Night of Crowns, Band 1: Spiel um dein Schicksal (TikTok-Trend Dark Academia: epische Romantasy von SPIEGEL-Bestsellerautorin Stella Tack) - Stella Tack - E-Book

Night of Crowns, Band 1: Spiel um dein Schicksal (TikTok-Trend Dark Academia: epische Romantasy von SPIEGEL-Bestsellerautorin Stella Tack) E-Book

Stella Tack

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Schwarz oder weiß? Welche Seite wählst du in diesem Spiel um Liebe und Tod? Seit Jahrhunderten liegt über den Adelshäusern Chesterfield und St. Burrington ein Fluch – und das bis heute, obwohl die Anwesen inzwischen Internate sind. Alice ahnt nichts davon, als sie nach Chesterfield kommt. Die Zeichen auf den Handgelenken ihrer Mitschüler fallen ihr nicht auf, dafür fesselt der charmante Vincent umso mehr ihre Aufmerksamkeit. Doch dann entdeckt Alice eine ihrer Mitschülerinnen versteinert im Wald - und auf ihrem eigenen Handgelenk taucht das Symbol einer Schachfigur auf. Schwarz oder weiß? Welche Seite wählst du in diesem Spiel um Liebe und Tod? Band 1 des gefährlich-romantischen Zweiteilers

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 525

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Als Ravensburger E-Book erschienen 2020 Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH Originalausgabe Text: © 2020 Stella Tack Dieses Buch wurde vermittelt von der Literaturagentur erzähl:perspektive, München (www.erzaehlperspektive.de). Covergestaltung: Marie Graßhoff (www.marie-grasshoff.de) unter Verwendung von Shutterstock-Fotos von zef art, mashakotcur, Boychenko Alexey, GoMixer, Fc24, K N (Kuvshinova Nadezhda), OLaLa Merkel, Daria_Cherry, Costello77, Burhanuddin und CARACOLLA Lektorat: Sarah Heidelberger (www.sarah-heidelberger.de) © 2020 Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-473-47991-7www.ravensburger.de

Einleitung

FÜR ALLE, DIE SEIT JEHER MEHR IN MIR GESEHEN HABEN ALS NUR EIN MÄDCHEN MIT VERTRÄUMTEM BLICK, SELTSAMEM HUMOR UND LEGASTHENIE. DANKE <3

AN ALLE ANDEREN MÄDCHEN DORT DRAUSSEN MIT VERTRÄUMTEM BLICK, SELTSAMEM HUMOR UND LEGASTHENIE: GEBT NICHT AUF! NIEMALS!

Die Spieler

Kapitel 1

»Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?« Mit gerunzelter Stirn sah ich aus dem Autofenster, hinter dem die dicht stehenden Bäume so nah an uns vorbeischossen, dass immer wieder Zweige gegen die Scheibe schlugen.

»Natürlich bin ich mir sicher. Sei nicht so ein Schisser, Alice«, gab Cordy zurück und schaffte es dabei, jede Wurzel und jedes Schlagloch mitzunehmen, die sich vor uns auftaten. Dass sie dabei nicht vom Gas ging, machte die ganze Sache nicht gerade weniger holprig.

Die altersschwachen Scheinwerfer des Trucks schnitten einen schwachen Lichtkegel durch den dunklen Wald und beleuchteten die zerfurchten Baumstämme, die wie gigantische Riesen mit runzligen Gesichtern an uns vorbeizogen.

Die Wälder in Maine waren irgendwie gruslig. Vor allem um Mitternacht mitten im Nirgendwo. Cordy – eigentlich Cordelia, meine beste Freundin und Cheerleader-Captain der Highschool von Foxcroft – schnalzte genervt mit der Zunge, als ihr Truck ein röhrendes Geräusch von sich gab, während sie ihn wie einen sturen Gaul um die nächste Kurve jagte. Es rumpelte, und für eine Sekunde verlor der gesamte Wageninhalt die Bodenhaftung. Mein Magen inklusive.

»Cordy!«, beschwerte ich mich, während ich mich Hilfe suchend am Armaturenbrett festkrallte. »Jetzt fahr doch mal langsamer! Laut Navi sind wir hier im absoluten Nirgendwo. Wir haben uns verfahren, hier oben feiert doch nie im Leben jemand eine Party.«

Cordy schenkte mir einen Blick, der deutlich machte, was sie von Spaßbremsen auf ihrem Beifahrersitz hielt. »Entspann dich, Alice. Das blöde Ding ist totaler Schrott. Neulich wollte es, dass ich als Abkürzung zur Schule durch ein Maisfeld fahr.« Mit einem sorgfältig manikürten Fingernagel tippte sie gegen den Bildschirm des Navis.

»Wir haben Ende November, da gibt es gar keinen Mais«, erinnerte ich sie.

»Aber Felder«, hielt sie dagegen, während sich das Navi blechern dazwischenschaltete.

»Bei der nächsten Möglichkeit bitte wenden«, sagte die Stimme zum gefühlt hundertsten Mal.

»Da, schau! Schon wieder nur so ein blödes Feld«, murrte Cordy. Als ich auf den Bildschirm lugte, sah ich tatsächlich nur eine schier endlos große grüne Fläche, die sich angeblich vor uns ausbreitete. Als würden wir direkt ins Nichts hineinfahren.

»Wer kauft auch schon ein Navi bei Walmart?«, stichelte ich grinsend.

Cordy warf mir einen pseudogiftigen Blick zu, während wir über die nächste Wurzel rumpelten. Der pinke Plüschwürfel an ihrem Rückspiegel pendelte wild hin und her – genauso wie mein Kopf.

»Wir sind eben nicht alle so reich, dass wir uns eine Villa leisten können«, gab sie zurück und ging im nächsten Moment abrupt vom Gas, als die Augen eines Rehs im Scheinwerferlicht aufleuchteten. Der Truck hustete, und es knallte laut. Mir stieg ein verschmorter Geruch in die Nase, von dem ich schwer hoffte, dass er nicht aus dem Motor kam. Das Reh schreckte zusammen und floh ins Unterholz.

»Ich bin nicht reich, Cordy, und das weißt du auch genau.«

»Äh, und warum wohnt ihr dann in einer gigantischen alten Villa?«

Ich schnitt ihr eine Grimasse und vergaß dabei zum ersten Mal, seit sie aufs Gaspedal getreten war, Angst um mein Leben zu haben. »Das Haus ist uralt, es tropft durch die Decke, die Heizung existiert praktisch nicht, und ich glaub, wir haben Fledermäuse. Und wenn Granny Emerald keinen Schlaganfall gehabt hätte, würde ich immer noch in der Zweizimmerwohnung in Louisiana leben«, erinnerte ich meine Freundin an die Umstände, die meine Mom und mich vor zwei Jahren nach Foxcroft gebracht hatten und die ihr eigentlich durchaus bekannt waren. Cordy hatte allerdings das unschlagbare Talent, sich die Realität so zurechtzubiegen, wie es ihr gerade passte.

»Villa bleibt Villa«, behauptete sie und trat im nächsten Augenblick wieder so abrupt auf die Bremse, dass ich hart gegen meinen Gurt geschleudert wurde. Der Motor des Trucks stotterte und starb hustend ab.

»Verdammt, Cordy, was soll das?«, krächzte ich, während ich noch versuchte, mich von dem jüngsten Schleudertrauma zu erholen.

»Wie, was soll das? Wir sind da!« Cordy grinste mich triumphierend an und warf ihr langes dunkles Haar über die Schulter. Sie trug immer noch die Uniform des Diners, in dem sie nach der Schule jobbte. Sie sah darin aus, als käme sie direkt aus einem Schwarz-Weiß-Film aus den Sechzigern.

»Hier soll die Party sein?«

Skeptisch sah ich aus dem Fenster. Die Bäume draußen standen so dicht, dass ich ernst zu nehmende Zweifel hegte, dass hier überhaupt eine heimliche Party stattfinden konnte. Meine Abneigung dagegen, die warme Fahrerkabine zu verlassen, ließ mich noch unruhiger auf dem plüschigen rosa Sitz hin und her rutschen.

Stirnrunzelnd tippte Cordy gegen das Navi, das anzeigte, dass wir gerade mitten im Nirgendwo von Maine parkten. »Jupp! Keine Ahnung, Lust auf eine kleine Expedition?«, fragte sie mit diesem für sie typischen Funkeln in den Augen.

Ich kniff mir in die Nasenwurzel.

»Könntest du mich bitte noch mal dran erinnern, warum wir eigentlich befreundet sind?«

»Vielleicht, weil ich Thomas Buffort die Nase gebrochen hab, als er dir an deinem ersten Schultag an den Hintern gegrapscht hat?«

»Stimmt …« Ich grinste. »Das war hammer.«

»Ich bin hammer«, hielt Cordy lachend dagegen und kramte im Fußraum nach ihrer Handtasche, aus der sie ein Kleid zog, das so kurz war, dass es diesen Namen eigentlich gar nicht verdiente. »Außerdem füttere ich dich mit Pommes und Sandwiches, wenn deine Mom wieder mal eine 36-Stunden-Schicht schiebt. Ohne mich würdest du verhungern, komplett vereinsamen und wahrscheinlich den Feldmäusen in deiner Villa Namen geben.«

»Schon gut, schon gut, hast mich ja überzeugt. Du bist eine tolle Freundin«, sagte ich und tat dabei so, als würde ich ihr einen Orden anstecken.

