Niemand verschwindet einfach so - Catherine Lacey - E-Book
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Catherine Lacey

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Beschreibung

»Als wir an jenem Abend nach Hause gingen, beide nach dem Bourbon riechend, der uns auf die Knie getröpfelt war, wusste ich, dass mein Mann ein Song war, dessen Text ich vergessen hatte, und ich ein verwackeltes Foto von jemandem, den er mal geliebt hatte.« Elyria löst ein One-Way-Ticket nach Neuseeland und verlässt ihren Mann, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. In Neuseeland angekommen, setzt sie sich immer riskanteren und surrealer werdenden Begegnungen mit den Einwohnern und der Tierwelt aus. Doch ihre eigentliche Reise ist die Reise in ihr eigenes Herz der Finsternis. Verfolgt vom Tod der Schwester, ausgestoßen von der Mutter, zermürbt von der Eintönigkeit ihrer Ehe, droht Elyria an ihren eigenen Gedanken verlorenzugehen. Auf fast hypnotische Weise beschreibt Catherine Lacey eine Frau, die verrückt wird, allein durch sich selbst. Doch Niemand verschwindet einfach so, egal wie sehr er es versucht... International gefeiert als eines der eindrücklichsten Debüts der letzten Jahre: "Niemand verschwindet einfach so" beschreibt den gewagten Versuch einer Frau, ihr bisheriges Leben hinter sich zu lassen. Elyria begibt sich in die Ferne, nur um festzustellen, dass man vor sich selbst niemals flüchten kann. Ein intimes Abenteuer – und die Geschichte einer Selbstfindung. »Da ist ein wildes Biest im Herzen dieses Romans, und Sie werden es treffen.« The New Yorker. »Eine neue, beeindruckend sichere und originelle Erzählstimme aus den USA – in ihrem Roman "Niemand verschwindet einfach so" findet Catherine Lacey eine ganz eigene, überzeugende Sprache für die Irrungen und Wirrungen ihrer jungen Protagonistin.« Bettina Abarbanell.

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Seitenzahl: 316

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Über Catherine Lacey

Catherine Lacey wurde in Mississippi geboren und lebt in Chicago. Für ihren ersten Roman »Niemand verschwindet einfach so« wurde sie mit dem Whiting Award 2016 ausgezeichnet. Demnächst erscheint in den USA ihr zweiter Roman »The Answers«.

Bettina Abarbanell arbeitet als Literaturübersetzerin in Potsdam. Sie hat u. a. Jonathan Franzen, Denis Johnson und F. Scott Fitzgerald übersetzt. 2014 Übersetzerpreis der Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Stiftung. Für ihre Arbeit an »Niemand verschwindet einfach so« wurde sie mit dem Brandenburger Kunstförderpreis ausgezeichnet.

Informationen zum Buch

»Da ist ein wildes Biest im Herzen dieses Romans, und Sie werden es treffen.« The New Yorker

International gefeiert als eines der eindrücklichsten Debüts der letzten Jahre: Niemand verschwindet einfach so beschreibt den gewagten Versuch einer Frau, ihr bisheriges Leben hinter sich zu lassen. Elyria begibt sich in die Ferne, nur um festzustellen, dass man vor sich selbst niemals flüchten kann. Ein intimes Abenteuer – und die Geschichte einer Selbstfindung.

»Als wir an jenem Abend nach Hause gingen, beide nach dem Bourbon riechend, der uns auf die Knie getröpfelt war, wusste ich, dass mein Mann ein Song war, dessen Text ich vergessen hatte, und ich ein verwackeltes Foto von jemandem, den er mal geliebt hatte.« Elyria löst ein One-Way-Ticket nach Neuseeland und verlässt ihren Mann, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. In Neuseeland angekommen, setzt sie sich immer riskanteren und surrealer werdenden Begegnungen mit den Einwohnern und der Tierwelt aus. Doch ihre eigentliche Reise ist die Reise in ihr eigenes Herz der Finsternis. Verfolgt vom Tod der Schwester, ausgestoßen von der Mutter, zermürbt von der Eintönigkeit ihrer Ehe, droht Elyria an ihren eigenen Gedanken verlorenzugehen. Auf fast hypnotische Weise beschreibt Catherine Lacey eine Frau, die verrückt wird, allein durch sich selbst. Doch niemand verschwindet einfach so, egal wie sehr er es versucht.

»Eine neue, beeindruckend sichere und originelle Erzählstimme aus den USA – in ihrem Roman »Niemand verschwindet einfach so« findet Catherine Lacey eine ganz eigene, überzeugende Sprache für die Irrungen und Wirrungen ihrer jungen Protagonistin.« Bettina Abarbanell

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Catherine Lacey

Niemand verschwindet einfach so

Roman

Aus dem Amerikanischen von Bettina Abarbanell

Inhaltsübersicht

Über Catherine Lacey

Informationen zum Buch

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Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Danksagungen

Impressum

In Erinnerung an MG

Einmal setzte sich ein Ding auf Henrys Herz,

so schwer, und wenn er hundert Jahre hätte

& mehr, & weinte, schlaflos, all die Zeit,

es würde nicht mehr gut.

Fängt immer wieder an in Henrys Ohr,

das kleine Husten irgendwo, ein Geruch, ein Glockenton.

Und etwas anderes noch hat er im Sinn

wie ein ernstes sienesisches Gesicht, auch tausend Jahre

könnten dessen scharfen Vorwurf nicht verwischen.

Schaurig,

mit offenen Augen, wohnt er bei, blind.

Alle Glocken sagen: zu spät. Nicht um Tränen geht es;

denken.

Doch nie hat Henry, wie er dachte,

jemandem das Ende gebracht, und zerhackt ihren Leib,

und die Teile versteckt, wo man sie finden kann.

Er weiß es: Alle ging er durch, & niemand

fehlt.

Oft zählt er sie, am frühen Morgen, nach.

Niemand je dabei, der fehlt.

