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Ein spannender psychologischer Krimi um eine schwarze Frau in den Südstaaten, die sich mit Verstand, List und Humor durchs Leben schlägt. Blanche White, eine schwarze Hausangestellte, hat zwei ungedeckte Schecks in Zahlung gegeben und soll deshalb für dreißig Tage hinter Gitter. Als sie kurz entschlossen flieht, kann sie als Haushälterin auf dem Landsitz einer reichen weißen Familie untertauchen. Doch sie gerät vom Regen in die Traufe … (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)
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Seitenzahl: 326
Veröffentlichungsjahr: 2016
Barbara Neely
Night Girl
Ein Kriminalroman
Aus dem Amerikanischen von Helga Bilitewski
FISCHER Digital
Fischer Frauenkrimi
Für meine Schwester Vanessa
Blanche hat mehr Mütter und Geburtshelferinnen gehabt als eine kleine Nation, und ich danke allen und jeder einzelnen von ihnen. Insbesondere danke ich Jeremiah Cotton für seine beständige Unterstützung, Kate White für ihre unermüdliche Redaktionsarbeit, Helen Crowell dafür, daß sie mir das Down-Syndrom erklärte, ferner Maxine Alexander, Taifa Bartz, Babs Bigham, Donna Bivens, Dick Cluster, Shelley Evans, Roz Feldberg, Charlene Gilbert, Lucy Marx, Ann, Vanessa und Bryan Neely sowie Barbara Taylor für das sorgfältige Lesen und ihre unschätzbaren Kommentare.
»Haben Sie zu Ihrer Verteidigung etwas zu sagen?« Der Richter sah Blanche mit einem Blick an, der sie bewog, ihre Handtasche wie einen Schutzschild vor die Brust zu heben.
»Euer Ehren … ich bedaure … ich …«
»Bedauern? Zu bedauern ist es allerdings! Es ist das vierte Mal, ich wiederhole, das vierte Mal, daß Sie wegen Scheckbetrugs vor diesem Gericht stehen. Vielleicht wird ein Gefängnisaufenthalt Sie davon überzeugen, daß Sie, wie wir anderen auch, Ihr Geld erst verdienen müssen, bevor Sie es ausgeben. Dreißig Tage und Schadenersatz!«
»Aber Euer Ehren …« Blanches Knie wurden plötzlich weich. Ihre Hände waren eiskalt. Auf ihrer Nase brachen Schweißperlen aus. Sie wollte dem Richter erklären, daß eine Gefängniszelle für einen Menschen, der schon in langsamen Fahrstühlen in Panik geriet, eine grausame und ungewöhnliche Strafe war. Sie wollte ihn auch fragen, wie zum Teufel er dazu käme, solche Lügen über sie zu verbreiten. Dies war ihr zweites und nicht ihr viertes Verfahren. Außerdem hätte sie, auch wenn sie nicht vor Gericht zitiert worden wäre, genau wie beim ersten Mal ihre Scheckschulden beglichen. Hatte sie nicht schon drei von fünf Schecks, die sie ausgeschrieben hatte, gedeckt? Und hier in ihrer Handtasche hatte sie die zweiundvierzigfünfzig, die noch offen waren, plus der fünfzig Dollar für die Geldstrafe – dieselbe Summe, die der Richter sie das letzte Mal hatte zahlen lassen. Aber das letzte Mal hatte sie einen Richter gehabt, der in Gedanken schon auf dem Golfplatz gewesen war. Er hatte sich kaum die Mühe gemacht, sie auch nur anzusehen. Gefängnis war damals kein Thema gewesen.
»Euer Ehren …«, begann sie nochmals.
Der Schlag mit dem Hammer klang wie ein Gewehrschuß durch den Raum. »Der nächste Fall!«
»Kommen Sie.« Die Hand der Aufseherin auf Blanches tiefschwarzem Oberarm war weiß wie Gips. Blanche blickte sich im Gerichtssaal um, aber niemand zeigte auch nur das geringste Interesse an ihr. Ihr Platz vor dem Richter wurde bereits von einem gebeugten, traurig dreinblickenden Weißen mit zerschlissenen Schuhen und Händen so rot wie rohes Fleisch eingenommen.
Man brachte sie in ein Nebenzimmer mit Metalltischen und Stühlen, die genauso aussahen wie in all den Filmen über Gefängnisse, die sie gesehen hatte. Auf einer langen Bank an der gegenüberliegenden Wand saß ein dunkelblonder, rundköpfiger Junge in Jeans und Cowboystiefeln. Sheriff Stillwell stand neben ihm, seine kurzen O-Beine krümmten sich unter dem Gewicht seines Bauches. Seine rechte Hand lag auf der Pistole, und sein Blick bohrte ein Loch in die gegenüberliegende Wand. Blanche versuchte, den Blick des Jungen zu erhaschen, um jemanden zu sehen und von jemandem gesehen zu werden, bevor sie beide verschwanden … Sie griff sich an den Magen und wandte sich halb zu der Aufseherin um.
»Ich muß mal auf die Toilette!«
Die Aufseherin sah sie mit einem verärgerten Stirnrunzeln an, blickte auf ihre Uhr und zog Blanche durch eine andere Tür, die auf den hinteren Flur führte. Schräg gegenüber, zwischen der Treppe und der Männertoilette, befand sich eine Tür mit der Aufschrift DAMEN.
Das schmutzige Oberlicht warf ein trübes Licht auf den rissigen Marmorfußboden. Der Raum, in dem sich ein fleckiges Waschbecken und eine Toilettenkabine drängten, war kaum groß genug für die beiden Frauen. Blanche betrat die Kabine und bedeckte die Klobrille mit Toilettenpapier, ehe sie sich hinsetzte, um sich unter so wenig Geräusch wie möglich zu erleichtern.
»Ich warte draußen im Flur«, murmelte die Aufseherin mit angeekelter Stimme.
