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Eine Mischung aus Thriller und Familiendrama Yuris Leben nimmt eine jähe Wendung, als sein grosser Bruder Nino nach sieben Jahren aus dem Nichts wieder vor ihm steht. Was ein freudiges Wiedersehen hätte werden können, entpuppt sich schon bald als Yuris persönlichen Albtraum, als er unwissentlich immer weiter in die unliebsamen Geschehnisse aus Ninos Vergangenheit hineinrutscht.
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Seitenzahl: 330
Veröffentlichungsjahr: 2022
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“Wehr dich nicht.
Dann wird es nur schlimmer...”
Dieser Roman ist reine Fiktion. Handlungen und
Personen sind frei erfunden.
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Epilog
Nachwort
Der Raum hatte diese sterile Eigenheit, die ein Spitalzimmer von den eigenen heimeligen vier Wänden einer gewöhnlichen Wohnung distanzierte: Weisse kahle Wände, zwei neunzig-Zentimeter Betten mit weissen Metallstangen an den Seiten und graublauen Bettlaken. Daneben stand je ein Infusionsständer. Gegenüber dem Bett hing ein altes Ölbild an der Wand. Es zeigte zwei braungebrannte Männer, die mit einem Ochsen einen Acker pflügten und im Hintergrund ein mittelalterliches Dorf. Auch die orangenen Vorhänge, die im Luftzug des offenen Fensters vor und zurück schwenkten, verliehen dem Zimmer nur wenig Wärme.
Yuri blinzelte langsam und ohne den Kopf vom Kissen zu heben, beäugte er die Venenverweilkanüle. Der hauchdünne Schlauch führte unter seine Haut auf seinem Handrücken. Er konnte es genau spüren, auch wenn die weissen Klebestreifen über der Kanüle die Sicht auf die Einstichstelle verbargen. Das zweite Bett war leer. Yuris Augen folgten dem durchsichtigen Schlauch in seinem Handgelenk bis zum Infusionsständer neben seinem Bett. Die Infusionslösung tröpfelte lautlos neben ihm. Er merkte wie die Schmerzmittel der Notfalloperation langsam nachliessen und den brennenden Schmerz in seinen beiden Beinen nicht mehr vollends unterdrücken konnten. Mit einer Hand hob Yuri die Bettdecke an und spähte darunter. Seine Beine sahen aus wie die eines Michelin-Männchen. In harten, weissen Gips gepackt waren sie dazu verdammt für die kommenden Wochen völlig unbrauchbar an seiner Hüfte zu hängen. Wütend und aufgewühlt liess Yuri die Decke fallen und klatsche seine Hand auf die harte Matratze. Dies bereute er sogleich, denn er hatte aus Versehen sein rechtes Bein gestreift und der stechende Schmerz liess ihn aufstöhnen. Mit geschlossenen Augen blieb er eine Weile ruhig liegen, bis der Schmerz abgeklungen war.
Er hörte fröhliches Vogelgezwitscher durch das offene Fenster und das Geräusch von vorbeifahrenden Autos, die die dicht befahrene Strasse vor dem Krankenhaus hinunter bretterten. Aus der Ferne hörte er ein Tram energisch klingeln, welches Fussgänger auf dem Tramgleis zur Eile ermahnte. Es war allem Anschein nach, ein friedlicher Tag. Ein Tag wie jeder andere auch, doch Yuri hatte gerade den schönsten und zugleich schlimmsten Monat seines Lebens durchgestanden. Früher, so dachte er, wäre ein schlimmer Monat der Zeitpunkt kurz vor den Sommerferien gewesen, an dem alle Lehrer noch ihre letzten Prüfungen des Semesters reinquetschen mussten. Oder den Stress, den seine Mutter veranstaltete, er müsse sich endlich für eine Lehrstelle bewerben.
“Wie krass ich mich doch geirrt habe”, dachte Yuri verbittert. Er wünschte sich die Zeit herbei, in der er und sein bester Freund Jayson sorglos die Strasse auf ihren Skateboards hinunterfuhren und ein paar Mädchen in kurzen Röcken nachpfiffen. Yuri wurde es warm ums Herz beim Gedanken daran.
Nichtsdestotrotz hätte sich sein Leben nicht schneller um hundertachtzig Grad wenden können. Blitzartig schossen ihm Gedankenfetzen durch den Kopf: Er wird über den Boden geschleift, kaum noch bei Bewusstsein. Sein ganzer Körper schmerzt. Weisse, steinerne Wände und kaltes, grelles Licht, das an Scheinwerfer erinnerte. Eine Pritsche in der Ecke, ein Waschbecken gegenüber. Ein hässliches, grauenvolles Lachen, welches feissen, sabbernden Lippen entweicht.
Das warme Gefühl in Yuris Brust war schlagartig verflogen. Er öffnete die Augen und eine Träne kullerte ihm die Wange hinab. Die Vögel und der Strassenlärm schienen plötzlich in weite Ferne gerückt zu sein. Ein bleiernes Gefühl der Leere und Angst ergriff ihn und schnürte ihm die Kehle zu. Er fühlte sich dreckig und widerwertig. Seine sonst so luftigen und immer gut gestylten braunen Haare klebten an seiner schweissnassen Stirn. Je mehr er an die Ereignisse der vergangenen Tage dachte, desto mehr wurde die Angst durch Gefühle des Zorns und der Trauer verdrängt. Wenn er gekonnt hätte, hätte er mit beiden Fäusten wild auf diese beschissenen kahlen Wände der Krankenstation eingedroschen, die ihn so sehr an diesen klaustrophobischen Keller erinnerten.
Plötzlich hörte er hastige Fussschritte draussen im Flur. Die Tür zu seinem Krankenzimmer wurde aufgerissen und ein Arzt in weissem Kittel und mit einem Klemmbrett in den Armen wurde in das Zimmer gestossen. Er stolperte, fing sich im letzten Moment wieder und schob seine Brille wieder auf dem Nasenrücken nach oben. Eine Frau mit langen, locker nach hinten gebundenen, braunen Haaren stürzte an ihm vorbei, wobei sie alles zur Seite stoss, was ihr im Wege stand - sei es auch ein Arzt, der ihrem Sohn kurz zuvor das Leben gerettet hatte. Sie stürmte auf Yuri zu und küsste ihn übers ganze Gesicht, während sie immer noch wimmernd vor sich herplapperte.