John Berryman, »Dream Song 29«

1

Vielleicht gibt es Menschen auf der Welt, die, ohne es zu wollen, Gedanken lesen können, und wenn so eine Sorte Mensch existiert, dann gehört mein Mann mit ziemlicher Sicherheit dazu. Seit den Ereignissen jener Woche denke ich das, als ich wusste, dass ich bald fortgehen würde, und er noch nicht; ich musste es ihm sagen, das war mir klar, nur hatte ich nicht die geringste Ahnung, wie ich meinen Mund dazu bringen sollte, diese Wörter zu bilden, und da mein Mann, ohne alle Absicht, Gedanken lesen kann, trank er in besagter Woche einiges mehr als sonst, becherweise Gin vor allem, aber auch große Biere aus dem Deli. Er hielt beim Nachhausekommen die in einer Papiertüte versteckte Dose in der Hand, nahm kleine Schlucke daraus und lächelte, als wäre es ein Witz.

Dann lachte ich.

Er lachte auch.

Im Inneren unseres Lachens lachten wir nicht.

An dem Tag, als ich fortging, stand er auf, zog sich an und verließ das Zimmer. Ich lag eiskalt und mit geschlossenen Lidern wach, bis ich unsere Haustür zuklappen hörte. Gegen Mittag brach ich auf, meinen Rucksack auf dem Rücken, und fühlte mich so elend und idiotisch, dass ich statt zur Subway erst mal in eine Kneipe ging. Ich bestellte einen doppelten Bourbon, dabei trinke ich so hartes Zeug sonst nicht, und als der Wirt mich fragte, woher ich käme, sagte ich ohne guten Grund: Aus Deutschland, wahrscheinlich, damit er sich gar nicht erst mit mir zu unterhalten versuchte, oder vielleicht, weil ich dringend mal eine halbe Stunde lang eine andere sein musste: Ich war eine einsame Deutsche, die sich hier die Freiheitsstatue, den Times Square und den Central Park ansehen wollte (und keine Frau, die sich ein One-Way-Ticket in ein Land gekauft hatte, wo sie nur einen einzigen Menschen kannte, der ihr nur ein einziges Mal sein Gästezimmer angeboten hatte, was, wenn sie daran zurückdachte, die Art Einladung war, die man in dem Glauben ausspricht, dass sie nie angenommen werden wird, aber jetzt war es zu spät, denn ich nahm sie ja schon an, und überhaupt; überhaupt, überhaupt).

Ein Mann setzte sich trotz der langen Reihe leerer Hocker direkt neben mich und bestellte einen Cranberrysaft ohne Schuss.

Was hast du für ’n Problem?, fragte er mich. Erzähl mir davon, Kleine.

Ich sah ihn an, als hätte ich kein Problem, von dem ich erzählen könnte, denn das ist ja mein Problem, dachte ich, dass ich nicht weiß, wie ich davon erzählen soll, und genau deshalb finde ich die Sicherheitskontrollen am Flughafen so schön, weil man da während der gesamten Prozedur weinen kann, und die Beamten sich trotzdem nur darum kümmern, ob man gleich explodiert. Wenn sie einen abtasten wollen, tasten sie einen trotzdem ab. Sie versuchen trotzdem, Metall an einem zu finden. Brüllen trotzdem etwas von Laptops und Flüssigkeiten und Gels und Schuhen, und niemand fragt einen, was nicht stimmt, denn es stimmt von vornherein schon nichts, und keiner würdigt einen eines zweiten Blickes, denn sie werden nur für den einen bezahlt. Und genau dafür sind ihnen manche Menschen manchmal dankbar.

2

Sie sahen mich und überschlugen im Kopf die Wahrscheinlichkeiten: Trickbetrug sieben Prozent, Prostitution vier, psychische Störung fünfzig, Aufdringlichkeit zwanzig, Gewaltbereitschaft vier Prozent. Davon traf wahrscheinlich nichts auf mich zu, zumindest noch nicht, doch für die Vorbeifahrenden und jeden anderen in diesem Land hätte ich alles Mögliche sein können, also drosselten sie nur das Tempo, schauten mich an, fällten ihr Urteil und fuhren weiter.

Frauen – sie schielten kurz herüber, machten ein sorgenvolles Gesicht und fuhren vorbei. Männer (das lernte ich später) beobachteten mich aus größtmöglicher Entfernung – den Blick fest auf mich geheftet, falls ich etwas wäre, das sie schießen oder fangen müssten –, hielten aber praktisch nie an. Von nahem war ich nicht so vielversprechend: bloß eine Frau mit Rucksack, Strickjacke und grünen Turnschuhen. Und dem Anschein nach jung natürlich, denn jung muss man schon erscheinen, um mit dieser Art Verwundbarkeit, am Straßenrand stehend und allen die blasse Innenseite seines Arms hinhaltend, davonzukommen. Man muss absolut harmlos erscheinen und zugleich jederzeit dazu imstande sein, jemandem ein Messer in den weichen Bauch zu rammen, sollte es erforderlich sein.

Aber all das wusste ich am Anfang nicht – ich stand nur da und wartete, ohne zu ahnen, dass ich für immer hier stehen würde, wenn ich meine Sonnenbrille aufbehielt, dass mein offenes Haar ein Signal aussendete, das ich nicht aussenden wollte, dass meine Haltung sorgfältig choreografiert sein, dass ich immer wie eine Tänzerin kurz vor dem Sprung aussehen musste.

Ich wusste nur, was ich am Flughafen von der Landkarte abgelesen hatte: Richtung Süden bis Wellington, mit der Fähre hinüber, dann Picton, Nelson, Takaka und Golden Bay, Werners Farm, jene auf ein Stück Papier gekritzelte Adresse, mit der dies alles angefangen hatte.