Blanche stützte wütend die Ellenbogen auf die Knie. Die Gedanken schossen ihr durch den Kopf wie Mäuse in einer verlassenen Küche. Ich hätte es wissen müssen, sagte sie sich und schaukelte auf ihrem Sitz vor und zurück. Ich hätte es wissen müssen. Sie schlang die Arme fest um ihren Körper und tröstete sich so, wie sie sonst ihre Kinder tröstete. Sie schloß die Augen und sah den Richter, der ihr vorwarf, weniger wert zu sein als Schlangendreck. Sie öffnete die Augen, nur um zu sehen, wo sie war und was sie erwartete.
Sie wußte, daß sie sich Gedanken machen sollte, was sie alles im Gefängnis brauchen und Durham County ihr bestimmt nicht zur Verfügung stellen würde. Sie müßte auch überlegen, was ihre Mutter den Kindern sagen sollte. Außerdem müßte sie sich selbst überzeugen, daß sie die nächsten dreißig Tage überleben könnte und würde. Statt dessen ärgerte sie sich über den Richter, weil er ein unfairer Dickschädel war, und über sich selbst, weil sie alle Zeichen für den aufziehenden Ärger ignoriert hatte:
Das gleichzeitige Jucken und Zucken in ihrer Hand, als sie in der Küche stand und die gerichtliche Vorladung las, und wie das Glas, aus dem sie trank, kurz bevor sie sich auf den Weg zum Gericht machte, plötzlich gesprungen war, als sie es an die Lippen hielt. Beide Vorfälle hatte sie ignoriert, obwohl sie immer behauptete, daß das Lesen der Gedanken anderer Menschen, das Deuten von Zeichen und Einschätzen von Situationen genauso zu ihrem Job gehörte wie das Fußbodenschrubben und das Bettenmachen. Sie warf den Kopf zurück, um die Tränen am Tropfen zu hindern, und sehnte sich nach der vergeblichsten aller Hoffnungen – der Chance, ihr Leben so verändern zu können, daß sie nicht in dieser Situation wäre.
Ich hätte in New York bleiben sollen, sagte sie sich; zumindest habe ich dort genug verdient, um meine Schecks zu decken. Aber an dem Tag, als Taifa und Malik aus der Schule kamen und ihr von dem Mann erzählten, der versucht hatte, sie mit dem Versprechen auf eine Run-DMC-Cassette in seinen Lieferwagen zu locken, wußte Blanche, daß sie New York verlassen mußten. Sie hatte ihre Kinder und ihr Hab und Gut zusammengesammelt und sich in die relative Sicherheit von Farleigh in North Carolina begeben, wo sie und die Kinder geboren waren.
Und das hatte sie hierhergebracht.
Warum, zum Teufel, hatte sie sich nicht Geld geliehen und damit in den Geschäften und bei den Stadtwerken bezahlt, statt diese verdammten Schecks auszuschreiben? Zu stolz, haderte sie mit sich selbst. Immer noch am Träumen. Immer noch in der Hoffnung, einen Arbeitgeber zu finden, der bereit war, eine Vollzeit-Haushälterin zu bezahlen, statt für diesen Haufen sogenannter vornehmer weißer Südstaatlerinnen zu arbeiten, für die sie zur Zeit stundenweise tätig war. Die meisten von ihnen schienen zu glauben, daß sie froh sein müßte, für einen Hungerlohn ihre Toiletten putzen und ihre Mülleimer leeren zu dürfen. Farleigh war nicht New York oder gar Raleigh oder Durham und schon gar nicht Chapel Hill, wo es reichlich Akademiker und andere Berufstätige gab, die sich nach einer guten Haushaltshilfe sehnten. Trotz seiner großen Ambitionen war Farleigh immer noch eine Kleinstadt. Die Leute, die hier wohnten und Geld hatten, selbst die wirklich reichen, wähnten sich noch immer in den Zeiten der Sklaverei, als eine schwarze Frau dankbar war, im Haus arbeiten zu dürfen. Selbst zu dem in Farleigh üblichen Lohn gab es in der Stadt keine Schwarzen, die sich jemanden wie Blanche leisten konnten – was nicht heißen sollte, daß die Arbeit bei Schwarzen eine gute Behandlung garantierte, so traurig es auch war, das sagen zu müssen.
Zu stolz. Das war schon immer ihr Problem gewesen. Als sie das erste Mal wegen ihrer Schecks vor Gericht geladen wurde, hatte sie nicht gewußt, was sie erwartete, und hatte auch niemanden gefragt. Sie wollte niemandem gestehen, daß sie sechs Tage pro Woche arbeitete und trotzdem nicht genug Geld verdiente, um für sich und ihre Kinder sorgen zu können. Sie war nicht schuld an ihrem niedrigen Lohn, aber trotzdem fühlte sie sich wie eine Närrin, als wäre sie auf einen ganz offensichtlichen Betrug hereingefallen.
»Beeilen Sie sich, Mädel!«
Die mürrische Stimme der Aufseherin zerstörte jede Illusion, die Zeit würde stillstehen. Blanche sann auf etwas, woran sie sich festhalten konnte, etwas, was ihr helfen würde, das durchzustehen, was vor ihr lag. Wenn sie die Frau gewesen wäre, zu der ihre Mutter sie hatte erziehen wollen, hätte sie gebetet. Statt dessen beschloß sie, sich einen Anwalt zu besorgen. Ich hätte mir von Anfang an einen Anwalt nehmen sollen, schalt sie sich; nicht daran gedacht zu haben kam ihr jetzt dumm vor. Schließlich hatte sie keine böse Absicht gehabt. Wenn nicht vier ihrer Arbeitgeberinnen die Stadt verlassen hätten, ohne sie zu bezahlen, hätte sie genug Geld auf dem Konto gehabt, um die Schecks zu decken. Sie strich ihren Rock glatt und kämpfte noch gegen den Wunsch an, zu weinen und zu betteln und sich in ihrer Angst zu suhlen, als draußen im Flur ein lautes Stimmengewirr ausbrach.
Männerstimmen, die laute Fragen riefen, und Fußgetrappel drangen deutlich durch das Oberlicht. Blanche nahm ihre Handtasche und verließ die Toilettenkabine, ohne die Spülung zu betätigen. Lauschend blieb sie stehen, als der Lärm auf dem Flur noch zunahm. Sie öffnete die Tür einen Spaltbreit.
