Nijura - Das Erbe der Elfenkrone - Jenny-Mai Nuyen - E-Book

Nijura - Das Erbe der Elfenkrone E-Book

Jenny-Mai Nuyen

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Beschreibung

Nur eine Waffe kann das Elfenvolk retten

Als die magische Krone der Elfen einem machtbesessenen Menschen in die Hände fällt, steht alles auf dem Spiel: das Fortbestehen des Elfenvolks genauso wie das Gleichgewicht der Welt. Alle Hoffnungen ruhen auf der jungen Halbelfe Nill. Sie ist die Auserwählte – sie ist Nijura. Gejagt von Grauen Kriegern, unterstützt nur von wenigen mutigen Gefährten und ausgestattet mit der einzigen Waffe, die das Elfenvolk retten kann, macht sich Nijura auf die gefährliche Reise zum Turm des Königs.

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Seitenzahl: 705

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© privat
DIE AUTORIN Jenny-Mai Nuyen wurde 1988 als Tochter deutsch-vietnamesischer Eltern in München geboren. Geschichten schreibt sie, seit sie fünf ist, und mit dreizehn verfasste sie ihren ersten Roman. Seit ihrem literarischen Debüt Nijura – Das Erbe der Elfenkrone wird sie als eine der aufregendsten Fantasy-Entdeckungen der letzten Jahre gefeiert. Nach einem Filmstudium an der New York University lebt Jenny-Mai Nuyen heute in Berlin und widmet sich ganz dem Schreiben.
Mehr über die Autorin unterwww.jennymainuyen.de Mehr über cbj/cbt auf Instagram unter @hey_reader

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

© 2006 cbj Kinder- und Jugendbuch Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Karte und Vignetten im Innenteil: Jenny-Mai Nuyen

Covergestaltung: Carolin Liepins, München,

unter Verwendung von Motiven von © Shutterstock (Jacob_09, Albina Tiplyashina, Eugene Ivanov, BestPhotoStudio, tugolukof, antart, antart, koosen, simonekesh)

kk · Herstellung: eR Satz: dtp im Verlag

ISBN 978-3-570-31223-0 V002

www.cbj-verlag.de

www.randomhouse.de

»Feuer der Dämonennacht,tanz mit dem Lied, das hier erwacht!Leuchte nun für hundert Jahre,die eine Nacht nur in dir wahre.Sollt unser Volk einmal vergehen,wird tief im Schlaf Erinnerung bestehen,die als Legende einst erwacht;drum tanz für hundert Jahre,Feuer der Dämonennacht.«
ELFISCHES VOLKSLIED

Prolog

Seit Stunden hing Dämmerlicht über den Marschen von Korr. Nebel zogen durch die Sümpfe und Moore und hüllten das Land in düstere Farblosigkeit. Hinter den Dunstschleiern schwamm bereits der Vollmond am Himmel, bleich und wässrig im nieselnden Regen.
Wegen der dichten Nebelschwaden entdeckten ihn die Späher der Moorelfen nicht, bis er unmittelbar an den Grenzen ihres Dorfes angekommen war. Die dumpfen Rufe ihrer Hörner hallten über die Dächer der Hütten hinweg, die geduckt und zusammengedrängt wie ängstliche Kinder im grauen Land hockten. Doch es gab keinen Grund zur Beunruhigung, denn der Fremde, der aus dem Moor geschritten kam, hob die Hände zum Zeichen des Friedens.
Man ließ den Mann ins Dorf ein. Er trug einen ausgefransten Mantel und Stiefel, die von Morastkrusten überzogen waren. Sein Gesicht, nicht weniger schmutzig, verschwand beinahe ganz unter der Kapuze. Wassertropfen hingen am durchnässten Stoff.
»Was führt dich her, Bruder? Wer bist du?«, fragten ihn die Späher.
Der Mann hielt den Kopf gesenkt. »Ich bin ein Gesandter der Freien Elfen. Mein Weg hat mich aus den Dunklen Wäldern in die Marschen von Korr geführt... Ich habe eine Botschaft an euren König, den König der Moorelfen.« Der Fremde redete gebrochen in der Elfensprache und ohne den breiten Akzent der Marschen – doch schließlich gab er vor, ein Freier Elf der Dunklen Wälder zu sein. Dort mochte man die Worte anders aussprechen als hier.
»Welche Botschaft?«, fragte einer der Späher misstrauisch.
Das Gesicht hob sich ein wenig und kurz erhaschten die Späher einen Blick auf die Augen des Fremden: Kalte, blanke Augen waren es, die dort im schmutzigen Gesicht saßen wie Kieselsteine in einem Tümpel. »Sie ist geheim und darf nur vom König gehört werden«, erwiderte er leise, kaum verständlich.
Die Späher warfen sich Blicke zu. Aber ein Gesandter der Freien Elfen war erwartet worden – es ging wahrscheinlich um ein neues Friedensabkommen – und so geleiteten sie den Fremden durch das Dorf.
Die aus Ranken geflochtenen Türvorhänge der Hütten waren zugezogen, die Fensterläden geschlossen, nichts regte sich; nur der Rauch der Herdfeuer sickerte hier und da durch eine Kaminöffnung. Irgendwo hinter den Nebeln krähten Raben.
Bald hielten die Späher vor einem Haus an, das auf einem Felsplateau errichtet worden war. Es war das größte im ganzen Dorf und trug ein bizarres, spitzes Dach, aber es blieb doch eine Hütte aus Ranken und Moos, wild wie eine Moorhexe.
»Nun kannst du zum König gehen«, sagten die Späher ohne Bedenken. Dem König konnte ja nichts geschehen. Er trug die Krone Elrysjar, die ihren Besitzer unverwundbar machte und alle mit dem Tod bestrafte, die sie unrechtmäßig erlangen wollten. Nie war ein Elfenkönig verletzt oder gar getötet worden: Die Krone wurde stets friedlich überreicht, war das Lebensende eines Königs nah.
Der Fremde ging auf das Haus zu, stieg über die glitschigen Felsstufen und verschwand hinter dem Türvorhang aus Moos.
Der Fremde blieb lange im Haus des Königs. Die schummrige Dämmerung, das feine Flimmern des Regens schienen ewig zu dauern. Es war, als stehe die Zeit still …
Und umso heftiger kam das Beben, das die Zeiten verändern sollte. Ein jäher Wind brauste auf und brachte die Nebel zum Erzittern. Kreischende Rabenscharen erhoben sich zu schwarzen Strudeln in den Himmel. Jeder Moorelf spürte es in diesem Augenblick – das rasende Aufbäumen, das durch die Erde, das brackige Wasser, die Dunstschwaden, die Wolken schnitt wie ein Messer: Die Krone Elrysjar hatte ihren Besitzer gewechselt.
Aus allen Häusern liefen die Männer, Frauen und Kinder in den Regen. Zitternd näherten sich die Moorelfen der Hütte ihres Königs. Das Wasser glänzte auf ihrer grauen Haut und ließ sie wie Wesen aus Stein erscheinen. Und sie erstarrten, als ihr König aus der Hütte trat.
Der Regen, der jetzt stärker in die Pfützen trommelte, zog Rinnsale über seinen verdreckten Mantel. Einen Augenblick lang stand der neue König reglos vor den Moorelfen. Dann hob er die Hände und schob sich die Kapuze zurück: Die steinerne Krone Elrysjar schmiegte sich um seine Stirn, glänzend wie Sumpföl. Der Regen rann dem Fremden über das Gesicht, er wusch Erde und Schmutz fort und enthüllte das lächelnde Gesicht eines Menschen.
»Folgt mir«, sagte der Menschenmann, feierlich und zischelnd, gebrochen in der Sprache der Elfen. Und als er aus dem Dorf schritt, folgten ihm vierhundert bleiche Gestalten in einem stummen Zug.