Als das Flugzeug an dem Morgen landete, hatte ich so ungefähr siebenunddreißig Stunden nicht geschlafen. Nachdem die Lichter gedimmt worden waren, ließ ich die Augen weit geöffnet, und meine Gedanken drifteten in einen scheinbar endlosen Horizont ab. Ich las nicht und schaute auch nicht auf den Bildschirm direkt vor meiner Nase. Ich hörte schlafenden Körpern beim Atmen zu, versuchte federleichten Stimmen, Reihen entfernt, einzelne Wörter abzulauschen. Die Flugbegleiter schwankten die Gänge entlang, zwinkerten, schürzten die Lippen und reichten mir sehr genau abgemessene Mengen essbarer Substanzen: ein Brötchen, glatt wie eine Glühbirne; ein zungenförmiges Stück Huhn; zweiunddreißig Erdnüsse in einem metallenen Schälchen. Ich biss in einen Käselappen, ohne die Plastikfolie zu bemerken, und gab das Essen auf.

Jenseits der Gepäckausgabe beobachtete ich einen Mann, der rauchte und irgendetwas den Rinnstein entlangkickte, während um ihn herum Sonnenstrahlen zersplitterten. Wie ein Gemälde von einem Heiligen sah das aus. Mehr war es nicht, dieses Land, in das ich mich hineinkatapultiert hatte.

Ach, wie könnte ich nicht für dich anhalten?, sagte die erste Frau, die mich mitnahm. Wie könnte ich nicht anhalten?

Keine Ahnung, sagte ich. Den Fuß auf dem Gas lassen?

Sie lachte, aber ich verstand gerade keinen Spaß. Schon möglich, dass es witzig gewesen war, aber als ich sie mit ausdruckslosem Gesicht anstarrte, hörte sie auf zu lachen. Eine lange, gebogene Nase gab ihr das majestätische, wenn auch unvorteilhafte Aussehen eines Falken oder Tukans. Sie sprach mit mir wie mit einem Kind, was in Ordnung war, denn ich wollte gern eins sein. Seit einiger Zeit fiel es mir schwer, mich an jene Jahre zu erinnern, so als wäre die Kindheit ein Film, von dem ich nur den Trailer kannte.

Bist ja ganz schön mutig. Ich seh nicht oft welche wie dich auf der Straße.

Es gibt solche Frauen, die deine Angst bemerken und sie Mut nennen.

Ich dachte, hier trampen viele.

Nee, sagte sie. Nicht mehr. Ist überall gefährlich heutzutage. Willst du ’ne Birne? Bedien dich. Ich hab Berge davon, Nashi-Birnen, war ’n Sonderangebot.

Sie erzählte mir von ihrem elfjährigen Sohn – ein Unfall in ihren Zwanzigern –, und ich aß eine Birne, deren Saft mir überallhin lief, aber sie fuhr nur bis Papakura und setzte mich schon nach kurzer Zeit an einer Tankstelle am Highway wieder ab.

Lass dich bloß von keinem Typen aufgabeln, hörst du? Wenn einer anhält, sag ihm, er soll weiterfahren. Wir passen hier gut aufeinander auf, wir Frauen, meine ich. Wird dich bald wieder eine mitnehmen.

Ich versprach es, auch wenn ich wusste, dass ich ihren Rat nicht befolgen würde, denn ich schaffe es nie, ein Angebot auszuschlagen, egal, was es ist; wenn ich irgendetwas mit Sicherheit von mir sagen kann, dann das.

Eine Zeitlang kamen keine Autos mehr, denen ich meinen Daumen hätte entgegenstrecken können, aber ich blieb trotzdem stehen, ohne angemessene Neugier auf dieses neue Land (ein langweiliger kleiner Berg, ein fader blauer See, eine Tankstelle wie die bei uns, nur nicht ganz). Meine Lippen wurden immer trockener, und ich dachte darüber nach, dass alle Zellen jedes Körpers sich unablässig auf einen totalen Mangel an Feuchtigkeit zubewegen und dass jeder lebendige Mensch diesen Gedanken permanent im Kopf hat, auch wenn ihn fast keiner je ausspricht, weil man diesen Gedanken ja nicht wirklich denkt, sondern nur hat, so wie man Zehen hat, jedenfalls die meisten Menschen; und dieses Wissen, dass wir alle permanent am Austrocknen sind, drückt auch in allen Autos, mit denen die Leute von A nach B fahren, aufs Gaspedal, was mir wieder bewusstmachte, dass ich gerade nirgendwo hinfuhr und viele Autos an mir vorbeigerauscht waren, ohne anzuhalten oder auch nur abzubremsen, und ich begann mich zu fragen, was passieren würde, falls mich niemand mitnahm, falls die erste Frau ein Glückstreffer gewesen und das Trampen zusammen mit anderen inzwischen als gefährlich geltende Dinge – Bleifarbe, gewisse Plastiksorten, freie Liebe – in den 70ern zurückgelassen worden war, und ich vielleicht für immer hier stehen und zusehen müsste, wie kein einziges Auto anhielt, und über meine Zellen nachdenken, die gegen ihr Austrocknen machtlos waren.

Ich beschloss, so glücklich wie möglich auszusehen, weil ich mir dachte, jemanden, der glücklich war, würden die Leute vielleicht eher mitnehmen.

Ich bin glücklich, sagte ich mir, ich bin ein glücklicher Mensch.

Ich öffnete die Augen weiter als nötig und hoffte, den Autos so mein Glücklichsein zu vermitteln, aber sie fuhren nach wie vor an mir vorbei.

Eines hupte, wie um noch extra Nein zu sagen.