Hinter ihr kam ein Mann in aufrechtem Gang hinein, der merklich gefasster wirkte. Er legte Yuri eine Hand auf die Schulter, lächelte ihn an und wandte sich dann wieder mit kühlem Ton an den Oberarzt: “Sie meinen, dass Yuri wieder vollkommen gesund wird?”
“Das würde ich sagen, doch es ist schwierig dies zum jetzigen Zeitpunkt mit aller Sicherheit zu garantieren. Der Verlauf der Heilung und die anschliessende Physiotherapie werden dabei entscheidend sein”, antwortete Doktor Hartmann. Er wirkte besorgt und betrachtete Yuri. Die Prellungen, Striemen und Blutergüsse auf dem Körper des Jungen schienen nicht von dem Unfall her zu kommen. Diese waren älter. Doch dies würde er der ohnehin schon besorgten Familie nicht, oder noch nicht mitteilen. Dies war die Aufgabe der Polizei.
“Yuri? Wie geht es dir? Wie fühlst du dich?”, frage Susanna ihren Sohn und strich ihm über den Kopf.
“Es geht. Die Schmerzmittel lassen langsam nach und mir ist noch etwas schlecht und schwindelig”, antwortete Yuri.
“Das ist nicht ungewöhnlich nach einer Narkose”, sagte der Oberarzt rasch, als ihm Susanna einen erschrockenen Blick zuwarf. “Viele Patienten sind zudem nach dem Aufwachen noch einige Stunden etwas neben den Schuhen. Yuri scheint sich jedoch gut davon zu erholen.”
Yuri sah zum Fenster raus. ‘Ja, von der Narkose schon… Aber werde ich jemals wieder ein normales, fröhliches Leben geniessen können?’, fragte er sich und seine Augen füllten sich mit Tränen.
Seit einigen Tagen hatte sich das Wetter gebessert. Die milden Temperaturen und der Sonnenschein lockten die Leute aus ihren Häusern. Die Strassen und Pärke waren belebt und der Geruch des Frühlings lag in der Luft. Es war Montagabend und im Skaterpark herrschte reger Betrieb. Einige Gruppen junger Männer und Buben tummelten sich auf der Anlage und übten mit ihren BMX-Bikes, Rollerblades und Skateboards neue Tricks. Auf den Rehlingen einer kleineren Halfpipe am Rande des Parks sassen einige Mädchen, die ihnen zuschauten. Sie tuschelten hinter vorgehaltenen Händen, kicherten und warfen den Jungs immer wieder kurze Blicke zu.
Ein Junge um die sechzehn Jahre alt lief zur Kante der grössten Halfpipe des Skaterparks. Er hatte dunkelbraunes, mittellanges Haar, welches von hinten nach vorne über die Stirn gekämmt war, sodass seine Fransen knapp zu den Augen reichten. Eine Frisur, die seine Mutter regelmässig in den Wahnsinn trieb, da er ständig den Kopf zur Seite warf, sodass seine Haare lässig zur Seite wehten, bevor er sein Cap wieder aufsetzte. Der Junge hatte einen athletischen Körper und seine Haut war durch die viele Zeit an der frischen Luft bereits im Frühsommer gebräunt. Er trug ein schwarzes Tanktop, eine graublaue Lederjacke, sowie kurze schwarze Stoffhosen und einen schwarz-braunen Sportbeutel mit weissen Umhängeriemen. Einer seiner Freunde rief: “Na mach schon Yuri! Zeig was du drauf hast! Du willst die Mädels doch nicht warten lassen.”
Yuri schnaubte, hob sein Cap an, warf seine Haare zur Seite, zog es sich wieder über und stand mit dem rechten Fuss ans eine Ende seines Skateboards. Nun ragte der Grossteil seines Boards über dem Rand der Halfpipe in die Höhe. Yuri atmete tief ein, konzentrierte sich und stieg mit dem linken Fuss auf das Skateboard. Er verlagerte sein Gewicht nach vorne und stürzte auf den vier Rädern die Halfpipe hinunter. Voller Freude, den Wind an sich vorbei zischend, raste er durch die Biegung und die andere Seite wieder empor. Er flog in die Luft, machte eine 180 Grad-Drehung, landete wieder auf der Halfpipe und sauste zurück zu seiner Ausgangsposition. Dort stützte sich mit der einen Hand auf der Kante der Halfpipe ab und drückte mit der anderen Hand das Skateboard an seine Schuhsohlen. Durch den Schwung der Fahrt konnte er seinen Körper mit Leichtigkeit in die Luft anheben. In dieser Position verharrte er eine Sekunde, zog dann das Skateboard unter sich und sauste die Halfpipe wieder hinunter.
Breit grinsend landete Yuri auf dem Table der Halfpipe. Seine Kollegen, die dort auf der Reling sassen, klopften ihm auf die Schulter.
Jayson, der ihn bereits zuvor angespornt hatte, rief “Mensch, wann hast du gelernt einen ‘Invert’ zu fahren?” und sprang von der Reling.
Yuri zuckte mit den Achseln. “Ich hatte viel Zeit zum Üben.”
Immer noch staunend kletterte Jayson zusammen mit Yuri die Halfpipe hinunter. “Den musst du mir unbedingt beibringen, Mann!”, forderte Jayson und schwang seinen Arm locker auf Yuris Schultern.
“Schau zu, dass du erst mal einen simplen Ollie auf die Reihe kriegst,” scherzte Yuri und lachte. Jayson schaute mürrisch drein.
“Ollies sind nun mal nicht meine Stärke,” nuschelte er. Sie verliessen zusammen den Skaterpark, nicht ohne vorher einen kurzen Blick zu den Mädchen auf der Reling zu werfen.
“Die werden schon immer hübscher nicht?”, sagte Jayson und winke den Mädchen fröhlich zu, die hinter hervorgehaltener Hand kicherten. Yuri zischte und schleifte ihn zügig davon, nicht ohne selbst verschmitzt zu lachen. ‘Wo er recht hatte, hatte er recht’, gestand sich Yuri ein.