ERSTES BUCH

Eine Legende

Der Dieb und das Mädchen

Scapa rannte. Er rannte durch die Straßen von Kesselstadt, vorbei an zerfallenen Häusern, auf denen neue Häuser errichtet worden waren, stolperte über Abfälle und Straßenschutt. Hinter ihm hallten wütende Stimmen von Hauswand zu Hauswand und vor ihm verschwammen die bleichen Laternenlichter in der Dunkelheit der Nacht. Sein Herz trommelte. Die Knie gaben ihm nach, doch er hielt nicht an, sondern rannte nur noch schneller – rannte, rannte, so rasch seine Füße ihn trugen. Sein ganzer Körper stach vor Erschöpfung, nur knapp gelang es ihm, nach Luft zu schnappen, das dunkle Haar klebte ihm auf dem Gesicht.
»Wo ist er? Da vorne rennt er! Er darf nicht entkommen! Elender Dieb!«
Scapa keuchte, und doch stahl sich ein triumphierendes Lächeln auf seine Lippen, als er hörte, wie die Soldatenstimmen in der Ferne zurückblieben. Er schlitterte um eine Straßenecke, taumelte und musste sich mit der Hand auf dem Boden abstützen, um nicht der Länge nach hinzufallen.
Einen Augenblick später lief er schon weiter. Nun war es fast still um ihn herum. Das Blut, das ihm in den Ohren rauschte, übertönte bald schon die letzten Stimmen und Rufe. Fest drückte er seinen Leinenbeutel an die Brust. Er stolperte über ein paar lose Steine, die von einer Hausmauer abgebröckelt waren. Unsichtbarer Staub wirbelte auf und ließ Scapa husten. Ängstlich drehte er sich noch einmal um, ob jemand ihn gehört hatte – aber er entdeckte nichts außer den gewohnten Häusern, die wie schlummernd in der Dunkelheit lagen; nichts außer den Laternen und den engen Gässchen. Eine Rattenschar tummelte sich quiekend unter der nächsten Straßenlampe.
Scapa drehte sich um und schlich nun geduckt an den Hauswänden entlang. Die Straße war so schmal, dass er mit ausgestreckten Armen die gegenüberliegenden Mauern hätte berühren können. Hauseingänge öffneten sich links und rechts neben ihm wie gähnende Mäuler. Manche waren mit Vorhängen überspannt, durch die der matte Schein einer Öllampe drang. Das Klappern von Töpfen drang aus verriegelten Fensterchen, obwohl es schon spät war, und aus anderen Häusern ertönte das Schnarchen ihrer Bewohner. Scapa riss sich das schwarze Tuch vom Hals, das zuvor sein Gesicht zur Hälfte verdeckt hatte, und wagte es endlich selbst, geräuschvoll nach Luft zu schnappen. Er war lange durch die Gassenlabyrinthe von Kesselstadt gerannt. Immer wieder warf er einen Blick zurück, doch außer einer fauchenden Katze begegnete er niemandem mehr.
Schließlich machte er vor einem Häuschen Halt, das sich nicht besonders von den anderen unterschied. Ein dunkelrotes Stofftuch war über dem Hauseingang festgenagelt. Durch die Mottenlöcher blinzelte Licht und malte ein Mosaik auf die gegenüberliegende Mauer.
Scapa trat vor den Hauseingang. Er hielt den Atem an, obgleich sein Herz noch heftig pochte, und spähte durch die Löcher des Stoffes. Er sah einen Raum mit Schlafmatten auf dem Boden, einem Holztisch und einem Stuhl. Auf dem Tisch stand eine Öllampe, die die Zimmerwände in ranziges Gelb tauchte.
Ein Mädchen ging im Zimmer auf und ab. Ihr ausgefranster Rock reichte kaum bis zu den schmutzigen Knien und tanzte mit jedem Schritt um ihre Beine. Kinnlange blonde Locken verbargen das Gesicht.
Scapa schob den Vorhang auf. Das Mädchen fuhr herum und starrte ihn an.
»Arane.«
»Scapa!« Ein Lächeln huschte über ihren spitzen Mund, dann kam sie auf ihn zu, fiel ihm um den Hals und zog ihn ins Zimmer. Der Vorhang schloss sich hinter ihnen.
»Hast du die Speere?«, fragte Arane. Ihr Blick war so wach und durchdringend, dass kaum jemand es je wagte, sie offen anzulügen. Arane war schön und auch das kalte Glühen in ihren Augen konnte diese Schönheit nicht mindern.
Scapa fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn und strich sich das Haar zurück. »Nein. Wir wurden zu früh entdeckt.« Er spürte, wie ihm Blut ins Gesicht schoss vor Scham und Wut. Es hätte alles gut gehen können. Sie hatten den Einbruch in die Soldatenwache perfekt geplant: Zu zwölft waren sie losgehuscht, waren unbemerkt über die hohe Mauer geklettert, hatten sich durch den Hof geschlichen und in das dunkle Gebäude – aber die Speere, Knüppel und Kurzschwerter, die sie erbeuten wollten, waren nicht da gewesen. Offensichtlich befand sich die Waffenkammer der Soldaten in einem der verborgenen Kellerzimmer. Dabei waren sie sich so sicher gewesen, dass alles klappen würde!
»Entdeckt?«, wiederholte Arane ungläubig. »Wegen wem?«
»Ach.« Scapa ging an ihr vorbei und legte den Leinenbeutel auf den Tisch. »Jonve mit den kurzen Haaren, weißt du, hat eine Schüssel umgestoßen. Da ist der Wachmann aufgewacht, ist hochgesprungen wie eine Katze. Eine ziemlich fette Katze – aber schneller, als ich dachte.«
»Verdammter Dummkopf«, knurrte Arane. »Ich wusste doch, dass der Bengel alles verpatzt.« Dann trat sie hinter Scapa und blickte ihm über die Schulter. Weil sie fast einen halben Kopf kleiner war, musste sie sich dazu auf die Zehenspitzen stellen. »Was hast du mitgebracht?«
Scapa öffnete den Beutel und schüttete vorsichtig den Inhalt auf den Tisch. Im Lampenlicht kamen ein klirrender, übergroßer Schlüsselbund und eine Hand voll Münzen zum Vorschein.
»Das ist alles?« Arane strich um Scapa herum, nahm den Schlüsselbund in die Hand und hielt ihn sich vors Gesicht. Mindestens drei Dutzend Schlüssel klimperten daran, sie wogen so viel wie eine Eisenkugel. Arane legte den Bund unbeeindruckt zurück und zählte rasch die Münzen ab – sie konnte gut rechnen für ein Straßenkind. Gut genug, um zu erkennen, dass die Beute ausgesprochen mager war und – vor allem – den Aufwand des Einbruchs nicht wert.
»Sieben Kröten? Die hätte ich auch beim Slatof an der Straßenecke besorgen können.«
Slatof war ein Bettler und hatte mehr Schnaps im Blut als Münzen in der Hand.
»Das Geld und die Schlüssel habe ich doch nur aus Rache mitgenommen! Besser wir haben den Kram als der Wachmann, oder? Wenigstens ist er schön wütend.« Scapas Knie waren jetzt noch ganz weich vor Schreck – für einen Augenblick hatte er sogar gefürchtet, die Soldaten würden ihn fassen. Aber wirklich nur für einen Augenblick, denn Scapa konnte sich in den dunklen Gassen von Kesselstadt unsichtbar machen wie ein Schatten. Die Soldaten hingegen machten mehr Lärm als ein Haufen raufender Köter. »Wir bekommen die Waffen noch zusammen«, murmelte Scapa, ohne selbst recht daran zu glauben. »Oder schlimmstenfalls kämpfen wir mit Ziegelsteinen.«
Arane hatte wieder den Schlüsselbund zur Hand genommen. »Das kannst du vergessen. Mit Ziegelsteinen bekommen wir nicht den Fuchsbau, sondern eingeschlagene Köpfe. – Sag mal, ist das der Schlüsselbund vom Gefängniswärter?«
»Ich glaube schon. Er hing an der Wand, hinter der Gittertür, die zu den Kerkern runterführt. Ich wäre fast im Gitter stecken geblieben, als der Wachmann kam. Guck hier, ich habe mir die Haut aufgeschürft.« Scapa hielt ihr den Arm entgegen. Über seine Hand zogen sich hellrote Striemen.
Arane nahm die Verletzung behutsam in Augenschein, dann blickte sie spitzbübisch wieder zu ihm auf. »Da hast du genau das Richtige mitgenommen, Scapa«, flüsterte sie. Ihre leicht schiefen Zähne wurden sichtbar, als sie lächelte. »Wenn wir die Schlüssel vom Gefängnis haben...«
Scapa verstand sofort. Er fasste sich an die Stirn. »Natürlich, mit den Schlüsseln ist es ganz leicht, ins Gefängnis zu kommen. Dann könnte man die Gefangenen befreien, zum Beispiel einen eingekerkerten Freund – und dafür zahlt uns jeder Hehler in Kesselstadt ein Vermögen. Und damit wiederum beschaffen wir uns Waffen und der Fuchsbau gehört uns!«
Arane lächelte. Es war ein zufriedenes Lächeln, das sich immer nur dann zeigte, wenn sie ihren Kopf leicht nach unten neigte. Beinahe schien es, als berge dieses Lächeln ein Geheimnis, das ganz zu zeigen sie nicht wagte. »Weißt du schon, wer uns die Schlüssel abkaufen könnte?«
Scapa rieb sich über die Wangen. Wichtig war nun, welcher Händler ihnen das meiste Geld zahlte. Und welcher Händler überhaupt Geschäfte mit ihnen, den Straßenkindern, machen würde. Davon waren nicht viele übrig geblieben. Denn fast jeder Händler, dessen Geschäft auf gestohlener Ware beruhte, steckte mit Vio Torron und seinen Männern unter einer Decke. Torron beherrschte Kesselstadt – mehr als der Fürst, der hoch oben in seiner Burg lebte, fernab der Straßen und Marktplätze. Die Diebe, die Händler, die Schmuggler, die Mörder – sie alle zahlten Torron seinen Anteil an ihrem Lohn, und vor nicht langer Zeit hatten es auch die Straßenkinder getan. Jetzt nicht mehr. Scapa und Arane hatten damit begonnen, sich zu verweigern, und hatten die anderen Kinder überzeugt, dass niemand ihr Herr sein sollte – auch Torron mit seinen dreißig finsteren Halsabschneidern nicht. Was Scapa und Arane wollten, schon solange sie sich erinnern konnten, war wirkliche Freiheit – und Macht. Die Macht über das wahre Leben Kesselstadts, das sich in den heruntergekommenen Häusern verbarg und erst nachts zum Vorschein kam, lautlos und vorsichtig, wenn die Soldaten des Fürsten in ihren Wachstuben dösten.
Seit dem offen ausgesprochenen Widerstand verfolgten Torrons Männer die Straßenkinder unerbittlich. Es war ein Krieg in den Gassen von Kesselstadt entflammt, und die Stadt war tatsächlich zu einem brodelnden Kessel geworden, dessen unheilvolles Aufkochen nicht einmal der Fürst verhindern konnte. Nein, die Sache zwischen Torron und den Straßenkindern würde ausgetragen werden.
»Vielleicht«, überlegte Scapa, »kauft uns dieser Elfenhehler Afarell die Schlüssel ab. Ich glaube, dass er mit Torron nichts zu schaffen hat.«
»Einen Versuch ist es wert. Gehen wir morgen zu ihm.«
Scapa ließ sich auf die Schlafmatten fallen. Sie hatten ihre Decken zusammengerollt und benutzten sie als Kissen, denn es war Sommer – da verwandelte sich Kesselstadt in ein brütend heißes Nest, erfüllt von Sandstaub und den fiebrigen Ausdünstungen der tiefen Viertel. Von den Marschen von Korr kam die Feuchtigkeit herübergekrochen und legte sich über die Stadt wie eine undurchdringliche Wolke, die die Sonnenwärme ein- und nicht mehr ausließ. Selbst die Nächte waren drückend warm.
Scapa zog sich das Hemd aus und stützte die Arme auf die Knie. Er musste an all die Pläne denken, die er hatte, an all die Herausforderungen, die ihm bevorstanden... Es war schon seltsam: Gerade erst war er den Soldaten entkommen, und jetzt schon hatte er die Gefahr vergessen, um an eine ganz andere zu denken – nämlich die, die noch vor ihm lag. Fast hatte er das Gefühl, der Zukunft näher zu sein als der Gegenwart.
Arane ließ sich neben ihn sinken und lehnte sich so schwungvoll an seine Seite, dass er schwankte und sich mit der Hand abstützen musste. Sie lächelten stumm, während die Stille der Stadt sich in ihr Zimmer schlich – nur ab und an durchbrochen vom fernen Jaulen eines Hundes, einem kurzen Klirren, dem Platschen, wenn ein Nachttopf in die Straßengruben geleert wurde.
»Arane...«, murmelte Scapa, ohne zu wissen, was er ihr sagen wollte. Aber sie war es gewohnt, dass er ihren Namen sagte, wenn er in Gedanken war, und legte den Kopf an seine Schulter. Er erinnerte sich an all die Tage, die er mit ihr schon verbracht hatte. Tage, so heiß wie der heutige, und Tage, an denen sie zähneklappernd vor Kälte nach einem offenen Feuer gesucht hatten. Und er dachte an ihre Zukunft, wie sie gemeinsam den Fuchsbau bewohnen würden, aus dem sie Torron und seine Männer noch vertreiben mussten – sie gemeinsam, die wahren Fürsten von Kesselstadt. Zwei Straßenkinder...
Arane erhob sich und nahm die Öllampe vom Tisch. »Es ist spät. Ich mache das Licht aus.« Und ihre Gestalt verschwand mit einem Zischen in der Dunkelheit.

