waren schon als Krabbelkinder Freundinnen. Lily spielte mit ihrer Puppe, bis sie zehn Jahre alt war. Ihre Puppe hieß Layla, und Lily behandelte sie wie einen echten Menschen. Als Lilys Lehrerin Mrs. Marsh anfing, sich Sorgen zu machen, Layla könnte Lily in ihrer psychologischen Entwicklung behindern, machte Lilys Mutter dem Unsinn ein Ende und gab die Puppe der Caritas. Lily weinte eine ganze Woche lang, und Eve versuchte, sie zu trösten, indem sie ihr ihren eigenen kostbaren Stoffaffen schenkte, doch schon während sie Lily das Äffchen in den Arm drückte, wurde ihr klar, dass Layla unersetzlich war. Also nahm Eve ihr Äffchen wieder mit nach Hause, drückte es die ganze Nacht lang an sich und versprach, es niemals wieder herzugeben.

Eve war schon immer fest entschlossen gewesen, Designerin zu werden. Sie nähte, seit sie zwölf war. Sie liebte es, sich Stoffe zu besorgen, zu zeichnen und zu nähen. Unnötig zu erwähnen, dass die kleine, zierliche Lily, die selbst aussah wie ein Puppe, das perfekte Modell war. Mochten Design oder Zusammenstellung auch noch so schrecklich sein, Lily trug Eves Kreationen immer. Eves Arbeit wurde über die Jahre immer besser. Nach fünf Jahren gewann sie ihren ersten Designpreis und durfte daraufhin vier Debütantinnenkleider entwerfen und im Auftrag einer Cousine zweiten Grades ihres Vaters ein Kommunionskleid. Noch ehe sie ihr Abschlusszeugnis in Händen hielt, hatte sie sich mit dem bequemen Polster eines ansehnlichen Wertpapierdepots im Rücken einen Studienplatz am St. Martin’s College of Design in London gesichert. Lily war das klügste Mädchen der Klasse. Sie meisterte die Schule, ohne sich groß anzustrengen, und konnte daher neben dem Unterricht Kurse in Fotografie, Kunst und Klavier belegen. Sie war in allem, was sie tat, einfach gut, und das galt, sehr zu Eves Entrüstung, sogar fürs Nähen. Doch ihr fehlte Eves kreative Ader, und so kamen sie sich nie in die Quere.

«Du wirst mal den ganz großen Durchbruch schaffen», sagte Lily immer zu Eve.

«Ja», stimmte Eve ihr dann zu. «Coco Chanel hat jetzt schon die Hosen voll.»

Sie wussten beide, dass Lily, falls kein unvorhergesehener Hirnschaden dazwischenkam, den Medizinstudienplatz an der Universität ihrer Wahl bekommen würde. Sie machte ihre Präferenzen jedoch von der Entscheidung ihres Freundes Declan abhängig, was Eve wirklich auf die Nerven ging, weil Lily selbst nie auf die Idee gekommen wäre, Dublin zu verlassen, um aufs College zu gehen. Declan dagegen wollte unbedingt nach Cork. Eve hielt das für eine Ausrede, denn es war allgemein bekannt, dass es leichter war, an der UCC unterzukommen als an der UCD. Lily hätte die Aufnahme an der UCD oder am Trinity oder sogar am College of Surgeons mühelos geschafft, aber Declan würde schon alle Hebel der Welt in Bewegung setzen müssen, um auch nur in Cork aufgenommen zu werden. Sie hatten sich deswegen ernsthaft gestritten, doch Lily blieb stur und bestand darauf, sich am gleichen College zu bewerben wie Declan. Da Eve sowieso nach London gehen würde, so Lilys Argument, könne ihr schließlich völlig egal sein, wo Lily studierte, und so ließ Eve das Thema schließlich fallen. Und doch …

Es waren verheißungsvolle, aufregende Zeiten, und der einzige echte Unterschied zwischen den beiden Mädchen war die Tatsache, dass Lily verzweifelt erwachsen werden wollte, während Eve die Veränderungen nur widerwillig akzeptierte. Jener Sommer vor zwanzig Jahren hätte eigentlich ihr letzter gemeinsamer Sommer werden sollen, doch dann musste Lily Geld fürs College verdienen, und die einzige Möglichkeit dazu bestand darin, 366 Kilometer und eine ganze Welt weit entfernt im Süden des Landes im Restaurant ihres Onkels zu jobben. In den Jahren, die folgten, fragte Eve sich oft, was gewesen wäre, wenn sie Lily nachgereist wäre. Wären wir dann Freundinnen geblieben?Eve musste lächeln, als ihr das kleine Mantra wieder einfiel, das sie sich jeden Abend vor dem Einschlafen vorgesagt hatte. Gute Nacht, Lily. Ich vermisse dich, ich vermisse dich, ich hab dich lieb. Und kam zu dem Schluss, dass Teenager nicht ganz dicht waren.

Von ihrem alten Schreibtisch ging der Blick hinaus auf den Garten hinter dem Haus, auf die großen alten Bäume und das Schaukelgestell, und weiter zum Fenster des leeren Zimmers von Terry dem Touristen im Nachbarhaus hinüber. Sie hatte ihn seit Jahren nicht gesehen. Seine Familie war nach dem Schulabschluss umgezogen, und Gar hatte ihr erzählt, dass Terry inzwischen in England als Pressefotograf arbeitete, was ziemlich naheliegend war. Wozu in Kriegsgebieten Tote fotografieren, wenn man genauso gut das Kleid von irgendeinem Star vor dem Ivy ablichten kann?

Gedankenverloren fuhr Eve mit dem Finger die verblassten Buchstaben nach, die sie einst in mühevoller Kleinarbeit in die hölzerne Tischplatte geritzt hatte: BGML. Ben «Glenn Medeiros» Logan war im gleichen Moment in Eves Leben getreten, als Lily daraus verschwunden war. In jenem Sommer vor zwanzig Jahren hatte Eve sich verliebt, einen großen Fehler begangen, die Wahrheit gesagt, ihre beste Freundin verloren und war erwachsen geworden.

Das Haus war leer geräumt und der alte Schreibtisch das letzte Möbelstück, das die Umzugsleute aus dem Haus tragen würden. Sie machten gerade Pause, saßen auf der Ladefläche ihres Lastwagens und aßen Wurstbrötchen, während Eve ein letztes Mal das Haus durchstreifte, in dem sie aufgewachsen war. Sie verließ ihr altes Zimmer und ging die Treppe hinunter. Der rote Anstrich war verblasst, und dort, wo die Familienfotos gehangen hatten, waren unterschiedlich große, leuchtend rote Flecken an der Wand. Die Bilder hingen nicht mehr dort, doch Eve hatte sie trotzdem ganz deutlich vor Augen. Es gab ein ovales von ihrer Mutter, ihrem Vater, Clooney, Eve und Lily. Sie war zwei Jahre alt und saß auf den Schultern ihres Vaters. Eves Mutter hatte die Arme um den vierjährigen Clooney geschlungen, und Lily hielt Clooneys Hand. Es war ein Sommer in den Siebzigern, sie standen sommersprossig unter einem riesigen blauen Himmel, und bis auf Eve lächelten die Anwesenden breit wie die Grinsekatze aus Alice im Wunderland. Über dem ovalen Fleck hatte früher ein Foto von Clooney und Eve gehangen, Arm in Arm in ihren Schuluniformen, aufgenommen an Eves erstem Tag an seiner Grundschule. Clooney sah aus, als würde er sich furchtbar freuen, und hielt Eve fest gedrückt, nur dass er dadurch wirkte wie ein Grizzlybär mit seiner Beute. Eve war unglücklich und versuchte, sich zu befreien. Den Platz des größten roten Rechtecks hatte früher das Familienporträt eingenommen, das Eves Vater in Auftrag gegeben hatte, als ihre Mutter krank geworden war. Die Familie saß im Sonntagsstaat aufgereiht auf dem Sofa. Mum saß am einen Ende, Dad am anderen, und Clooney und Eve dazwischen. Clooney hielt seine Schwester an der Hand, und die ganze Familie lächelte; nur Eve machte ein mürrisches Gesicht. Sie war sechs gewesen und Clooney acht, und sie erinnerte sich noch genau daran, wie entnervt der Fotograf gewesen war, weil sie sich weigerte zu lächeln, wenn er «Cheese» sagte.

