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"Nixenjunge" ist die Geschichte eines 16jährigen Teenagers auf der Suche nach sich selbst. Hannah heißt laut Ausweis Konstantin und kam mit männlichen Geschlechtsmerkmalen zur Welt. Jahrelang hat Hannah unterdrückt, dass sie wie ein Mädchen denkt und fühlt. Als sie an einem Casting für weibliche Nachwuchsmodels teilnimmt, ist es für Hannah der schönste Moment ihres Lebens. Doch ein halbes Jahr später sieht alles anders aus. Hannah hat versucht, sich das Leben zu nehmen. Während ihre Familie vor dem Rätsel steht, wie es zu dem tragischen Suizidversuch kommen konnte, wagt Hannah einen Neuanfang. Sie entschließt sich zur Teilnahme an einem Ferienlager für transgeschlechtliche Jugendliche, das an einer geheimnisvollen Lagune an der Ostsee stattfindet. Wird Hannah dort glücklich werden?
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Seitenzahl: 242
Veröffentlichungsjahr: 2022
ADRIENN BICKENBACH
nixenjunge
ADRIENN BICKENBACH
nixenjunge
Roman
Copyright © 2021 Adrienn Bickenbach
1. Auflage
Autor: Adrienn Bickenbach
Umschlaggestaltung: Ingeborg Helzle, www.ihgk.de
Covermotiv: istockphoto.com
Lektorat: Kathrin Jurgenowski
ISBN Softcover: 978-3-347-45955-7 ISBN Hardcover: 978-3-347-45956-4 ISBN E-Book: 978-3-347-45969-4
Druck und Distribution im Auftrag des Autors: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.
A friend is someone who gives you total freedom to be yourself.
Jim Morrison
1
Das Casting
„Ich bin unsichtbar.“
Während Konstantin im Warteraum der Modelagentur auf das tote Display seines Smartphones starrte, stürzte der Satz plötzlich aus seinem Mund. Diese drei Worte schienen alles zu erklären. Die Tatsache, dass Antonia ihm zum sechzehnten Geburtstag LED-Handschuhe und ein tailliertes T-Shirt mit Superman-Motiv geschenkt hatte. Dass er sich seit Wochen morgens übergab und ständig an Gewicht verlor. Die beiden Slips mit Schleifchen unter seinem Bett. Den Streit seiner Eltern über den Austritt aus dem Schwimmverein. Dass YouTube ihm neuerdings Schminktutorials empfahl. Die Silvesterparty einer Klassenkameradin, bei der er um Mitternacht in Lederklamotten auf einem Schneehaufen gehockt hatte, während neben ihm zwei bekiffte Filmstudenten darüber philosophierten, welche Sorte Mädchen am besten blasen konnte. Und nun vor einer Woche im „Matrix“ diese völlig bescheuerte Einladung zum Modelcasting. Drei Worte, sechzehn Buchstaben, waren der perfekte Grund dafür, dass sein Leben von allen unbemerkt aus der Spur lief.
„Sascha kommt gleich.“
Das blasse, langhaarige Mädchen mit den Okapiaugen, das ihn aus seinen Gedanken riss, war kaum älter als er. Sie trug einen Minirock und ein T-Shirt mit der Aufschrift „Ultraviolence“. Artig bedankte sich Konstantin für das große Glas Wasser, das sie mit einem kühlen Lächeln vor ihm auf den Marmortisch stellte, bevor sie auf ihren zehn Zentimeter hohen Gladiator-High-Heels zurück zum Empfang stolzierte. Er nippte an dem Wasser und lauschte, wie das Mädchen auf Englisch wegen einer Hotelbuchung für die Berlin Fashion Week telefonierte. Hinter der Fensterwand zeichnete die dunstige Januarsonne den Umriss der Skyline in den Horizont. Elf Stockwerke tiefer staute sich der Nachmittagsverkehr.
„Konstantin?“
Er fuhr herum. Vor ihm stand Sascha Petrenko.
„Schön, dass du noch gekommen bist.“
„Mein Zug ist ausgefallen. Ich hätte angerufen, aber mein Akku ist kaputt.“
„Du bist heute nicht der Einzige, der zu spät ist. Ein Scout hat sich mit der Uhrzeit vertan. Unser Fotograf hat gerade erst angefangen.“
Sie gaben sich die Hand. Sascha trug einen Designeranzug mit silberner Krawatte und bändigte seine Korkenzieherlocken mit einem Haargummi. Er wirkte älter als bei ihrer ersten Begegnung im Club und deutlich angespannter.