»Und du bist lustig und hilfst mir in Mathe, darum füttre ich dich gern«, erwiderte Cordy großzügig, ehe sie aus ihrer altbackenen Diner-Uniform schlüpfte, die nach Würstchen und Waffeln roch, und sich das winzige Taschentuchkleid über den Kopf zog. Zumindest war Cordy praktisch genug veranlagt, bei einer heimlichen Party mitten im Wald ihre dicke Strumpfhose und die schwarzen Docs anzulassen. Wobei man in Foxcroft gezwungenermaßen pragmatisch wurde. Vor allem, wenn es nachts schon Frost gab und man sich auf dem unebenen Waldboden nicht die Beine brechen wollte.

Während Cordy ihr Make-up auffrischte, öffnete ich die Autotür und zwang mich, in die Kälte hinauszuspringen.

Der feuchte, kalte Boden roch nach Gras, Erde und Tannennadeln, und die Herbstluft schmeckte bereits nach Schnee und Winter. Trotzdem war ich froh, die schwarze Jeans mit Riss am Knie sowie das uralte, dick gefütterte Karohemd meines Dads angezogen zu haben. Ich ging um das Auto herum zur Fahrerseite.

»Bist du bald fertig?«, erkundigte ich mich bei Cordy, die vor dem Spiegel in der Sonnenblende ein Duckface zog, während sie den Lippenstift zuschraubte.

»Jetzt schon«, sagte sie sichtlich zufrieden, klappte die Sonnenblende wieder hoch und sprang zu mir nach draußen.

Betont skeptisch sah ich mich um und rückte näher an sie heran. »Du weißt schon, dass wir hier gerade mitten in ein Splatterfilmszenario reinstiefeln, oder? Zwei Mädchen, die sich in einem dunklen Wald auf eine Party schleichen. Fehlt eigentlich nur noch, dass jemand unsere Reifen zerschneidet.«

Mit gespieltem Entsetzen starrte ich sie an.

»Keine Sorge …«, Cordy tätschelte mir die Schulter, »… die Streber sterben als Letztes. Die Mörder vergreifen sich immer zuerst an den Hübschen. Vorläufig bist du also sicher.«

»Ha, ha, ha, danke, Cordy.«

Sie grinste breit. »Was denn? Wer hat heute beim College-Vorbereitungstest neunundneunzig Prozent der SIT-Punkte abgeräumt? Ich jedenfalls nicht.«

»Dafür bist du Ballkönigin geworden«, erinnerte ich sie an den Herbstball vor zwei Monaten.

Ein verzücktes Lächeln erhellte ihr Gesicht. »Ja. Mann, war das schön! Ich werde nie vergessen, wie Angie vor allen Leuten angefangen hat zu heulen.« Sie kicherte, und ich sah sie streng an. Cordy konnte manchmal ein totales Miststück sein, und ab und zu war es echt anstrengend, ihre Freundin zu sein. Doch da Angie ein noch viel größeres Miststück war, konnte ich Cordy den fiesen Spruch in diesem Fall nicht wirklich verübeln.

»Sag mal, wo genau …«, setzte ich an, als Cordy ruckartig stehen blieb.

»Da!«, rief sie aufgeregt, und ich riss meinen Kopf herum.

»Was da? Ein Axtmörder? Oder Angie? Wobei das fast aufs Gleiche rauskommt«, zischte ich beunruhigt.

Cordy prustete los. »Nein, hörst du das nicht? Ich glaub, da vorn ist die Party!«

Aufgeregt zog Cordy mich weiter – und tatsächlich: Nach einer Weile hallte dumpf der typische Partylärm zu uns herüber. Schwere Bässe mischten sich mit dem unverkennbaren Geruch von Bier. Lichter, die wahrscheinlich von Autoscheinwerfern stammten, zerschnitten die Dunkelheit.

»Wer genau schmeißt diese Party noch mal?«, erkundigte ich mich bei Cordy, die gerade vor lauter Aufregung über eine Wurzel stolperte. Schnell reichte ich ihr die Hand, bevor sie sich auf die Nase legen konnte.

»Scheißding, wachs gefälligst woanders! Sorry, was hast du gesagt, Alice?«

»Wer auf die geniale Idee gekommen ist, hier eine Party zu schmeißen, für die ich mitten in der Nacht aus dem Fenster klettern musste.«

»Ach, diese reichen Kids aus der Privatschule.«

»Aus welcher von beiden?«, hakte ich nach. »Chesterfield oder St. Burrington? Die sind ja beide hier auf dem Gelände.«

Cordy zuckte mit den Schultern. »Ist das wichtig? Hauptsache, es gibt Freibier.«

Skeptisch zog ich die Augenbrauen zusammen. »Wurde die letzte Party von Chesterfield nicht von der Polizei gesprengt?« Das Thema hatte in Foxcroft wochenlang für Gesprächsstoff gesorgt. »Du weißt ja, wenn mich meine Mom hier erwischt, bin ich so gut wie tot.«

»Papperlapapp, deine Mom ist Sheriff, da kommst du mit allem durch«, winkte Cordy ab. Im Halbdunkel konnte ich gerade so erkennen, dass ihre Augen vor Begeisterung aufblitzten. »Die letzte Party war angeblich legendär. Und du hast mich an dem Tag zu einem lausigen Kinoabend überredet. Der Abend heute sorgt also nur für längst überfällige Gerechtigkeit.«

Ich verdrehte schnaubend die Augen und bekam dafür prompt einen Schubs, der mich fast in den nächsten Busch beförderte. »Hey!«, fuhr ich sie empört an.

Sie lachte auf und stapfte weiter. »Komm schon. Heut feiern wir mit den reichen Kids. Oh, da sind ja Peter und Matthew! Hey, Peeeeter! Wir sind hier!«

Aufgeregt winkte sie quer über die Lichtung, die sich direkt vor uns auftat. Ein wenig geblendet von der plötzlichen Helligkeit blieb ich stehen und ließ die Szene ein paar Augenblicke auf mich wirken.

Die Lichtung vor mir war erstaunlich groß und wirkte fast schon wie ein Parkplatz. Zumindest war das Gras platt gefahren, und tiefe Fahrrillen gruben sich in den feuchten Boden. Ein halbes Dutzend teurer Autos stand in einem lockeren Halbkreis. Wie bereits vermutet, stammte das Licht von den Scheinwerfern. Aus einem schnittigen Lamborghini dröhnte so laute Musik, dass der dumpfe, hypnotische Beat den Boden unter meinen Füßen vibrieren ließ. Auf der Ladefläche eines schwarzen Monstertrucks wurde Bier aus großen silbernen Fässern gezapft. Zwei Jungs teilten fleißig rote Pappbecher aus, während in der Luft der Geruch von Zigaretten und dem ein oder anderen Joint hing. Geschätzt halb Foxcroft war hier hochgekommen, um bei einer der legendären Partys unserer beiden Privatschulen dabei zu sein.

»Alice, da bist du ja! Versteckst du dich vor uns?« Ein großer starker Arm schlang sich um meine Schulter, bevor sich eine warme Brust an meinen Rücken drückte. Der Geruch von Seife und süßem Energydrink stieg mir in die Nase.

»Hey, Peter.« Lächelnd sah ich zum Quarterback der Foxcroft High hoch, der mich grinsend an sich drückte.

»Du siehst toll aus«, raunte er mir ins Ohr, bevor er mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange gab.

»Danke, du auch.« Verlegen blickte ich weg.

Peter lachte und manövrierte mich dann mit seinen breiten Schultern wie einen Football durch die Partymenge. Dabei behielt er die ganze Zeit den Arm um meine Schulter. Wie immer, wenn er mir so nah war, bekam ich Herzklopfen. Peter war toll, und ich hatte mir fest vorgenommen, ihm das heute auch genau so zu sagen. Vielleicht nach ein oder zwei Bier.

Wir lächelten uns an, als hätten wir gerade einen ähnlichen Gedanken geteilt. Peters blaue Augen blitzten auf, und mein Herz jagte los.

»Trägst du das Shirt noch, um ein Statement zu setzen?«, zog ich ihn auf, während ich wieder an seinem Trikot herumzupfte, das vom heutigen Training noch ein paar Grasflecken hatte.

»Pfft. Burrington soll ruhig wissen, wer sie diese Saison fertigmacht«, behauptete Peter ein wenig zu laut, was ihm sofort einige feindselige Blicke einbrachte.

»Wenn du eine Schlägerei anzettelst, bild dir bloß nicht ein, dass Alice oder ich danach deine Wehwehchen pflegen!«, rief uns Cordy über den Lärm hinweg zu.

Sie und Peters bester Freund Matthew lehnten neben uns an dem schwarzen Monstertruck und ließen sich gerade von einem Typ mit türkis gefärbten Haaren zwei Bier zapfen. Der weiße Schaum lief träge über den Becherrand und tropfte auf den harten Boden, als Cordy breit grinsend die Becher entgegennahm. »Danke, was bekommst du dafür?« Mit einem filmreifen Augenaufschlag sah sie zu ihm hoch.

»Geht für schöne Frauen aufs Haus«, erwiderte Türkishaar mit einem tiefen Lachen. Seine Schultern waren so breit, dass selbst Peter dagegen schmal wirkte. Der checkte sein Gegenüber aus, als versuchte er herauszufinden, wie er ihn beim nächsten Footballspiel am besten tackeln konnte.

»Coole Party«, flirtete Cordy weiter. »Ihr seid von Burrington, oder?«

»Jupp, willkommen auf der schwarzen Seite der Macht!« Der Typ lachte erneut und stieß dem Kerl neben sich den Ellbogen in die Rippen. »Ey, Hawkins, hast du den gehört? Schwarze Seite der Macht, nicht dunkle! Klassiker!« Er hob seine Hand zu einem High-Five.