Mein Arm blieb lange ausgestreckt, bis die Stelle schmerzte, wo mir immer Blut abgenommen worden war, und ich gewöhnte mich so sehr an die vorbeifahrenden Autos, dass ich völlig vergaß, warum ich hier so stand, nämlich um in ein Auto einzusteigen und irgendwo hinzugelangen, doch nichts folgte aus dem anderen – ein Auto kam, dann das nächste, aber alle fuhren ohne mich weiter. Und auch aus mir war nichts gefolgt – ich war ein menschlicher Trugschluss, sinnlos und deplatziert, ein schlechter Witz, eine Pointe ohne Landeplatz. Der Himmel hatte eine gute Himmelsfarbe, und die Luft fühlte sich gesund an, und vielleicht war dies so ein Tag, der alle Autofahrer daran erinnerte, dass Tage eine begrenzte Ressource sind und man die wenigen, über die man verfügt, tunlichst schützen sollte. So ein Tag möchte nicht von einem herausgefordert werden, möchte nicht aufs Spiel gesetzt werden, möchte nicht, dass du irgendwelche Fremden vom Straßenrand aufgabelst.

Doch schließlich bestätigte sich, was die erste Frau gesagt hatte – es waren die Frauen, die anhielten und dann behaupteten, sie nähmen nie Anhalter mit, außer Frauen, die den Daumen rausstreckten – junge Damen in Verkehrsnöten, sagte die zweite, die mich mitnahm, und ich dachte, gut, okay, wie sie meint, ich würde hier keine Wörter auf die Goldwaage legen. Dafür gab es keinen Grund. Sie war auf dem Nachhauseweg vom Krankenhaus, wo sie als Krankenschwester arbeitete, also fragte ich sie, was mir seit jenem letzten Tag im Labor nicht mehr aus dem Kopf ging:

Was passiert eigentlich mit dem Blut? Wenn sie damit fertig sind, meine ich.

Was für Blut?, fragte sie.

Das getestet wird. Wenn sie’s auf Krankheiten oder Hormonwerte oder so getestet haben. All die Röhrchenvoll Blut – was passiert damit?

Na ja, das wird entsorgt. Das ist Sondermüll.

Aber wo landet es?

An einem sicheren Ort. Zuerst in Röhren, dann in einem Sondermüllcontainer, und die Container werden dann von einer Spezialfirma abgeholt. Die bringt sie irgendwo in Sicherheit, und niemand fasst sie je wieder an.

Und damit war unser Gespräch beendet. Wir redeten kein Wort mehr, bis sie mich dort absetzte, wo sie mich absetzen musste.

Viel Glück, sagte sie, pass auf dich auf. Halt dich von den Typen fern.

3

Nach ein paar Stunden der Warterei auf der engen, baumgesäumten Straße, wo die Krankenschwester mich abgesetzt hatte, wurde mir klar, dass es an manchen Orten nicht gut ist, ein Mensch und kein Auto zu sein, und dies war so ein Ort; ab und zu schoss ein Auto um die Kurve, und das Ende vom Lied war, dass ich die Fahrer so erschreckte, wie wilde Tiere es tun, wenn sie schockstarr mitten auf der Straße stehen. Die Autos bremsten, schlingerten oder hupten, und ich wünschte, ich hätte zurückhupen können – ich weiß, ich weiß– was mache ich hier? Mir war es ja auch nicht klar. Irgendwann vollführte ein kleines rotes Auto eine Kehrtwende und hielt neben mir an, der Fahrer lehnte sich herüber, um die Beifahrertür zu öffnen, und ich stieg ein und dachte, das ist genau so einer, vor dem die Frauen mich gewarnt haben, und der Typ sagte: Wo willst du hin?, und ich sagte: Zur Fähre, und er: Welche meinst du?

Hm, die zur Südinsel?

Zur Südinsel?

Ja?

Da bist du hier aber ziemlich weit ab vom Schuss– wo kommst du her?

Vom Flughafen?

Ich sagte alles wie eine Frage, denn alles war eine Frage.

Bist ziemlich in der Pampa gelandet, was, ganz hier draußen in Ness Valley?

Ich bin hier abgesetzt worden, sagte ich und fragte mich, ob die Krankenschwester vielleicht lieber nicht über die Arbeit geredet hätte, über Blut. Ich konnte mich nicht erinnern, ob ich ihr überhaupt gesagt hatte, wo ich hinwollte.

Der Typ fuhr mich wieder rauf in die Berge, aus denen ich mit der Krankenschwester gekommen war, an den Tankstellen vorbei, den Schafswiesen, den wiederkehrenden grünen Pflanzen, den schmalen Straßen, von denen weitere kleine Straßen abzweigten, und was sollte das alles, fragte ich mich, diese ganze Welt, diese Pflanzen, diese Schafe, dieser Ort?

Das schönste Land der Welt, sagte der Typ ein paarmal, aber ich wusste, dass viele so etwas sagen und es trotzdem kein Land gibt, das von allen das schönste ist. An einer Stelle, wo eine Straße auf eine andere traf, setzte er mich ab. Viel Verkehr, sagte er, und das stimmte, aber niemand hielt für mich an. Der Himmel wurde dunkel, und dies war keine Gegend, wo es Straßenlichter gab, in puncto Lichter war es Selbstversorgergebiet, aber ich hatte kein Licht, hatte keins mitgebracht, war nicht auf die Idee gekommen, dass ich Licht brauchen würde. Es war das erste von vielen Dingen, auf die ich nicht vorbereitet war.

Am Rand eines Feldes entdeckte ich einen kleinen Schuppen, in dem ein großes Loch klaffte, und dort krabbelte ich hinein, fuhr mit den Händen die Wände entlang, um nach Schlangen oder Ratten zu tasten, fand aber nur einen verrosteten Hammer, ein Hufeisen und eine leere Glasflasche. Das Beste, was man tun kann, ist die Dunkelheit verschlafen, dachte ich, also tue ich jetzt mal mein Bestes. Beim Einschlafen kam mir der Gedanke, dass das angemessene Gefühl wohl Angst oder Reue oder ein Gemisch aus beidem gewesen wäre, aber ich empfand nichts dergleichen; ich sagte mir, wenn ich erst auf Werners Farm wäre, würde mein Leben klein und überschaubar werden, ohne Übernachtungen in Schuppen und ohne Trampen, also schlief ich, als wäre ich schon die einfachste Frau der Welt.