Sie liefen den Kiesweg entlang, bogen auf die Hauptstrasse ein und schlenderten durch einige verwinkelte Gässchen, bevor sie in das Wohnquartier kamen, in dem Yuris Familie lebte. Mit einem Handschlag verabschiedeten sich die beiden.
“Bis morgen,” sagte Yuri.
“Bis morgen. Ich hoffe immer noch, dass Frau Eberhart irgendwann zufälligerweise von einem Auto überfahren wird. Ich halte keine weiteren zwei Wochen mit dieser schrecklichen Mathematiklehrerin aus.”
Yuri nickte und rollte die Augen. Frau Eberhart war eine absolute Katastrophe. Er winkte Jayson zum Abschied und lief ins Haus.
In der Küche erwarteten ihn bereits seine Mutter und sein Vater. Beide sassen an einem massiven Eichentisch. Hinter ihnen köchelten zwei Töpfe auf dem Herd - einer mit Nudeln, der andere mit Erbsen und Karotten - und in einer Bratpfanne brutzelten drei Kalbskoteletten.
“Hallo”, rief Yuri während er seine Schuhe beim Eingang abstreifte und sein Skateboard an die Wand unter die Garderobe stellte. Der Eingangsbereich ihres Hauses war mit einem schmalen, gewobenen Laufteppich ausgelegt. Daneben führte eine knarrende Holztreppe in den oberen Stock. Am Ende des Korridors ging dieser türlos in die geräumige Küche über. In der Küche war alles ordentlich sortiert und verstaut. Grosse Einmachgläser thronten auf dem hölzernen Regal über der Küchenzeile und beim Fenster standen frische Kräuter.
“Hallo Yuri. Du bist spät dran. Es ist bereits sieben Uhr”, murrte sein Vater. Dieser hatte kurze Haare, die trotz seinen 56 Jahren bereits komplett ergraut waren. Er trug ein weisses Hemd, bei dem er nach einem langen Arbeitstag die obersten zwei Köpfe gelöst hatte. Sein Jackett und die Krawatte hingen über dem Treppengeländer neben der Haustür.
“Ich wollte Jayson noch meinen neuen Trick zeigen, den ich in letzter Zeit so viel geübt habe”, erklärte Yuri.
Seine Mutter winkte freundlich ab und meinte: “Ist schon okay. Willkommen Zuhause mein Schatz”. Sie drückte ihren Sohn an sich und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Augenrollend duldete Yuri diese mütterliche Geste. Er hatte ihr bereits zu genüge gesagt, sie solle diese Küsserei sein lassen. Doch sie wollte nicht hören - Mütter eben. Ihr schien dieses Begrüssungsritual viel zu bedeuten und so liess Yuri es mit einem Seufzer über sich ergehen.
“Dass du dir nur nicht das Genick brichst bei deinen waghalsigen Verrenkungen”, sagte Eric und schaute seinen Sohn über den Rand seines Wirtschaftsmagazins forsch an. “Ich habe keine Lust dich demnächst im Krankenhaus zu besuchen. Und zieh die Mütze aus, wenn du im Haus bist.”
“Ich pass schon auf. Und das sind keine Verrenkungen! Ich mach’ ja kein Ballett!”, schnaubte Yuri, klatschte sein Cap auf den Tisch und wuschelte sich durch die Haare.
Susanna lachte. “Sei nicht so streng Eric. Du warst in seinem Alter doch genauso draufgängerisch. Nur dass du damals mit deinem immer glänzenden Fahrrad unterwegs warst.”
“Das stimmt, aber ein Fahrrad war damals auch ein normales Fortbewegungsmittel. Sonst wäre ich ja nie zu unseren Treffen am Waldrand gekommen und hätte dich nie kennengelernt, Susanna.”
Susannas Augen strahlten und sie kicherte.
Yuri rollte mit den Augen und trat vor den Herd. “Wann ist das Essen fertig?”
“Es sollte jeden Moment so weit sein”, antwortete seine Mutter. Ihr hüftlanges, braunes Haar, welches sie locker mit einer Haarklammer zusammengebunden hatte, warf sie nach hinten, erhob sich vom Stuhl und lief zur Küchenzeile. Sie trug ein himmelblaues, knielanges Kleid. Um die Hüfte hatte sie sich eine weisse Schürze geschnürt, die bereits den ein oder anderen Fleck vom Kochen aufwies. Mit einer Holzkelle kostete sie eine Nudel, nickte zufrieden und goss das Wasser ab.
Während seine Mutter das Essen anrichtete, nahm Yuri rechts von seinem Vater am Esstisch Platz und hängte seinen Sportbeutel über die Stuhllehne. Schweigend beobachtete er seine Mutter, die ihre Hände an der weissen Schürze abwischte, bevor sie die heissen Teller mit einem Lappen zwischen Hand und Teller servierte. Eric klappte sein Magazin zu und dankte seiner Frau fürs Kochen. Nachdem sich alle einen guten Appetit gewünscht hatten, begann die kleine Familie zu essen. Eric erzählte von seinem Arbeitstag im Büro. Thema Nummer eins der Endlosschlaufe war sein immerzu nervender Chef, der anscheinend täglich einen unsäglichen Stress im ganzen Team auslöste. Susanna nickte verständnisvoll, aber Yuri hatte die alte Leier langsam satt. Jeden Abend erzählte sein Vater nur, wie schrecklich sein Arbeitstag war.
‘Wenn es wirklich so schlimm dort ist, soll er sich endlich einen neuen Job suchen. Ich werde jedenfalls nie so enden,’ dachte Yuri genervt und stocherte in seinen Erbsen rum.
Als sie alle fertig gegessen hatten, dankte Yuri seiner Mutter für das Abendessen. Er nahm seine Cap und seinen Sportbeutel und stieg die Treppe zu seinem Zimmer hoch. Kaum hatte er die Zimmertür hinter sich geschlossen, legte er seine Sachen auf den Bürostuhl, warf sich aufs Bett und atmete tief durch.