Kesselstadt

Zwischen den unendlichen Marschen von Korr und dem Reich der Dunklen Wälder gab es kaum Dörfer oder Städte. Schließlich waren die Einwohner des Waldreichs und die Bewohner von Korr nie besonders gut miteinander ausgekommen – obwohl auch kein Krieg herrschte. Ein Sumpf der Vorurteile und über Generationen überlieferter Hass hatten den Frieden beider Länder in einen unausgesprochenen Rivalitätskampf verwandelt. Selbst zwischen den Moorelfen und den Freien Elfen der Dunklen Wälder herrschte Zwietracht. Und dennoch hatte es eine Stadt geschafft, am Rande von Korr nahe dem Waldreich zu bestehen: Es war eine Stadt, deren Häuser wie durcheinander gewürfelte Steinchen über das gelbe Land verstreut waren und deren Straßen sich tief hinab in die Schluchten schraubten, die die Ebene zwischen Sumpf und Wald so unwirtlich machten. Während die Stadt von oben aus eher wie ein wildes Dörfchen wirkte, spreizte sich ihr größter Teil in die darunter liegenden Talkessel. Darum nannte man sie Kesselstadt.
Aber es gab noch einen anderen Grund für den Namen. Denn in den schiefen Häuserschluchten, den steilen und versteckten Straßen ließ sich alles finden: Reiche und arme Leute, Verbrechen und Begehrlichkeiten, Diebe, Menschen, Elfen – hauptsächlich verstoßene Elfen. Die Stadt war ein Kessel, in dem das Verbrechen vor sich hin köchelte wie eine Suppe, die manchmal überschwappte, sodass sich der Fürst von Kesselstadt die Finger verbrannte und seine Soldaten ausschickte. Dann beruhigte sich die brodelnde Brühe wieder.
Kesselstadt war zu einer Hauptstadt aller Völker geworden. Hier trafen sich Elfen und Menschen des Waldes und der Marschen und trugen ihre Feindseligkeiten aus. Für viele war Kesselstadt ein vorübergehender Unterschlupf oder ein geschäftliches Reiseziel; für andere, für Verbannte oder für niedergelassene Händler, bedeutete die Stadt eine neue Heimat.
Scapas Leben hatte sich ausschließlich in Kesselstadt ereignet. Kaum erinnerte er sich mehr an seine frühe Kindheit, bevor die Straßen sein Zuhause geworden waren. Eines Tages stand er in den Gassen der untersten Viertel, lauschte dem Herzschlag der Stadt und begann, sich ihm anzupassen. Seine Vergangenheit war verschwommen bis zu jenem Augenblick, da er Arane getroffen hatte.
Wie jeden Morgen erwachte Scapa durch die Geräusche der Stadt. Das Klirren und Klappern der Kochtöpfe, das Rufen der Händler, die Stimmen lachender und schreiender Kinder schlüpften durch den dunkelroten Zimmervorhang und lockten ihn aus seinen Träumen.
Scapa setzte sich schlaftrunken auf. Sein Mund war trocken. Es war bereits heiß geworden, die feuchtwarme Luft überzog seine Haut wie ein dünner Film. Strubbelige Haare hingen ihm ins Gesicht, darum löste er die drei Zöpfe, die die vordersten Strähnen zurückhielten, und band sie erneut fest.
Arane lag schlafend auf den Bodenmatten, die Knie angezogen und das Gesicht unter den Locken versteckt. Sie sah kleiner aus, als sie war, und vor allem jünger. Man konnte sie mit ihren kurzen Haaren glatt für einen Jungen halten, hätte sie nicht den Rock getragen.
»Arane. Wach auf.« Scapa stupste sie mit dem Griff seines Dolches an.
Arane knurrte im Schlaf und vergrub das Gesicht unter der zusammengerollten Decke.
»Wach auf! Wie kannst du bei dieser Schweinehitze noch schlafen?« Scapa lächelte.
Eine Weile blieb es still unter der Decke. Dann drang, gedämpft und leise, eine Frage hervor: »Holst du Wasser...?«
»Du bist eine faule Kröte, weißt du das?«, erwiderte er, während er sich das Hemd überzog und den Gürtel umband. Zuletzt steckte er sich den Dolch ein. Dann nahm er den verbeulten Blecheimer aus einer Zimmerecke, mit dem sie Wasser holten, und verschwand hinter dem Türvorhang.
Von hier aus war es nicht weit bis zum nächsten Brunnen. Scapa lief durch die Straßen, bog ein paar Mal ab und erreichte schließlich die Schlange, die vor dem Brunnen anstand.
So geschickt Scapa als Dieb und Gauner auch sein mochte, so trickreich er sich durchs Leben schmuggeln konnte – an den reizbaren Anstehenden vor einem Brunnen kam selbst er nicht vorbei. Geduldig stellte er sich darauf ein, zu warten.
 
An einem Tag wie diesem hatte das Leben von Scapa, dem Dieb begonnen. Die Sonne hatte sengend auf die oberen Hausdächer niedergebrannt, doch hier unten, in den tiefsten Winkeln der Stadt, hatte man davon kaum etwas bemerkt. Nur die Luft war drückender und schwerer zu atmen gewesen.
Ein kleiner Junge war durch die Gassen des Viertels gelaufen. Er trug keine Schuhe und hatte von Steinen und Straßenschmutz zerschundene Füße. Am Morgen dieses heißen Sommertages, an dem selbst die Fliegen matt an den Hauswänden herumkrabbelten, war seine Mutter gestorben.
Er lief schon seit einigen Stunden so vor sich hin, immer weiter fort von dem muffigen kleinen Zimmer, in dem die tote Frau lag. Wahrscheinlich hatten das Essen, das schmutzige Wasser sie dahingerafft, vielleicht war es eine Seuche gewesen. Scapa trauerte nicht. Trauer war, das wusste er, ein Luxus für die Reichen. Außerdem hatte seine Mutter nicht selten zugeschlagen. Nein, traurig war er nicht, und doch... er fühlte sich alleine, stand plötzlich verloren und barfuß in der Welt. Es war ein beängstigendes Gefühl.
Er kam zu einem Markt. Menschen und Elfen strömten an ihm vorüber, Blicke streiften ihn, ohne dass jemand ihn wahrnahm. Eine Weile beobachtete er das rege Treiben. Ihm war klar, dass er weder Geld noch Arbeit hatte und ohne beides nur betteln konnte. Oder er konnte das Risiko wagen und es wie die anderen machen, die in seiner Lage waren: Er konnte stehlen.
Langsam kam er auf einen Stand zu. Stoffe, Gürtel, Kleider und Schuhe häuften sich auf den Warentischen und hingen von der bunten Stoffplane herab. Langsam, langsam näherte er sich dem Stand, wie ein Hund sich einem Knochen nähern würde, den ein Fremder ihm entgegenhält.
Der Händler hinter den Tischen schwatzte so aufgeregt mit einem Kunden, dass silbrige Schweißperlen auf seiner Stirn glitzerten. Er sah Scapa überhaupt nicht. Es würde ganz einfach sein. Nur ein Griff. Ein kleiner Griff und dann rennen.
Scapa stand zitternd am Rand des Standes. Für einen Moment war er sich nicht sicher, ob er nicht vor Schreck wie erstarrt stehen bleiben würde; prüfend trat er von einem Fuß auf den anderen. Sollte er es jetzt wagen?
Er warf unauffällig einen Blick nach allen Seiten. Niemand sah zu ihm herüber. Oder? Er blickte wieder zum Händler. Wie schnell würde der merken, dass Scapa etwas gestohlen hatte – würde er ihm gar folgen?
Plötzlich drehte sich der Händler zu ihm um. Einen Herzschlag lang sahen sie sich in die Augen. Scapa schoss das Blut ins Gesicht, ihm war, als stünde ihm sein Vorhaben auf die Stirn geschrieben. Ohne nachzudenken, schnappte er sich ein Stiefelpaar vom Tisch und flitzte davon.
»He! Dieb! Dieb! Dieb...« Die wilden Rufe des Händlers verloren sich hinter ihm. Während er durch die dichte Menge sprintete, streckte er die Hand aus und klaute im Rennen einen Dolch – nur zur Sicherheit, zur Sicherheit -, falls man ihn verfolgte. Er hatte noch nie eine Waffe gehalten. Mit dem Dolch hätte er sich so gut verteidigen können wie mit einem Löffel, das stand fest. Und es war ein Glück, dass er den Dolch an diesem Tag nicht gebrauchen musste.
Nach einer Weile kam Scapa keuchend zum Stehen und krabbelte in ein altes Fass, das zwischen Hausmauern am Straßenrand lag. Die gewohnten Geräusche der Stadt umgaben ihn. Und als er seine neuen Schuhe anzog – Schuhe, die ihm viel zu groß waren und erst passten, als sie längst Löcher hatten -, war er einer der unzähligen Straßendiebe von Kesselstadt geworden.
 