Am nächsten Morgen wachte ich von einem Geräusch außerhalb des Schuppens auf, das ich nicht zuordnen konnte, aber es erinnerte mich an ein vertrautes Geräusch: Ehemann im Arbeitszimmer, rhythmisches Klacken von Kreide, Pause, Klacken. Irgendetwas an dem Geruch, an der Farbe, sagte er, lockere sein Gehirn, lasse die Zahlen in der richtigen Reihenfolge herauspurzeln.

Ich dachte, du hasst die Tafel, hörte ich ihn meiner nostalgischen Anwandlung entgegenhalten.

Ja, aber wenn ich dich daran schreiben höre, ist es okay.

Mein Mann, lächelnd in meinem Hinterkopf: So erinnerte ich mich an ihn.

Ich rollte mein behelfsmäßiges Bett zusammen, steckte Handtuch und T-Shirt wieder in den Rucksack und kletterte durch das Loch nach draußen, wo ich sah, dass das merkwürdige Geräusch, das ich die ganze Zeit hörte, von den Schafen kam, die im Gras raschelten, doch sie nahmen sofort Reißaus, denn Schafe sind klug genug, niemandem über den Weg zu trauen, schon gar nicht Menschen, die in Schuppen schlafen und daraus hervorgekrochen kommen, und ich konnte es ihnen nicht verdenken, denn wenn ich ein Schaf wäre, würde ich auch vor mir Reißaus nehmen, und auch so würde ich an manchen Tagen lieber weit vor mir weglaufen, anstatt für immer in mir eingesperrt zu sein.

Ich lief auf dem Seitenstreifen einer Straße entlang. Irgendwann hörte ich hinter mir ein Motorengeräusch, also streckte ich den Arm aus, aber als ich mich umdrehte, sah ich zu meiner Überraschung einen Schulbus; nach so etwas Großem hatte es nicht geklungen. Ich zog den Arm wieder ein und ging ein Stück von der Straße weg, weil ich es nicht richtig fand, mich von einem Bus voller Kinder mitnehmen zu lassen, solange ich mir nicht sicher sein konnte, dass ich keine ungesunde Strahlung abgab. Aber der Bus hielt an, und der Fahrer kurbelte das Fenster herunter.

Ist keine sichere Gegend hier. Steigen Sie ein.

Nein, ist schon okay. Ich warte besser auf ein normales Auto.

Neeneenee, steigen Sie ein.

Wirklich?

Ich nehm Sie nur ein Stück mit, bis wir in ’ner sicheren Gegend sind. Auf diesem Teil der Straße kann ich Sie nicht rumlaufen lassen. Zu gefährlich. Das geht nicht.

Ich suchte mir einen leeren Platz, und ein Mädchen mit geflochtenen Zöpfen lehnte sich in den Gang und sagte: Ich bin zehn, und ich wusste nicht, was ich antworten sollte, also sagte ich, ohne groß nachzudenken: Ich bin achtundzwanzig.

Du bist doch nicht achtundzwanzig, sagte ein Mädchen mit roten Haaren und lachte, als hätte ich behauptet, ich wäre ein Elefant.

Bin ich nicht?

Neeeiiin.

Was glaubst du denn, wie alt ich bin?

Hundert, sagte die mit den Zöpfen.

Nein, gar nicht!, sagte die andere. Ich glaub, sie ist fünfzehn, meine Schwester ist nämlich sechzehn, und die ist größer als sie.

Wie alt bist du denn nun?, fragte die mit den Zöpfen.

Hab ich vergessen, sagte ich.

Wo willst du hin?, fragte die Rothaarige.

Ich weiß nicht. Auf irgendeine Farm.

Bist du Farmerin?

Genau, sagte ich.

Und wo ist deine Farm?

Ich zeigte Richtung Süden, glaube ich jedenfalls, aber vielleicht war es auch Westen oder sogar Norden, und spielte das eine Rolle? Wenn man oft genug abbog, kam man immer an denselben Ort zurück. Die Mädchen hinten im Bus sangen ein Lied und klatschten dazu immer schneller und lauter mit den Händen.

Ruhe dahinten!, brüllte der Fahrer, und sie gehorchten.

Die Rothaarige beugte sich um meinen Sitz herum zu mir vor. Ihre Haut hatte die Beschaffenheit von billigem Klopapier, und ihre Augen waren leuchtend grün, wie kleine, in ihren Schädel eingesetzte Luxusgegenstände. Ihre Gesichtsknochen traten stärker hervor als bei einem Mädchen in dem Alter zu erwarten – entweder war sie unterernährt oder sie sah von Natur aus verletzlich aus.

Soll ich dir ein Geheimnis verraten?, flüsterte sie. Wir sind Ausreißer. Wir sind alle von zu Hause ausgerissen. Er bringt uns zur Polizei.

Ich drehte mich kurz zu den anderen Mädchen um. Ein paar reckten ihre Schwanenhälse in den Gang und schauten zu mir. Ich hörte ein paar hohe Stimmen in den Sinkflug gehen und dann flüstern.

Wie heißt du?

Elyria. Und du?

Alison. Wo kommst du her?

New York. Und du?

Von einem anderen Planeten. Ich bin aus dem Weltraum ausgerissen. Nebelflecken interessieren mich nicht. Sie lächelte mit all ihren kleinen Zähnen. Willst du noch ein Geheimnis wissen?

Klar.

Ich hab zwei Herzen. Ein normales und darunter noch ein kleines Babyherz. Und weißt du noch was? In meinem Gehirn steckt ein dritter Augapfel, aber der kann nichts sehen, weil es da drinnen zu dunkel ist. Das hat der Arzt mir gesagt. Er hat mir ein Bild davon gezeigt, das wurde in einem großen weißen Raum mit einem Roboter gemacht. Hast du schon mal einen Roboter gesehen? Ich nämlich schon.