Der Junge am Zapfhahn drehte sich mit einem genervten Gesichtsausdruck weg und ließ die Hand des Typs einfach in der Luft hängen. »Du bist nicht witzig, Bastion. Warst du nie und wirst du nie sein.« Während er redete, füllte er den nächsten Becher ab, den er mir hinhielt, ohne dass ich darum gebeten hatte.

Das Scheinwerferlicht eines Autos beleuchtete ihn von hinten, sodass es beinahe aussah, als wäre er von einer Korona umgeben. Unter der schwarzen Beanie auf seinem Kopf lugten ein paar ebenso schwarze Ponyfransen hervor, die ihm in das fein geschnittene Gesicht mit asiatisch geschwungenen Augen fielen.

»Du hast doch noch nichts zu trinken, oder?«, fragte er mich freundlich.

»Ich? Nein, danke, das ist sehr nett«, antwortete ich überrascht und nahm ihm den Becher aus der Hand. »Gibt es einen Grund für die Party? Hat jemand Geburtstag?«, fragte ich neugierig, während Peter sich ebenfalls ein Bier geben ließ.

Türkishaar alias Bastion grinste und verschränkte die muskulösen Arme vor der Brust. »Kein Grund. Wir feiern nur unser beschissen kurzes Leben.«

»Bastion, es reicht«, knurrte Hawkins, dann sah er uns fragend an. »Wollt ihr sonst noch was?«

»Nein, danke, wir stören euch dann mal nicht weiter«, versicherte Cordy, warf Bastion dabei aber eindeutig zweideutige Blicke zu.

Der grinste breit und zwinkerte. »Du kannst mich gern nach der Party stören, wenn du willst.«

»Will sie nicht. Danke für das Bier«, hielt ich dagegen, bevor Cordy begeistert zustimmen konnte, schnappte mir ihre Hand und schleifte sie hinter mir her durch die Partymassen.

»Alice! Was soll das? Ich hätte fast einen von Burrington abgeschleppt. Das macht zwanzig Punkte!«

»Ernsthaft, Cordy?« Ungläubig schnaubend ließ ich sie los. »Du willst wirklich dieses dämliche Punktespiel spielen?«

Cordy machte ein schockiertes Gesicht und presste sich eine Hand gegen die Brust. »Dämlich? Das ist Tradition in Foxcroft!« Sie straffte die Schultern und begann herunterzurattern:

»Fünf Punkte für einen Kuss mit einem Internatsschüler.

Zehn Punkte für Knutschen.

Fünfzehn Punkte für Rummachen.

Und zwanzig für …«

»Ich will es nicht hören. Lalala«, trällerte ich und hielt mir schnell die Ohren zu.

»Was will sie nicht hören?«, erkundigte sich Peter, der zu uns aufschloss, während er in großen Schlucken sein Bier trank.

»Dass sie prüde ist. Dagegen solltest du dringend mal was unternehmen, Peter«, sagte Cordy.

»Hey! Ich bin nicht prüde. Ich bin nur nicht scharf drauf, Internatsschüler für dämliche Punkte …«

»… flachzulegen?«, half Cordy liebenswürdig nach.

»Wer legt hier wen flach?«, mischte sich nun auch Matthew ein.

Peter verzog das Gesicht. »Ach, es geht um die Punkte, falls man einen von den Snobs abschleppt.«

Matthew zog ebenfalls eine Grimasse, als hätte er einen schlechten Geruch in der Nase. »Das gibt es immer noch? Meine Schwester hat das auch schon gespielt. Was habt ihr Mädels nur mit den Typen von den Internaten? Die sind doch alle verrückt.«

»Geheimnisvoll, reich und heiß, meinst du wohl«, hielt Cordy dagegen und sah verzückt in Richtung Bastion mit seinen türkis Haaren. »Schade, dass die kaum in die Stadt dürfen und immer unter sich bleiben. Wirkt beinahe, als würden sie im Knast sitzen, statt auf eine scheißteure Privatschule zu gehen.« Sie seufzte sehnsüchtig.

»War einer von euch eigentlich schon mal in Burrington oder Chesterfield?«, fragte ich. Der allgemeine Internatsgossip hatte mich bisher eigentlich nie so wirklich interessiert. Aber ich hatte ja auch noch nie etwas mit Schülern von dort zu tun gehabt. Bis jetzt zumindest.

Alle schüttelten den Kopf, und Matthew sagte: »Wenn du das Schulgeld nicht aufbringen kannst, darfst du ja nicht mal auf das Gelände.«

»Alter, ich will da gar nicht rein und jeden Tag eine Krawatte tragen«, warf Peter lachend ein.

Die beiden prosteten sich zu und tranken ihre Becher in einem Zug leer. Ich verdrehte die Augen und nippte an meinem Bier. Als sich der bittere Geschmack in meinem Mund ausbreitete, versuchte ich eine Grimasse zu unterdrücken.

»Magst du Bier immer noch nicht, Alice?«, flüsterte mir Peter amüsiert ins Ohr.

»Schmeckt ekelhaft. Wenn keiner hinsieht, musst du für mich trinken, ja?«

Peter grinste und zwinkerte mir zu. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie mir Cordy ein begeistertes Daumen-hoch-Zeichen gab. Ihre Flirttipps hatten in letzter Zeit bizarre Ausmaße angenommen. Als sie eine auffordernde Bewegung machte, atmete ich tief durch und sah zu Peter hoch.

»Hast du vielleicht Lust zu tanzen?« Ich deutete in die Mitte der Lichtung, wo sich bereits einige Leute im Rhythmus der dröhnenden Beats bewegten.

»Solange ich nur von einem Bein aufs andere wippen muss, gern«, sagte Peter, nahm mir meinen Becher ab und trank ihn in einem Zug aus, bevor er ihn auf der Motorhaube eines Wagens abstellte.

»Wippen reicht völlig aus«, erwiderte ich und lächelte zu Peter hoch, als er mich in seine Arme zog und zu tanzen begann.

»Und? War diese Party wirklich so eine fürchterliche Idee?«, erkundigte sich Cordy, die sich mit Matthew zu uns gesellt hatte, fröhlich bei mir.

»Nein, es ist toll hier, du hattest recht«, musste ich zugeben, auch mir selbst gegenüber.

»Ich habe immer recht, und das Bier ist hammer! Wir holen uns noch eins.«

»Ist Bier jetzt das neue Codewort für türkishaarige Internatsschüler?«, zog ich sie auf.

Cordy wackelte mit den Augenbrauen und verschwand mit Matthew im Schlepptau im Getümmel, während Peter seine Arme fester um mich schlang. Lächelnd schmiegte ich mich an ihn, während er mir einen Kuss in den Nacken drückte. Ich holte tief Luft, und es fühlte sich an, als würde ich diesen Augenblick in all seinen kleinsten Details in mich aufsaugen. Ich spürte den sanften Wind an meinen blonden Haaren ziehen, roch Bier, Rauch und den Wald, während die Musik wie ein dumpfer Herzschlag in meiner Brust vibrierte.

Badum. Badum. Badum.

Lächelnd öffnete ich die Augen – und begegnete dem Blick eines Typs, der am Rand des Partygewimmels stand und mich anstarrte.

Badum.

Irritiert starrte ich genauso unverwandt zurück.

Er trug ein weißes Hemd, das er bis zu den Ellbogen hochgekrempelt hatte, und um seinen Hals hing eine gelockerte blutrote Krawatte. Auf der linken Brusttasche war ein Schulwappen abgebildet.

Er lehnte an einem Motorrad und zog an einer glühenden Zigarette. Fasziniert sah ich dem Rauch hinterher, der sich zwischen seinen Lippen hervorschlängelte und in seinem dunklen Haar verfing, das ihm in dichten Wellen ums Gesicht fiel. Vielleicht lag es nur an dem grellen Licht, aber seine Augen wirkten pechschwarz.

Badum.

Mein Herzschlag setzte aus, oder vielleicht kam mir die Zeit zwischen den Schlägen auch einfach nur länger vor als sonst. Wir starrten uns an, und die Zeit schien sich auszudehnen. Die Geräusche waren nur noch verzerrt und dumpf zu hören, die Menschen um uns herum bewegten sich wie in Zeitlupe, genauso wie der Rauch, der aus seinem Mund stieg.

Dann, ganz plötzlich, huschte ein verwirrter, beinahe erschrockener Ausdruck über seine Züge.

Kannte er mich? Zögerlich hob ich die Hand und winkte. Der Typ schnippte die Zigarette zu Boden und stieß sich von der Maschine ab. Er machte einen Schritt auf mich zu, dann noch einen. Ich hielt die Luft an und …

»Alice?«, murmelte mir Peter plötzlich ins Ohr.

Sein warmer Atem pustete mir eine Haarsträhne ins Gesicht und riss mich so schlagartig in die Realität zurück, dass mein Herz erschrocken losstolperte. Als wäre um mich herum eine schützende Seifenblase geplatzt, stürmte das Partygeschehen wieder auf mich ein. Die Musik schmerzte beinahe in meinen Ohren, die Gerüche stachen mir aufdringlich in die Nase, und die Farben wirkten so grell, dass ich irritiert blinzelte.

Der Typ blieb stehen. Sein Blick huschte zu Peter, bevor er den Kopf schüttelte, sich ruckartig umdrehte und im Partygewimmel verschwand.

»Möchtest du vielleicht …«, setzte Peter an und strich mir mit einem Finger die Wirbelsäule entlang, was einen heftigen Schauder auslöste, »… noch was zu trinken?« Kaum merklich versteiften sich meine Nackenmuskeln.