»Bitte sehr, gnädige Dame. Lasst es Euch schmecken.« Scapa überreichte Arane mit einer galanten Handbewegung den Wassereimer. Lächelnd setzte sie sich auf; sie mochte es, wenn Scapa so mit ihr sprach. Arane trank lange, denn die Hitze machte durstig. Dann stellte sie den Eimer wieder ab, schöpfte mit der hohlen Hand Wasser heraus und wusch sich das Gesicht. Danach schien sie einigermaßen wach, stand auf und schüttelte sich die nassen Haare aus der Stirn.
»Und jetzt gehen wir zu Afarell«, sagte sie.
»Der Schlüsselbund noch.«
Sie deutete an ihren Gürtel, an dem ein Leinenbeutel festgebunden war. »Ist schon drin.«
Gemeinsam verließen sie das kleine Haus. Im Grunde war es kein wirkliches Haus mehr; die oberen Stockwerke waren zerstört worden bei einem der Brände, die es in Kesselstadt täglich gab. Man hatte jedoch übersehen, dass ein Zimmer im Erdgeschoss heil geblieben war, und Arane und Scapa hatten es bezogen, bevor einem anderen der vorteilhafte Schlafplatz aufgefallen wäre. Inzwischen waren auch die Nachbarhäuser wieder bewohnbar gemacht, und über dem niedergebrannten Haus hatte man eine Terrasse angelegt, auf der im Sommer Straßenkinder und Bettler übernachteten.
Scapa und Arane gingen durch die schmale Gasse und erreichten eine Pflasterstraße. Ein Ochsengespann kam ihnen entgegen und sie mussten zur Seite weichen – der Besitzer des Wagens war zweifellos ein ahnungsloser Neuankömmling. Mit vier Rädern und einem Ochsen kam man in Kesselstadt schwer voran. Als der Wagen vorbeirumpelte, warf Scapa einen Blick unter die Wagenplane: Obst häufte sich dort in wunderbar vollen Strohkisten. Als die Plane wieder zugefallen und das Ochsengespann vorbeigezogen war, hielt Scapa Arane einen Pfirsich hin und biss herzhaft in einen zweiten.
Während sie frühstückten, liefen sie weiter ihres Weges. Eine zerzauste graue Katze kam ihnen entgegen und strich Arane schnurrend um die Beine. Im Schatten eines Hauses suchten sich zwei magere Hunde Essen aus Abfällen. Kaum ein paar Schritte weiter stand ein bunt gekleideter Moorelf und bot Welpen feil. An der nächsten Hausecke saßen Männer und Moorelfen um ein altes Holzfass und spielten Karten.
Scapa und Arane sprangen über blaue und grüne Pfützen hinweg, als sie unter den Wäscheleinen der Färber vorbeikamen. Über ihnen spannten sich violett tropfende Leinentücher und Hemden über die enge Straße, und sie mussten Acht geben, kein Färbemittel abzubekommen. Ein paar Kinder kamen angehuscht und schöpften mit verbeulten Eimern aus den Pfützen. Man nannte die Kinder, die die Reste des Färbemittels von den Straßen aufsammelten und damit selbst Kleider färbten (von schlechterer Qualität natürlich und zu einem wesentlich geringeren Preis) Regenschöpfe. Weil sie sich ständig unter den gefärbten Stoffen aufhielten, hatten sie unzählige bunte Spritzer in Gesicht und Haaren und erinnerten an die wilden Stämme der Moorelfen, die sich mit Schlamm bemalten. Viele der Kinder waren sogar elfischen Geblüts. Eines von ihnen fletschte die Zähne und knurrte, als Scapa und Arane vorbeikamen – hier war sein Territorium. Rasch hüpften die beiden über die letzten Pfützen, ein Tropfen fiel auf Arane herab und malte ihr eine violette Träne auf die Wange.
Hinter den Färbereien schraubte sich eine breite Treppe weiter hinab in die Tiefen der Stadt. Es gab viele solcher Treppen – und das aus gutem Grund: Sie waren leichter zu nehmen als die Straßen, die zum Teil so steil waren, dass viele sie für schier unbegehbar hielten. Die alten Steinstufen, die Scapa und Arane hinabliefen, waren platt getreten und an einigen Stellen zerbröckelt. Links und rechts erhoben sich Häuser und sogar Türme, so klein und schief, dass sie bestimmt unbewohnbar waren. Schräge Balkone und Terrassen beugten sich über die Treppe, manche von ihnen waren bereits so durchgebogen, dass sie jeden Augenblick einzustürzen drohten. Tatsächlich kamen solche Einstürze oft vor und versperrten danach ganze Treppenfluchten, bis die Leute kamen, um ein paar Ziegelsteine und Holzbretter für sich zu ergattern und den Weg dadurch wieder frei zu räumen.
Am Ende der Treppe bogen Scapa und Arane um eine Straßenecke und standen plötzlich in goldenem Sonnenlicht. So war das oft in Kesselstadt: An manchen Orten konnte es zu jeder Tageszeit nachtfinster bleiben, und mit einem Mal trat man in einen einzigen gleißenden Lichtstrahl, der sich bis hinab in die tiefsten Viertel verirrt hatte. Vor ihnen eröffnete sich ein Markt. Um die pralle Sonne abzuschirmen, waren weite helle Tücher von Hausdach zu Hausdach gespannt worden, und die Luft vibrierte mit dem Schlagen der Papierfächer, die vor den schwitzenden Gesichtern der Leute auf und ab tanzten.
Scapa und Arane tauchten in die Menge ein. Schwer hing der Duft der feilgebotenen Gewürze über ihnen; Koriander, Jasmin und Anis roch Scapa aus der Mischung heraus. Ein paar Schritte weiter übertünchte salziger Fischgeruch die Gewürzdüfte. Ein Händler pries die Frische seiner Aale an. Scapa trat auf etwas Glitschiges und blickte hinunter: Fischdärme. Mit gerümpfter Nase schüttelte er seinen Schuh und ließ sich dann von der lärmenden Menge weiter vorwärts treiben.
Fast alles war auf diesem Markt zu finden. Während sich Scapa und Arane mit den anderen Passanten vorandrängten, zogen Stände jeder Art an ihnen vorbei. Kleider und Schuhe wurden feilgeboten, Früchte, Körner, ofenwarme Brotfladen, Fisch und sogar Hühner – aber das Wunderbarste an allem waren die Gerüche. Scapa und Arane sogen tief das bunte Aroma ein: Da gab es Obst, Gebäck, Kräuter und an manchen Ständen Dinge, die von Orten ihren Weg nach Kesselstadt gefunden hatten, die Scapa und Arane nicht einmal mit Namen kannten.
Bald wichen die Stände einem neuen Markt, der sich zwar nahtlos dem ersten anschloss, aber vollkommen anders wirkte. Es war ein Markt der Moorelfen.
Die Händler hier waren weder so laut noch so hektisch wie ihre menschlichen Kollegen. Träge saßen die Elfen vor ihren Ständen, rauchten ihre langen, merkwürdigen Pfeifen und beobachteten die vorbeiströmenden Leute wie aus der Ferne.
Schlagartig hatte sich auch die Menge verändert: Statt der lärmenden Menschen umgaben Scapa und Arane nun beinahe ausschließlich die grauen Elfengesichter. Die Luft war erfüllt von ihrer schnellen, weichen Sprache. Schwermütiger Gesang erklang von einem Straßenmusikanten, und einige Passanten, die an ihm vorbeigingen, summten seine Melodie mit. Es war wohl ein bekanntes Elfenlied.
Selbst die vielen Gerüche hatten jetzt nachgelassen, denn die meisten Moorelfen handelten mit Schmuck, mit gefälschten Goldbroschen und Silberschnallen, mit schmalköpfigen Pfeifen und bemalten Öllampen. Eine junge Elfe verkaufte Armreifen und Fußbänder aus Holzperlen, so hübsch und zierlich, wie nur das Elfenvolk sie zu fertigen wusste. Trotzdem wäre ein Mensch nie auf die Idee gekommen, sich mit ihnen zu schmücken – das war genauso undenkbar wie ein Junge, der Mädchenkleider trug. Denn obwohl beide Völker in den engen Straßen zusammenlebten, blieben sie in verschiedenen Welten.
Etwas weiter, als der Markt in einen offenen Platz mündete, scharten Schausteller und Akrobaten Schaulustige um sich. Elfenkinder verbogen sich in waghalsigen Kunststücken das Rückgrat, kletterten aufeinander und bildeten Pyramiden aus Beinen und Armen. Bunt gekleidete Flötenspieler mit Glockenschuhen tanzten zu ihren eigenen Melodien, und zwei Jongleure hatten sich die grauen Gesichter mit weißer Farbe übermalt und vollführten Sprünge und Rollen, während die Jonglierbälle wie verzaubert über ihren Händen schwebten.
Scapa und Arane drängten sich unbeeindruckt an alledem vorbei. Nur einmal konnte Scapa sich ein scheues Lächeln nicht verkneifen, weil ihm eine Elfentänzerin mit rasselndem Glockengürtel eine Mohnblume schenkte. Als die klatschenden Zuschauer hinter ihnen zurückblieben, war die Blume bereits wie ein Armband um Aranes Handgelenk geknotet.
Eine Seitentreppe führte vom offenen Marktplatz in eine Gasse hinab, die von hohen, stuckverzierten Häusern umschlossen wurde. Solche Häuser waren selten in dieser Gegend, tief auf dem Grund von Kesselstadt. Sie waren das Zuhause reicher Bewohner, die sich trotz ihres Wohlstands im Untergrund verborgen halten wollten: die berühmten Hehler.
Scapa und Arane blieben vor einem der Häuser stehen, an dessen Messingschild, hübsch und reich verziert, geschrieben stand: AFARELL. TAUSCH UND HANDEL.