Die Aufseherin stand links von der Tür, fast vor der Männertoilette. Sie schaute, von Blanche abgewandt, den Flur hinunter zu einer Gruppe von Männern mit Kameras, Notizblöcken und Mikrofonen. Sie umringten jemanden, den Blanche nicht sehen konnte, aber sie war sicher, daß es sich um den Bezirksrat handeln mußte, der kürzlich wegen Annahme von Bestechungsgeldern angeklagt worden war.
Sie war überzeugt, daß er keine dreißig Tage bekommen würde. Ein bißchen schlechte Publicity und das Mitgefühl von Leuten, die leicht in seine Situation geraten könnten, waren ungefähr alles, womit er zu rechnen hatte. Sie schaute sich um und sah die Treppe auf der gegenüberliegenden Seite – nach dem AUSGANG-Schild zu urteilen, führten diese Stufen zweifellos nach draußen.
Blanche öffnete die Toilettentür nur so weit, daß sie auf den Flur hinausschlüpfen konnte. Seitwärts schlich sie zur Treppe. Der Teil von ihr, der dazu erzogen worden war, an das Gesetz zu glauben und es zu befolgen, drängte sie, umzukehren, bevor es zu spät war. Aber der Gedanke an die dreißig Tage hinter Gittern, die immer näher rückten, und das Leben hinter einer Tür, die sie nicht öffnen könnte, machte es ihr unmöglich, umzukehren. Und der Gedanke an den Bezirksrat, der ungeschoren davonkam, stachelte sie an.
Auf Zehenspitzen rannte sie die Treppe hinunter. Dabei preßte sie sich so dicht, wie es für eine beleibte Frau nur möglich war, an die feuchte grüne Wand und wünschte, sie könnte darin verschwinden. Ein Absatz. Zwei Absätze. Immer noch hörte sie die schrillen Stimmen der Reporter, die laute Fragen schrien. Sie konzentrierte sich auf die Tür mit dem AUSGANG-Schild und befahl ihr, nicht abgeschlossen und auf der anderen Seite von Vertretern des Sheriffs umstellt zu sein.
Ein schwerer Seufzer drang aus ihrer Brust, als sie beim Öffnen der schweren Tür die dunkle Tiefgarage erblickte. Sie sah niemanden, aber sie war vernünftig genug, nicht zu rennen. Eine rennende schwarze Person war in dieser Stadt noch immer verdächtig, auch wenn es eine Frau war. Sie duckte sich tief und huschte ungeachtet ihrer vierzig Jahre im Zickzack über den Parkplatz auf den Ausgang zu, der hell im Tageslicht strahlte.
Sie befand sich auf der Rückseite des Gerichtsgebäudes. Sie trat auf den Bürgersteig hinaus, zog ihr Kleid zurecht und entfernte sich schnellen Schrittes vom Gerichtsgebäude und den Einkaufsstraßen. Sie gab sich alle Mühe, sich wie eine Frau zu bewegen, die ernsthaften Geschäften nachging – den Blick geradeaus gerichtet und einen entschlossenen Zug um den Mund. Ihre Ohren lauschten angestrengt auf das Ertönen von Sirenen oder Rufen, die ihr »Halt!« gebieten wollten. Sie unterdrückte den Wunsch, sich umzusehen oder nach Straßen Ausschau zu halten, die zu ihrem Viertel führten. Jeder, der fernsah, wußte, daß es dumm war, sich zu Hause zu verstecken. Eine junge weiße Frau mit einem kleinen Kind sah sie neugierig an. Blanche eilte hastig um die nächste Ecke. Sie wußte, daß sie weniger auffallen würde, wenn sie langsamer ging, aber ihre Beine ließen es nicht zu. Ihr Gehirn hatte ihnen »Laufen!« signalisiert, und sie waren entschlossen, diesem Befehl zu folgen.
Sie machte von Natur aus große Schritte und ging meistens so schnell, daß ihre Freundin Ardell sich weigerte, mit ihr irgendwohin zu gehen. Jetzt fegte sie um die Ecken und unbekannte Straßen hinunter, bis ihr das Herz wie ein Gefangener, der seine Entlassung fordert, gegen die Brust schlug. Der Bürgersteig hämmerte gegen ihre Fußsohlen – es waren harte, unangenehme Schläge, die durch ihren Körperumfang noch unerträglicher wurden. Obwohl sie sich nicht für dick hielt, gab sie zu, daß sie kräftige Knochen und breite Hüften hatte. Und dazu passende Brüste und Unterarme, wenn man genau sein wollte. Nur ihre Beine waren eher schlank. Sie hatten jedoch keine Mühe, sie so schnell und so weit zu tragen, wie sie wollte.
Zum ersten Mal in ihrem Leben sehnte sie sich nach einem dieser grauen, regnerischen Tage, wo die Menschen sich in sich selbst zurückziehen, unwillig, hinauszuschauen und die Welt und andere Menschen zu sehen. Sie zu sehen. Sie lief sehr schnell, bis sie dermaßen außer Atem war, daß sie stehenbleiben mußte. Sie lehnte sich an einen nahe stehenden Baum. Sie mußte nachdenken, einen Plan machen.
Um sie herum nichts als geschorene und gebändigte Rasenflächen aus einer dieser fußweglosen Welten, in denen sie für Frauen die Fußböden schrubbte und Betten machte, zu deren größten Lebenszielen es gehörte, sie bei der Hausarbeit zu beaufsichtigen und vor ihren Freundinnen damit zu prahlen, wie gut sie sie gedrillt hätten. Diese Gegend lag oberhalb derjenigen, wo sie zur Zeit arbeitete. Von der Straße aus waren keine Häuser zu sehen, aber die Gegenwart massiver alter Häuser mit mehr als einer Hausangestellten war in der Luft zu spüren. Sie wünschte, sie hätte ein kleines weißes Kind in einem Kinderwagen bei sich oder einen Pudel an der Leine, damit sie so aussah, als gehörte sie hierhin.