Sein Zimmer war spärlich eingerichtet. Ein Bett aus Holz mit schwarzer Leinenbettwäsche stand in der Ecke unter dem Fenster. An dessen Fussende, neben der Tür, ragte sein ebenfalls hölzerner Kleiderschrank empor. Seitlich zum Schrank stand ein schwarzer Schreibtisch mit einem Gaming-Computer und einem 34 Zoll-Monitor, sowie eine Maus und Tastatur, dessen Tasten bei der Benutzung leuchteten. Daneben stapelten sich Schulunterlagen kreuz und quer. Auf dem Boden lagen dreckige Klamotten verstreut und an der Wand hingen ein Poster von Tony Hawk, Yuris Vorbild in Sachen Skateboarding, und das einer hübschen Brünette in Reizwäsche und sexy Pose.
Yuri drehte den Kopf zur Seite und schaute zu seinem Rucksack, in dem noch immer seine Hausaufgaben auf ihn warteten. Seine Laune verdüsterte sich. “Scheiss Schule! Als könnte ich meine Zeit nicht besser verwenden,” murrte er und liess seinen Blick weiter durch den Raum gleiten. Ein Foto in einem schwarzen Bilderrahmen, das über seinem Pult an der Wand hing, zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Es zeigte Yuri, als er ungefähr vier Jahre alt war, auf dem Rücken eines schlaksigen Jungen mit schwarzen kurzen Haaren. Der Junge war um die dreizehn Jahre alt und war mitsamt Yuri auf dem Rücken in die Luft gesprungen, als das Foto geschossen wurde. Beide Brüder lachten. Yuri verkrampfte sich und drehte sich auf die Seite, sodass er nun die blanke Wand anstarrte.
Yuri wusste nicht wieso, aber sein neun Jahre älterer Bruder Nino war von einem Tag auf den anderen verschwunden gewesen. Yuri war damals gerade von seinem Klassenlager nach Hause gekommen und hatte seine Sachen in sein Zimmer gebracht, als der Anruf kam. Er hatte seinen Vater noch nie derart ausser sich in den Hörer schreien gehört. Seine Mutter stand weinend neben Eric, als Yuri sich traute einen Blick die Treppe hinunter zur Küche zu werfen. Tränen rannen ihr die Wange herunter und sein Vater war feuerrot im Gesicht. “Das geschieht dir ganz recht! Das ist das dümmste, dass du jemals in deinem Leben gemacht hast! Das übertrifft alles! Unglaublich ist das! Einfach unerhört! Nie mehr verwickelst du meine Familie in deine schmutzigen Geschäfte! Verschwinde und lass dich hier nie wieder blicken! Du wirst Yuri und meine Frau nicht in diese Machenschaften hineinziehen. Ich hätte mir nie zu träumen gewagt, dass du so tief sinken würdest. Bleib uns nur fern!”
Und mit diesen Worten knallte sein Vater den Hörer auf die Gabel, des antiken Telefons seiner Grosseltern.
Seit diesem Tag hatte Yuri weder seinen Bruder gesehen noch von ihm gehört. Inzwischen waren sieben Jahre vergangen. Seine Eltern wollten ihm bis heute nicht erklären was genau vorgefallen war und schwiegen das Thema tot, als ob Nino nie existiert hätte. Jedes Mal, wenn er seine Eltern auf Nino ansprach, schimpfte sein Vater los, dass dieses Thema längst beendet sei und seine Mutter schaute traurig zu Boden. Irgendwann hatte Yuri es aufgegeben weiter nach ihm zu fragen. Alles was sie ihm erzählt hatten war, dass Nino in ziemlichen Schwierigkeiten gesteckt hatte und dann einige Zeit im Gefängnis war. Mehr wusste Yuri bis heute nicht.
Nino hatte nie die Möglichkeit gehabt sich mit Yuri in Verbindung zu setzen, da seine Eltern jeden Kontaktversuch unterbunden hatten. Yuri glaubte - hoffte jedenfalls, dass dem so war und Nino ihn nicht einfach vergessen hatte. Seinem Vater hätte er dies jedenfalls zugetraut und seine Mutter würde sich nicht gegen diese strikte Entscheidung Ihres Ehemanns stellen - auch wenn es ihr das Herz brach. "Es ist zu deinem Besten. Dein Vater weiss schon was er tut", hatte sie gepflegt zu sagen, wenn Yuri sie während Erics Abwesenheit zu Nino ausquetschen wollte. Yuri glaubte ein gewisses Schuldgefühl und Sehnsucht in ihrer Stimme zu hören, aber sie liess sich nicht erweichen. Die Überlegung, dass Nino seine Familie aus eigenem Willen verlassen hatte, konnte und wollte sich Yuri nicht vorstellen.
Yuri und Nino waren damals unzertrennlich gewesen und Yuri hatte seinem grossen Bruder in jeglicher Hinsicht nachgeeifert. Irgendwann wollte er mal so cool und frei wie Nino sein. Zudem hätte niemand Nino davon abhalten können, regelmässig bei Yuri nach dem Rechten zu schauen, mit Yuri zuspielen, oder mit ihm zusammen die Gegend unsicher zu machen. Einmal hatten sie mächtig Ärger bekommen, als sie um ein Haar ein Buschfeuer im Garten der alten Nachbarin entfacht hätten. Sie wollten ein kleines Feuer zum Braten ihrer Würste anzünden, doch sie hatten vergessen eine Schutzmauer aus Steinen zu legen, die das Feuer in Schach hielt. Unglücklicherweise hatte es seit Tagen nicht mehr geregnet und das dürre, hohe Gras nebenan fing Feuer. Die Flammen konnten sie glücklicherweise mit dem Gartenschlauch vom Sitzplatz der Nachbarin löschen. Trotz allem hatten sie grossen Ärger gekriegt, zumal die alte Frau sowieso nicht zur kinderlieben Sorte gehörte. Nichtsdestotrotz hatten Nino und Yuri nie etwas wirklich Schlimmes angestellt und waren immer mit einem blauen Auge davongekommen.
Hatte Nino diese Grenze vor sieben Jahren vielleicht doch überschritten? Yuri wusste es nicht. Eine einsame Träne rollte ihm die Wange hinunter, die er sogleich wegwischte. Es nervte ihn, dass der Gedanke an Nino noch immer einen wunden Punkt traf.