Afarell, der Elfenhehler

Scapa schlug den schweren Türring gegen das Holz. Eine Weile blieb es still dahinter. Dann öffnete sich die Tür so abrupt, als hätte jemand auf der anderen Seite nur auf Besucher gewartet. Aber es war bekannt, dass Elfen sich lautlos zu bewegen vermochten – oder, besser gesagt: dass das Gehör der Menschen miserabel war.
Vor Scapa und Arane erschien ein Moorelf und starrte fragend auf sie herab. Der süßliche Rauch seiner Pfeife waberte den beiden entgegen.
»Wir wollen zu Afarell, dem Händler«, erklärte Scapa.
Es war wohl der ruhige, leise Ton des Jungen, der den Elf überzeugte, sie einzulassen. »Wollt ihr ihm was ausrichten? Dann sagt es lieber mir.«
»Wir wollen ihm ein Geschäft vorschlagen.« Scapa sah sich bereits in dem dunklen Haus um. Zu beiden Seiten hin eröffneten sich Korridore, die von geschlossenen Vorhängen unterbrochen wurden. Direkt vor ihnen führte eine wuchtige Wendeltreppe aus Eichenholz in ein höheres Stockwerk.
»Na dann«, sagte der Moorelf. »Dann wollen wir mal sehen, was ihr so bei euch tragt. Arme und Beine auseinander, los, los!«
Mit einem geduldigen Lächeln übergab Scapa dem Moorelf seinen Dolch. Der nahm ihn an sich und schob ihn in seinen Gürtel. Trotzdem ließ er es nicht aus, beide nach gefährlichen Gegenständen abzutasten. Als er keine fand, trat er zur Seite und deutete die Treppe hoch.
»Den Gang nach rechts, erstes Zimmer. Wenn ihr wiederkommt, gebe ich euch den Dolch zurück.«
Scapa und Arane stiegen die Stufen hinauf. Dabei lächelten sie sich verstohlen an. Der Moorelf hatte nichts von der Klinge gemerkt, die Arane stets in ihrem Stiefel trug. Nicht dass sie davon Gebrauch zu machen gedachten, aber sicher war sicher – man wusste ja nie, in welchen Häusern sich Torrons Männer aufhalten mochten.
Die besagte Tür war eine Doppeltür mit Goldgriffen, die viel zu gelb waren, um echt zu sein.
Scapa klopfte an. Dreimal, dann drang eine genervte Stimme durch das Holz: »Wer ist da?«
»Ein Kunde«, erwiderte Scapa.
Einen kurzen Moment blieb es still. Dann kam die wesentlich freundlichere Erlaubnis: »Tretet ein, Herr!«
Scapa drückte den Türgriff hinunter und sie betraten das Zimmer. Stickige Luft schlug ihnen entgegen. Die dunkelgrünen Samtvorhänge waren zugezogen, dafür tauchten unzählige Öllampen den Raum in helles Licht. Sie standen überall: auf dunklen Holztischen, zwischen Büchern, auf teuren Teppichen, unter Fensterbrettern und in hohen Regalen. Ihr Licht bestrahlte die unglaubliche Sammlung von Gegenständen, die in diesem Zimmer zusammengedrängt war. Zwischen zahllosen Silberschalen, inmitten von Polsterstühlen und Stoffen und Büchern und Pfeifen saß Afarell, der Hehler, auf einem throngleichen Sessel. Seine Füße ruhten übereinander geschlagen auf dem dazu passenden Hocker.
Afarell war zwar ein Moorelf, doch er hatte wohl im Verlauf seiner Karriere viele elfische Eigenschaften abgelegt. Das grünlich-braune Haar war zu einem strengen Zopf zurückfrisiert, sodass man die beiden Rubinohrringe sehen konnte, die in seinen spitzen Ohren saßen wie glänzende Bluttropfen. Er trug einen feinen Mantel, zwar nach Elfenart geschneidert, aber aus Seide, wie nur die Menschen sie herstellten. Seine schwarzen, hochhackigen Stiefel hätten andere Elfen nicht angezogen, weil sie die Freiheit ihrer Füße hoch schätzten. Funkelnde, schwere Goldringe mit Edelsteinen und Diamanten in allen Regenbogenfarben glänzten an seinen Fingern. Afarell war außerdem, ganz anders als die meisten Elfen, dick: Deutlich wölbte sich sein Bauch unter den Kleidern und auch die schmale, flache Nase versank förmlich zwischen seinen fleischigen Backen. Nur seine Haut war so grau wie die aller Moorelfen. Grau wie der Rauch, der ihm unaufhörlich aus seiner Silberpfeife und den Mundwinkeln sickerte.
Einen Augenblick lang besah Afarell seine beiden Gäste von oben bis unten. Dann legte er den Kopf zurück und ließ sich tiefer in seinen Sessel sinken. Die Arme ruhten gebieterisch auf den Lehnen.
»Guten Tag, Herrschaften«, grüßte er mit eingeübter Freundlichkeit.
Trotzdem entging Scapa nicht der herablassende Unterton. Er spürte, wie sich Arane reckte und das Gesicht hob. Fühlte sie sich in ihrem Stolz bedroht, setzte sie stets eine königliche Miene auf.
»Was führt Euch zu mir, ehrenwerte Herrschaften?« Afarell nahm die Pfeife aus dem Mund und stieß kleine Rauchwölkchen aus.
Noch weit über ihm an der Decke des Zimmers sah Scapa die Rauchkringel im Lampenschein tanzen. »Wir wollen Euch etwas anbieten, Afarell«, sagte er und drehte sich zu Arane um. Sie hielt ihm den Schlüsselbund schon entgegen. »Wir haben die Schlüssel zum Gefängnis.«
Afarell hob die Augenbrauen. »Für jeden Kerker?«
Scapa nickte und trat, die Schlüssel vorgestreckt, näher zu ihm. Jedoch hütete er sich davor, den Schlüsselbund aus der Hand zu geben. Bei einem Elf konnte man sich schließlich nie sicher sein.
»Wenn Ihr den ganzen Bund abkauft, könnt Ihr gerne ausprobieren lassen, ob die Schlüssel echt sind. Wenn Ihr herumfragt, werdet Ihr außerdem erfahren, dass die Gefängnisschlüssel den Soldaten tatsächlich letzte Nacht verloren gegangen sind – die hier sind also die echten.«
»Interessant«, murmelte Afarell, ohne den Blick von den klirrenden Schlüsseln zu wenden. »Natürlich muss ich die Sache noch überprüfen lassen. Aber ich habe in der Tat etwas von einem verlorenen Schlüsselbund gehört... Neuigkeiten gehen in Kesselstadt um wie ein Lauffeuer, nicht wahr? Was verlangt Ihr denn für Euer Angebot, mein Herr?«
Ein Zucken ging um Scapas Mundwinkel, teils weil das »mein Herr« spöttisch geklungen hatte, teils weil er sich noch keine Gedanken über eine Antwort auf diese Frage gemacht hatte. Arane, dachte er. Arane, was denkst du? Aber sie blieb wie immer hinter ihm wie ein Geist, der ihn stumm bewachte.
»Fünfzig Taler. Dreißig in Silber, zehn in Gold und zehn in Kupfer.«
Afarell lachte mit offenem Mund. So lustig war Scapas Angebot nun auch nicht gewesen!
»Ach, fünfzig Taler, dreißig Silber, zehn Gold? Und zehn in Kupfer, wie großzügig!« Schneller als geahnt lehnte sich Afarell zu ihm vor. Fast ein bisschen erschrocken zog Scapa den Schlüsselbund zurück und wollte auch einen Schritt rückwärts gehen – aber er zwang sich, fest stehen zu bleiben.
»Ich will dir mal was sagen, Junge«, fuhr Afarell in amüsiertem, aber wesentlich ernsterem Ton fort. »Ich weiß ganz genau, was du und deine kleinen Freunde wie dieses wilde Menschenmädchen da hinten vorhabt -«
»Beleidigt sie nicht«, fiel Scapa ihm kalt ins Wort und trat vor Arane.
Afarell ließ sich dadurch nicht beirren. »Ihr wollt Torron und seinen Männern an den Hals springen, ihr kleinen tollwütigen Hunde.« Er lachte gackernd. »Und dafür kratzt ihr schön euer Geld zusammen. Zu einem kleinen, schmuddeligen Häufchen. Und mit eurem hübsch gesammelten Sümmchen wollt ihr euch dann Waffen und Ausrüstung und Mut kaufen.« Afarell legte ruckartig den Kopf schief. Sein Doppelkinn wälzte sich in kleinen Röllchen über den Hemdkragen. »Oder nicht?«
Scapa biss die Zähne so fest zusammen, dass seine Kieferknochen vortraten. »Ich wüsste nicht, was Euch das angeht. Aber eine amüsante Theorie.«
Afarell kicherte und paffte wieder seine Pfeife. Genüsslich stieß er ein paar Rauchringe in ihre Richtung. »Aber jeder weiß doch, dass ihr das plant, Jungchen.« Er klang schrecklich liebenswürdig; wie klebriger Honig übergoss seine Stimme die beiden.
Scapa riss der Geduldsfaden. »Wollt Ihr den Schlüssel kaufen, ja oder nein? Sonst suchen wir einen anderen Käufer.«
Afarell lachte herzhaft und seine Augen wurden starr wie Murmeln. »Ein anderer Käufer! Gah! Als ob noch jemand mit euch Rotznasen Geschäfte machen würde, nachdem ihr euch die Frechheit bei Torron erlaubt habt!«
Scapa presste die Lippen aufeinander vor Zorn. Dass der Moorelf Recht hatte, war beinahe noch unerträglicher als sein Gekicher. »Also nicht«, murmelte Scapa schließlich. Afarell lachte ein bisschen leiser, um ihn zu hören. »Dann seid Ihr also auch einer von Torrons Speichelleckern.«
Scapa wandte sich um, als der Ruf des Hehlers ihn zurückhielt: »Vorsicht, Menschchen! Vorsicht, wie du mich nennst... Ich habe mit Torron nichts zu schaffen, so wie ich auch mit eurem kleinen Krieg nichts zu schaffen habe.«
»Wieso dann das Gerede?«, fragte Scapa über die Schulter hinweg.
Der Elf lehnte sich auf die andere Seite seines Sessels und kuschelte sich in die weichen Kissen wie ein schnurrender Kater. »Komm schon, ich wollte dich nicht vergraulen, Junge. Du weißt doch, dass ich nur Spaß mache, nur ein Späßchen. Nicht mehr. In Ordnung?« Er spreizte die fetten, kleinen Hände, als lade er ihn zu einer herzlichen Umarmung ein.
Darauf verzichtete Scapa gerne. »Also, geht Ihr auf das Angebot ein oder nicht?«, wollte er wissen.
Afarell faltete die Finger ineinander und beobachtete ihn zufrieden. »Jungchen, nur weil ich nicht zu Torrons Schlägern gehöre, heißt das nicht, dass ich den mächtigsten Mann des Viertels nicht achte. Und wenn ich seine Feinde sozusagen geschäftlich unterstütze... Wisst ihr, ich habe auch nur einen Kopf zu verlieren.
Andererseits – ich bin wirklich schwer beeindruckt von euch kleinen Kämpfern.« Die Lüge war so schmierig wie Afarells Haarzopf. »Und unter uns: Ich wünsche euch den Sieg über Torron. Wird endlich mal Zeit, dass eine neue Bande Schwung in Kesselstadt bringt, was? Darum will ich euch helfen. Nicht nur dieses eine Mal, sondern für eine längere Zukunft. Ihr seid ja noch so jung! Haha, haha!«
»Was soll das heißen?«, fragte Scapa misstrauisch.
»Dass ich von nun an euer offizieller Händler bin! Also: Was immer ihr klaut, Verzeihung, was ihr erwerbt, könnt ihr an mich weiterverkaufen, sofern ich es denn auch als weiterverkäuflich erachte. Und ich verspreche euch einen fairen Preis.«
Dass sie klauten, erwähnte Afarell nicht etwa versehentlich, sondern nur, um ihnen noch einmal sein Wissen unter die Nase zu reiben – das war Scapa natürlich klar. Trotzdem blieb ihm nicht viel übrig, als sich über die glückliche Wendung zu freuen.
»Also haben wir einen Pakt?«
Afarell nickte feierlich. Dann blitzten seine Augen auf – und Scapa spürte im selben Augenblick, in dem Arane die Luft anhielt, dass die Sache einen Haken hatte.
»... Und zum Zeichen unserer künftigen Zusammenarbeit überlasst ihr mir die Schlüssel zu einem Freundschaftspreis von zehn Kupfermünzen.«
»Was?«, rief Scapa. »Das ist kein Freundschaftspreis, das ist – das ist Betrug!«
Afarell vergrub das Gesicht in der Hand und klingelte eine schnörkelige Silberglocke. Kaum einen Moment später öffnete sich die Tür und der Moorelf von vorhin steckte den Kopf ins Zimmer.
»Ja, Meister?«, grüßte er den Hehler untertänig.
»Jador, könntest du meinen beiden Gästen bitte ausrichten, dass sie sich jetzt entscheiden müssen? Ich habe leider nicht den ganzen Tag Zeit.« Afarell sah einfach über Arane und Scapa hinweg und zuckte mit den Schultern.
Scapa konnte kaum die Dämlichkeit des Elfendieners fassen, als der sich tatsächlich an sie wandte: »Los, ihr beide müsst euch jetzt entscheiden. Afarell hat nicht den ganzen Tag für euch Zeit!«
Afarell hielt bereits ein blaues Samtsäckchen in der Hand und zählte zehn Kupfermünzen ab. Beim Anblick ihres hilflosen Zorns entfaltete sich ein zuckersüßes Lächeln auf seinen Lippen. »Na, Jungchen? Auf zukünftige Geschäfte!«
Als die Haustür hinter ihnen zufiel, fühlten sich Scapas Eingeweide wie verknotet an. Zitternd hielt er die Kupfermünzen in der Faust.