«Wenn man Cheese sagt, muss man einfach lächeln», sagte er.

«Das ergibt doch keinen Sinn», antwortete Eve.

«Warum möchtest du denn nicht lächeln?»

«Weil mir nicht danach ist.»

«Wenn du nicht lächelst, kann ich aber kein Bild von dir machen.»

«Können Sie wohl. Sie müssen nur den Knopf drücken.»

«Es ist doch nur für eine Sekunde. Davon fällt dir nicht gleich das Gesicht auseinander. Versprochen.»

«Mum? Wieso kann er nicht einfach seine Arbeit machen und wieder verschwinden?»

Ihre Mutter erklärte dem Mann, dass Eve es hasste, fotografiert zu werden.

«Wir haben alle unsere kleinen Macken», sagte sie, um Eves Launenhaftigkeit zu entschuldigen.

«Hören Sie, meine Liebe, ich verlange von dem Kind schließlich weder, ein Flugzeug zu fliegen, noch, in den Liffey zu springen. Ich möchte lediglich, dass sie ihre Mundwinkel in Richtung Augen hebt.»

Ihr Vater befahl Eve mit einem Tonfall zu lächeln, den er immer anschlug, wenn er es ernst meinte. Der Fotograf verharrte hinter der Kamera, und in dem Augenblick, als es «Klick!» machte, streckte Eve die Zunge heraus. Er blieb unbeeindruckt. Clooney fand es lustig. Ihr Vater ermahnte sie drohend, sich augenblicklich zu benehmen, aber Eve dachte nicht daran, und ihre Mutter war erschöpft, also wurde der Fotograf angewiesen, ein letztes Bild zu schießen, ob Eve lächelte oder nicht. Er tat, was von ihm verlangt wurde: Drei strahlten, als hätten sie gerade im Lotto gewonnen, und Eve machte ein Gesicht, als wäre eben jemand gestorben. So sah sie auf den meisten Fotos aus, und würde man nach diesen Aufnahmen urteilen, könnte man meinen, Eve wäre eine übellaunige kleine Heulsuse gewesen, doch das Gegenteil stimmte. Die meiste Zeit war sie vom Leben, von sich selbst und der Welt, die sie umgab, entzückt. Dieses Entzücken verschwand nur, wenn eine Kamera auf sie gerichtet war. Doch nach dem Tod ihrer Mutter wurden diese Gelegenheiten selten, denn wie sich herausstellte, hasste Eves Vater Fotoapparate ebenso sehr, wie seine Tochter es tat, und so hatte selbst dieses Unglück sein Gutes gehabt.

Eve ging von Zimmer zu Zimmer, schritt über den alten Holzfußboden und ließ ihren Erinnerungen freien Lauf. Obwohl die Küche inzwischen renoviert worden war, glitt Eve mühelos in der Zeit zurück, als sie die Augen schloss und ganz still in der Mitte des Raumes verharrte – dort, wo früher der große Esstisch gestanden hatte. Sie hatte den Geruch der angebrannten Chilitomatensoße in der Nase, an der ihr Vater sich versucht hatte. Sie sah ihn, wie er sich in seiner mit Marienkäfern bedruckten Schürze über den Topf beugte und hektisch rührte. Er war voller Soßenspritzer und warf Nudeln an die Wand, weil er darauf beharrte, dass sie fertig waren, wenn sie kleben blieben.

«Kinder! Gleich fliegt hier alles an die Decke!»

Dann sah sie Clooney, Eve und Lily am Esstisch sitzen. Ihr Vater nahm ein altes Radio auseinander, das er in einer Mülltonne gefunden hatte, und aß gleichzeitig mit einer Hand. Sie konnte sogar das Radio hören, das er auf wunderbare Weise repariert hatte, während er gleichzeitig einen Teller klebrige Nudeln mit angebrannter Soße vertilgte. Eves Vater hatte immer sein Bestes gegeben, und seine Kinder hatten im Grunde nicht sonderlich unter seiner mangelnden Kochkunst gelitten, denn sie kannten es nicht anders, weil auch ihre Mutter keine große Köchin gewesen war. Eve hatte einmal mitbekommen, wie ihre Tante zu ihrem Onkel Rory sagte: «Du lieber Gott, diese Kinder würden sogar gebratenen Mist essen, wenn ihr Vater ihn lächelnd serviert.» Sie hatte recht, und die arme Lily, tja, für sie strahlte Eves Vater sowieso wie Sonne, Mond und Sterne zugleich. Er war lieb zu ihr und machte sie stillschweigend zu einem Mitglied seiner Familie. Sie nannte ihn nicht nur Danny, weil er Danny hieß, sondern auch, weil Danny fast wie Daddy klang. Und weil Eve ihrer Freundin, so lange sie denken konnte, schon immer alles nachgemacht hatte, wurde ihr Vater auch für sie schon früh zu Danny. In diesem Haus gab es keine einzige Erinnerung, die Lily nicht auf irgendeine Weise mit einschloss.

Eve trat an die Glastüren, die auf die gepflasterte Terrasse hinausführten, und fing auf einmal an, die Melodie von Paul Youngs und Zuccheros Senza Una Donna vor sich hin zu summen. Sie musste daran denken, wie Clooney stattdessen immer «Scent of Madonna», also Geruch von Madonna, gesungen hatte, um Lily zum Lachen zu bringen und Eve zu nerven. Eve war als Teenager leicht zu nerven gewesen.

«Scent of Madonna, gives me pain and some sorrow, scent of Madonna, she’ll still smell bad tomorrow.»

«Arsch!»

«Evey, du sollst nicht Arsch zu deinem Bruder sagen!»

«Dann sag ihm, er soll aufhören, sich wie einer zu benehmen.»

«Clooney, hör auf, deine Schwester zu nerven!»

«Ich singe doch nur!»

«Nein, du gehst mir auf die Nerven!», sagte Eve.

«Davon geht doch die Welt nicht unter, Evey.»

 

Der Garten war zugewuchert, das alte Baumhaus stand schon lange nicht mehr, aber die große alte Eiche gab es immer noch. Eve lehnte sich gegen den Stamm und betrachtete das Haus, in dem sie aufgewachsen war. Sie erinnerte sich daran, dass ihre Mutter vor ihrem Tod monatelang nur im Schlafzimmer gewohnt hatte. Als es mit ihr zu Ende ging, durfte Eve sie einmal am Tag für ein paar Minuten besuchen. Sie kam nie ohne Lily, die stumm am Bett stand und Eves Mutter die Hand streichelte.