Yuri setzte sich auf, fuhr sich mit der Hand durch die Haare und setzte sich an den Schreibtisch. Er kramte nach seinem Rucksack, zog einen Kugelschreiber aus der Schublade und machte sich daran seine Hausaufgaben zu erledigen. Nachdem er eine halbe Stunde später immer noch auf ein weisses Papier schaute und die Seite des Mathematikbuchs vom vielen hin und her blättern langsam zerfleddert aussah, schmiss er seine Schulsachen zurück in den Rucksack und stapfte ins Bad. Er putzte sich wütend die Zähne und verkroch sich danach unter der Bettdecke. Er wälzte sich noch lange hin und her, bevor er endlich einschlief.
Das schrille Piepsen des Weckers riss Yuri aus dem Schlaf. Mit verquollenen Augen tasteten seine Finger auf dem kleinen Nachttisch umher. Mit einem festen Schlag auf den Störenfried, verstummte das Piepsen. Ächzend setzte sich Yuri auf und rieb sich die Augen. Es war sieben Uhr. Schleppend machte er sich ans Anziehen. Er ging ins Bad, kämmte sich die Haare, setzte seine Cap auf und schlurfte die Treppe hinunter in die Küche.
Seine Mutter hatte ihm eine Schüssel mit Cornflakes bereitgestellt, bevor sie, wie jeden Morgen, im kleinen Dorfladen am Rande der Stadt aushalf. Sein Vater fuhr bereits um sechs Uhr morgens ins Büro in der Innenstadt. Yuri nahm eine Packung Milch aus dem Kühlschrank, kippte sie in die Schüssel und ass müde sein Frühstück. Zombiemässig schleifte er sich wieder hoch ins Bad und begutachtete seine Augenringe im Spiegelbild. Er putzte sich die Zähne, als es auch schon an der Tür klingelte. Er warf sich den Rucksack über die Schultern und rannte zur Tür.
Jayson erwartete ihn missmutig mit den Händen in den Hosentaschen. Mit dem rechten Fuss stand er auf seinem Skateboard und rollte es vor und zurück.
“Können wir gehen?”, fragte er. Yuri nickte, nahm sein eigenes Skateboard und verschloss die Haustür hinter sich.
Auf dem Weg zur Schule beschwerten sich die beiden Jungs über die kommende Mathematikstunde.
“Ich habe die Aufgaben im Mathebuch überhaupt nicht verstanden! Nach einer Stunde habe ich aufgegeben. Ich habe ja eh alles falsch gelöst,” meckerte Jayson und griff genervt in sein schwarzes, gekräuseltes Haar.
“Immerhin kannst du Frau Eberhart überhaupt etwas abgeben… Von mir erhält sie nur ein weisses Stück Papier,” erwiderte Yuri bedrückt.
“Waaas?”, sagte Jayson entsetzt. “Die reisst dich in Stücke, wenn du wieder mit leeren Händen auftauchst! Das weisst du, oder?”
“Na dann lass mich doch von dir abschreiben!”
“Dann kannst du ebenso gut nichts abgeben…”
Lauthals diskutierend, setzten sie ihren Weg zum Schulhaus fort.
Als sie das Klassenzimmer betraten, merkten sie sofort, dass etwas nicht stimmte. Die Tische waren auseinandergeschoben worden und ihre Mitschüler tauschten bereits nervöse Blicke aus. Dies konnte nur eines bedeuten: ein Mathematiktest stand an.
“Oh nein!”, stöhnte Jayson. Yuri hätte laut losheulen können. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Die beiden Jungs schauten sich verzweifelt an und setzten sich zögerlich. Als alle Schüler ihre Plätze eingenommen hatten, verteilte Frau Eberhart einen langen und kompliziert aussehenden Test.
“Auf das wir gemeinsam den Bach runter gehen”, flüsterte Yuri Jayson zu und streckte ihm die Faust entgegen, die Jayson bereitwillig abklopfte.
“Guten Morgen, Klasse,” begrüsste Frau Eberhart ihre Schüler unterkühlt und musterte sie kritisch. “Wie ihr seht, steht heute ein Überraschungstest an.”
Die ganze Klasse stöhnte auf und einige versanken ihre Gesichter in den Händen, während andere verzweifelt auf die Papiere vor ihnen starrten.
Die Lehrerin klatsche einmal in die Hände. “Mault nicht rum, jetzt wird gearbeitet! Gutes Gelingen. Ihr dürft nun beginnen!”
Über eineinhalb Stunden hinweg zermarterte sich Yuri das Hirn, tippte Zahlenkombinationen im Taschenrechner ein und schrieb eine Antwort in das freie Feld. Er blinzelte und schaute erneut auf den Rechner. Er wusste nicht im Geringsten, ob das, was er hier rechnete, überhaupt einen Sinn ergab. Er schielte zu Jayson hinüber. Jayson stützte seinen Kopf auf der linken Hand auf und kreiste mit der anderen Hand den Kugelschreiber um die Finger. Ihm schien es keinen Deut besser zu gehen.
Immerhin musste Yuri nach Ablauf der Zeit kein komplett weisses Papier abgeben. Nachdem Frau Eberhart die Tests eingezogen hatte, sah Jayson aus, wie Yuri sich fühlte. Mit rauchenden Köpfen und einem unguten Gefühl in der Magengrube, schlurften sie auf den Pausenhof.
“Dass sie unbedingt binomische Formeln bringen musste! Ach, ich könnte sie hier und jetzt erwürgen”, stöhnte Yuri.
“Psst, nicht so laut! Die hört dich noch und lässt dich am Ende noch nachsitzen”, raunte Jayson und spähte zum Lehrerzimmer. Das Fenster stand offen und einige Gesprächsfetzen der Lehrer wehten herüber.
“So ein Teufel…”, klagte Yuri und war dem Fenster einen finsteren Blick zu.
Sie setzten sich auf eine steinige Bank zwischen zwei Eschen, die ihnen Schatten spendeten. Nach einer Weile erweckte eine Gestalt beim Gatter des Schulgeländes Yuris Aufmerksamkeit. Hinter den eisernen Gitterstäben stand ein hochgewachsener, schlaksiger junger Mann. Er kam ihm irgendwie bekannt vor, doch er konnte nicht genau zuordnen woher. Offenbar schien dieser gemerkt zu habe, dass Yuri ihn musterte und winkte ihm zu.
“Kennst du den Typen?”, fragte Jayson überrascht, der Yuris Blick gefolgt war.