Sie folgte der schmaler werdenden Straße, bis sie an ein Straßenschild kam – Grace Road und Cranberry Way. Wo hatte sie den Namen Cranberry Way schon gelesen? Sie ging ein paar Schritte weiter, bis es ihr wieder einfiel. Sie blieb stehen und wühlte in ihrer robusten schwarzen Allzwecktasche. Sie zog ein kleines Notizbuch mit Eselsohren heraus, befeuchtete ihre Fingerspitze und blätterte es hastig durch, bis sie die Seite mit der Notiz, die sie sich gemacht hatte, fand. Sie hatte den Familiennamen flüchtig hingekritzelt, so daß sie nur noch entziffern konnte, daß er mit einem C begann und mit einem S endete. Die Adresse war deutlich – 1 Cranberry Way, 8.30 Uhr. Der einwöchige Job, den sie heute morgen abgesagt hatte, mußte ganz in der Nähe sein.
Es war ein Job von der Ty-Dee-Girls-Agentur gewesen. Sie arbeitete nicht gern für Agenturen und erst recht nicht für diese. Die Löhne waren noch niedriger als bei den Jobs, die sie selbst fand, und die Leute, die den Laden führten, waren gemein wie Rizinusöl. Aber sie waren eine zuverlässige Quelle für ein Extraeinkommen, während sie ihren eigenen Kundinnenstamm aufbaute. Seit Wochen hatte sie schon gewußt, daß sie diesen Job von Ty-Dee nicht machen würde, da sie für diese Woche lukrativere Arbeit gefunden hatte. Seit Tagen hatte sie die Agentur schon anrufen wollen, es aber bis heute morgen verschoben. Sie waren stinksauer gewesen, weil sie erst in letzter Minute absagte. Ohne jede Frist hatten sie wahrscheinlich keinen Ersatz für sie gefunden. Wenn sie Glück hatte, könnte dies das perfekte Versteck sein, bis sie die Stadt gefahrlos verlassen konnte. Falls Ty-Dee doch schon jemanden geschickt hatte, konnte Blanche behaupten, es sei ein Mißverständnis, und sich einfach davonmachen. Jetzt mußte sie nur noch das Haus finden.
Sie eilte den Cranberry Way hinunter in der Hoffnung, daß es die richtige Richtung war. Eine scharfe Kurve stellte sich als das Ende der Straße heraus. Sie stand direkt vor einem hohen schmiedeeisernen Zaun mit pfeilförmigen Eisenspitzen obendrauf.
Blanche drehte sich um und starrte die Straße hinunter, die sie gerade entlanggekommen war. Die Ungeheuerlichkeit dessen, was sie getan hatte, legte sich drückend wie eine jener dunklen Wolken, nach denen sie sich vorhin gesehnt hatte, auf sie. Statt nach einem Versteck zu suchen, wünschte sie, sie könnte einfach die Stadt verlassen. Am liebsten würde sie den nächsten Highway suchen und Farleigh so weit wie möglich hinter sich lassen. Aber sie mußte mehr als ihre Wünsche berücksichtigen; schließlich waren da noch Mama und die Kinder.
O Lord! Sie sah alles deutlich vor sich – den Sheriff, der gegen Mamas Tür hämmerte, Mama, die schimpfte und tobte, während der Sheriff sie nach Blanches Aufenthaltsort befragte, die Schranktüren öffnete und Fußspuren auf ihrem Linoleum hinterließ. Mama würde garantiert einen Wutanfall kriegen! Würde sie vor den Kindern verheimlichen können, was vorging? Blanche schüttelte den Kopf, um das Bild eines fetten Polizisten loszuwerden, der Taifa und Malik aus Mamas Armen riß. Sie sagte sich, daß ihre Flucht kein ausreichender Grund für die Stadt war, um einer Großmutter, die sich gern um sie kümmerte, die Verantwortung für ein paar schwarze Kinder zu entziehen. Sie wußte, daß sie sich nur selbst angst machte, als wäre ihre Situation nicht schon beängstigend genug. Trotzdem ging ihr das Bild ihrer schluchzenden Kinder nicht aus dem Kopf.
Sie hatte nur widerwillig die Elternrolle für die beiden Kinder ihrer toten Schwester übernommen, obwohl sie es ihr versprochen hatte. Für ein ganzes Jahr war sie nach Kalifornien ausgerissen, bevor sie sich endlich dieser Aufgabe hatte stellen können. Als sie aus Kalifornien zurückkam – ein Aufenthalt, den ihre Freundin Ardell als »Blanches erste Chance« bezeichnete –, hatte sie die Verantwortung für die Kinder übernommen, obwohl ihre Mutter, die während Blanches Abwesenheit für sie gesorgt hatte, überhaupt nicht glücklich darüber gewesen war, sie herzugeben.
»Erst rennst du weg und jammerst, weil du nicht willst, daß die Kinder dein Leben in Beschlag nehmen, und jetzt kommst du zurück und brichst mir das Herz, indem du meine Enkel nach New York schleppst! New York ist nichts für Kinder!« hatte ihre Mutter zu ihr gesagt, als sie die Kinder abholte. Und was sie dann gesagt hatte, machte Blanche jetzt Sorgen: »Mach das lieber nicht noch einmal. Das nächste Mal lasse ich sie nicht wieder gehen!« Die Worte ihrer Mutter klangen ihr so deutlich in den Ohren, als stünden sie einander gegenüber. Das »nächste Mal«, vor dem ihre Mutter sie gewarnt hatte, war ebenso präsent. Blanche rieb sich die Oberarme und schauderte. Der klagende Ruf einer Taube irgendwo in der Nähe verstärkte ihre wachsende Verzweiflung.
»Da sind Sie ja!«
Blanche fuhr herum. Durch ein Loch im Zaun sah sie die linke Gesichtshälfte einer Frau, die sie mit einem großen, blaugrauen Auge musterte.