»Gern.« Ich zwang mich, das seltsame Gefühl abzuschütteln, das der kurze Blickaustausch mit dem anderen Typ in mir ausgelöst hatte, und folgte Peter zurück zu dem Truck, an dem Cordy und Matthew bereits ihr nächstes Bier kippten.

»Wenn ihr noch verliebter tanzt, rutscht am Ende jemand auf eurer Schmalzspur aus«, flüsterte mir Cordy grinsend zu.

»Du bist ja nur neidisch«, zog ich sie auf, bevor ich mich an Peter wandte. »Ich frag mal nach, ob sie auch was anderes als Bier haben, okay?«

Er zwinkerte. »Klar. Viel Erfolg dabei«, erwiderte er und schnappte sich Matthews Becher.

Ich trat näher an den Monstertruck und klopfte an die schwarz lackierte Karosserie, um Bastions Aufmerksamkeit auf mich zu lenken.

»Noch ein Bier, Süße?«

»Kann ich vielleicht auch einfach nur eine Cola haben?«, murmelte ich verlegen.

»’ne Coke? So ganz ohne?« Als ich nickte, wanderte seine gepiercte Augenbraue nach oben. »Ich seh schon, du bist ’ne ganz Wilde, was?« Er lachte, richtete sich jedoch auf und tippte seinem Kumpel auf die Schulter.

»Hey, Hawk. Haben wir noch Cola da?«

Hawk schüttelte den Kopf. »Hier nicht, aber vielleicht ist noch eine Kiste in der Schule. Ich müsste mal nachsehen.«

»Oh nein, bloß keine Umstände. Dann trink ich einfach gar nichts«, ruderte ich hastig zurück.

Hawk musterte mich, dann stieß er sich vom Truck ab. »Schon gut, ich muss sowieso Bier nachholen. Bin gleich zurück, Bastion.«

Der nickte und teilte weiter Bier aus.

Ich gesellte mich zwar wieder zu den anderen, sah aber voller Schuldgefühle Hawk nach, der gerade hinter den Autos verschwand, bis schließlich meine guten Manieren siegten. Ich zupfte Peter am Ärmel. »Ich bin gleich wieder da, ja? Ich helf nur eben dem Typ dahinten mit den Getränken.«

Peter runzelte die Stirn. »Soll ich mitkommen?«

»Nein, schon gut. Ich bin ein großes Mädchen, das bekomm ich allein hin«, wiegelte ich lächelnd ab und beeilte mich, Hawk zu folgen, ehe er aus meinem Sichtfeld verschwunden war.

»Hey, du! Warte!«, rief ich ihm hinterher und erwischte ihn gerade noch, als er auf einen dunklen Trampelpfad zwischen den dicht stehenden Bäumen abbog. »Lass mich zumindest beim Tragen helfen.«

Hawk blieb stehen und drehte sich zu mir um. »Schon gut, das musst du nicht.«

»Ich würde aber gern, sonst hab ich ein schlechtes Gewissen.«

Hawks rechter Mundwinkel wanderte nach oben. »Machst du das wegen dieser Sache mit den Punkten?«, erkundigte er sich belustigt.

Entsetzt starrte ich ihn an. »Was? Nein!«

»Sicher? Wenn doch, muss ich dir gleich sagen, dass ich eine Freundin hab.«

»Himmel! Nein, so war das nicht … sorry, ich will wirklich nur helfen«, rechtfertigte ich mich und spürte, wie ich knallrot anlief.

Jetzt wanderte auch sein linker Mundwinkel nach oben. »Schon gut, komm ruhig mit. Es ist gleich hier drüben.«

Er bedeutete mir, ihm zu folgen, und mit einem letzten Blick auf die Lichtung lief ich hinter ihm in den Wald hinein. Sofort wurde es um einige Grad kälter, sodass die Atemluft vor meinem Gesicht kondensierte.

»Wie heißt du?«, erkundigte sich Hawkins freundlich bei mir, während er einen tief hängenden Zweig aus dem Weg hielt.

Dankbar duckte ich mich darunter hindurch und beeilte mich, mit seinen langen Beinen Schritt zu halten.

»Alice. Alice Salt«, stellte ich mich vor.

Hawk legte interessiert den Kopf schief und musterte mich. »Salt? Bist du mit dem Sheriff verwandt?«

Seufzend verzog ich das Gesicht. »Ja, das ist meine Mom.«

Er prustete los. »Und dann bist du auf so einer Party? Weiß sie davon?«

Ich warf ihm einen bedeutungsschwangeren Blick zu und strich mir eine Haarsträhne hinters Ohr. »Nein. Und falls sie hier heute noch auftauchen sollte, werde ich behaupten, von euch gekidnappt worden zu sein.«

Wieder lachte Hawk. Seine Stimme klang weich und warm, und ich musste überrascht feststellen, dass ich ihn nett fand. Er wirkte so erstaunlich … normal. »Wir sind da. Warte hier kurz auf mich, ich bin gleich zurück«, sagte er.

Staunend legte ich den Kopf in den Nacken und starrte das schmiedeeiserne Tor an, das mitten im Wald vor uns aufgetaucht war. Eine beinahe ebenso hohe Ziegelsteinmauer, die von wildem Efeu überwuchert war, breitete sich links und rechts vom Tor aus und schnitt das Internatsgelände von der Außenwelt ab. Prompt schoss mir Cordys Vergleich mit einem Knast durch den Kopf, der mir bei dem Anblick ziemlich treffend schien.

»Ist gut«, sagte ich nur und beobachtete, wie Hawk durch das Tor verschwand.

Wahrscheinlich bildete ich es mir nur ein, aber ich hatte beinahe das Gefühl, als wäre die Luft, die durch die einen Spaltbreit offen stehenden Flügeltüren drang, um ein paar Grad kühler als die im Wald.

Fröstelnd sah ich Hawk hinterher, der leise wie eine Katze in der Dunkelheit verschwand. Im Grunde fehlte nur noch Nebel, und dieser Ort wäre das perfekte Setting für einen Horrorfilm gewesen. Nervös sah ich mich um, biss mir auf die Unterlippe und trat von einem Bein aufs andere, während ich wartete, dass Hawk zurückkam. Um etwas zu tun zu haben, ging ich näher an das Tor heran und betrachtete das elegant verschnörkelte schwarze Eisen. Auf einem silbernen Schild links an der Backsteinmauer waren schwach die Worte St. Burrington zu entziffern. Neugierig trat ich noch näher, bis ich knapp vor dem Tor stand. Daneben war das Schulwappen angebracht, das eine zierliche Hand zeigte, die eine Rose hielt. Ich berührte das Wappen, fuhr die Rillen entlang, und die Kälte wurde so beißend, dass ich mit den Zähnen zu klappern begann. Ich bekam eine Gänsehaut und schlang bibbernd das karierte Hemd enger um mich.

So witzig sich die Party auch entwickelt hatte, abseits des Trubels ließ das Adrenalin nach, und ich bemerkte, wie müde ich inzwischen war. Hungrig war ich auch, mein Magen knurrte. Ich seufzte, als ein Knacken im Unterholz mich zusammenzucken ließ. Mein Kopf schoss herum, doch ich sah nur dicht stehende Bäume, deren Wurzeln sich wie Schlangen aus dem Boden wanden. Scheiße, war das gruselig! Ich hoffte nur, dass Hawk bald zurückkam, ehe mir Jigsaw einen Besuch abstattete. Erwartungsvoll hob ich den Kopf, als das Gestrüpp vor mir in Bewegung geriet und …

»Aahhh!« Mein Herzschlag setzte kurz aus, während mir die Panik die Puste aus der Lunge trieb. Ich stolperte rückwärts. Im Unterholz knackte es wieder, und heraus kam – eine Katze!

»Um Gottes willen, hast du mich erschreckt! Willst du mich umbringen?«, krächzte ich und hatte immer noch das Gefühl, vor Schreck gleich meine Lunge ausspucken zu müssen.

Die schneeweiße Katze blieb vor mir stehen und wirkte beinahe verdutzt. Erleichtert atmete ich auf, während mein Herzschlag sich wieder beruhigte.

»Na, was machst du denn hier?« Fröstelnd ging ich in die Hocke und streckte lockend die Hand aus. Die Katze – oder der Kater? – zuckte beinahe schon amüsiert mit den Ohren, während sie näher schlich.

»Hey, ich bin Alice. Und wer bist du?«, fragte ich, als könnte mir eine Katze eine Antwort geben.

Sie legte den Kopf schief, hob die Tatze, wie um mir die Hand zu reichen, und antwortete mit samtweicher und erstaunlich tiefer Stimme: »Hallo, Alice. Ich bin Curse.«

Mein Schrei war so gellend, dass es in meinen eigenen Ohren schmerzte. Ich zuckte zurück und knallte mit dem Rücken hart gegen das Eisentor. Das Klong des Aufpralls hallte gefühlt im gesamten Wald wider.

Der Kater machte vor Schreck einen Buckel und fauchte mich an, während ich ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrte. Mein Herz pochte so schnell, dass ich es bis auf die Zunge spüren konnte, während ich wild den Kopf schüttelte.

»Hast du gerade wirklich gesprochen?«, stieß ich fassungslos hervor.

»Hast du mich gerade wirklich gehört?«, kam die überraschte Gegenfrage. Klar und deutlich. Von dem Kater. Dem Kater, der mir gerade mitgeteilt hatte, dass er Curse hieß.

Ich kreischte wieder.