“Keine Ahnung…” Yuri versuchte die Person genauer zu erkennen und kniff die Augen zusammen.
Die Schulglocken klingelten. Nach ein paar Sekunden wandte sich Yuri schulterzuckend ab und die beiden Freunde liefen gemeinsam zurück ins Schulgebäude. An den steinernen Stufen zum Portal, warf Yuri nochmal einen kurzen Blick über die Schultern. Der Mann stand immer noch am Gatter.
Zurück im Klassenzimmer versuchte Yuri vom Fenster aus, eine gute Sicht aufs Gatter zu bekommen. Da er und Jayson sowieso immer in den hintersten Reihen, bevorzugt am Fenster, sassen, schien niemand zu merken, dass Yuri noch unachtsamer dem Unterricht folgte als sonst.
Der Geographielehrer begann zu reden. Doch nach fünf Minuten sagte dieser: “Yuri! Hier spielt die Musik! Der Unterricht hat angefangen” und schnippte mit den Fingern. Widerwillig wandte sich Yuri vom Fenster ab und schaute auf die Projektion auf der Leinwand. Sie zeigte den Wandel von Gletschern über die letzten Jahrzehnte hinweg. Die Minuten krochen dahin und immer wieder wanderten Yuris Augen zum Fenster und hinunter zum Schulgatter. Der schwarzhaarige Mann ging nun am eisernen Tor auf und ab.
‘Was will der bloss?’, fragte sich Yuri. ‘Der führt doch irgendwas im Schilde…’
Er stupste Jayson mit dem Ellenbogen an und nickte seitwärts zum Fenster hinüber. Neugierig reckte Jayson den Hals und spähte durch die Glasscheiben.
“Glaubst du der wartet auf jemanden?”, flüsterte Jayson.
“Gut möglich. Ich würde jedenfalls nicht einen ganzen Morgen grundlos vor der Schule verbringen wollen,” tuschelte Yuri.
“Er ist aber schon etwas unheimlich… Der sieht aus, als hätte er irgendwie Dreck am Stecken”, spekulierte Jayson.
“Würden die Herren nun endlich dem Unterricht mehr Aufmerksamkeit schenken als den blühenden Blümchen draussen?”, ermahnte sie der Lehrer. Die Mitschüler kicherten und die beiden verstummten.
Als die Stunde zu Ende war, schulterten sie Ihre Rucksäcke und liefen auf den Pausenhof. Sie gingen zögerlich weiter in Richtung Gatter, um zur Schulkantine zu gelangen. Yuri konnte sich die ganze Zeit nicht von dem Gedanken lösen, dass er den schwarzhaarigen Mann irgendwoher kannte, auch wenn er ihn zuvor nur aus der Ferne gesehen hatte. Dieser stand noch immer am Wegrand hinter dem Tor. Er schaute gerade auf sein Handy und die beiden Jungs versuchten einen Bogen um den merkwürdigen Mann zu machen. Als sie sich ihm näherten, hob dieser allerdings den Kopf und lächelte sie freundlich an. Yuri blieb wie angewurzelt stehen. Jetzt wusste er wer dieser Mann in den ausgebeulten Klamotten und den eingefallenen Augen war: Es war sein neun Jahre älterer Bruder Nino.
Yuri traute seinen Augen nicht. Die sieben vergangenen Jahre hatten Nino definitiv geprägt. Er war schlaksig, hatte hohe Wangenknochen und eingefallene, dunkle Augen. Er schien merklich an Gewicht verloren zu haben. Nichtsdestotrotz wirkte er durch seine braungebrannte Haut und die trainierten Arme nicht kränklich. Er trug eine zerbeulte, schwarze Lederjacke über dem ausgewaschenen, dunkelgrauen Tanktop, dazu olivfarbene Stoffhosen. Er hatte sich verändert, doch es war unverkennbar Yuris älterer Bruder.
Ninos Gesicht hellte sich auf, als Yuri ihm in die Augen sah und er merkte, dass sein kleiner Bruder ihn erkannt hatte.
“Hallo Yuri”, sagte Nino und machte einen Schritt vorwärts. Seine tiefe, heisere Stimme drang in Yuris Ohren und hallte dort nach. Nino lächelte, sagte aber nichts weiter.
‘Hallo Yuri? Ist das dein ernst? Ist das alles, was du mir sagen willst?’, schoss es Yuri durch den Kopf. Mit weit geöffneten Augen starrte er Nino fassungslos an. Dann brach es auch ihm heraus: “Was zur Hölle denkst du dir eigentlich! Nach all den Jahren tauchst du ohne Vorwarnung hier auf? Ohne dass ich je ein Wort von dir gehört hätte?” Yuri hob die Hände und machte wegweisende Gesten in der Luft. “Du hattest nicht einmal die Eier, dich vorher anzukündigen, sondern schleichst wie ein verdammter Penner um die Schule herum! Du wolltest mich all die Jahre nicht sehen? Sorry, aber jetzt will ich dich nicht sehen. Verpiss dich!”, schrie Yuri seinen Bruder an und machte auf dem Absatz kehrt und stürmte zur Kantine. Er wollte so schnell wie möglich fort von hier, raus aus dieser surrealen Situation. Ninos Lächeln gefror.
“Jayson, komm!”, rief Yuri ohne sich noch einmal umzudrehen. Er konnte es immer noch nicht fassen. Er war verwirrt und aufgewühlt. Er musste träumen. Yuri und Jayson waren erst einige Meter weit gelaufen, als Nino sie einholte und Yuri an der Schulter packte. Jayson sah Yuri fragend an. Offenbar schien er nicht recht zu wissen, wie er mit dieser Situation umgehen und inwieweit er sich überhaupt einmischen sollte. Dennoch wollte er seinen besten Kumpel unterstützen, auch wenn es schwer war zu sagen, wie die gewünschte Unterstützung aussah. Jayson schaute unsicher von Yuri zu Nino und wieder zurück.
“Was willst du?”, fauchte Yuri und drehte sich zu Nino um.
Nino holte tief Luft und sagte: “Ich weiss, ich habe mich lange nicht bei dir gemeldet…”
“Das hast du allerdings nicht!”