«Wie geht es dir, Mum?»

«Gut», pflegte ihre Mutter mit einem strahlenden Lächeln zu antworten.

«Du siehst aber nicht gut aus.»

«Nein.»

«Du siehst komisch aus.»

«Hab keine Angst.»

«Ich habe keine Angst. Ich bin traurig.»

Eves Vater hatte oft versucht, ihr beizubringen, dass es nicht immer klug war, alles, was sie dachte, laut auszusprechen, vor allem wenn es ihre kranke Mutter zum Weinen brachte. Die Kunst feiner Andeutungen hatte sich Eve bis heute nicht erschlossen.

Sie setzte sich auf die alte Holzschaukel, auf der Lily und sie fast jeden regenfreien Tag gesessen hatten, bis sie mit zwölf fürs Schaukeln zu cool geworden waren. Eigentlich hätte die Schaukel nach dreißig Jahren morsch und völlig unsicher sein müssen, doch ihr Vater hatte sich die ganzen Jahre darum gekümmert. Das Gerüst war fest in die Erde zementiert und fügte sich ebenso selbstverständlich in die Landschaft ein wie die großen alten Bäume. Eve fing zaghaft an zu schaukeln und musste daran denken, wie sie und Lily als kleine Mädchen immer gekreischt hatten, wenn sie versuchten, sich zu übertrumpfen, und immer höher schaukelten, bis die Füße an den Himmel stießen.

«Wer am höchsten kommt, hat einen Wunsch frei!», rief Eve immer, und Lily flippte jedes Mal aus, weil sie so viele Wünsche hatte, dass sie sich unmöglich für einen einzigen entscheiden konnte.

«Mir fällt nichts ein, mir fällt nichts ein!», rief Lily dann verzweifelt, als wäre es das allererste Mal, dass sie einen Wunsch äußern sollte.

Sie schaukelten und schaukelten, und wenn es nicht mehr höher ging, schrie Lily, so laut sie konnte: «Ich hab dich lieb, Eve Hayes!»

Und Eve antwortete schreiend: «Ich hab dich lieb, Lily Brennan», und dann kicherten sie und strampelten wie wild mit den Beinen.

Eve hatte seit Ewigkeiten nicht mehr geschaukelt oder überhaupt irgendetwas aus vollem Herzen getan, und so saß sie nur still auf der Schaukel und starrte zu Boden, auf den Flecken Gras vor ihr, auf dem sie oft zusammen mit ihrer Freundin Lily gelegen und gegen das gleißende Sonnenlicht blinzelnd zum Himmel und zum Fenster ihrer Mutter hinaufgesehen hatte. So wie an dem Tag, als sie gestorben war. Sie hatten im Gras gelegen und sich über dies und das unterhalten. Im Haus herrschte Aufruhr, Erwachsene kamen und gingen, Eves Tante weinte, und ihr Onkel telefonierte ununterbrochen. Eves Vater rief nach Clooney, und dann geschah etwas. Die Leute hörten auf, im Haus hin und her zu laufen, alles wurde still, und dann zog jemand Unsichtbares im Zimmer von Eves Mutter die Vorhänge zu. Lily hielt Eves Hand, und obwohl sie damals beide erst sechs Jahre alt waren, wussten sie, dass Eves Mutter gestorben war.

Eve beschattete ihre Augen vor der strahlenden Sonne, die schien, obwohl es regnete, und sah zu dem Zimmer hinauf, in dem ihr so viel genommen worden war. Es war das einzige Zimmer im Haus, dem sie keinen letzten Besuch abgestattet hatte. Der Schmerz in ihr war noch viel zu präsent, denn in demselben Zimmer war vor nur elf Monaten auch ihr Vater gestorben. Diesmal war Eve dabei gewesen, und die Hand, die sie gehalten hatte, war nicht Lilys, sondern seine gewesen.

Er starb an einem Oktobermorgen nach kurzer, schwerer Krankheit. Er war zweiundsechzig Jahre alt geworden und bis zu dem Tag seiner Krebsdiagnose der fröhliche, gesunde, vielbeschäftigte Mann geblieben, der er immer gewesen war. Er arbeitete immer noch als Investmentbanker, er war immer noch verrückt nach Booten und Golf und widmete sich beidem, wann immer er die Gelegenheit dazu bekam. Er hatte eine Freundin namens Jean, eine Frau Mitte fünfzig. Die Beziehung war noch jung, doch sie hatten viele Gemeinsamkeiten, und er mochte sie sehr. Er verreiste noch immer und besuchte Eve mindestens dreimal im Jahr in New York. Bei seinem letzten Besuch brachte er Jean mit, und die beiden wirkten sehr verliebt. Ihm machte seit einer ganzen Weile der Rücken zu schaffen. Vor einigen Jahren war bei ihm Diabetes vom Typ 2 diagnostiziert worden, und obwohl er die Erkrankung anfänglich gut im Griff hatte, spielten seit einiger Zeit seine Blutzuckerwerte verrückt. Seine Tage begannen und endeten mit Übelkeit, und auf Jeans Drängen hin suchte er schließlich seinen Hausarzt auf. Zwei Wochen später, am 16. August, bekam er die Diagnose: Bauchspeicheldrüsenkrebs im Endstadium. Jean war diejenige, die Eve in New York anrief.

«Hallo, Eve?»

«Ja, hallo?»

«Hier spricht Jean … McCormack … die … äh … die Freundin deines Vaters.»

«Oh, Jean, hallo, wie geht es dir?»

«Ja, also, mir geht es gut. Danke. Danke, nett, dass du fragst.» Sie klang seltsam, und man musste kein Genie sein, um zu merken, dass dies kein Höflichkeitsanruf war.

«Was ist los, Jean?»

«Es geht um deinen Vater, Liebes.» Sie klang, als würde sie sich bemühen, nicht in Tränen auszubrechen.

«Was ist mit ihm?» Eves Herz schlug schneller, ihr wurde heiß, und das Blut, das eben noch in ihrem Kopf gewesen war, sauste ihr in die Füße. Sie musste sich an einem Stuhl festhalten. Nun spuck’s schon aus, Jean, Himmel noch mal!

«Er hat Krebs.»

«Oh nein!»

«Es ist die Bauchspeicheldrüse.»

«Oh nein!»

«Du musst nach Hause kommen, Liebes.»

«Was ist mit Clooney?»

«Bitte sorg dafür, dass er auch nach Hause kommt.» Dann brach Jean zusammen, und Eve hörte sich selbst dabei zu, wie sie die Freundin ihres Vaters tröstete, während sie die ganze Zeit das Gefühl hatte, im Nebenzimmer zu stehen und ein fremdes Telefonat zu belauschen.

«Alles wird gut, Jean, es wird alles wieder gut. Ich rufe Clooney an, und wir kommen nach Hause, und wir kümmern uns um ihn, und bald geht es ihm wieder gut, weil ich Geld habe und bezahlen kann, was immer es kostet. Du kannst dich wieder beruhigen, ich kümmere mich darum. Okay?»

«Okay, Liebes», sagte Jean. «Okay.»