Ihr Gesicht drückte jetzt irgendetwas Ernstes aus, und ich wusste nicht, was ich sagen sollte, war mir nicht sicher, ob das alles so stimmte, mit dem Roboter, dem Arzt, dem Extra-Auge und dem Extra-Herz – wie furchtbar, gerade davon zu viele zu haben –, aber da hielt der Bus an, und der Fahrer hob den Arm und winkte mich nach vorne.

Tschüss, sagte ich.

Bis bald, sagte Alison.

Als ich vorne ankam, starrte der Fahrer bloß geradeaus, und ich betrachtete seine knorrigen Hände am Lenkrad, in Zehn-vor-zwei-Stellung, und sah das Fleisch an seinem Gesicht hängen, als wäre es hastig daraufgeklatschter Lehm, ganz uneben und lose, und so wie er mit dem Kiefer mahlte und die Nasenflügel blähte, fürchtete ich, dass er irgendetwas Blutrünstiges mit seinem Leben anstellte, etwas, bei dem Köpfe gegen Beton gepresst oder Münder mit Dingen gefüllt wurden, die dort nicht hingehörten, und ich wusste zwar nicht, ob das stimmte, aber wenn, dachte ich, dann würde er immer weiter so durchs Leben pflügen, würde immer weiter Menschenleben kleinhäckseln wie ein Mähdrescher, bis in alle Ewigkeit, es sei denn, ich tötete ihn gleich hier mit meinen bloßen Händen, würfe seinen Leichnam vor den Augen all der Mädchen aus dem Bus und führe sie dann direkt ins Krankenhaus, wo sie wegen posttraumatischer Belastungsstörung behandelt werden könnten, und ich wusste, dass das Potenzial dazu zwar in mir eingesperrt war wie eine Giftschlange, die ich mir als Haustier hielt, dass mir aber fehlte, was man brauchte, um es zu nutzen, um das Böse in sich an den Pflug zu lassen.

Danke, sagte ich zu dem Busfahrer, damit er bloß nicht merkte, was ich gerade dachte, und eines der Mädchen hinten im Bus rief: Man soll nicht von sich auf andere schließen, und mir stockte kurz der Atem, obwohl mir klar war, dass sie nicht mich meinte, und ich fürchtete, dass ich das, was ich in dem Busfahrer gesehen hatte, in mir selbst sah, dass ich von mir auf ihn geschlossen hatte.

Der Busfahrer sagte: Bitte. Hier sind Sie sicherer, und ich fragte mich, ob er wusste, was ich außerdem noch war.

4

Ich lief ein paar Stunden am Straßenrand entlang und dachte darüber nach, ob es möglich war, dass Alison wirklich ein Extra-Auge und ein Extra-Herz hatte, ob man mit so einem Überschuss leben könnte, und irgendetwas an Alisons Art zu reden erinnerte mich an Rubys Art zu reden oder daran, wie Ruby einmal gesagt hatte, sie habe zwei Herzen. Vielleicht erinnerte ich mich auch falsch und sie hatte etwas Komplizierteres gesagt, etwas, woran deutlich wurde, dass wir nicht dieselbe Sprache sprachen und uns einander nicht restlos verständlich machen konnten. Eines Abends hatte ich das begriffen – dass wir nicht mehr in der Lage waren zu verstehen, was die andere sagte, es vielleicht noch nie gewesen waren –

Wer lässt eine Sechzehnjährige allein nach New York ziehen?

Es war Thanksgiving, und wir rauchten nach einem späten Essen hinten im Garten Zigaretten (von Mom natürlich, auf die sich das Wer ihrer Frage bezog), und ich wusste nicht, ob ich sie nach ihrem Collegeleben als Wunderkind fragen sollte – war sie einsam? Hatte sie Freunde gefunden? Waren ihre Kurse endlich anspruchsvoll genug? Ich würde ihre Antworten ja doch nicht verstehen, sie würde auf philosophische Konzepte anspielen, von denen ich noch nie gehört hatte, auf Dinge Bezug nehmen, die ich nicht einordnen konnte, und ich würde nur dumm dastehen, unfähig mitzuhalten. Ich hatte mit Ach und Krach die Highschool-Kurse bestanden, von denen sie freigestellt worden war.

Während wir rauchten, schubste ich Ruby auf der Schaukel an, und wir sahen Mom sabbernd auf dem kleinen Sofa im Wintergarten liegen und ihren Rausch ausschlafen. Sie war den ganzen Tag am Anschlag gewesen, hatte Beaujolais in sich reingekippt, das ganze bestellte Essen anbrennen lassen, als sie es noch mal aufwärmen wollte, Ruby ein abtrünniges Genie genannt und aus Versehen auf ihren Teller geascht.

Da ist ja unser geniales Mädel, unser kleines abtrünniges Genie! Wie macht sie das nur? Ich weiß einfach nicht, wie sie das macht!

Aber jetzt war abgesehen vom Knarren der Schaukel und dem schwachen Geräusch unseres Atems endlich alles ruhig, und obwohl dies eine der tausend Chancen auf ein bedeutungsvolles Gespräch mit Ruby war, irgendeinen schwesterlichen, emotionalen Austausch, nutzte ich sie nicht – ich hielt die Schaukel an, streckte ihr ein imaginäres Mikrofon entgegen und sagte: Also, Ruby, wie machen Sie das nur?

Und Ruby ging darauf ein, weil auch sie in einer Fiktion leben, sich weiter etwas vormachen wollte.

Das will ich Ihnen sagen, Bob. Das Geheimnis meines Erfolges ist: Ich entwerfe einen Plan und handle schnell. Ich zweifle nichts im Nachhinein an. Ich bin nie unschlüssig.

Tja, Leute, da habt ihr’s, sagte ich, aber da waren keine Leute.