»Verfluchte Scheiße!«, stieß der Kater hervor.

»Alice? Was ist los?«, fragte eine erschrockene Stimme, die diesmal zum Glück nicht von dem Kater kam.

Ich fuhr herum und sah voller Erleichterung Hawkins mit einer Kiste Softgetränke in den Händen vor dem Eisentor stehen.

»Die … die … ich … ich hab irgendwas gehört, und dann war da … der Kater!«, stammelte ich, während ich auf Curse zeigte.

Hawkins stutzte. »Hä?«, fragte er.

»Miau«, sagte Curse unschuldig. Ich fuhr auf den Fersen herum, sah aber nur noch, wie das Mistvieh mit erhobenem Schwanz das Weite suchte und blitzschnell im Gebüsch verschwand.

»Der Kater da … der hat …«, stotterte ich völlig verwirrt, während Hawkins die Kiste abstellte und das quietschende Tor öffnete.

»Geht’s dir nicht gut? Hast du zu viel getrunken?«, fragte er sichtlich besorgt und umfasste meine Schulter. Seine Finger berührten mich nur sanft, beinahe flüchtig, doch auf meiner Haut breitete sich ohne jede Vorwarnung erneut eine dicke Gänsehaut aus. Selbst meine Nackenhaare stellten sich auf. Ich zuckte zurück. Doch das grauenhafte Gefühl blieb, wurde sogar noch stärker. Wie wenn einem Kälte durch die Schläfen kroch, bis sie sich in den Windungen des Gehirns festsetzte. Hirnfrost. Der Schmerz war scharf und stechend. Ich merkte, wie mir die Knie zitterten.

»Alice?«

Ich spürte, wie Hawk seine Arme um mich schlang. Ich öffnete den Mund, doch heraus kam nur eiskalter Nebel, während sich dunkle Flecken in meinem Gesichtsfeld ausbreiteten. Mir stockte das Blut in den Adern, und ich hörte eine Stimme wie einen Glockenschlag durch meinen Schädel dröhnen:

Verdammt sind wir, wie Figuren zu leben,

sechzehn von uns wird es ewiglich geben.

Weder Schwarz noch Weiß bleiben verschont,

im endlosen Kampf um Leben und Tod.

Blut für Blut, so muss es sein,

jeder steht am Ende allein.

Doch niemals gibt mein Herz mir Ruh,

denn verflucht bin ich und verflucht bist du.

»Alice! Hey!« Hände schüttelten mich und rissen mich so abrupt in die Realität zurück, dass ich wie eine Ertrinkende nach Luft rang. Ich blinzelte und sah Hawk über mir knien. War ich hingefallen? Wann war das passiert? Was war passiert?

»Was … was war das gerade? Was war das für eine Stimme?«

Ich kniff die Augen zu. Hinter meinen Schläfen pochte es, und als ich meine Lider wieder aufzwang, sah Hawk erschrocken auf mich herab.

»Du hast was gehört? Scheiße! Was genau hast du gehört?«, fragte er, und sein Blick wirkte gehetzt.

»Natürlich hab ich was gehört. Diese Stimme und dieser … dieser Kater … Was war das?«, brachte ich krächzend hervor, versuchte, mich aufzusetzen, und stöhnte. »Fuck!«

Mir tat alles weh. Die stechenden Schmerzen hatten sich bis in meinen Rücken gebohrt, und ich sog zischend die Luft ein, während Hawk mich mit einem äußerst seltsamen Ausdruck anstarrte.

Dann sagte er langsam: »Wenn du was gehört hast … siehst du dann auch das da?« Sein Finger deutete auf etwas neben mir, und meine Nackenmuskeln versteiften sich schlagartig.

»Wa…«, setzte ich an, während ich mir schaudernd über die Arme fuhr und dabei etwas Seltsames berührte. Verdutzt sah ich nach unten und sah ein paar lange, zitternde Spinnenbeine, die sich an mir festklammerten.

»Scheiße!«, schrie ich angewidert auf und wischte mir hektisch über den Oberarm. »Was war das? War das eine Spinne? Ist sie noch da?«

Hawk verzog fluchend das Gesicht. »Oh Mann, du siehst sie also wirklich?«

Ich öffnete den Mund und spürte im nächsten Augenblick, wie mich etwas an den Haaren kitzelte. Als ich hochsah, wurden meine Augen groß. Über den gezackten Spitzen des Tors wimmelte es nur so von Spinnen. Große, kleine, die mit ihren langen, dünnen, zitternden Beinen überall umherkrochen.

»Ach du Scheiße!« Ich strampelte mich hoch, knickte aber sofort wieder ein. Hawk half mir langsam auf. Sein Blick blieb an mir hängen wie … wie … wie in einen Albtraum. Ganz genau, das hier konnte doch nur ein Albtraum sein! »Was ist das hier für eine kranke Scheiße?«

Hawk verzog das Gesicht und sagte nur: »Es tut mir leid.«

»Was tut dir leid?«, fauchte ich und kniff mir hektisch in die Wangen. Ich musste aufwachen. Schnell! Doch ich tat es nicht. Ich tat es einfach nicht.

Im selben Augenblick kroch Hawk eine besonders dicke Spinne genau übers Gesicht. Er zuckte zurück und klatschte sich die Hand gegen die Wange. Doch gleich darauf ließen sich Dutzende weitere auf ihn fallen, wuselten und krabbelten über ihn hinweg und kamen allesamt … direkt auf mich zu.

»Hau ab, Alice!«, rief Hawk. Unsere Blicke trafen sich, während er sich ein paar Spinnen von der Schulter fegte. Ich stolperte zurück. Einen Schritt. Zwei. »Hau ab, solange du noch kannst!«, fuhr Hawkins mich an.

Etwas krabbelte meinen Rücken hinauf, und ich beherzigte Hawkin’s Rat. Winselnd drehte ich mich um und rannte davon, als wäre der Teufel hinter mir her. Tränen rannen mir die Wangen hinab, doch ich spürte sie kaum, ebenso wenig wie die Äste, die mir ins Gesicht peitschten.

Das hier musste ein Albtraum sein.

Nur ein Albtraum.

Ein schrecklicher Albtraum.

Kapitel 2

6 MONATE SPÄTER

Ein Albtraum!

Keuchend fuhr ich kerzengerade im Bett hoch. Kalter Schweiß rann mir den Rücken herab, und das Piepen meines Handyweckers hallte mir schrill in den Ohren nach. Mit zittrigen Fingern drückte ich die Snooze-Taste. Das Kissen war zerknautscht und fühlte sich ähnlich verschwitzt an wie mein Rücken. Eine weitere Nacht, in der ich mich herumgewälzt hatte. Eine weitere Nacht voller Albträume, wie sie in den vergangenen sechs Monaten für mich zur Gewohnheit geworden waren.

Sechs Monate.

Ich ließ mich wieder nach hinten fallen und schloss die Augen.

Es gibt keine sprechenden Katzen.

Es wimmelt nicht überall von schwarzen Spinnen.

Ich bin nicht verrückt.

Das alles ist nur ein Albtraum.

Das Mantra beruhigte meinen flatternden Puls, und ich schlug die Augen wieder auf – nur um es zu sehen.

Es war in diesem Fall groß wie ein Golfball und hatte lange schwarze Beine und einen zitternden Körper, der aussah, als hätte jemand Rauch zum Leben erweckt. Und es krabbelte gerade über mein Bett.

»Verdammte Scheiße!« Erneut setzte ich mich ruckartig auf. Die Spinne flitzte die Bettdecke entlang, und auf dem Boden entdeckte ich Dutzende weitere. So wie jeden Tag.

Sie verfolgten mich wie ein lebendiger Albtraum, und langsam gingen mir die Erklärungen aus, die nicht darauf hinausliefen, dass ich verrückt geworden war.

Ich hatte in den letzten Monaten Antworten zu finden versucht. Hatte die möglichsten und unmöglichsten Dinge gegoogelt. Halluzinogene Pilze zum Beispiel.

Danach hatte ich versucht, an die Handynummer von diesem Hawk zu kommen. Doch niemand hatte Kontakt zu Chesterfield oder St. Burrington. Alle sahen die Internatsschüler nur zu den Partys, die sie heimlich schmissen, oder in der Stadt, wo sie hin und wieder mit ihren teuren Autos herumfuhren. In meiner Verzweiflung hatte ich schließlich sogar auf St. Burrington angerufen und ein paarmal vor dem Tor herumgelungert. Aber ein ums andere Mal hatte man mich einfach abgewimmelt, wenn ich überhaupt jemanden zu Gesicht bekam.

»Ich bin nicht verrückt«, ließ ich die Spinnen finster wissen. Sie wuselten davon, als ich meine Beine aus dem Bett schwang und ruckartig die Vorhänge aufzog. Helles Sonnenlicht schien durch mein Zimmer und erhellte den alten Holzboden.

»Neuer Tag, neues Glück«, redete ich mir selbst gut zu, und das Spiegelbild im Fenster schnitt mir eine wenig überzeugte Grimasse. »Neuer Tag, neuer Scheiß«, hätte wohl besser gepasst. Aber ich wollte nicht schon um halb acht Uhr morgens pessimistisch sein.

Ich beeilte mich mit dem Umziehen, schnappte mir meine Schultasche und lief den Flur der alten Villa entlang. Die Villa Salt war so alt, dass sie bereits ein Eigenleben zu entwickeln begann. Die dunklen Dielen knarrten, die verzierten Balken ächzten, und die Türen öffneten und schlossen sich meiner Meinung nach selbstständig. Von den vielen Generationen der Salts, die hier bereits gelebt hatten, zeugten die alten Gemälde auf der braun-orange gemusterten Paisley-Tapete im Treppenhaus ebenso wie die durchgewetzten Stellen im einstmals roten Teppichboden.