Doch sie hatte es bereits gewusst. Sie hatte gewusst, dass kein Geld der Welt Eves Vater mehr retten konnte, und sie tat das Einzige, was sie noch tun konnte: Sie sorgte dafür, dass die Menschen da waren, die er liebte und die ihn liebten, bis er zwei Monate später starb. Nach der Diagnose ging es mit seinem Gesundheitszustand rapide bergab, und so waren diese letzten beiden Monate sehr außergewöhnlich. Eve und Clooney hatten seit jenem Sommer im Jahr 1990 nicht mehr zu Hause gelebt. Ihr Vater wollte weder ins Krankenhaus noch in ein Hospiz, und so war es nur sinnvoll, dass sie während der Zeit, die ihm noch blieb, zusammenwohnten. Eves Geld konnte ihn zwar nicht retten, doch es ermöglichte rund um die Uhr die Pflege, die er brauchte.

Clooney traf zwei Tage nach Eve zu Hause ein. Trotz der Bräune wirkte er aschfahl, und noch als sie sich am Flughafen umarmten, gruben sich neue Fältchen in die Partie um seine Augen. An jenem Abend betrank er sich und weinte wie ein kleines Kind. Eve erstellte Listen mit Dingen, die zu tun und zu besorgen waren, und stattete das Zimmer, in dem ihre Mutter gestorben war, mit allen Bequemlichkeiten aus, die nötig waren, um ihrem Vater das Sterben zu erleichtern. Innerhalb einer Woche war der Raum eingerichtet wie ein hochmodernes Krankenhauszimmer. Eves Vater war fröhlich, und wenn er zornig oder verbittert war, ließ er sich nichts anmerken. Es wirkte aufrichtig und glaubwürdig, nur ab und zu, wenn er dachte, er wäre allein zu Haus, schrie und brüllte er, und manchmal schluchzte er so heftig, dass Eve ihren Bruder vor seiner Zimmertür zurückhalten musste.

«Er braucht das», sagte sie.

«Er braucht uns», hatte Clooney geantwortet.

«Wann warst du das letzte Mal froh darüber, beim Heulen Publikum zu haben?», erwiderte sie, und Clooney nickte und ließ seinen Vater in Ruhe.

Wenn sie bei ihm waren und er keine Schmerzen hatte, genoss er jeden Augenblick. Die Abende waren dunkel und trüb, und der Regen schlug gegen die Fenster, doch er hatte den Klang des Regens immer geliebt. Jean war von Anfang bis Ende dabei, ohne sich je aufzudrängen. Sie war eine Dame durch und durch. Sie benahm sich stets angemessen, auch wenn Eve und Clooney es seltsam fanden, dass sie am Sterbebett eines Agnostikers oft stumm betete und den Rosenkranz durch ihre Finger gleiten ließ. Eines Tages sprach Eve sie bei einer Tasse Kaffee darauf an.

«Du weißt, dass mein Vater Agnostiker ist.»

«Ja, Liebes, das weiß ich.»

«Trotzdem betest du.»

«Ich weiß. Egoistisch, oder?»

«Ich fürchte, da komme ich nicht ganz mit.»

«Weißt du, ich bete für mich.»

«Ach so.»

«Und du? Bist du auch Agnostikerin?»

«So lange, bis die Jungfrau Maria oder ein dicker fetter Buddha, Allah oder Brahma ans Fußende meines Bettes tritt und mir das Gegenteil beweist», antwortete Eve.

«Es wird schwer für dich werden, ihn gehen zu lassen», sagte Jean.

«Ja», stimmte Eve ihr zu und konnte nicht mehr weitersprechen, weil ihre Nase juckte und Tränen in ihren Augen brannten.

«Ich bete für ihn, weil es mir dann besser geht, und ich bete für mich, dafür, dass ich die Kraft habe weiterzumachen, wenn er nicht mehr da ist.»

«Das wirst du», sagte Eve mit der Überzeugung, die die Erfahrung mit sich bringt, auch wenn ihr schon bei dem bloßen Gedanken daran das Herz weh tat.

«Und du?», fragte Jean.

«Menschen leben, und dann sterben sie, Jean», sagte Eve nüchtern und ließ Jean ihren Kaffee allein zu Ende trinken.

Wenn sie unter sich waren, flirteten und lachten Jean und Eves Vater miteinander, und weder der Katheter noch der Stomabeutel vermochten seinen gewitzten Charme zu schmälern. Jean brachte Licht in sein abgedunkeltes Zimmer, und er war nicht der Einzige in der Familie Hayes, der ihr dankbar dafür war.

Eve und Clooney verbrachten ganze Tage in dem Zimmer. Danny liebte Kreuzworträtsel und die Wiederholungen von «Wer wird Millionär?». Clooney verkündete die Antworten stets lauthals und in einem Brustton der Überzeugung, der keinen Zweifel zuließ. Oft genug lag er mit seiner Antwort daneben und brachte die anderen damit zum Lachen. Einmal lautete die Frage: «Welcher legendäre deutsche Gelehrte verkaufte seine Seele an den Teufel?», gefolgt von den üblichen vier Antwortmöglichkeiten.

Eve sah ihren Vater an und zuckte die Achseln. Ihm ging es genauso.

«Tannhäuser», verkündete Clooney selbstbewusst.

Der 50:50-Joker kam zum Einsatz. Es blieben Faust und Tannhäuser. Clooney warf ihnen einen Blick zu und nickte selbstgefällig. Der Kandidat entschied sich für Faust.

«Oh, oh, jetzt bist du am Arsch.»

Der Moderator zog die Kunstpause beinahe unerträglich in die Länge, ehe er verkündete, dass der Kandidat soeben 16000 Pfund gewonnen habe.

Alle jubelten, bis auf Clooney, der so tat, als würde er sich furchtbar über das Gelächter seines Vaters ärgern.

«Faust. Verdammt noch mal! Faust! Ja klar!»

«Ja klar? So ein Blödsinn! Du hattest keinen blassen Schimmer!», sagte Eve.

«Na schön», gab er zu. «Aber hätten wir gepokert, hätte ich die Hand gewonnen.»

«Trottel!», sagte Eve.

«Na schön, immer noch besser Trottel als Bigfoot!», sagte Clooney und lachte über seinen eigenen Witz. Ihrer Größe wegen war Eve bereits in der ersten Klasse von einem Jungen namens Eoin Shaw Bigfoot getauft worden und war den Namen bis zum Gymnasium nicht mehr losgeworden.

«Danny!», rief Eve in einem Tonfall, der ihre Entrüstung über die Ungeheuerlichkeit zum Ausdruck brachte, dass Clooney es wagte, den Namen auszusprechen, der im Hause Hayes nicht genannt werden durfte.

Eves Vater lachte und wiederholte leise: «Bigfoot.» Er kratzte sich die fahle Wange und schwelgte in der Erinnerung an das Spottlied, das Eves Klassenkameraden immer gesungen hatten – alle bis auf Lily natürlich.

«Bigfoot Eve schwänzt die Messen, zieht es vor, nur Gras zu fressen … Wie ging das noch mal weiter?»

«Danny!», wiederholte Eve im gleichen Tonfall, doch ihr Lächeln verriet, dass sie nicht so beleidigt war, wie sie tat.

Clooney dachte einen Augenblick nach, dann hob er die Hand und rezitierte: «Bigfoot Eves Riesenfüße brauchen Schuh in Übergröße.»

Eves Vater kicherte. «Das waren aber auch keine preisverdächtigen Dichter.» An jenem Abend ging er mit einem Lächeln schlafen, und es war eine der letzten Nächte, in denen sein Schlaf nicht von Schmerzmitteln betäubt war.