»Sie hätten ja wenigstens anrufen und sagen können, daß Sie später kommen! Seit Stunden versuche ich schon, Ihre Agentur anzurufen. Aber ich wußte, wenn Sie überhaupt kommen, würden Sie zu diesem Tor kommen! Ich wußte es einfach!« Der Triumph kämpfte mit dem Verdruß um die Kontrolle ihrer Stimme.
»Diese Agentur schickt die Leute immer zu diesem Tor, obwohl ich wiederholt gesagt habe, daß sie das nicht tun soll.« Sie streckte die Arme hoch und zog an dem hohen Tor. Der Saum ihrer apfelgrünen Bluse rutschte aus dem Rockbund. Ein Stück beigefarbenen, seidenen Unterrocks lugte unter dem Rocksaum hervor.
»Nun stehen Sie doch nicht so rum! Wir wollen gleich nach dem Mittagessen los.« Die Frau trat vom Tor zurück und winkte Blanche hinein.
»Wo ist Ihre Tasche?« Für den Bruchteil einer Sekunde nahmen die blassen Augen der Frau den Kontakt mit Blanches dunklen Augen auf. Das Gesicht der Frau wirkte älter als ihre helle, tonlose Stimme. Nicht gerade winzige Fältchen verzweigten sich von den Augen über die Wangen. Wellenförmige Linien zogen sich über ihre Stirn, und die Haut um ihren Mund begann sich zu kräuseln. Ihre scharfen Gesichtszüge mit den weit auseinanderstehenden Augen und der hohen gewölbten Stirn erinnerten Blanche an das Lieblingsfrettchen ihres Onkel Willie, das er einst für die Kaninchenjagd gehalten hatte. Das kurzgeschnittene blonde Haar betonte ihr spitzes Kinn und ihren ziemlich langen Hals. Sie war etwas kleiner als Blanche mit ihren ein Meter siebzig, und vom Alter her konnte sie irgendwo zwischen fünfunddreißig und fünfzig sein. Doch unabhängig vom Alter war sie besser in Form als Blanche, hatte einen flachen Bauch und eine drahtige Figur. Sie hielt sich sehr gerade, aber entspannt, so wie Frauen, die geschult waren, Haltung zu bewahren.
»Nun, egal«, fügte sie hinzu und ersparte es Blanche, sich eine Ausrede ausdenken zu müssen, warum sie keine Reisetasche dabei hatte. »Sie können sich morgen darum kümmern. Sie haben ungefähr Bernices Größe. Sie bewahrt im Landhaus immer eine Ersatzuniform auf. Bis wir dort sind, müssen Sie eben Ihre Straßenkleidung tragen.« Sie schenkte Blanche einen etwas gequälten Blick, bevor sie den kopfsteingepflasterten Weg hinaufging.
Blanche fiel die alte Lady Ivy draußen auf Long Island ein. Sie konnte es auch nicht leiden, die Haushälterin in normaler Kleidung zu sehen. Man könnte sie ja mit einem menschlichen Wesen verwechseln. Blanche verkürzte ihre üblichen großen Schritte, um sich dem Tempo der Frau vor ihr anzupassen. Selbst ein Stein kommt schneller voran, dachte sie achselzuckend.
»Die Köchin hat ein kaltes Mittagessen vorbereitet.« Die Frau drehte den Kopf zu Blanche um. »Sie brauchen das Büfett nur im Eßzimmer anzurichten. Wir werden uns selbst bedienen. Wir werden früh essen. Ich möchte so bald wie möglich aufs Land fahren.« Sie holte tief Luft. »Der Abwasch muß natürlich noch gemacht werden.«
»Oh, verflixt!« Die Frau machte einen Satz nach vorn, als wäre sie über ein unsichtbares Hindernis gestolpert. Dann faßte sie sich wieder und ging weiter und redete, als wäre nichts passiert.
Blanche dachte an ihre Tante Sarah. Sie hatte tatsächlich erlebt, wie ihre Tante Sarah sich unbeirrt darüber erging, wie man am besten einen Truthahn räuchert, während sie in einem Meer von Apfelsinen saß, die sie in einem Supermarkt von einer Tonne gestoßen hatte, nachdem sie über etwas gestolpert war, was niemand zu sehen vermochte. Tante Sarah hatte ihre Anweisungen zum Räuchern von Truthähnen sogar noch fortgeführt, während Blanche und einer der Aushilfsjungen ihr wieder auf die Füße halfen.
»Im Augenblick ist keine andere Hilfe im Haus.« Sie hob die Hand mit den rosa lackierten Nägeln, als wollte sie jede Art von Protest oder Fragen abwehren.
»Auf dem Land werden Sie sich natürlich um das Essen und den Haushalt kümmern«, erklärte die Frau.
Blanche fragte sich, ob reiche Mädchen Unterricht darin bekamen, wie man einer Haushaltshilfe weismacht, ein unmögliches Pensum an Arbeit sei nur eine Kleinigkeit.
»Es ist bereits gelüftet und für uns hergerichtet. Wir leben dort ohne große Etikette. Keine Dinnerparties, kaum Gäste. Unseren hohen Standard behalten wir allerdings stets bei.«
Blanches Mundwinkel verzogen sich zu einem trockenen Lächeln. Manchmal schien sich das Leben über sie lustig zu machen. Selbst auf der Flucht mußte sie noch anderen Leuten hinterherräumen.
»Wir geben unseren festen Angestellten immer Urlaub, wenn wir aufs Land fahren. Darum sind Sie hier.« Die Frau drehte sich um und warf Blanche ein Lächeln zu, das eher breit als freundlich war.
Und weil du es mit einer einzigen Hilfe billiger haben kannst, fügte Blanche im stillen hinzu. Was hatte es mit dem Geld auf sich, daß es die Menschen, die es hatten, veranlaßte, es nicht auszugeben? Blanche erwiderte den Blick der Frau mit einem zähnefletschenden Lächeln und einem spröden »Ja, Ma’am«. Sie war erleichtert zu erfahren, daß die festangestellte Haushälterin weg war. Sie fragte sich, ob die Frau mit Menschen, die nicht ihre Angestellten waren, auch so direkt und unverblümt redete.