Ein Transporter bremste ab und hielt neben mir, und die Erinnerung verblasste. Der Fahrer lehnte sich aus dem Fenster, sein rechter Arm war über und über mit Tattoos bedeckt, mattschwarze Reben, die mit dunkler Haut verschwammen.

Simon, sagte er.

Elyria, sagte ich.

Elyria! Was für ’n irrer Name. Hippie-Eltern?

Eher nicht.

Ich sagte ihm nicht, was ich auch sonst niemandem sagte – dass Elyria eine Stadt in Ohio war, die meine Mutter nie besucht hatte. Das war alles, wofür mein Name stand: eine Stadt, in der meine Mutter nie gewesen war.

Über Simons Mund hing so etwas wie ein Schnurrbart, und er hatte sonderbare Falten um die Augen, die mit dem Rest seines maschinenglatten Gesichts nicht zusammenpassten.

Ich starrte auf die zwecklosen Hügel, die um uns herum die Landschaft wellten – die Bäume allesamt Gefangene des Bodens, in der Ferne ein grauer Berg, stoisch und gelangweilt –, und Simon begann mit einem Monolog über sich und sein Leben –

Ich fahr seit sieben Monaten auf der Nordinsel rum, hab ’ne Zeitlang für Winzer gearbeitet, um Geld zu sparen, aber auf mich selbst gestellt bin ich schon lange. Mit sechzehn bin ich von meinen Eltern weg. Mein Vater hat meinen kleinen Bruder mal windelweich geprügelt, richtig krankenhausreif, da hab ich gesagt… also ehrlich… geht’s noch?, hier bin ich fertig, danke. Schon mal einen Zehnjährigen mit einem blauen Auge von seinem eigenen Papa gesehen? So was willst du nie zu sehen kriegen.

Fast gefiel es mir, dass er so viel redete und seine Fragen selbst beantwortete, dass alles so einfach war, wie im Fernsehen. Ich hatte noch nicht mehr als zehn Wörter gesagt, und vielleicht waren das ja meine letzten gewesen, vielleicht würde ich bis ans Ende meines Lebens kein Wort mehr sagen, dachte ich, während Simon mir davon erzählte, wie seine Eltern ins Gefängnis gekommen waren, irgendeine Betrugsgeschichte, Immobilien, Häuser in Miami, London, L.A., alles beschlagnahmt, und womöglich war es das – war das alles, was ich brauchte –, jemanden, der ganz selbstverständlich all die Stille ausfüllte, die das Leben in sich birgt.

Papa hat’s dann mir in die Schuhe zu schieben versucht, und selbst der Richter hat kapiert, dass er einen vom Pferd erzählte. Mein Pa hatte den bösen Blick. Jeder, der auch nur halbwegs bei Trost war, konnte das sehen. Kam in den Nachrichten damals, vor allem so Boulevarddreck. Du weißt schon, Tätowierter Teenager entzweit Eltern, Gewaltvorwürfe im Raum – diese Art Dreck.

Er erlaubte sich ein mattes Lachen.

Das ist schlimm, sagte ich, mein Schweigen brechend.

Ist, wie es ist.

Das heißt doch, dass man etwas schlimm findet.

Hast recht. Es ist schlimm.

5

Schlimm war auch, wie ich meinen Mann kennengelernt hatte.

Er trug an dem Tag einen Anzug, und sein dunkelroter Schlips ließ seine Augen noch grüner und seine Haut noch blasser wirken. Er war zweiunddreißig, sah aber jungenhaft aus. Ich war gerade mal zweiundzwanzig und wurde von allen älter geschätzt. Wir saßen in einem kleinen, brutal hell erleuchteten Wartebereich auf der Polizeiwache der Universität. Ungefähr zwanzig Minuten saßen wir da nebeneinander, ohne etwas zu sagen oder auch nur kurz zu dem anderen hinzuschauen, denn das geht schwer, wenn man die ganze Zeit darüber nachdenkt, was eine Frau sich anzutun imstande ist und wie schnell ein gepflasterter Hof an einem schönen Herbstnachmittag zu einem Ort werden kann, den man nie wiedersehen möchte. Polizeibeamte sprachen in Telefone und Walkie-Talkies, und eine Beamtin kam herüber und fragte mich nach meinem Namen.

Elyria Marcus.

Ruby war Ihre Schwester?

Adoptiert, ja, sagte ich, falls sie wussten, dass sie Koreanerin gewesen war, und mir ansehen konnten, dass ich keine bin.

Die Beamtin nickte und machte einen Vermerk auf ihrem Klemmbrett. Sie schaute meinen Mann an, der zu dem Zeitpunkt bloß ein neben mir sitzender Fremder war, und darüber, warum er hier saß oder wer er sein könnte, hatte ich mir noch gar keine Gedanken gemacht.

Herr Professor, wir müssten Ihnen ein paar Fragen stellen, wenn das in Ordnung ist, sagte sie.

Natürlich, sagte er und folgte ihr in die hinteren Räume der Wache.

Während er fort war, tauchte Mutter auf, schlaff und schläfrig von dem Zeug, das Dad ihr damals zusteckte. Dad war natürlich nicht da, sondern in Puerto Rico beschäftigt, mit billigen Brust-OPs oder dergleichen. Mom ließ sich auf den Stuhl neben mir fallen.

Oh, der ist ja waaarm, nuschelte sie. Was für ’ne schöne Überraschung.

Sie schlängelte ihren Arm unter meinem hindurch und legte den Kopf an meine Schulter.

Baby, Baby, mein kleines Baby. Jetzt gibt’s nur noch dich und mich. Keinen Ruby-Rubin, keine Ruby-Pantoffeln, kein Ruby Tuesday mehr. Ach, unsere Ruby, Ruby.