Manchmal spielten sie nachmittags gemeinsam Monopoly. Eve gewann fast immer. Clooney stellte die Behauptung auf, das läge an ihrer eiskalten, berechnenden Kapitalistenmentalität.

«Ach, komm schon, Evey, nicht auch noch die Shrewsbury Road! Die kriegst du immer!», sagte ihr Vater, als es wieder mal so aussah, als würde sie gewinnen.

«Die ist auch nicht mehr das wert, was sie mal war, falls dich das tröstet, Danny.»

«Jetzt lass sie ihm doch einfach.»

«Kann ich nicht machen, Clooney.»

«Ich trenne mich gern vom Flughafen Shannon, Dad», erbot sich Clooney, doch sein Vater lachte nur.

«Na sicher, mein Sohn.»

Solange er noch zu richtigen Gesprächen fähig war, sprachen sie über alles und jeden, doch kein einziges Mal darüber, dass er im Sterben lag. Jean kümmerte sich um seinen letzten Willen und sein Testament, und sie war es auch, die seine Bestattungswünsche mit ihm besprach. Mit Papier und Stift saß sie da und schrieb mit, sobald er einen Wunsch äußerte. Die Hayes waren Agnostiker, und der Tod von Eves Mutter hatte ebenso wenig an ihrer Einstellung geändert, wie es Dannys Tod tun würde. Er hatte mit Religion nichts am Hut. Er glaubte nicht an ein Leben nach dem Tod, zumindest nicht in der Form, wie es einem von den diversen Organisationen verkauft wurde. Weder nahm er an, dass er künftig auf irgendeiner Wolke im Himmel rumhängen würde, noch fürchtete er, in der ewigen Hölle zu schmoren. Er erwartete kein Wiedersehen mit Eves Mutter – es wäre nett, wenn es passieren würde, doch er hatte keine Angst vor dem endgültigen Aus. Auch als es ihm zusehends schlechter ging und der Umgang mit den Schmerzen immer schwieriger wurde, taten sie alle weiter so, als wären Clooney und Eve einfach zu einem ausgedehnten Besuch im Haus und als wäre alles in bester Ordnung.

Als er ihnen schließlich langsam entglitt, war es für Clooney unerträglich, und Eve gab es auf, den Schein zu wahren. Als er um seinen letzten, mühseligen Atemzug rang, hielt sie seine Hand und flüsterte ihm ins Ohr. «Du darfst loslassen, Danny», sagte sie, und er drückte sanft ihre Hand, schloss die Augen und war nicht mehr.

Jean saß an der Tür, den abgegriffenen Rosenkranz zwischen den Händen. Clooney stand am Fenster und sah hinaus. Er drehte sich lange nicht um. Eve blieb einfach sitzen, hielt ihrem Vater die Hand und machte sich mit der Rechten Notizen über die Dinge, die als Nächstes zu tun sein würden.

Er wollte eine schlichte Trauerfeier in einem schönen Bestattungsinstitut, dazu ein paar Worte von Clooney und Eve, auch wenn er Verständnis dafür hätte, falls Eve nichts sagen wollte, denn schließlich wüsste er ja, wie sie sei. Er wünschte sich, dass sein alter Freund Lenny Gitarre spielte und ein paar Bob-Dylan-Songs sang, und nachdem sie ein paar Worte gesprochen, ein paar Lieder gesungen, ein paar Brötchen gegessen und ein paar Tassen Tee getrunken hatten, wollte er, dass sie seine Asche mit seinem geliebten Segelboot hinaus aufs Meer schipperten, um ihn dort feierlich ins Wasser zu kippen.

«Ist das überhaupt erlaubt?», fragte Clooney Jean seinerzeit.

«Wen interessiert das denn?», sagte Eve.

Und so taten sie genau das. Eve packte einen Picknickkorb, eine teure Flasche Wein inklusive, und sie fuhren hinaus. Jean, Clooney und Eve standen an Deck, jeder von ihnen in seine eigenen Gedanken und Erinnerungen versunken. Sie vergewisserten sich genau, aus welcher Richtung der Wind wehte, weil Danny streng darauf bestanden hatte, damit sie ihn nicht versehentlich einatmeten oder verschluckten.

«Die Windrichtung ist wesentlich», hatte er Jean gewarnt.

«Verstanden.»

«Absolut wesentlich», hatte er wiederholt, den Zeigefinger angeleckt und ihn in die Luft gehalten.

«Hab’s kapiert.»

«Und lasst bitte die Urne nicht ins Wasser fallen.»

«Okey-dokey.»

«Das wäre Umweltverschmutzung.»

«Verstanden.»

«Aber behalten sollt ihr die Urne auch nicht.»

«Und was soll ich damit machen?»

«Recyceln.»

«Wird gemacht.»

«Ich wünschte, mir bliebe mehr Zeit, dich zu lieben, Jean», sagte er und lächelte sie an. «Das tut mir so furchtbar, furchtbar leid.»

«Mir auch», hatte sie gesagt und sich eine leise Träne gestattet, während sie seine Wünsche notierte.

Nachdem die Windrichtung bestimmt war, reichte Eve Clooney die Urne, und die drei standen etwa eine Minute lang stumm da, ehe er die Asche über Bord warf. Eve schenkte drei Gläser Wein ein, und sie stießen auf ihn an. Jean weinte die ganze Rückfahrt über, leise und in ein großes Taschentuch, weil sie auf keinen Fall zu viel Aufhebens um sich machen wollte. Clooney war schweigsam und rührte sein Glas kaum an. Als sie in den Hafen einliefen, hatte Eve beinahe die ganze Flasche allein geleert.

In den elf Monaten seit dem Tod ihres Vaters hatte sich viel geändert. Es war an der Zeit, das Haus ihrer Kindheit hinter sich zu lassen. Vor ihr lag ein neues Kapitel ihres Lebens, ein langsameres. Für Eve war es Zeit, stehen zu bleiben und an den Rosen zu riechen.

Sie schloss die glänzende dunkelblaue Haustür hinter sich, und als sie das Ende der kurzen, baumbestandenen Allee erreicht hatte, drehte sie sich noch einmal um und warf einen allerletzten Blick auf das große weiße Haus, das von Kletterpflanzen und rosarot blühenden Ranken umgeben war, und die große Eiche im Vorgarten mit der Bank, die darunterstand. Mach’s gut, altes Haus! Mach’s gut, Kindheit! Mach’s gut, Mum! Mach’s gut, Danny! Ihr wart wunderbar, wir sind froh, dass wir euch beide hatten. Ich vermisse euch. Ich liebe euch. Ich danke euch, sollten wir uns nicht wiedersehen. Sie zögerte nicht und vergoss auch keine Träne. Eve neigte nicht zur Rührseligkeit, und ihre Mutter und Jean hatten ihr beigebracht, dass eine Dame stets weiß, wann es Zeit ist zu gehen. Sie nickte den Möbelpackern in ihrem Lieferwagen zu, die gerade ihre Pause beendeten, dann überquerte sie die Straße und stieg ins Auto. Sie steckte den Zündschlüssel ins Schloss und verließ die Straße, in der sie aufgewachsen war – und zwar, wie sie glaubte, endgültig.

Am Morgen hatte Eve kurz mit Clooney telefoniert. Er befand sich in irgendeinem elenden Loch in Afghanistan, bewahrte Waisen und Flüchtlinge vor dem Verhungern und scherte sich nicht um die Einzelheiten des Hausverkaufs.