Die Straßenprinzessin

Wie angewurzelt blieb Scapa vor der Tür des Elfenhehlers stehen. Seine Füße wollten sich einfach nicht in Bewegung setzen. Jetzt hatten sie statt der Schlüssel das schmierige Versprechen eines Moorelfs, mehr nicht! Was ihnen der weite Weg hierher wirklich gebracht hatte, war nur Demütigung …
»Ich hasse Elfen!«, zischte Arane.
Scapa konnte nichts als tief atmen, sonst hätte das Gefühl der Hilflosigkeit ihn von innen heraus zerrissen.
»Ich hasse sie«, wiederholte Arane und die Worte entließen den Zorn in ihr wie ein Ventil. »Stinkende räudige Sumpfratten, geizige Betrüger, ich hasse sie alle!«
Sie stampfte mit dem Fuß auf und Scapa warf ihr einen Blick zu. In ihren Augen glühte wirklich Hass. Schon einmal waren ihre Augen so gewesen. Damals, es war lange her und doch... nicht mehr als ein Wimpernschlag schien ihn von jenem Augenblick zu trennen, der klar und deutlich in seiner Erinnerung war und immer sein würde.
Damals, als er Arane zum ersten Mal gesehen hatte.
Schon um mehrere Straßenecken hatte Scapa die Schreie gehört. Es waren nicht die gewöhnlichen Schreie, die in diesen Vierteln erklangen. Nicht das schrille Kreischen der Säuglinge, die in der Hitze rote Köpfe bekamen. Auch kein lautes Marktfeilschen.
Scapa schlich vorsichtig heran, dicht an die Mauer gedrängt, und hatte seinen Dolch gezückt. Inzwischen war seit seinem ersten Diebstahl so viel Zeit vergangen, dass er mit der Klinge umzugehen gelernt hatte. Und nicht nur das: Er war auch als Dieb viel gelassener geworden. Er war in nur wenigen Monaten so etwas wie ein dunkler Schatten geworden, der unbemerkt und flink durch die Gassen der Stadt huschte. Während all der Monate aber hatte er kaum mit einer Menschenseele gesprochen. Die Menschen jagten ihm Angst ein und die Elfen ebenfalls. Schließlich bestahl Scapa sie alle.
Nun hörte er das wütende Gezeter und kam neugierig näher. Wenn es Aas gibt, sind die Geier nicht weit. Und wenn jemand streitet, fällt meistens ein Stückchen Beute ab, das nur darauf wartet, genommen zu werden.
Scapa ging in die Hocke und lugte um eine Straßenecke. Er sah einen Schmuckstand mit funkelnden Broschen und Armreifen – ohne Händler dahinter. Der stand mit hochgekrempelten Hemdsärmeln vor seinen Verkaufstischen und war ganz offensichtlich abgelenkt: In den Armen des Elfenhändlers zappelte ein wildes kleines Ding, ein Junge mit Lockenschopf.
»Dieb, du dreckiger!« Der Händler begleitete diese Worte mit einem Schwall elfischer Flüche, die Scapa nicht verstand. »Schön hier geblieben, kleiner Teufel! Du kriegst heute noch Kerkerfraß, darauf kannst du wetten. Bleib da!«
Der Elfenhändler zog seinen Gürtel und versuchte den Jungen damit zu fesseln. Der wand sich aber herum wie ein Fisch und entglitt dem Elf jedes Mal um Haaresbreite.
Scapa wurde klar, was er tun musste. Auf allen Vieren schlich er sich an die Verkaufstische. Eilig zog er sich das Hemd aus, legte die Schmuckstücke in den Stoff, schnell und vorsichtig, damit nichts klirrte. Eine solche Gelegenheit bot sich schließlich nicht alle Tage.
Fast den halben Stand hatte er ausgeräumt, da geschah es. Der Händler jaulte auf – der kleine Dieb hatte ihn in die Hand gebissen. Scapa zuckte zusammen, obwohl er noch nicht entdeckt worden war. Der Elf holte mit der unverletzten Hand aus. So heftig traf der Schlag des Händlers den Dieb, dass er von den Füßen gerissen wurde. Ein heller Schrei drang durch die wirren Haare, Blut tropfte auf den Boden, als der Dieb flach liegen blieb. Und mit einem Mal hob der Junge den Kopf und starrte Scapa an.
Scapa wusste nicht, was ihn mehr überraschte: die Erkenntnis, dass es kein Junge, sondern ein Mädchen war, oder das klare Blau der Augen – dieser Augen, so glühend vor Hass und schön wie nichts, was er je erblickt hatte. Er spürte, wie der kurze Moment, in dem sie einander anstarrten, zur Ewigkeit wurde und alles bis auf sie beide in Dunkelheit zerfiel.
Erst der Elfenhändler, der sich wütend über ihm aufbaute, rief Scapa zurück in die Wirklichkeit. Scapa rollte sich blitzartig zur Seite, bevor ihn die Faust des Händlers treffen konnte. Einen Herzschlag später stocherte er erschrocken mit dem Dolch durch die Luft, um den vor Wut tobenden Elf abzuwehren. Nur kurz erhaschte er einen Blick auf die Stelle, wo das Mädchen gelegen hatte. Doch von ihr war nichts geblieben als drei Blutflecken auf dem Boden. In einer schmalen Gasse sah er sie gerade noch davonrennen.
»He – verdammt!« Scapa duckte sich vor dem Schlag des Händlers und schlüpfte unter seinen Armen hindurch. Dann holte er mit seinem Hemd aus, in dem noch immer der Schmuck klapperte, und schlug dem Händler gegen den Rücken. Verdutzt sackte der Elf in die Knie, fuhr aber sogleich wieder herum. Da war Scapa schon davongerannt, direkt in die Gasse hinein, in der das Mädchen verschwunden war.
Lange suchte er sie. Er rannte durch alle ihm bekannten Straßen, durchstreifte die Gassen und lugte sogar hier und da in die Schänken und Spelunken der Gegend. Er fragte die Bettler und Straßenkinder, ob sie ein Mädchen mit blonden Locken und blauen Augen gesehen hätten, ein Mädchen, das irgendwo am Kopf bluten musste; er befragte sogar die Waschweiber in den Färbervierteln, aber niemand konnte ihm Auskunft geben.
»Ein Mädchen, das wie ein Junge aussieht und vielleicht eine Platzwunde am Kopf hat?«, wiederholten sie ungläubig. Diese Beschreibung konnte auf jedes zweite Straßenkind zutreffen. Aber Scapa vermochte nicht zu erklären, was an ihr anders gewesen war – anders auf eine Weise, die ihm selbst ein Rätsel war.
 