Ich rannte die Treppe hinab und folgte dem Geruch nach Frühstück, der aus der Küche drang, die zu großen Teilen aus abgegriffenem Holz bestand. Vom Gebälk hingen dicke Büschel aus Lavendel und Salbei, die Granny aus dem verwilderten Garten geerntet und zum Trocknen aufgehängt hatte. Es war der einzige Raum im Erdgeschoss, vor dem keine alten Bäume standen, sodass das Sonnenlicht ungehindert hereinscheinen konnte. Die Fenster standen offen, und Vogelgezwitscher drang herein und vermischte sich mit dem köchelnden Geräusch, das aus einem Topf drang.

»Guten Morgen!« Ich versuchte, so sorglos zu klingen, wie sich ein siebzehnjähriges Highschool-Mädchen fühlen sollte. Normal, höchstens mit Jungs und Hausaufgaben beschäftigt. Ein Mädchen, wie ich es einst war, weshalb mein Tonfall auch beinahe überzeugend klang.

»Guten Morgen, mein Schatz.«

Meine Mom sah lächelnd auf. Sie trug bereits ihre Uniform: braune Hosen, braune Jacke und den Stern, der sie als Sheriff der Stadt auswies.

Grandma Emerald saß in ihrer üblichen Ecke im Lehnstuhl und strickte. Das tat sie oft seit ihrem Schlaganfall, und das rhythmische Klick, Klick, Klick der Nadeln war inzwischen so etwas wie der Herzschlag des alten Hauses.

»Hallo, Granny«, sagte ich und küsste sie auf die warme, faltige Wange, die immer nach Zitronenbonbons roch. Dabei wischte ich ihr unauffällig eine schwarze Spinne von der Schulter. Granny lächelte verwirrt.

»Wie war dein Besuch bei den St. Burringtons, Liebes? Hast du dich beim Tee gut amüsiert?«, fragte sie und tätschelte mir die Wange.

»Ja, danke, es war toll«, erwiderte ich sanft.

»Gut, gut. Du solltest ihn heiraten. Er ist ein wirklich netter Junge.«

Ich nickte nur, und Mom lachte leise.

Eine weiße Locke rutschte Granny aus der Hochsteckfrisur. Sie sah aus wie die nette Oma von nebenan, und solange die Demenz sie im Griff hatte, war sie das auch. In den wenigen Momenten, in denen ihr Kopf klar war, glich sie aber leider eher einer alten Furie, die ihre Stricknadeln vor allem dafür verwendete, einem damit ins Bein zu piken. Granny Emerald war die Mutter meines Vaters, doch gesprochen hatte er nur selten über sie. Wir hatten sie vor seinem Autounfall auch nie besucht, und sobald die echte Gran herauskam, wusste ich auch immer, warum. Sie konnte nämlich echt gemein sein! Dass mein Dad meine Mom damals so früh geheiratet hatte und weggezogen war, konnte ihm niemand zum Vorwurf machen. Na ja, Granny schon. Was sie auch tat. Lautstark. Obwohl er längst tot war.

Bei dem Gedanken bildete sich ein Kloß in meinem Hals, aber das war immer noch besser als das hemmungslose Weinen, das in den ersten Wochen nach seinem Tod mein ständiger Begleiter gewesen war.

»Du hast verschlafen!«, sagte Mom vorwurfsvoll und trank einen Schluck Kaffee, den es bei uns rund um die Uhr gab. Ich konnte mich an kaum einen Augenblick erinnern, in dem die Kaffeemaschine in unserem Haushalt nicht in Betrieb gewesen wäre. Auch vor unserem Umzug nach Foxcroft war Kaffee schon ein fester Bestandteil unseres Lebens gewesen.

Vieles war gegangen, der Kaffee war geblieben. Der Geruch war tröstlich.

Ich versuchte, nicht zusammenzuzucken, als eine schwarze Spinne mit langen Beinen über den Rand von Moms Becher krabbelte. Ich sagte auch nichts, als Mom den Becher ansetzte und trank, während ihr die Spinne über die Hand lief. Es hätte nichts gebracht, lauthals loszuschreien. Weil Mom die Spinne trotzdem nicht gesehen hätte. Niemand tat das. Und das war wahrscheinlich das Beängstigendste an der ganzen Sache: dass ich allein mit diesem Albtraum war.

»Ich weiß. Bin auch schon weg«, nuschelte ich, riss meinen Blick von der Spinne los und schnappte mir einen Toast von der Anrichte.

»Fahr nicht zu schnell!«, warnte mich Mom noch, als ich aus der Küche stürmte und im Vorbeigehen Grandma Emerald auf die faltige Wange küsste. Sie sah weder auf, noch unterbrach sie ihr Stricken.

»Mach ich!«, rief ich zurück, während ich die alte, mintgrün lackierte Tür aufdrückte. Das Knarren der Scharniere klang wie ein Seufzen.

Mein Fahrrad lag dort, wo ich es gestern hatte fallen lassen, nämlich in den Rhododendronbüschen neben der weißen Veranda.

Unsere alte Familienvilla befand sich etwa zwanzig Fahrradminuten von der Schule entfernt im Süden von Foxcroft. Die Autumn Street lag abgelegen, nur selten kam ein Auto vorbei. Wer in Foxcroft nicht ohnehin schon längst das Gefühl hatte, am Arsch der Welt zu leben, dem kam der Gedanke spätestens hier draußen bei uns.

Die ehemals blaue Fassade der Villa wirkte durch die jahrzehntelange Witterung grau und bleich wie abgenagte Knochen, und die Hollywoodschaukel quietschte. Die Bäume im Garten waren so alt und groß, dass ihr Geäst sich über das gesamte Hausdach erstreckte und alles in Halbschatten tauchte.

Ich schnappte mir mein Fahrrad, klemmte mir den Toast zwischen die Zähne und trat in die Pedale. Die Sommerferien standen kurz bevor, und es war schon heiß, obwohl die Sonne noch nicht sehr hoch stand. Das Zirpen der Zikaden begleitete mich, als ich die Straße entlangfuhr und mir der Wind durch die Haare wehte. Ich atmete tief ein und spürte, wie sich mein Puls endlich etwas beruhigte. Bewegung hatte mir schon immer geholfen, seit ich denken konnte, wurde ich hibbelig und unruhig, sobald ich zu lange still sitzen musste. Ein Grund vielleicht, warum ich schon vor Foxcroft mit dem Cheerleading angefangen hatte.

Doch in letzter Zeit half selbst das nicht mehr. Nach dem Training war ich meistens noch genauso fahrig und unkonzentriert wie davor. Meine Nerven lagen blank. Mittlerweile erschreckte mich jeder Schatten, ich schlief schlecht, und immer wenn ich eine weiße Katze sah, war ich kurz vorm Nervenzusammenbruch.

Und ich konnte niemandem davon erzählen, denn noch schlimmer als die Halluzinationen war die Angst, dass jemand herausfand, dass ich Halluzinationen hatte.

Quietschend blieb ich an einer roten Ampel stehen und starrte in die Ferne zu der Baumgrenze, die Foxcroft wie ein dunkler Ring einschloss. Es zog mich in den Wald, hinauf zu den Internaten. Was damals passiert war …

Ich zwang mich, wegzusehen und das Stück Toast aufzuessen. Während ich darauf wartete, dass die Ampel wieder grün wurde, ließen mich laute Musik und das Aufheulen eines Motors neugierig aufsehen. Ein teuer aussehendes silbernes Cabrio kam neben mir zum Stehen. Mein Blick wanderte über die vier Jugendlichen darin, die nicht wirkten, als würden sie nach Foxcroft gehören. Mein Blick fiel zuerst auf das Mädchen, das auf dem Beifahrersitz saß. Sie hatte auffallend helles Haar und trug eine Sonnenbrille, die vermutlich so viel gekostet hatte wie der Inhalt meines ganzen Kleiderschranks. Hinter ihr saßen zwei Jungs, die wohl Zwillinge sein mussten, denn sie glichen einander so sehr, dass ich das Gefühl hatte, zweimal dieselbe Person zu sehen. Sie hatten fein geschnittene Gesichter mit mandelförmigen dunklen Augen und goldbraunem Haar, das zu einem akkuraten Bubikopf geschnitten war.

Wer meinen Blick jedoch fesselte, war der Typ am Steuer. Vielleicht war das Mädchen neben ihm seine Schwester, denn sein Haar, das ihm in weichen Locken ums Gesicht fiel, wies eine ähnlich helle Farbe auf. Seine linke Hand ruhte lässig auf dem Lenkrad, während er mit der anderen den Gang einlegte und erneut den Motor aufheulen ließ. Ein amüsiertes Grinsen breitete sich auf seinen geschwungenen Lippen aus, und dann, ganz plötzlich, sah er mich aus hellblauen Augen an und erwischte mich beim Starren. Ich blinzelte und zuckte zusammen, und in meinem Kopf begann es leise zu summen, wie bei einem Tinnitus. Das musste die Verlegenheit sein, die außerdem dafür sorgte, dass mir die Hitze in die Wangen stieg.

Sein Grinsen wurde breiter, und ich konnte seine Grübchen aufblitzen sehen.

»Was ist los, Vincent? Es ist grün, fahr endlich los«, hörte ich das Mädchen genervt gegen die Musik anbrüllen.