Die Frau blieb stehen und drehte sich so plötzlich um, daß Blanche beinahe mit ihr zusammengestoßen wäre. Prüfend betrachtete sie Blanches Gesicht. »Sie haben doch schon für uns gearbeitet, nicht wahr?« Eine senkrechte Falte grub sich in die Mitte ihrer Stirn. »Ich habe die Agentur ausdrücklich gebeten, uns jemanden zu schicken, die unseren … Tagesablauf kennt. Meine Tante ist … An Ihr Gesicht kann ich mich irgendwie nicht erinnern …« Sie kniff leicht die Augen zusammen.
Blanche zwang ihren Mund zu einem Zahnpasta-Lächeln und zwinkerte der Frau schnell zu. »O doch, Ma’am!« Blanches Stimme war zwei Oktaven höher als sonst. »Sie erinnern sich! Vor ungefähr sechs Monaten habe ich für Sie gearbeitet. Ich glaube, eine von Ihren Angestellten war damals krank? Oder hatte vielleicht einen Todesfall in der Familie?« Erwartungsvoll schaute sie die Frau an.
Die Frau sah sie einen Augenblick lang mit leerem Gesichtsausdruck an. »Oh, ja, natürlich.« Schnell drehte sie sich um und setzte ihren Weg fort. »Mein Gedächtnis ist in letzter Zeit einfach schrecklich«, erklärte sie Blanche über die Schulter hinweg. »Es gibt so viel zu überlegen und zu bedenken … so viel lastet auf meinen …«
Blanche lächelte und nickte. Sie hat nicht die leiseste Ahnung, was in ihrem eigenen Haus vor sich geht. Das hatte Blanche bereits vermutet. Die Frau hatte sich ja nicht einmal nach ihrem Namen erkundigt. Das war ihr nur recht. Das letzte, was Blanche jetzt gebrauchen konnte, war eine ehrlich interessierte Arbeitgeberin. Aber die festangestellte Haushälterin tat ihr leid. Wenn man einen Arzt brauchte, reagierte diese Sorte von Arbeitgeberinnen darauf mit einem Sack alter abgelegter Kleider.
Das Haus, dem sie sich näherten, war groß, mehrflügelig und elegant. Es war aus diesen eigenartigen rosa Ziegeln gebaut, die Blanche, soweit sie sich erinnern konnte, bisher nur in diesem Teil des Landes gesehen hatte. Blanche glaubte an die Ausstrahlung von Häusern. Sie hatte schon in zu vielen gearbeitet, als daß sie – wie die meisten Menschen – so tun konnte, als wäre ein Haus einfach nur ein Gebäude. An der Art, wie ein Haus in eine Landschaft paßte oder sich ihr aufdrängte, konnte sie häufig erkennen, wie es darin zuging. Dieses Haus erhob sich aus einem Bett von Blumen und Büschen, die dafür sprachen, daß sich ein Gartenarchitekt und mindestens einmal pro Woche ein Gärtner darum kümmerten, die beide einen Blick dafür hatten, Natur und Architektur zu vereinen. Aber ihr persönlich hatte dieses Haus nichts zu sagen. Genauso wie für die Frau, die darin lebte, hatte sie für dieses Haus nichts als eine Funktion zu erfüllen. Glücklicherweise würde sie nicht lange bleiben, so daß es keine Rolle spielte.
Sie folgte der Frau drei Stufen hinauf auf eine geflieste Veranda und durch eine Terrassentür in ein Zimmer, das nach Leder roch und dessen Wände mit so vielen Büchern vollgestellt waren, daß es auch eine Nische in der New Yorker Stadtbücherei hätte sein können. Die Frau öffnete eine Tür auf der anderen Seite des Raumes. Blanche folgte ihr einen langen Korridor hinunter, um eine Ecke herum, an vier oder fünf weiteren Türen vorbei, durch einen dunklen, teppichlosen und engeren Flur in eine große, helle Küche.
Sie war mindestens so attraktiv, gut geplant und ausgestattet wie die Küchen, die sie in New York kennengelernt hatte. Und sie war größer als die meisten – mit einer Mikrowelle, zwei in Augenhöhe eingebauten Backröhren, einem Grill, einem zweitürigen, in die Wand eingelassenen Kühl- und Gefrierschrank, einem Herd mit acht Kochplatten, Töpfen mit Kupferböden, die von der Decke hingen, einer Fülle von Küchenschränken, und in der Mitte des Raumes befand sich eine Arbeitsplatte komplett mit Spüle und Müllschlucker. Diese Küche war so anders als der Raum mit dem wackeligen Herd und dem tropfenden Wasserhahn in dem Haus, wo Blanche wohnte, daß sie nicht der Meinung war, die beiden verdienten denselben Namen.
»Ich denke, Sie werden alles finden, was Sie brauchen.« Die Frau sah sich in der Küche um wie ein Hotelpage, der die Handtücher überprüft. »Heute mittag werden wir zu dritt bei Tisch sein. Wir möchten um elf Uhr dreißig essen. Sie können das Zimmer die Treppe hinauf, erste Tür links, benutzen, um sich frisch zu machen. Lassen Sie nichts liegen, denn Sie werden nicht mehr hierher zurückkehren.« Die Frau blickte Blanche erwartungsvoll an.
»Ja, Ma’am«, erwiderte Blanche. »Ich verstehe.« Blanche hatte den Eindruck, die Frau wollte noch etwas hinzufügen, aber da klingelte das Telefon. Abrupt drehte die Frau sich um und stieß eine Schwingtür auf, die, so vermutete Blanche, die Küche vom Rest des Hauses trennte. Das Telefon verstummte mitten im Klingeln.
Blanche lehnte sich an die Arbeitsplatte und atmete langsam und gleichmäßig aus. Wenn die Agentur einen Ersatz für sie gefunden hatte, würde diese Person hier ziemlich bald auftauchen. Was dann? Miz Hausherrin würde bestimmt den Sheriff rufen. Um ihr Gesicht zu wahren, weil sie eine Fremde in ihr Haus gelassen hatte, würde sie vielleicht sogar behaupten, Blanche hätte sich unaufgefordert ins Haus gedrängt oder versucht, etwas zu klauen.