«Ich brauche deine Bankverbindung.»

«Wozu das denn?»

«Für das Geld aus dem Hausverkauf.»

«Überweis meinen Anteil einfach an irgendeine Krebshilfeorganisation.»

«Bitte mach es nicht so kompliziert.»

«Ich mache es einfach.»

«Nein. Du machst es schwierig. Ich werde dein Geld nicht verschenken.»

«Und wenn ich ganz lieb bitte sage?»

«Schön. Ich richte dir ein Bankkonto ein.»

«Ach. Heißt das etwa, dass ich mich mit Steuern rumschlagen muss?»

«Man verschenkt sein Geld doch nicht, weil man sich nicht mit den Steuern rumschlagen will!»

«Du nicht. Ich schon.» Er wechselte das Thema. «Du klingst erschöpft.»

«Tja, ich bin ja auch erschöpft. Ich kümmere mich hier um alles, während du in Afghanistan herumturnst.»

«In Kriegsgebieten turnt man nicht herum.»

«Nein, wohl eher nicht», gab sie zu.

«Du bist doch sicher froh, wieder zu Hause zu sein.»

«Ach ja», antwortete sie halbherzig, «es ist toll.»

«Vielleicht komme ich dich bald mal besuchen», sagte er, und sie lachte.

«Na, das kann dauern», sagte sie. «Es muss schon jemand sterben, damit du mal nach Hause kommst.»

Clooney widersprach ihr nicht. Stattdessen beendete er das Gespräch, indem er ihr sagte, sie solle mit dem Geld machen, was sie wolle. «Ich brauche es nicht, Eve, und ich will es auch nicht.»

Clooney war, was Geld betraf, schon immer ziemlich eigen gewesen. Er hatte sich nie wirklich dafür interessiert. Schon als Kind hatte er sich von materiellen Dingen nicht beeindrucken lassen. Er hatte jahrelang auf Spesen gelebt und sein Geld aufs Sparbuch gepackt. Er führte ein Nomadendasein ohne Verpflichtungen. Er kannte noch nicht mal seinen Kontostand. Er speiste die Armen unter den schlimmsten Bedingungen, die man sich vorstellen konnte, und dazu brauchte er weder einen Anzug noch ein teures Auto. Eve dachte oft, dass ihr Bruder in einer Krise der verlässlichste Mensch auf Erden war, aber sobald die Krise vorbei war, war er wieder weg und zog weiter, weil er es wichtig fand, gebraucht zu werden.

Clooney war mit zwanzig zu Hause ausgezogen, kurz bevor im September 1990 sein drittes Studienjahr auf dem College anstand. Er studierte Ingenieurswesen, aber irgendwie hatte er es bereits im ersten Semester geschafft, einen Job beim Campussender zu ergattern. Gemeinsam mit einem Mädchen namens Vera Kilpatrick moderierte er seine eigene Sendung. Sie hatten montags bis freitags jeden Abend von acht bis zehn ihren festen Sendeplatz. Seinen Namen hatte Clooney noch nie gemocht. Seine Mutter hatte ihn in einem Namensbuch entdeckt, und obwohl seine Eltern sich im Vorfeld eigentlich auf Matthew geeinigt hatten, änderte sie ihre Meinung in dem Augenblick, als sie ihn, ein Auge geöffnet und eines geschlossen, auf ihrem Arm liegen sah.

«Das ist kein Matthew. Das ist ein Clooney.»

Sein Vater war sich nicht ganz sicher, ob ihm die Idee gefiel, doch ihr Entschluss stand fest.

«Das ist ein gälischer Ausdruck für Schlawiner. Und der hier ist definitiv ein Schlawiner.»

Und sie hatte sich nicht in ihrem Sohn getäuscht. Die meisten Menschen hatten den Namen noch nie gehört, und er wurde oft gebeten, ihn zu wiederholen oder zu buchstabieren – zumindest bis George Clooney 1994 in «Emergency Room» Dr. Doug Ross spielte. Ab diesem Moment kannte die gesamte westliche Welt plötzlich den Namen Clooney, und Eves armer Bruder musste sich bei den raren Gelegenheiten, wenn er zum Beispiel Weihnachten nach Hause kam, spöttische Kommentare anhören.

«Clooney? Findest du dich auch so toll?»

«Clooney? Ich brauche sofort eine Mund-zu-Mund-Beatmung.»

«Hey, Clooney, als Batman warst du wirklich scheiße!»

Sein Vater pflegte immer zu scherzen, dass er in Wahrheit nicht in der Dritten Welt lebte und arbeitete, weil er so altruistisch war, sondern nur, um dem Fluch von George Clooney zu entkommen. In den späten Achtzigern und frühen Neunzigern, noch vor George und dem Ruf der Ärmsten der Armen, gaben sich viele DJs alberne Namen, und Clooney war keine Ausnahme. Aus Clooney Hayes wurde Cloudy Dayz, und sein Sidekick Vera Kilpatrick kannte man nur als V Kill P. Sie spielte Kylie und Jasons «Especially For You», er spielte «Belfast Child» von den Simple Minds. Sie spielte «Eternal Flame» von den Bangles und er «Paradise City» von Guns N’ Roses, und zwischen ihren musikalischen Grabenkämpfen machten sie ihre Hörerschaft mit Sex, Drugs und Rock ’n’ Roll bekannt. Sie diskutierten aus der männlichen und weiblichen Perspektive heraus. Sie redeten über alles, schonungslos und ohne Kompromisse, und sie waren ein gutes Team. Sie feierten und erläuterten die Bedeutung der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte von 1988, homosexuelle Kontakte zwischen Erwachsenen im gegenseitigen Einverständnis zu entkriminalisieren, das Ergebnis einer Klage von David Norris gegen den Staat Irland und seine drakonischen und unfairen Gesetze. Sie warben dafür, Beschwerde gegen das Urteil des Obersten Gerichtshofs einzulegen, das es Studenten untersagte, Broschüren und Kontaktadressen britischer Abtreibungsagenturen zu verteilen. Sie diskutierten die strafrechtliche Gesetzesnovelle über Vergewaltigung und erklärten, was es mit der Abschaffung der ehelichen Ausnahme auf sich hatte. Sie waren unglaublich leidenschaftlich, die Chemie zwischen ihnen stimmte, und die Sendung war ziemlich gut, obwohl Eve das damals nie zugegeben hätte.

Clooney hätte zum Rundfunk gehen können, wenn er gewollt hätte, er wäre auch ein guter Ingenieur geworden, doch sein blutendes Herz gab den Weg für die Zukunft vor. Clooney war vierzehn, als Bob Geldorfs Live Aid die Welt veränderte, und es hatte einen gewaltigen Effekt auf ihn. Millionen von Menschen starben unter schlimmsten Bedingungen, und die Gesichter der Verhungernden aus aller Welt, die über den Bildschirm flimmerten, spukten noch lange, nachdem das Megakonzert vorbei war, in Clooneys Kopf herum. Als er die Gelegenheit bekam, sich als Freiwilliger dem Friedenscorps anzuschließen und nach Afrika zu gehen, warf er sein Studium und die vielversprechende Radiokarriere hin und machte sich auf die Reise, sobald er sämtliche Impfungen hinter sich gebracht und seinen Vater davon überzeugt hatte, dass es sinnlos war, ihn aufzuhalten. In den darauffolgenden Jahren arbeitete er für viele private Organisationen auf drei Kontinenten, und die beiden Monate, die er am Sterbebett seines Vaters verbrachte, waren Clooneys längster Irlandaufenthalt, seit er zwanzig war.