“Hör zu. Es war nicht meine Schuld, dass ich mich nicht bei dir melden konnte. Unsere Eltern -”
“Nun hör aber auf! Jetzt musst du garantiert nicht Mama und Papa die Schuld in die Schuhe schieben, nur weil du Scheisse gebaut und dich verpisst hast!”, fuhr Yuri ihn an. Er wusste, dass er unfair war, aber die Emotionen der letzten Jahre kochten in ihm hoch; Angst, Trauer, Unverständnis und letztendlich Wut. Und mit Wut konnte er umgehen. Wut half ihm diese bittere Erfahrung zu verarbeiten. Jetzt, wie auch in den vergangenen Jahren seit Ninos Verschwinden. Und darauf stützte er sich jetzt.
“Yuri, hör mir zu. Ich wollte mich wirklich bei dir melden. Bitte glaub’ mir das. Ich kann dir alles erklären!”, versuchte Nino seinen jüngeren Bruder zu beschwichtigen.
“Na, auf diese Erklärung bin ich ja mal gespannt”, sagte Yuri trotzig und verschränkte die Arme vor der Brust. “Na los, spuck’s aus. Was ist deine ach-so-tolle Ausrede? Was hat dich so Spektakuläres davon abgehalten, jahrelang dein Handy, oder von mir aus ein Stück Papier und einen Kugelschreiber, aus der Tasche zu holen und ein Lebenszeichen von dir zu geben?”
“Das kann ich dir jetzt nicht alles erklären… Nicht hier, nicht jetzt...”, sagte Nino kleinlaut und blickte beschämt zu Boden.
Yuri lachte laut auf und spottete: “Kannst du nicht? Brauchst wohl noch Zeit, um dir eine Ausrede einfallen zu lassen!”
Nino ballte seine Hände zu Fäusten und sagte mit zitternder Stimme: “Du musst mir jetzt einfach vertrauen. Einige Dinge, die passiert sind, liessen es besser erscheinen, mich erstmal nicht bei dir zu melden. Aber lass uns das bitte in Ruhe bereden. Wie wäre es heute Nachmittag nach Schulschluss? Ich warte um fünf Uhr beim Café Heide auf dich.”
“Haha, da musst du aber lange warten! Dann spürst du selber, wie es ist, wenn man sieben Jahre vergebens auf jemanden wartet”, spottete Yuri.
“Es ist deine Entscheidung, ob du kommen möchtest oder nicht. Ich werde jedenfalls dort sein und auf dich warten”, sagte Nino ruhig, doch er wirkte etwas geknickt.
“Zieh Leine. Ich bin die letzten Jahre gut ohne dich klargekommen.” Und mit diesen Worten wandte sich Yuri ab und lief davon. Jayson warf Nino nochmals einen Blick zu, der mit hängenden Schultern dastand und ihnen traurig nachschaute, und folgte dann Yuri.
Im Eilschritt lief Yuri den Weg zur Kantine hinunter. Jayson hatte Mühe mit ihm Schritt zu halten. “Was war das denn eben?”, fragte Jayson und holte auf.
“Nichts!”, erwiderte Yuri zornig.
“Hey Mann, ich weiss, dass das dein Bruder war…”
Yuri drehte sich zu ihm um und fuhr in an: “Dann weisst du auch, dass er seit vielen Jahren für mich gestorben ist!” Yuri biss sich auf die Lippe und schaute rasch weg. Er spürte wie ihm die Tränen in die Augen schossen, schaute gen Himmel und blinzelte sie weg.
“Bro, wenn ich irgendetwas für dich tun kann, dann sag Bescheid, ja?”, meinte Jayson sanft und klopfte ihm auf die Schulter. Yuri schluckte und nickte kurz.
“Lass uns was zu essen holen” sagte Yuri.
Sie liefen zum Buffet und taten sich von allem etwas auf. Sie fanden zwei freie Plätze am Ende eines langen Tisches und setzten sich. Jayson schaufelte sich bereits hungrig Kartoffelpüree in den Mund, doch Yuri starrte nur auf seinen gehäuften Teller. Der Appetit war ihm komplett vergangen. Jayson schaute ihn mit seinen braunen Augen immer wieder von der Seite an.
Nach einer Weile meinte Jayson kleinlaut: “Vielleicht ist es gar keine schlechte Idee, wenn du heute nach der Schule mal zur Heide gehst…”
Yuri antwortete nicht und stocherte weiter in seinem Essen herum. War es wirklich eine gute Idee? Wollte er überhaupt erfahren, was damals geschehen war? Seine Eltern hatten peinlich darauf geachtet ihn in nichts einzuweihen, in der Hoffnung ihn so schützen zu können. Auch wenn Yuri mehr unter der Unwissenheit gelitten hatte, als dass es ihm geholfen hätte; Er war nun - so kurz davor - nicht sicher, ob er überhaupt noch hören wollte, was geschehen war. Würde er die Wahrheit verkraften? War er überhaupt bereit dazu?
Die Mittagspause reichte nicht aus, um seine Gedanken zu ordnen und ein Nachmittag war definitiv zu kurz, um sich für eine solche Begegnung zu wappnen…
Die Tische der Mensa leerten sich langsam und Yuri war noch immer unschlüssig. Es war kurz vor halb zwei und die Schüler kehrten in ihre Klassenzimmer zurück. Auch Yuri und Jayson erhoben sich. Es war eine der schweigsamsten Mittagspausen seit jeher gewesen. Eher ungewohnt für die beiden Freunde, die sich sonst immer viel zu erzählen hatten. Yuris gesprächige Ader zeigte sich fast nur im Beisammensein mit Jayson, den er bereits seit der ersten Klasse kannte. Dieser Junge mit seiner dunkelbraunen, fast schon schwarzen Haut, den braunen Augen und dem schwarzen, gekräuselten Haar hatte Yuri einen starken Halt gegeben, als Nino verschwunden war. Seine Eltern hatten sich damals dauernd gestritten und Susanna war nach dem Streit jeweils schluchzend ins Schlafzimmer gerannt. Seine Eltern hatten alles über den Vorfall zu verheimlichen versucht, ja sogar Ninos simple Existenz wurde totgeschwiegen. Dass sich Yuri dadurch noch verlassener und trostlos fühlte, schienen sie nicht bemerkt zu haben. Auf Jayson war aber immer Verlass gewesen. So hatten sie jeden Tag nach der Schule noch einige Stunden auf dem Skaterpark verbracht, bevor sie schliesslich doch zum Abendessen nach Hause mussten. Jayson wusste immer die richtigen Worte zu wählen und hatte ein Gespür dafür, wann er Yuri auf eine Sache ansprechen sollte und wann besser nicht. Er hatte Yuri damals auf andere Gedanken gebracht und dafür war er ihm sehr dankbar gewesen.