Angeblich soll es ja normal sein, wenn Menschen in solchen Momenten Unsinn reden, aber sie weinte keine Träne, schien nicht mal kurz davor, und das führte dazu, dass ich mich noch schlechter fühlte, denn bei mir war es nicht anders. Ich versuchte den Eindruck zu erwecken, als stünde ich unter Schock, stand ich aber nicht, nicht wirklich. Mutter bemühte sich gar nicht erst, so zu tun, so ein roher Mensch ist sie. Ein Beamter kam zu uns, um uns sein Beileid auszusprechen oder Mom etwas unterschreiben zu lassen, und sie hielt ihm ihre Hand hin, als erwartete sie, dass er diese küsste. Er schüttelte sie mit abgeknicktem Handgelenk und verdrückte sich schnell wieder.

Meine süße kleine Ruby… Was hat sie noch immer gesagt, Elyria? Bin ich deine asiatische Lieblingstochter? Sie war doch meine einzige asiatische Tochter, Elly. Was meinte sie denn um Himmels willen damit? Ich hab das nie verstanden. War das nur ein Witz? Hat sie dir je erklärt, wie sie das meinte?

Ich rieb meiner Mutter einen Lippenstiftfleck von der Nase. Es sah aus, als hätte sie das Rot beim Reden und Autofahren aufgetragen, und genauso war es wahrscheinlich auch gewesen.

Es war ein Witz, Mom.

Sie war so schön, Elyria, so klug. Die Leute müssen sich gefragt haben, wie sie es mit uns ausgehalten hat. Das müssen die Leute sich doch gefragt haben, selbst ich habe es mich gefragt. Manchmal bin ich abends lange wach geblieben, nur um sie schlafen zu sehen, und hab darüber nachgedacht, wie sie es bloß mit uns aushielt. Wahrscheinlich hat sie es einfach nicht mehr ertragen, wie hässlich wir sind.

Mom, hör auf.

Es ist ja nicht deine Schuld. Wir sind so geboren. Na ja, du eigentlich nicht, Liebes, aber –

Sie richtete sich auf, schob sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und holte eine Menge Luft. Sie atmete langsam wieder aus, packte meine Hand, schaute mir in die Augen und drückte zu. Es war seit Jahren der erste zärtliche Moment zwischen uns, aber er endete schnell.

Ichbrauche so viele Zigaretten, sagte sie und wankte davon. Durch die Glaswand zum Eingangsbereich der Wache sah ich, wie sie sich eine Zigarette anzündete, die erste von zwölf, wie sich zeigen sollte. Alle paar Minuten kam jemand zu ihr und verbeugte sich fast, wie es schien. Entschuldigen Sie, sah ich ihre Münder sagen, während sie auf das RAUCHEN IM UMKREIS VON 15 METERN VON DIESER TÜR VERBOTEN-Schild wiesen, und sie fiel ihnen so laut ins Wort, dass ich es trotz der Glaswand hörte. Wissen Sie, was meiner Tochter Ruby passiert ist? Ruby Marcus? Sie ist heute gestorben, und zwar nicht am Passivrauchen. Wenn das nicht zog, fügte sie hinzu: Hauen Sie ab, ich trauere, und das zog dann meistens.

Der Professor, der noch nicht mein Mann war, kam zurück, blieb ein paar Zentimeter zu dicht vor mir stehen und blickte zu mir herab. Seine blasse Haut leuchtete. Ich bemerkte, dass sein Anzug um die Mitte herum zu weit und an den Ärmeln zu kurz war.

Möchten Sie irgendetwas wissen? Über sie? Ich war der Letzte, der mit ihr gesprochen hat. Nimmt man an.

Es interessierte mich nicht besonders, was irgendein Professor zu Ruby gesagt hatte. Ich hatte sie am Morgen selbst gesehen; sie war kein Mysterium. Wir hatten uns vor der Bibliothek getroffen, beide einen Pappbecher mit verbranntem Kaffee in der Hand. Sie sah furchtbar aus, so als hätte sie tagelang nicht geschlafen, und sagte, es gehe ihr sogar noch schlechter, als sie aussehe, also fragte ich sie: Wie viel schlechter?, und sie sagte, sie wolle nicht darüber reden, und da ich nicht darüber reden wollte, wenn sie es nicht wollte, redeten wir über gar nichts. Wir tranken den Kaffee aus und gingen unserer Wege. Die Schuld (zumindest ein Teil davon) lag bei mir. Ich hatte nie herausgefunden, wie ich mich mit ihr verwandt fühlen sollte.

Ich hatte keine Lust, mit irgendwem zu sprechen, schon gar nicht über Ruby; aber die Stimme des Professors war so schön gleichmäßig und ruhig. Er klang wie ein Rundfunkreporter, und diesen persönlichen Funk wollte ich hören; seine Stimme sollte weiter und weiter laufen. Mutter lehnte da draußen an der Glasscheibe und zündete sich die nächste Zigarette an. Unter ihrem zerknitterten Oxfordhemd sah man einen dunklen BH.

Gut, sagte ich zu dem Professor. Ich höre zu.

Er setzte sich langsam hin, die Knie leicht zu mir gedreht.

Ich kannte Ruby erst seit dem Beginn des Semesters, als sie meine Assistentin wurde. Mir war natürlich klar, dass sie überqualifiziert war. Sie war begabt, wissen Sie, und arbeitete an einigen großartigen wissenschaftlichen Beweisen.

Seine Sätze waren hart und schlicht, als hätte er den ganzen Nachmittag über daran gefeilt.

Ich habe nie verstanden, was sie hier gemacht hat, sagte ich. Wir haben nicht darüber gesprochen.

Also… ich weiß nicht, wie ich beschreiben soll, was Ruby heute für einen Eindruck auf mich gemacht hat. Ich bin nicht gut darin, Gesichter oder Gefühle zu lesen, wissen Sie, das ist nicht so mein Ding. Ich bin eher ein Zahlenmensch. Aber sie wirkte– vielleicht ein wenig zerstreut. Sie gab mir ein paar Arbeiten von sich, bat mich, sie durchzusehen, und ging.

Und?

Was meinen Sie?

Die Arbeiten. Waren die bedeutend?