Eve ging im selben Herbst, als er aufbrach, nach St. Martin’s. Im ersten Studienjahr hatte sie noch den Bachelor in Modedesign im Visier, doch als ihr klarwurde, dass ihr Talent nie an das einiger ihrer Kommilitonen heranreichen würde, wechselte sie das Fach und fand im Schmuckdesign ihre Nische. Das Studium dauerte drei Jahre, und obwohl sie die Zeit in London genoss, ging sie, sobald sie ihren Abschluss in der Tasche hatte, zu einem Schmuckdesigner nach Paris, wo sie weitere drei Jahre verbrachte. Eve war kein Partygirl. Sie besaß eine hohe Arbeitsmoral und genügend Hingabe und Entschlossenheit, um erfolgreich zu sein. Um ihr Ziel zu erreichen, machte sie unzählige Überstunden, und da sie nicht gewillt war, Drogen zu nehmen, um tagsüber arbeiten und die Nächte durchfeiern zu können, besaß sie kaum nennenswerte Erinnerungen an das aufregende Partyleben, das man bei einer jungen Frau in Paris erwarten würde. Doch das spielte keine Rolle, weil sie ihre Arbeit liebte, und als sie genug Erfahrungen gesammelt hatte, ging sie nach Amerika, entwickelte dort ihre eigene Schmucklinie und baute damit ein internationales Millionenunternehmen auf. Amerika und ihre eigene Firma ließen ihr kaum Raum für ein Privatleben. Trotzdem war das Leben gut, und sie war dankbar und zufrieden – jedenfalls bis ihr Vater starb. Die beiden kostbaren Monate in Irland hatten alles verändert. Sie hatte ein paar Gänge zurückgeschaltet und wieder Kontakt zu ihrem Vater, ihrem Bruder, ihren alten Freunden und ihrer Heimat geknüpft.

Nach Jahren der Funkstille hatte Eve über Facebook alte Freunde angesprochen. Gar Lynch, der Junge, mit dem sie als Teenager zusammen gewesen war, bot ihr als Erster die Freundschaft an, und aus dieser Freundschaft ergab sich ein paar Wochen später die Verbindung zu ihrem gemeinsamen Kumpel Paul Doyle. Gar hatte Gina McCarthy geheiratet. Gina war zwei Jahre älter als Eve, doch sie waren in unmittelbarer Nachbarschaft aufgewachsen und als Kinder immer Freundinnen gewesen, bis Gina mit zwölf auf einmal feststellte, dass zwei Jahre Altersunterschied die Welt bedeuteten und sie Eve und Lily die Freundschaft kündigte, indem sie ihnen die Tür vor der Nase zuknallte, als sie die Frechheit besaßen, bei ihr zu klingeln und zu fragen, ob sie Lust hätte, zum Spielen rauszukommen. Trotz dieser Abfuhr hatte Eve Gina immer gemocht. Sie waren in jenem Sommer 1990 wieder in Kontakt gekommen, kurz bevor Eve Irland verließ, und sie freute sich darüber, dass Gar bei Gina gelandet war. Dank Facebook erfuhr sie, dass die beiden glücklich waren, zwei Kinder hatten, zwei Hunde, eine Katze und ein Boot. Sie waren immer in der Gegend geblieben, weil Gar keinen Grund gewusst hätte wegzugehen.

«Meerluft, gute Schulen, tolle Restaurants, der beste Pub Irlands, und die DART-Bahnlinie die Küste runter führt auch direkt hier vorbei. Was will man mehr?», schrieb er in einer persönlichen Nachricht, aber Gar war schon immer mit seinem Zuhause zufrieden gewesen, und, um ehrlich zu sein, nicht völlig zu Unrecht. Eves alte Heimatstadt kam dem perfekten Fleckchen Erde näher als jeder andere Ort, an dem sie bis jetzt gewesen war.

Sie erfuhr, dass Paul nach dem Studium nach England gezogen war. Als die Wirtschaft in Irland boomte, kehrte er jedoch zurück und blieb trotz des gespannten Verhältnisses zu seinen Eltern ebenfalls. Gar schrieb, Paul habe sich zu ihrer aller Überraschung in seinem zweiten Jahr am Trinity College geoutet. Er schien einfach nicht der Typ dafür zu sein. Paul war ein großartiger Rugbyspieler, knallhart und ständig von Mädchen umringt. Eve war aufgefallen, dass er nie wirklich mit einem Mädchen aus ihrem Ort zusammen gewesen war. Seine Freundinnen wohnten immer eine Busfahrt weit entfernt, und er blieb nie länger als fünf Minuten mit der Gleichen zusammen, aber irgendeine gab es immer. Für die Jungs war er eine Legende. Für Eve war Paul immer ein übler Schwerenöter gewesen, wenn auch ein netter, aber Mädchen, die ihren guten Ruf oder gar die Jungfräulichkeit bewahren wollten, hielten Paul Doyle lieber auf Abstand. Sie war schon in London, als er sich outete, die Verbindung zu ihrer alten Clique löste sich bereits, und so hatte sie das Drama damals verpasst. Sie erfuhr erst später durch Gar und dann durch Gina, dass es jede Menge Aufruhr gegeben hatte. Pauls Vater ging drei Tage und Nächte auf Sauftour, ehe er mit einem Loch im Schädel und ohne Erinnerung in der Notaufnahme wieder zu sich kam. Seine Mutter drohte, ein ganzes Päckchen Schlaftabletten zu schlucken, wovon sie nur der örtliche Priester mit dem Versprechen abhalten konnte, für ihren Sohn zu beten, damit ihm die ewige Verdammnis erspart bliebe. Der Priester erwies sich später als pädophil, eine Nachricht, die Mrs. Doyle nicht so schlecht aufnahm wie die Homosexualität ihres Sohnes. Paul lebte jahrelang mit einem Mann namens Paddy zusammen, und das Ende der Beziehung bekamen alle über Pauls neuen Facebook-Status mitgeteilt. In Pauls Gesellschaft fühlte man sich wohl, doch er sprach kaum über sein Privatleben, und deshalb wusste niemand, was Paul tat, mit wem er es tat oder ob er überhaupt irgendwas mit irgendjemandem tat, seit Paddy auf so mysteriöse Weise aus seinem Leben verschwunden war. Als sie vor einem Jahr abends miteinander essen waren, hatte Eve versucht, ihm irgendwelche Informationen aus der Nase zu ziehen, indem sie ihn mit ihrem sterbenden Vater emotional zu erpressen versuchte.

«Nein.»

«Ach, komm schon, erzähl mir was.»

«Nein.»

«Ich brauche Ablenkung.»

«Nein.»

«Wieso denn nicht?»

«Weil ich nicht will.»

«Du bist ein schlechter Schwuler.»

«Du hast ja keine Ahnung.»

Er lächelte sie an, nickte vielsagend und wechselte zu einem Thema, das mit seinem Privatleben nichts zu tun hatte. Also sprachen sie den Rest des Abends über Eve.

Sie hatte es während ihres kurzen Irlandaufenthaltes sogar geschafft, sich mit Ben Logan zu treffen. Er hatte sie ein halbes Jahr vor der Diagnose ihres Vaters ebenfalls über Facebook kontaktiert. Sie dachte lange und gründlich darüber nach, ob sie seine Freundschaft akzeptieren sollte, ehe sie eine Entscheidung traf. Sie holte sich sogar bei ein paar amerikanischen Freundinnen Rat.