Dass Jayson nun der Meinung war, Yuri solle sich heute mit seinem Bruder treffen, hatte für Yuri dadurch eine hohe Gewichtung.
Die beiden Jungs liefen die Treppe zu ihrem Klassenzimmer hoch und Yuri liess die Szene am Gatter nochmal Revue passieren. Es konnte einfach nicht verstehen, wieso sein Bruder ausgerechnet jetzt hier auftauchte. Wieso heute? Wieso nicht vor einigen Jahren schon? Wieso war er überhaupt zurückgekommen?
Während der Schulstunde konnte sich Yuri kaum konzentrieren. Immer wieder schweifte er ab, was bei einer Geschichtsstunde auch nicht weiter verwunderlich war. Jayson warf ihm immer wieder verunsicherte Blicke zu und stiess ihn schliesslich mit dem Ellenbogen an, als der Lehrer einen besonders langweiligen Teil des Versailler Vertrages erläuterte.
"Glaubst du, dass du dich heute Nachmittag wirklich nicht mit Nino treffen willst?”
Yuri zuckte mit den Schultern.
“Ich weiss nicht. Es hat mich so wütend gemacht, dass er wie selbstverständlich heute aufgetaucht ist und mit mir plaudern wollte. Als ob wir uns gestern erst gesehen hätten!”
“Ja schon,” flüsterte Jayson. “Aber es wäre doch interessant zu hören was er zu sagen hat, nicht? Ich meine - es gibt doch sicher einen Grund, warum er ausgerechnet heute zu dir gekommen ist, oder nicht?”
Yuri schaute nach vorne an die Wandtafel, ohne darauf zu achten, was der Lehrer dorthin kritzelte. Yuri überlegte. Eigentlich konnte es wirklich nicht schaden Nino einmal anzuhören. Im Grunde war er ziemlich neugierig auf seine Erläuterungen. Schliesslich wollte er doch genau das, all die vergangen Jahre… Und wenn er nie mit ihm sprechen würde, würde er auch nie die Wahrheit über sein damaliges Verschwinden erfahren. Seine Eltern würden ihm niemals mehr darüber erzählen. Das hatte er bereits zu genüge versucht und immer nur die Antwort “Es ist nur zu deinem Besten” erhalten.
Yuri hatte seinen Entschluss gefasst und flüsterte Jayson aus den Mundwinkeln zu: “Okay. Ich werde hingehen”.
Jayson grinste zufrieden und nickte. “Du musst mir dann unbedingt erzählen, was er dir gesagt hat.”
Yuri hatte das Gefühl, dass Jayson neugieriger auf Ninos Story war, als er selbst. Yuri grinste in sich hinein. Seine Laune hatte sich deutlich gehoben.
Ein schriller Ton läutete das Ende der letzten Schulstunde ein. Yuri nahm sein Skateboard unter dem Tisch hervor und lief zusammen mit Jayson die Treppe zum Schuleingang hinunter. Sie überquerten den Pausenhof und verabschiedeten sich am Gatter. Von Nino war keine Spur mehr zu sehen. Jayson lief ihren gewohnten Schulweg zurück nach Hause und Yuri bog links in Richtung Stadtzentrum ab, wo sich das Café Heide befand.
Während er den Weg entlang schlenderte, vorbei an Gärten und Wohnhäusern, Kebap-Buden und Pärken, fragte er sich, wie das Treffen wohl ablaufen würde und was er zu ihm sagen wollte. Wie sollte er ihn überhaupt begrüssen? Eine Umarmung? Ein Handschlag? Und welchen Handschlag denn nur?
Yuris Wut über seinen Bruder war nun Unsicherheit gewichen. ‘Was sagt man zu seinem Bruder nach sieben Jahren des Schweigens?’, überlegte er. Er wollte wissen, was damals passiert war, wieso er sich nie gemeldet hatte, wo er die letzten Jahre gewesen war und insbesondere, was so Schlimmes passiert war, dass ihn seine Eltern nicht einmal einweihen wollten. Aber wie spricht man ein solches Thema am besten an?
"Nun, eigentlich ist das ja Ninos Problem und nicht meins. Er muss schliesslich mit der Sprache herausrücke”, sprach Yuri leise zu sich selbst und stieg auf sein Skateboard.
Es dauerte nicht lange, bis er schliesslich einige Meter vor dem Café Heide anhielt. Eine kühle Brise blies ihm durchs Haar. Er schauderte, wusste aber nicht, ob dies wirklich vom Wind kam, denn er hatte durch ein Fenster seinen Bruder erspäht. Dieser sass an einem eckigen Tisch mit rot-weiss kariertem Tischtuch und hölzernen Caféstühlen und beobachtete eine pummelige, ältere Frau hinter dem Tresen beim Geschirr Abtrocknen. Yuri holte tief Luft und betrat das Café.
Nino drehte den Kopf zur Tür und ein Strahlen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Auch Yuri kam nicht umhin ein wenig zu lächeln.
“Schön, dass du doch gekommen bist Yuri!”, rief Nino und winkte seinen Bruder heran, als er sich zögerlich dem Tisch näherte.
“Setz dich”, bot ihm Nino an und wies auf einen Stuhl ihm gegenüber. Verhalten nahm Yuri Platz und knetete seine Hände im Schoss.
“Hast du Hunger? Oder vielleicht Durst? Du kannst bestellen was du willst. Ich lad dich ein,” offerierte Nino. Yuri schüttelte den Kopf. In Wahrheit war er so aufgeregt, dass er glaubte, jedes Lebensmittel, welches den Weg in seinen Magen fände, innert Kürze den Rückwärtsgang einlegen würde. Yuri hob den Kopf und schaute kurz auf Nino. Als dieser seinen Blick erwiderte, wandte er den seinen sogleich wieder ab. Er überlegte was er sagen sollte, doch ihm fiel nichts Passendes ein. Er