Wenn ich auch nur ein bißchen Verstand hätte, dachte Blanche, würde ich jetzt abhauen. Aber wo war der Ausgang? Ein Blick aus dem Küchenfenster zeigte ihr einen von Mauern umgebenen Hof, wo es keinen von Bäumen gesäumten Weg gab wie den, auf dem sie ins Haus gekommen waren. Wenn sie durch den Vordereingang des Hauses ging, stieß sie womöglich mit der Frau zusammen, und den Weg zum Hinterausgang würde sie mit Sicherheit nicht zurückverfolgen können.
Sie hörte ein Geräusch hinter der Schwingtür und versteckte sich schnell hinter dem heiteren, aber leeren Gesichtsausdruck, hinter dem sie sich bisher vor der Frau verborgen hatte. Blanche hatte schon vor langer Zeit gelernt, daß manche Arbeitgeberinnen sich wohler fühlten, wenn die Haushaltshilfen freundlich, aber dumm wirkten, so als wären ihre Brieftaschen, ihre Autos und ihre Vorstellungen von sich selbst dann völlig sicher. Viele Schwarze waren nicht bereit, die Einfältigen zu spielen, aber Blanche fand es manchmal nützlich, sich hinter dieser Rolle zu verbergen. Außerdem machte es ihr insgeheim sehr viel Spaß, Leute zum Narren zu halten, die sich aufgrund dessen, wie sie aussah und ihren Lebensunterhalt verdiente, für schlauer hielten.
»Das war Ihre Agentur«, sagte die Frau, als sie in die Küche kam. »Sie riefen an, um zu sagen, daß Sie erst morgen kommen können! Stellen Sie sich das vor! Ich habe denen ganz schön die Leviten gelesen, wie chaotisch sie arbeiten.«
Die Frau sah so zufrieden mit sich aus, daß Blanche sich fragte, ob es ihr Spaß machte, Leuten die Meinung zu sagen – aber vielleicht war es auch nur das Neuartige daran, was sie aufleben ließ.
»Sie sollen sie anrufen. Vielleicht nach dem Essen.« Sie drehte sich um, um Blanche ein weiteres dieser nur auf die Lippen beschränkten Lächeln zu schenken, und stieß dabei gegen einen Stuhl. »Au!« Die Frau schubste den Stuhl weg, als hätte er sie angegriffen. Abrupt wandte sie sich um und verließ die Küche, als könnte sich der ganze Raum mit dem Stuhl verschworen haben.
Es war das zweite Mal, daß Blanche sie hatte stolpern sehen. Etwas an der Unbeholfenheit dieser Frau erinnerte sie an Deke Williams, den Stuntman, für den sie einmal gearbeitet hatte. Sie hatte Deke liebend gern zugehört, wenn er ihr erklärte, wie man sich beim Hinfallen am wenigsten weh tat und wie Charlie Chaplin das Hinfallen zu einer Kunstform erhoben hatte. An der Art, wie diese Frau herumstolperte, gab es gewiß nichts Kunstvolles.
Blanche sah auf die Uhr – 10.45. Wie hatte in so wenigen Stunden nur so viel passieren können? Sie öffnete den Kühlschrank. Drei der geräumigen Fächer waren gefüllt mit kunstvoll dekorierten, mit kaltem Fleisch und Salaten angerichteten Platten sowie mit zwei Blechen Hefebrötchen, die auf den Ofen warteten. Gut. Sie hatte jede Menge Zeit, um ihre Telefonate zu erledigen. Sie hatte bemerkt, daß die Frau nach vorn ins Haus gegangen war, um das Gespräch entgegenzunehmen, statt das Telefon, das an der Küchenwand hing, zu benutzen. Sie überlegte, ob dieses nur für die Schwarzen da war – schließlich waren sie hier im Süden. Aber sie hielt es für wahrscheinlicher, daß die Frau einen Anruf erwartet hatte, den niemand mithören sollte. Blanche ging zur Schwingtür und stieß sie vorsichtig auf, um zu sehen, ob ihre Arbeitgeberin irgendwo in der Nähe war. Blanche wollte auch nicht, daß ihr jemand beim Telefonieren zuhörte. Hinter der Schwingtür befand sich eine Speisekammer mit Regalen und schmalen Unterschränken auf beiden Seiten. Auf der anderen Seite der Speisekammer war eine weitere Schwingtür. Blanche warf einen schnellen Blick hindurch. Sie führte ins Eßzimmer. Es war niemand da. Sie horchte. Nichts. Sie beschloß, die Gelegenheit zu nutzen, solange es sie gab, und ging zurück in die Küche, um ihre Telefonate zu erledigen.
»Ich bin’s, Mama.«
»Ich hab’ mich schon gefragt, wo du steckst. Ich möchte, daß du unterwegs …«
»Hör mal zu, Mama. Ich hab’ nur eine Sekunde.« Blanche senkte die Stimme und behielt die Schwingtür im Auge. Die Dringlichkeit in ihrem Ton hielt ihre Mutter davon ab, sich darüber zu beschweren, daß sie mitten im Satz unterbrochen worden war.
»Ich wollte dir nur sagen, daß ich in Sicherheit bin. Ich …«
»Was meinst du mit ›in Sicherheit‹?« wollte ihre Mutter wissen. »Ich wüßte nicht, wieso du nicht in Sicherheit sein solltest!«
»Ich kann das jetzt nicht erklären, Mama. Vertrau mir einfach und kümmere dich um die Kinder, bis ich es wieder kann … Falls der Sheriff oder jemand nach mir fragt, sag ihnen, daß du nicht mit mir gesprochen hast. Sag ihnen, daß du vermutest, ich wär’ nach New Orleans durchgebrannt, was ich schon öfter angedeutet hätte. Aber bitte laß das nicht die Kinder hören … Es geht ihnen doch gut, oder? Ja, ich weiß, daß du nicht lügen magst, Mama, darum kannst du dir denken, wie wichtig es für mich ist, sonst würde ich dich nicht darum bitten. Sag Taifa und Malik, daß ich sie liebe und daß es mir leid tut, daß ich nicht anrufen konnte, als sie zu Hause waren, und sag ihnen …«
»Mach dir keine Sorgen um die Kinder«, unterbrach Miz Cora sie. »Meinen Enkeln geht es sehr gut bei mir, sehr gut.«
Nachdem ihre Mutter aufgelegt hatte, hielt Blanche noch ein paar Sekunden den Hörer ans Ohr und starrte auf die Wand vor ihr. Die Worte ihrer Mutter lasteten auf ihr wie ein schweres Gewitter. Ihr Ton war unmißverständlich gewesen. Blanche fühlte sich wie ein Soldat, dem ein bevorstehender Krieg angekündigt wurde.