«Nie, nie, nie einen Ex auf die Freundesliste setzen», sagte Debbie.

«Natürlich nimmst du die Freundschaft an! Ist ja schließlich nicht so, dass du hier was am Laufen hättest», hielt Marsha dagegen.

«Es ist gefährlich», sagte Debbie.

«Was soll denn daran gefährlich sein?», wollte Marsha wissen. «Er lebt da, sie lebt hier, und es ist nur ein winziger Flirt im Netz. Sie muss weiß Gott was unternehmen.»

«Wieso kauft sie sich nicht einfach ein neues Kleid, brezelt sich auf und verabredet sich?»

«Ich bin übrigens anwesend», warf Eve ein, um sich in Erinnerung zu bringen.

Trotz Debbies Warnung gewann ihre Neugierde schließlich die Oberhand, und nachdem sie lange genug gewartet hatte, um auch wirklich niemandem und schon gar nicht Ben das Gefühl zu geben, übereifrig zu sein, bestätigte sie seine Freundschaftsanfrage und klickte sich sofort durch seine Fotos und die Pinnwand. Immer noch klein und immer noch ein absoluter Blickfang. Sein Haar war dicht, er war sonnengebräunt und strotzte vor Gesundheit. Oh, Ben, für mich wirst du immer Glenn Medeiros bleiben. Er ging eindeutig ins Fitnessstudio, und seine Augen fingen immer noch an zu strahlen, sobald eine Kamera in der Nähe war. Er besaß eine edle Biosupermarktkette mit Filialen in Dublin, Wicklow, Galway und Cork. Er war mit einer Frau namens Fiona verheiratet. Die Fotos legten nahe, dass sie trotz des Minilebensmittelimperiums oft verreisten und keine Kinder hatten. Ein paar Stunden, nachdem Eve seine Freundschaft akzeptiert hatte, schrieb er ihr eine Nachricht.

Hey, Blondie,

war mir nicht sicher, ob du annehmen würdest. Schön, dass du’s getan hast. Gratuliere zu deinem Erfolg. Ich wusste immer, dass du es schaffen würdest, auch wenn ich überrascht bin, dass du beim Schmuck gelandet bist. Aber ich dachte ja auch immer, ich werde ein Rockstar, und jetzt verkaufe ich Lebensmittel. Was macht das Leben? Kommst du ab und zu nach Hause?

Kuss, Ben alias Glenn M.

Sie hatte ihm freundlich geantwortet und ihm zu seinem beruflichen Erfolg und seiner Ehe gratuliert. Sie schrieb, dass sie seit Jahren nicht zu Hause gewesen sei, wünschte ihm alles Gute und verabschiedete sich höflich. Danach kommentierten sie gegenseitig ihre Statusmeldungen, markierten einander auf alten Fotos oder lustigen YouTube-Videos, und ab und zu klickten sie «Gefällt mir», wenn der andere etwas gepostet hatte.

Das war mehr oder weniger der Stand der Dinge, als Eves Vater krank wurde.

Eve war seit einer Woche zu Hause, als Ben anrief und fragte, ob sie sich mit ihm auf eine Tasse Kaffee treffen wolle. Sie hatte bisher die meiste Zeit damit verbracht, im Krankenhaus ein und aus zu gehen, und dabei gleichzeitig versucht, zu Hause das Zimmer für ihren Vater einzurichten und die häusliche Pflege zu organisieren. Wenn sie nicht gerade durch die Gegend rannte, war sie allein zu Hause und wartete auf Clooneys Rückkehr. Sie hatte sich weder bei Gar noch bei Paul gemeldet, da spürte Ben sie plötzlich auf.

«Woher wusstest du, dass ich hier bin?», fragte sie fassungslos.

«Ich dachte, ich hätte dich in Donnybrook rumlaufen sehen, und da hab ich’s einfach probiert und dich angerufen.»

«Ich war nicht mal in der Nähe von Donnybrook.»

«Na, dann muss es wohl Schicksal sein», sagte er und klang dabei sehr wie der Junge, den sie in einem Sommer vor zwanzig Jahren geliebt und wieder verloren hatte.

Ihr Herz machte einen Satz. Er ist verheiratet, Eve, benimm dich!

Sie trafen sich in der Nähe des Krankenhauses auf eine Tasse Kaffee, und ihre Befürchtungen, es könnte ein bisschen komisch werden, waren unbegründet. Sie gingen völlig unbefangen miteinander um, ohne sich zurückzuhalten und ohne viel in der Vergangenheit zu schwelgen.

«Aha, also Edelsupermärkte», sagte sie.

«Aha, also billiger Modeschmuck.»

«Das ist nur ein winziger Teil des Geschäfts, und abgesehen davon bevorzuge ich den Ausdruck ‹erschwinglich›. Und wolltest du nicht eigentlich vom gequälten Dichter zum Rockstar werden?»

«Tja, es hat sich rausgestellt, dass du recht hattest und ich scheiße war, aber wolltest du nicht eigentlich die nächste Coco Chanel werden?»

«Dinge ändern sich.»

«Du hast dich kein bisschen verändert.»

Er sah sie anerkennend an, und ihr Herz schlug schneller.

Eve war nicht so leicht in Verlegenheit zu bringen. Sie war weder besonders eitel, noch litt sie an Selbstüberschätzung, und sie fühlte sich nur selten schön, obwohl sie selbst die Schönheit noch in den eigenwilligsten Gesichtern entdeckte. Daran hatten auch viele Jahre in der Modebranche nichts geändert.

In Wirklichkeit galt Eve bei den Menschen, die ihr nahestanden, als ziemlich schön. Sie war eins achtzig groß, von Natur aus blond, und der Pixiehaarschnitt passte gut zu ihrem Gesicht. Sie hatte eine schlanke, sportliche Figur, makellose Haut und grüne Augen. Wäre ihre Abneigung gegen Kameras nicht gewesen, hätte Eve Model werden können. Sie hatte sich schon immer etwas knabenhaft gefühlt. Mit Anfang zwanzig entschied sie sich für einen Kurzhaarschnitt und trug noch heute eine Version davon, nicht weil es modisch, sondern weil es praktisch war. Zur großen Empörung ihrer amerikanischen Freundinnen trug sie grundsätzlich Jeans, Tops und Blazer und schminkte sich so gut wie nie. Sie war kein Girlie, sie besaß keine Million Schuhe, und obwohl sie Schmuck entwarf, war das Einzige, was sie selbst trug, ein kreisrunder goldener Anhänger um den Hals, in den der Name ihrer Mutter eingraviert war. Weil sie so groß war, musste sie sehr oft nach unten sehen und daher auf ihre Haltung achten, denn wenn sie sich gehen ließ, machte sie einen Buckel. Aber das geschah eher selten. Wenn Eve in den Spiegel schaute, sah sie trotz der einhelligen Meinung nicht, was die anderen sahen. Um ehrlich zu sein, fühlte Eve Hayes sich nur schön, wenn sie sich mit Ben Logans Augen sah. Und jetzt, zwanzig Jahre nachdem sie sich in der schlimmsten Nacht ihres Lebens getrennt hatten, saß sie mit ihm in einem Café in Dublin und errötete, weil sie sich eine Stunde lang wieder schön fühlte.