»Schon gut«, rief er zurück, »ich hab nur gerade was ausgesprochen Faszinierendes entdeckt!« Sein warmes Lachen jagte mir einen Schauder über den Rücken.

Der Kopf des Mädchens schnellte herum, doch im selben Augenblick ging der blonde Typ aufs Gas und brauste davon. Fasziniert starrte ich dem Auto hinterher, und als ich endlich ins Hier und Jetzt zurückfand, schaltete die Ampel bereits wieder auf Rot um. Der Tinnitus verschwand.

»Was war denn das gerade?«, murmelte ich kopfschüttelnd und trat trotzdem noch schnell in die Pedale, um über die Kreuzung zu rasen. Wenn ich mich nicht beeilte, würde ich auch noch zu spät zum Unterricht kommen, und das war wirklich das Letzte, was ich so kurz vor der Zeugnisvergabe gebrauchen konnte.

Denn was meine Noten betraf, sah mein Leben derzeit ebenfalls alles andere als rosig aus.

Kapitel 3

»Ich bin enttäuscht von dir, Alice.«

Mit Bauchschmerzen starrte ich auf den Zettel, der vor mir aufs Pult flatterte. Das rot angestrichene F leuchtete wie eine hässliche Wunde auf dem weißen Blatt Papier. Krampfhaft umklammerte ich den Kugelschreiber in meiner Hand und biss mir auf die Zunge, um nicht laut zu fluchen.

Mrs Greyson seufzte. Sie war erst vor einigen Monaten als Ersatzlehrerin an die Foxcroft High gekommen, hatte es mit ihrer unnachgiebigen Art aber geschafft, sämtliche Schüler innerhalb kürzer Zeit in Angst zu Schrecken zu versetzen. »Ich möchte nach der Stunde mit dir sprechen«, fügte sie hinzu, dann ging sie mit klackernden Absätzen weiter, um die restlichen Englisch-Abschlussarbeiten auszuteilen.

Was wohl bedeutete, dass ich durchgefallen war. Völlig fertig schloss ich die Augen und schluckte das Engegefühl im Hals herunter. Als ich sie wieder aufschlug, krabbelte eine Spinne fröhlich über den Tisch. Meine Finger krampften sich so fest um den Stift, dass die Knöchel weiß hervortraten.

Zähneknirschend befahl ich mir, ruhig zu bleiben. Niemand sonst konnte das Vieh sehen, und wenn ich jetzt ausflippte, landete ich nur wieder beim Schulpsychologen. Mein erster und letzter Ausraster hatte genau dort geendet. Das war direkt nach der Party gewesen, als ich feststellen musste, dass ich die Spinnen immer noch sehen konnte. Der Psychologe hatte mir eine Meditations-CD gegen Stress in die Hand gedrückt und mich ermahnt, viel zu trinken. Besten Dank auch.

Aber zumindest war ich nicht in der Klapse gelandet. Und ich hatte vor, dafür zu sorgen, dass das auch so blieb.

Zittrig atmete ich durch und ignorierte die Spinne, die gemächlich wieder vom Tisch krabbelte.

Mrs Greyson ging inzwischen an die Tafel zurück und ließ ihren strengen Blick hinter der randlosen Brille über die Bankreihen ihrer Schüler schweifen. »Ich gratuliere allen, die es in diesem Jahr über sechzig Prozent geschafft haben. Mir ist bewusst, dass die meisten von euch sich gedanklich bereits in den Sommerferien befinden. Dennoch halte ich nichts davon, sich während der letzten verbleibenden Schultage auf den Lorbeeren auszuruhen. Und deshalb dürft ihr mir alle einen Aufsatz zum Thema Zukunftswünsche schreiben. Gestaltet ihn individuell und gebt ihn mir morgen ab. Zwei DIN-A4-Seiten sollten genügen. Ihr könnt jetzt schon anfangen.«

Einheitliches Stöhnen hallte durch das Klassenzimmer, und ich warf einen schnellen Blick neben mich. Peter sah im selben Augenblick herüber und verdrehte die Augen. Ich lächelte verhalten und kramte einen Notizblock aus meinem Rucksack. Als ich ihn hervorzog, fielen auch zwei dicke schwarze Spinnen heraus, die hektisch davonkrabbelten. Wie immer reagierte niemand, keiner kreischte oder sprang auf. Es gab Tage, da wünschte ich mir, Cordy würde aufhören, gelangweilt auf ihrem Bleistift herumzukauen, und stattdessen bemerken, dass auf ihrer linken Schulter eine Spinne saß. Oder dass Peter endlich eine Reaktion zeigte, wenn ihm eins von den Viechern direkt in den Kragen seines Shirts krabbelte. Doch nichts passierte. Das tat es nie. Kein Mensch reagierte. Wieder war nur ich es, die schaudernd die Zähne zusammenbiss, so tat, als würde sie das Kitzeln am Bein nicht spüren, und versuchte, ruhig zu atmen.

Unkonzentriert schlug ich eine leere Seite auf und starrte auf das weiße Blatt Papier vor mir. Komm schon, Alice! Du kannst das. Du bist gut in Englisch.

Mit klammen Fingern setzte ich den Stift an und begann zu schreiben.

Mein Name ist Alice Salt, und für die Zukunft wünsche ich mir, nicht mehr verrückt zu sein.

Verdammt. Seufzend ließ ich den Kopf hängen. Ganz, ganz toll. Ein Stupsen in meinen Rücken schreckte mich auf, und ich drehte mich um.

Cordy saß hinter mir, senkte den Stift, mit dem sie mich gepikt hatte, und zog eine Augenbraue hoch. Dann landete ein Zettelchen auf meinem Pult.

Flüchtig sah ich auf, um sicherzugehen, dass Mrs Greyson an der Tafel beschäftigt war, bevor ich das abgerissene Papier entfaltete und Cordys Schrift zu entziffern versuchte.

Und? Hast du es geschafft? Hast du bestanden?

Ohne sie anzusehen, schüttelte ich den Kopf. Cordy stieß ein Seufzen aus. Das Reißen von Papier war zu hören, gefolgt von schnellem Gekritzel, bevor der nächste Zettel vor mir landete.

Neeeeein! OMG, Alice! Das tut mir so leid!!!

Ich drehte mich um, warf ihr einen bedauernden Blick zu und befahl mir selbst, nicht loszuheulen. Cordy verzog mitleidig das Gesicht, ehe sie zögernd weiterschrieb.

Glaubst Du, Du darfst trotzdem mit ins Cheer Camp fahren?

Ich atmete tief durch, schrieb unter ihre Nachricht:

Nein, wahrscheinlich nicht

und reichte ihr den Zettel nach hinten. Sekunden später kam ihre krakelige Antwort.

Hug? #sosorry, wir reden nachher, okay?

Ich nickte nur und wartete nervös, dass es endlich zum Ende der Stunde läutete.

Meine Mitschüler begannen, aus dem Klassenraum zu strömen, noch bevor Mrs Greyson die Chance hatte, ihre Brille zurechtzurücken.

»Hey Alice, alles okay bei dir?«

Mit einem Kloß im Hals sah ich zu Peter auf, der unbeholfen neben mir stand und sich nervös durchs Haar fuhr. Die ganze Sache wäre so viel einfacher gewesen, wenn er einfach ein Arsch gewesen wäre, der mich in der Sekunde fallen gelassen hätte, als ich vor sechs Monaten schreiend wie eine Irre aus dem Wald gestürzt war. Aber nein, er wollte danach immer noch mein Freund werden.

Am Ende war ich es gewesen, die abgelehnt hatte. Es kam mir nicht fair vor, mit Peter zusammenzukommen, obwohl ich ständig kurz vor dem Nervenzusammenbruch stand. Leider war Peter aber ein so guter Kerl, dass er weiterhin nett zu mir war, egal wie seltsam ich mich aufführte. Bei dem Gedanken stiegen mir schon wieder die Tränen in die Augen. Ich drängte sie zurück.

»Alles gut. Wir sehen uns dann beim Training«, nuschelte ich und warf ihm ein gezwungenes Lächeln zu.

»Okay«, murmelte er, zögerte jedoch immer noch weiterzugehen.

»Komm schon, Großer. Alice hat ein Gespräch mit Mrs Greyson. Wir warten draußen auf sie, ja?« Cordy schnappte ihn am Kragen seines Shirts und schleppte ihn nach draußen.

»Bis dann!« Er winkte mir im Gehen zu.

Ich erwiderte die Geste, doch meine Hand gefror in der Luft, als ich beobachtete, wie ihm eine handtellergroße Spinne über die Brust krabbelte.

»Du siehst blass aus, Alice.«

Mrs Greysons Stimme ließ mich erschrocken zusammenzucken. Meine Hand fiel auf den Tisch zurück, und ich beeilte mich, den Notizblock zuzuklappen.

»Tu ich das?«, fragte ich nervös und strich mir eine Haarsträhne hinters Ohr. »Ja, vermutlich«, beantwortete ich mir die Frage selbst, bevor es Mrs Greyson tun konnte. »Ich werde das Jahr nicht schaffen, oder?«

Mrs Greyson seufzte und stützte sich mit ihrer Hüfte an meinem Tisch ab. Sie rückte ihre Brille zurecht und musterte mich besorgt.

»Ich befürchte nein, Alice. Wobei ich mir deinen rapiden Notenabsturz nicht erklären kann. Laut deiner Akte hast du Anfang des Jahres noch zu den Jahrgangsbesten gehört, doch inzwischen sind deine Noten nicht mehr zu retten. Es tut mir aufrichtig leid für dich.«

Kurz war es still zwischen uns. Ich konzentrierte mich auf meine Atmung.