Als er sie abends nicht gefunden hatte, kletterte er in eine kleine Hausruine, in der er seit einiger Zeit schlief und seine Beute versteckte, und betrachtete im Schein der Straßenlampe den Schmuck des Händlers. Er überlegte, welches Stück das Mädchen wohl hatte stehlen wollen, und darüber grübelte er auch noch in der nächsten Nacht und in der übernächsten. Viele Tage lang musste er an das Mädchen denken. Und je länger er an sie dachte, desto heftiger spürte er, dass sie sein Schicksal sein würde. Ganz einfach. Er kannte jetzt einen Teil seiner Zukunft, ob das nun gut war oder nicht.
Die Zeit verging, ohne dass Scapa das Mädchen wieder gesehen oder dass er von ihr gehört hätte. Allmählich schwand die Gewissheit, dass sie eine Rolle in seinem Leben spielen würde. Insgeheim begann er sich über sich selbst zu ärgern. Wie hatte er so fest von dieser dummen Idee überzeugt sein können? Er beschloss das Mädchen zu vergessen. Und um ein Haar wäre es ihm auch gelungen.
Fast drei Wochen waren vergangen, seit Scapa dem Elfenhändler den Schmuck gestohlen hatte. Nun schlenderte er durch die bevölkerten Straßen von Kesselstadt, vorbei an Tavernen und lärmenden Leuten. Es war ein warmer, schöner Vormittag und das Leben der Stadt blühte. Straßenmusik und laute Stimmen erfüllten die Luft. In den Schatten der Häuser spielten rauchende Elfenjungen Würfelspiele, grell geschminkte Tänzerinnen lehnten sich aus den Fenstern der Häuser und riefen jedem etwas zu, der an ihnen vorbeikam.
Scapa wich gerade rechtzeitig zur Seite, als ein mit Glocken behängtes Schwein an ihm vorbeirauschte, gefolgt von einer Horde lärmender Menschen. »Wer das Schwein fängt, gewinnt drei Mehlsäcke!«, schrie jemand, der vermutlich der Veranstalter der Schweinejagd war. Scapa kannte solche Hetzjagden. Das Schwein war darauf trainiert, zu seinem Besitzer zurückzulaufen. Am Ende gewannen immer die Veranstalter des Spiels.
Scapa lief weiter, die Augen offen für jede Gelegenheit, die sich ihm bot. Vielleicht entdeckte er einen unachtsamen Händler, eine offene Westentasche… An der Ecke eines Markplatzes stand ein Kartenspieler und forderte die vorbeigehenden Leute auf, ihr Glück bei ihm zu versuchen. Erriet jemand, welche der verdeckten Karten der rote König war, so gewann er einen Kupfertaler des Geldes, das andere Leute bereits bei dem Spieler gelassen hatten. Neugierig drängten sich mehrere Schaulustige um den Spieltisch. Scapa kam näher, als er das aufgeregte Gemurmel der Menschen und Elfen vernahm.
»Wie kann das sein?«, fragten sie sich verwundert. »Wie geht das vor sich?«
Scapa drängelte sich durch die Menge vor, bis er etwas sah. Und was er sah! Niemand anderer als das Mädchen mit den kurzen Locken stand vor dem Kartenbetrüger und spielte! In ihrer Hand hielt sie bereits einen Münzhaufen und ihr Gesicht strahlte. Der Kartenspieler hingegen wirkte wenig fröhlich. Hektisch mischte er die vier Karten, schnell und immer schneller. Doch wann immer er die Karten auf den Tisch legte, setzte das Mädchen ihren Finger mit Bestimmtheit auf eine und sagte: »Das ist der rote König!«
Und sie behielt stets Recht.
Scapa beobachtete sie und das Schauspiel eine Weile fasziniert. Natürlich war der Kartenleger ein Betrüger – sonst wäre er nicht so verwirrt über den Gewinn des Mädchens gewesen. Und das hieß, dass die Blonde seinen Trick durchschaut und sogar einen Weg gefunden hatte, ihn zu umgehen. Das war allerhand. Scapa musterte sie von oben bis unten und kam zu der Auffassung, dass sie bestimmt nicht älter als er sein konnte.
Inzwischen hatte sie weitere viermal gewonnen. Dem Kartenleger glänzte Schweiß auf dem puterroten Gesicht, er mischte nervös, und als er fertig war, beobachtete er das Mädchen wie ein tollwütiger Hund.
»Diese hier ist der rote König.« Rasch drehte sie die Karte um, bevor der Leger es tun konnte; das tat sie schon die ganze Zeit. Scapa dämmerte bereits, dass der Kartenleger gerade deswegen so verzweifelt war – sicher hatte das Umdrehen der Karte etwas mit seinem Trick zu tun.
Wieder hatte das Mädchen richtig geraten. Triumphierend sah sie zu dem Mann auf.
»Ich bekomme noch einen Taler«, erinnerte sie ihn.
Der Trickbetrüger stand wie ein geschlagener Riese hinter dem Tisch. Seine Schultern bebten. Plötzlich stieß er den Tisch zur Seite, sodass die Menge entsetzt zurückwich.
»Betrügerin!«, schrie er. Das Mädchen stolperte erschrocken zurück. »Willst du einen ehrlichen Kartenleger übers Ohr hauen?! Ich zeige dir, was ich mit Betrügern mache!«
Noch ehe er die Hand zum Schlag heben konnte, stand Scapa vor ihm. Er hatte die Fäuste geballt. »Du bist der Betrüger und ihr wirst du kein Haar krümmen.«
Der Kartenleger starrte ihn verwundert an. Als Scapa hörte, wie jemand davonrannte, fuhr er herum. Das Mädchen verschwand in der Menge.
»Warte!«
Scapa rannte ihr nach. Er duckte sich unter schweren Körben hindurch, die vorbeigehende Menschen auf dem Rücken trugen, und rempelte gegen herumstehende Elfen. Am Rande des Marktes sah er das Mädchen in eine Straße abbiegen.
»Bleib stehen! He, du!« Scapa rutschte beinahe in einer Pfütze aus. Als er am Straßenende ankam, blieb er keuchend stehen und lehnte sich gegen die Hauswand. Vorsichtig lugte er um die Ecke.
Das Mädchen war fast schon hinter den Häusern verschwunden. Sie sah noch einmal zurück. Als sie Scapa nicht mehr entdeckte, blieb sie stehen, um nach Atem zu ringen. Dann lief sie in eine Seitengasse.
Scapa folgte ihr unbemerkt durch verwinkelte Straßenfluchten, in denen die Häuser immer weiter in die Höhe gewachsen waren und ihre schiefen Türmchen und Balkone wie verkrüppelte Finger in den Himmel streckten. Das Mädchen lief durch das Viertel der Färber. Die Sonne zog gleißende Streifen in die Dunkelheit und ließ die Pfützen schillern. Leichtfüßig sprang das Mädchen über sie hinweg. Scapa konnte den Blick nicht von ihr wenden, wie sie ins Sonnenlicht eintauchte und wieder im trüben Halbdunkel verschwand, eintauchte und verschwand, eintauchte, verschwand... Die Wäscherinnen grüßten sie und riefen sie bei einem Namen, den Scapa nicht verstehen konnte. Und sie selbst ging so würdevoll durch die schmutzigen Färbergassen wie eine Königin durch die Korridore ihres Palasts.