Es schien eine Ironie zu sein, daß sie nach Kalifornien und all ihrem Widerstand, mit Taifa und Malik belastet zu werden, Angst hatte, die Stadt ohne sie zu verlassen – obwohl das das einzig Sinnvolle war. Aber sie wollte nicht mit ihrer Mutter darum kämpfen, sie zurückzubekommen. Bei dem Gedanken, gegen ihre Mutter kämpfen zu müssen, zog sich ihr Magen zusammen. Blanche hatte lange gebraucht, um sich Miz Coras starkem Einfluß zu entziehen und sich wie eine eigenständige Frau zu fühlen. Ihre Mutter hatte es nicht gebilligt, daß sie aus der Kirche austrat, daß sie Farleigh verließ und nach New York ging und daß sie beschloß, weiterhin im Haushalt zu arbeiten, statt Krankenschwester zu werden wie ihre Schwester oder irgendeinen anderen Beruf zu wählen, auf den Mütter stolz sind. Fast zwanzig Jahre lang hatten sie sich über Blanches ungeglättetes Haar gestritten. Ihre Beziehung wurde weniger streitlustig, nachdem Blanche bewiesen hatte, daß sie gottlos und moralisch zugleich war, daß New York sie nicht automatisch zum Junkie machte und daß sie wegen ihrer Frisur nicht als Revolutionärin verhaftet wurde. Doch zu Hause bei ihrer Mutter, wo hauptsächlich Miz Coras Geist die Wände und Böden zusammenzuhalten schien, hatte Blanche manchmal das Gefühl, wieder in Söckchen und mit Zöpfen herumzulaufen. Sie wollte nicht, daß Taifa und Malik einmal so hart um ihre Freiheit würden kämpfen müssen. Sie wählte eine weitere Nummer. Ardell nahm den Hörer beim ersten Klingelzeichen ab. »Hey, Freundin, ich habe gerade an dich gedacht. Wie lief es heute mor … Was ist los?«
Ardells Gespür dafür, daß etwas schiefgelaufen war, bevor Blanche es ihr hatte sagen können, war einer der Gründe, warum ihre Freundschaft schon so lange währte. In all den Jahren, während Blanche in New York oder als erwachsene Ausreißerin in Kalifornien gelebt hatte, während Ardells verrückter Ehe und ihrer religiösen Konvertierung (sowie Rückkonvertierung), hatten sie einander mit einer solchen Intensität und Beständigkeit unterstützt und ermutigt, daß ihre Männer oft eifersüchtig und mißtrauisch waren. Doch weder Blanche noch Ardell hatten sich Gedanken darum gemacht. Sie fanden, daß ihre Beziehung niemanden etwas anging, und das ließen sie auch jeden wissen.
»Ha! Du wirst kaum glauben, was für ein Mist mir passiert ist!« Blanche brachte Ardell auf den neuesten Stand und bat sie, die Frauen anzurufen, deren Häuser Blanche in den nächsten Tagen saubermachen sollte.
»Ich werde ihnen sagen, daß du die Grippe hast. Und ich gehe auch bei deiner Mutter vorbei und schaue, ob es etwas zu tun gibt.«
»Das kann ich wirklich gebrauchen. Ich habe so ein schlechtes Gewissen, daß ich Mama und den Kindern all diese Sorgen aufhalse.«
»Ich würde mich ja gern um die Kinder kümmern, aber du weißt, daß Miz Cora mir an die Gurgel gehen würde, wenn ich auch nur vorschlage, daß sie sich von ihren Enkelkinderchen trennen soll! Doch was die Sorgen betrifft – Miz Cora ist schon mit weitaus Schlimmerem fertig geworden. Denk du lieber nicht über Dinge nach, die dich beunruhigen. Du hast schon genug am Hals.« Ardell hielt inne und fügte dann hinzu: »Ich glaube, ich sollte mir lieber ein Auto borgen und deinen Hintern retten kommen!«
»Nein. Wir fahren in ein paar Stunden in ihr Landhaus. Dort bin ich viel sicherer. Aber jetzt sollte ich mit dem Telefonieren aufhören und diesen Leuten das Mittagessen auf den Tisch bringen.« Sie sprach schnell und eindringlich, um Ardell von dem Gedanken abzubringen, sich ein Auto zu leihen. Blanche wußte genau, wessen Auto Ardell im Sinn hatte. Aber ihr Versuch, Ardell abzulenken, war so fruchtlos wie immer.
»Was ist mit Leo?« Ardells Stimme war eine Studie in Gleichmütigkeit, die Blanche jedoch keine Sekunde lang täuschte. »Soll ich ihn anrufen? Er …«
»Fang damit gar nicht erst an, Ardell. Du weißt, was ich von Leo halte. Ich habe dir gesagt, daß ich …«
»Schon gut, schon gut«, unterbrach Ardell sie. »Sag mir Bescheid, wenn ich dir helfen kann.«
»Danke, Schätzchen. Ich melde mich.« Blanche hängte den Hörer auf und trommelte mit den Fingern auf der Arbeitsplatte. In gewisser Weise war sie froh, daß Ardell Leo erwähnt hatte. Sie brauchte etwas, womit sie sich beschäftigen konnte, bevor sie sich selbst zu sehr bemitleidete oder zu viel Angst bekam, um noch handeln zu können. Und es gab nichts Besseres, als Leo zu erwähnen, um sie auf die Palme zu bringen.