Ein und aus. Ein und aus. Ein und aus.

»Was mache ich jetzt? Muss ich das Jahr wiederholen?«, stieß ich schließlich krächzend hervor.

Mrs Greyson presste die Lippen zusammen, schüttelte jedoch den Kopf. »Wir werden versuchen, diesen Extremfall zu vermeiden. Weißt du, Alice … in deinen hellen Momenten zeigst du echtes Talent, und das imponiert mir. Ich weiß nicht, was mit dir los ist, und mir ist durchaus bewusst, dass mir nicht gerade der Ruf der Briefkastentante vorauseilt. Aber ich möchte, dass du weißt, dass du dich im Fall eines Problems – egal ob schulischer oder persönlicher Natur – immer an mich wenden kannst.«

»Das ist sehr freundlich von Ihnen, Mrs Greyson, aber ich brauche keine Hilfe«, sagte ich leise. Im selben Augenblick huschte eine Spinne über meine Hand.

Mrs Greysons Stirn furchte sich. »Hilfe ist manchmal keine Frage des Brauchens, sondern des Zulassens, Alice. Aber solange du dafür nicht offen bist, werde ich dich nicht weiter bedrängen. Mein Angebot steht.«

»Was muss ich tun, um ins Abschlussjahr zu kommen?«, stellte ich die einzige Frage, bei der sie mir wirklich helfen konnte.

Mrs Greyson legte mir eine glänzende Broschüre auf den Tisch. »Ich habe mit Direktor Jenkins über deinen Fall gesprochen, und wir sind uns beide einig, dass du Unterstützung verdient hast. Ich nehme an, die Schule Chesterfield ist dir zumindest vom Hörensagen ein Begriff?«

Ich nahm die Broschüre hoch und starrte auf das Wappen, das darauf prangte. Es zeigte einen schwarz-weißen Raben, der stolz auf einer Krone saß. Der Hintergrund war weiß gehalten. Ein Schauder lief mir den Rücken hinab, und diesmal hatte er nichts mit den Spinnen zu tun.

»Ja. Chesterfield ist eine der Privatschulen hier«, sagte ich und blickte auf. »Inwiefern soll mir das weiterhelfen?«

Mrs Greyson faltete die Hände zusammen. »Direktor Chesterfield ist ein alter Bekannter von mir. Ich habe mit ihm gesprochen, und er ist bereit, dich alle Fächer, in denen du durchgefallen bist, in den Sommerkursen des Internats nachholen zu lassen.«

Leise ließ ich die angehaltene Luft aus meiner Lunge entweichen. »Das ist ein sehr großzügiges Angebot, Mrs Greyson, aber ich glaube nicht, dass wir uns die Schulgebühren leisten können«, wandte ich zögerlich ein. Ich traute mich nicht einmal, die Broschüre aufzuklappen und nachzusehen, wie hoch der Betrag sein mochte.

Mrs Greyson neigte den Kopf, entfaltete die Hände und trommelte mit gepflegten Fingernägeln auf meinem Pult herum. »Chesterfield ist bereit, die üblichen Gebühren für dich zu senken. Als eine Art … Stipendium. Den Restbetrag für Unterkunft und Verpflegung habe ich in der Broschüre notiert. Ansonsten hat die Schule nur eine einzige weitere Bedingung gestellt, nämlich dass du über die Ferien im Internat wohnst wie alle anderen Sommerschüler auch. Gib deiner Mutter die Broschüre und sprich die Möglichkeit in Ruhe mit ihr durch. Ich werde sie ebenfalls noch anrufen. Ich bin allerdings überzeugt, dass Chesterfield dir die besten Chancen bieten kann, deinen Rückstand so gut wie möglich wieder aufzuholen. Der Unterricht ist auf einem hohen Niveau, die Lehrmethoden sind individuell an jeden Schüler und dessen Bedürfnisse angepasst. Ich bin mir sicher, dass du dich dort wohlfühlen wirst.«

Wieder war es still zwischen uns. Eine Spinne auf Mrs Greysons Bein ließ sich fallen und kam mit einem dumpfen Geräusch am Boden auf. Mit kalten Fingern faltete ich die Broschüre zusammen und steckte sie in meine hintere Jeanstasche.

»Danke. Ich werde mit meiner Mutter darüber reden und Ihnen Bescheid geben.«

»Tu das«, sagte Mrs Greyson und lächelte mich ungewohnt freundlich an. »Ich wünsche dir noch einen schönen Tag, Alice.«

Ich murmelte eine vage Erwiderung, schwang mir den Rucksack über die Schulter und schlüpfte aus dem stickigen Klassenzimmer. Mit einem leisen Klicken fiel die Tür hinter mir ins Schloss.

»Na endlich! Ich dachte schon, die Greyson hört nie mehr auf, dir ein Ohr abzukauen.« Cordy stieß sich von der Wand ab und zog mich in eine feste Umarmung, in die ich mich müde hineinfallen ließ. »Wie geht’s dir?«, flüsterte sie.

»Vom Leben gefickt«, murmelte ich ehrlich und sog ihren vertrauten, süßlichen Parfümgeruch ein.

»Ich mag es, wenn du vulgär wirst«, meinte Cordy grinsend, ehe sie mich wieder losließ.

Peter stand neben uns und blinzelte mich an. »Wie ist es gelaufen?«, fragte er besorgt.

»Ja, was hat die Greyson gesagt?«, bohrte Cordy nach, während wir die Schule verließen und über den Innenhof zum Sportplatz trotteten.

Seufzend richtete ich mir die Rucksackträger bequemer und kickte einen Stein über das heiße Pflaster. »Ich soll meine Kurse in Chesterfield nachholen«, fasste ich das Gespräch zusammen.

Cordy und Peter klappte synchron der Mund auf. »Chesterfield? Das Chesterfield?«, fragte Cordy mit vor Aufregung hoher Stimme.

Peters Stirnrunzeln zerfurchte sein halbes Gesicht. »Haben die dort Sommerkurse?«

»Was haben die dort oben nicht?«, warf Cordy ein, bevor ich auch nur die Chance bekam, etwas zu sagen. In ihren braunen Augen lag ein Leuchten, das mir Magenschmerzen bereitete.

»Beruhig dich, Cordy. Erstens steht noch nicht fest, ob ich wirklich hingehen werde, und zweitens sind Sommerferien. Die meisten Schüler werden zu Hause sein.«

»Völlig egal«, winkte sie begeistert ab und strahlte mich an. »Ich kenne niemanden, der eine der Privatschulen von innen gesehen hat. Die Hausregeln sollen strenger sein als im Buckingham Palace!«

Seufzend verdrehte ich die Augen. »Ja genau, mach’s mir nur schmackhaft.«

»Wenn du dorthin gehst, kannst du also doch noch ins nächste Schuljahr versetzt werden?«, hakte Peter nach.

»Ich würde alles tun, um nicht durchzufallen«, flüsterte ich und spürte, wie sich mein ganzer Körper vor Entschlossenheit anspannte. Noch während ich es aussprach, merkte ich, wie ernst es mir damit war. Ich wollte unbedingt versetzt werden, selbst wenn ich dafür einen ganzen Sommer lang in einem Klassenraum voller reicher Snobs sitzen musste. Und vielleicht … nur vielleicht … schaffte ich es durch den Sommerkurs ja sogar herauszufinden, was mit mir los war. Da sich die Internate das Gelände teilten, würde ich in Chesterfield vielleicht auch an diesem Hawk herankommen. Er hatte die Spinnen ebenfalls gesehen und war deshalb der einzige Anhaltspunkt, den ich hatte. Auch wenn es nur ein kleiner war.

Wir kamen am Sportplatz an, und Peter verschwand in der Jungsumkleide, während Cordy und ich nebenan in unsere Cheerleader-Uniformen schlüpften. Doch in Gedanken war ich nur bei Chesterfield – ebenso wie Cordy, die mir grinsend zuflüsterte: »Wenn du in Chesterfield bist, wirst du mich reinschmuggeln, oder? So kann ich mir vielleicht noch ein paar Punkte holen.«

Seufzend zog ich meinen Zopf fest und drehte mich zu ihr. »Cordy, du wirst im Trainingslager sein. Glaub mir, ich würde jederzeit mit dir tauschen, wenn ich könnte. Immerhin werde ich nächstes Schuljahr im Training alles aufholen müssen, was ich diesen Sommer im Camp verpasse!«

Cordys Gesichtsausdruck veränderte sich. Es war ein kaum merkliches Herabsinken ihrer Mundwinkel, als würde sie sich auf die Innenseite ihrer Wange beißen, während sie mit dem Saum ihres hellblauen Röckchens spielte. »Ja, was das angeht, wollte ich sowieso noch mit dir reden, Alice.« Aufmerksam sah ich sie an. »Es ist so: Seit dieser Party damals habe ich das Gefühl, dass es dir nicht wirklich gut geht«, begann Cordy zögerlich, während ihr Blick nervös über mein Gesicht huschte.

Prompt glaubte ich, aus dem Augenwinkel etwas über den Boden huschen zu sehen. Erschrocken zuckte ich zusammen, bis ich bemerkte, dass es nur der Schatten eines Pompons war.

»Siehst du, genau das meine ich.« Cordy zuckte hilflos mit den Achseln. »Es ist, als ob du dich vor deinem eigenen Schatten erschrecken würdest. Du wirkst in letzter Zeit so …«

Paranoid? Verzweifelt? Angsterfüllt?

»… unkonzentriert«, schloss sie und musterte mich fast schon mitleidig.