Dann kam sie zu einem Markt. Licht brach sich auf den silbernen Schalen und Krügen, die die elfischen Händler feilboten, und es blitzte und funkelte aus allen Winkeln des großen Platzes. Elfische Akrobaten und Feuerspucker sonnten sich in der Bewunderung der Schaulustigen. Das Mädchen strich durch die Menge. Erst vor dem Puppentheater, das man am Rande des Platzes aufgebaut hatte, blieb sie stehen.
Scapa schlich in einem weiten Bogen um sie herum, um ihr Gesicht zu sehen. Mit bewundernden Blicken verfolgte sie das Theater. Wenn alle Zuschauer klatschten, klatschte sie mit mehr Begeisterung als irgendjemand sonst; wenn alle lachten, lachte sie am hellsten; und wenn alle vor Schreck seufzten, verzog sich ihre Stirn in echter Sorge. Scapa musste lächeln.
Unbemerkt schlich er zurück und blieb hinter dem Mädchen in der Menge stehen. Eine Armeslänge trennte sie voneinander. Er konzentrierte seinen Blick auf ihren sonnengebräunten Nacken. Zwei kleine Muttermale saßen direkt unter dem Haaransatz.
Ganz so, als spüre sie seinen Blick, neigte sie den Kopf und sah zu Boden. Dann fächerten ihre Augenlider auf und sie blickte ihn direkt an. Besorgt, sie könne wieder fliehen, fiel Scapa keine andere Geste ein als die, den Finger auf die Lippen zu legen. Als sie nicht fortlief, kam er vorsichtig näher. Sie wandte sich wieder um und blickte zum Puppentheater auf.
Scapa trat direkt neben sie. Sein Herz schlug sonderbarerweise schneller als sonst. Aufmerksam folgte er dem Theaterstück, so wie das Mädchen an seiner Seite. Es ging um die Geschichte einer Prinzessin und eines Krieges, die Scapa nicht zu durchschauen vermochte. Er versuchte es auch gar nicht.
Endlich neigte er den Kopf in die Richtung des Mädchens, ganz leicht nur und ohne die Puppen aus den Augen zu lassen. »Wer bist du?«, flüsterte er.
Die Menge seufzte rings um sie auf, als die Puppenprinzessin eine Hinrichtung befahl. Scapa biss sich auf die Unterlippe, weil ihm ein Lächeln ins Gesicht steigen wollte – wie absurd! Er warf einen Blick zu dem Mädchen herüber. Sie verfolgte noch immer das Puppenspiel, doch auch um ihre Mundwinkel ging, wenn Scapa sich nicht irrte, ein zartes Lächeln.
»Sag mir deinen Namen«, bat er leise. »Wie soll ich dich denn nennen?«
Endlich richtete sich der Blick des Mädchens auf ihn. Sie sah ihn lange an und blinzelte nicht. »Ich...« Sie brach das Flüstern ab, als ein neues Raunen durch die Menge ging. Die Puppenprinzessin trug nun eine winzige Krone aus gelb bestrichenem Holz.
»Und das ist nun Euer großer Wunsch, Prinzessin Arane?«, quäkte eine Stimme unter dem Theater hervor. Die Prinzessin antwortete eben so piepsend, wie eine Puppe sprechen würde: »Oh ja, das ist mein einziger Wille: Ich will die ganze, weite Welt erobern!«
»Arane«, wiederholte das Mädchen mit leuchtenden Augen. »Du kannst mich Arane nennen.«
Scapa musste verwundert lächeln.
Dann blickte sie zu ihm auf. »Und du«, flüsterte sie, »wer bist du?«
»Ich heiße Scapa.« Sein Name wurde vom Klatschen der Menge übertönt. »Scapa«, flüsterte er noch einmal, als es wieder leiser geworden war. »Ich heiße Scapa.«
Dann blickten sie beide wieder zu dem Puppentheater auf, und sie standen stillschweigend nebeneinander, bis der Vorhang fiel.

Gerüchte

Von dem Tag an, an dem sie das erste Wort gewechselt hatten, waren Arane und Scapa wie Pech und Schwefel. Arane, die niemandem traute, von der keiner wusste, wie sie sich durchs Leben schlug – sie beschloss aus unerfindlichen Gründen, an Scapas Seite zu bleiben. Keiner vermochte das rätselhafte Mädchen zu verstehen. Es schien fast, als habe sie in jenem kurzen Augenblick vor dem Puppentheater entschieden, dass sie ihr Leben mit Scapa teilen wollte. Aber Arane stellte ihm nie Fragen über seine Vergangenheit und so fragte auch Scapa nicht nach der ihren. Das einzig Entscheidende war, dass sie nun zusammen waren und für den Rest ihres Lebens sein würden – so wie sie es tief in ihrem Inneren spürten, deutlicher als irgendetwas sonst.
Arane und Scapa zogen fortan gemeinsam durch die Straßen von Kesselstadt. Arane erwies sich schon bald als Meisterin in der Kunst des Überlebens: Ob es darum ging, einen sicheren Schlafplatz zu finden, sich warmes Essen zu besorgen oder einen Kartenbetrüger zu überlisten, Arane wusste stets Rat. Scapa hingegen war geschickt als Dieb und konnte Aranes Ideen in die Tat umsetzen. So arbeiteten sie wie ein rechter und ein linker Fuß – zusammen konnten sie es weit bringen. Und das wussten beide.
Für Scapa und Arane begann auch wirklich eine Zeit des Erfolgs. Bald hatten sie sich zu einem angesehenen Räuberpaar entwickelt und erbeuteten mehr als alle anderen Straßenkinder. Wenn sie durch die Gassen schlenderten, wichen die anderen Kinder respektvoll zurück. Die Wäscherinnen waren ganz entzückt von Arane und begannen sich fantastische Legenden über sie und Scapa auszudenken. Schließlich war ihr Zusammenhalt einzigartig. Denn gewöhnliche Straßenkinder, das war allgemein bekannt, hatten kaum wahre Freundschaften; ihr Leben wurde von Hunger, Hass und Angst bestimmt. Dass Kinder so lieben konnten, die selbst nie Liebe erhalten hatten und in den ärmsten, schmutzigsten, hoffnungslosesten Vierteln aufgewachsen waren – das hatte man noch nicht gesehen. Bis jetzt.
»Die beiden gehören zusammen wie Seife und Zuber«, seufzten die Waschweiber, wenn sie vor ihren Wasserbottichen standen, die Hände blau und rot und schwielig vom jahrelangen Färben, die Wangen aufgedunsen von den giftigen Gerüchen des Färbemittels und die Augen leuchtend wie die junger Mädchen: »Scapa und seine Arane, das hält für die Ewigkeit!«
Arane ließ sich gerne von den Waschweibern bewundern. Die Frauen waren so von ihrem hübschen Gesicht und ihren blonden Locken verzaubert, dass sie ihr erzählten, sie sei in Wirklichkeit die Tochter einer Prinzessin. Denn obwohl sie nur Lumpen trug und barfuß durch die Straßen lief, stach Arane unter den anderen Waisen hervor wie ein Kristall unter Kieselsteinen. Das Mädchen gehörte nicht hierher, da war man sich einig. Arane war zufällig in diese Welt gefallen wie das Samenkorn einer seltenen Blume, das der Wind aus den Gärten eines Palasts geweht und auf einen Misthaufen getragen hat.
»Kleine Lilie!«, riefen die Waschfrauen. »Eines Tages werden du und dein Scapa Kesselstadts Fürsten sein!«
Und das war tatsächlich Aranes Wunsch. In dunklen Nächten, wenn die beiden in einer Straßenmulde lagen, erzählte Arane von ihren ehrgeizigen Plänen. Wie ein Märchen aus dem Puppentheater flüsterte sie Scapa die Geschichte ihrer Zukunft ins Ohr.