„Ich zeig dir erst mal ein bisschen was von Chrome. Nimm dein Wasser mit, wenn du willst.“
Konstantin steckte sein Smartphone ein, nahm das Glas und folgte Sascha durch die Agentur. Von den Wänden strahlten männliche und weibliche Models auf gerahmten Schwarz-Weiß-Postern. In Designerregalen aus Edelstahldraht stapelten sich Look-Books und Fashion-Magazine neben Jugendzeitschriften und Bekleidungskatalogen. Sascha erklärte, dass Chrome zu den jüngsten und erfolgreichsten Modelagenturen Deutschlands gehörte. Sie sei erst vor zwei Jahren gegründet worden, aber die Models seien bereits europaweit gefragt, in London, Paris und Mailand. Und bald sogar in New York.
„Komm, ich stell dir Alain und Nancy vor.“
Sascha blickte auf die Uhr und ging schneller.Konstantin hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Sie betraten einen großen Raum, der an ein Fernsehstudio erinnerte. Scheinwerfer tauchten die Wände in grelles, zuckeriges Licht, und in der Mitte erstreckte sich ein improvisierter Catwalk aus Kunststoffplatten. Eine Wand war mit anthrazitfarbener Papiertapete abgehängt. Vor der Tapete räkelten sich fünf junge Frauen und Männer in Abendgarderobe auf einem weißen Ledersofa, während sie von einem Fotografen umkreist wurden. Eine Blondine mit Schminktasche über der Schulter schaute regungslos zu.
„Habt ihr die Einzelaufnahmen der New Faces schon gemacht?“, fragte Sascha, als der Fotograf eine Pause einlegte und seine Kamera überprüfte.
„Wir sind fast fertig.“
„Aber nur fast. Das ist Konstantin.“
Die Blondine trat neben den Fotografen. Konstantin wechselte hektisch das Glas in die linke Hand, um beide zu begrüßen.
„Alain, unser Fotograf. Nancy, unsere Stylistin.“
„Du bist spät dran“, bemerkte Alain.
„Ich weiß“, sagte Konstantin. „Tut mir leid.
“ Alain blickte Sascha an. Der hob entschuldigend die Arme.
„Sein Zug ist ausgefallen.“
Konstantin befingerte sein rechtes Ohrläppchen, was er immer tat, wenn er extrem nervös war. Alle musterten ihn argwöhnisch.
„Was meint ihr?“, fragte Sascha.
Alain kratzte seinen Kinnbart. Er schien alles andere als beeindruckt zu sein.
„Du hattest mir ja von ihm erzählt.“
„Ich finde, er hat eine ganz besondere Ausstrahlung“. sagte Sascha.
„Ausstrahlung hat er zweifellos. Nur –“
„Gibst du Nancy mal das Glas, bitte!“ Konstantin reichte der Stylistin das Wasserglas. Seine Hände zitterten. Er kam sich vor wie eine Skulptur im Kunstunterricht, die von drei Lehrern begafft wurde.
„Wir testen ihn mal. Kümmerst du dich um ihn, Nancy?“, sagte Alain.
Die Stylistin führte Konstantin in einen Nebenraum voll mit fahrbaren Kleiderständern und chaotisch übereinander gestapelten Schuhschachteln. Er öffnete die beiden obersten Knöpfe seines Hemds und setzte sich vor einen mit Glühbirnen umrahmten Spiegel. Während Nancy sein Gesicht puderte und ihm Gel in die Haare schmierte, betrachtete Konstantin im Hintergrund des Spiegelbilds das Poster eines Männermodels. Turmhohe Haartolle. Breite Wangenknochen und Dreitagebart. Der entschlossene Blick eines jungen Großwildjägers, Bergsteigers oder Arktisforschers. Konstantin versuchte, eine Ähnlichkeit zwischen sich und dem Model zu finden, aber er konnte keine entdecken.
„Ich glaube, Alain ist nicht überzeugt von mir.“
„Ach, warte mal ab“, sagte Nancy mit amerikanischem Akzent und zupfte mit einem Kamm eine einzelne Strähne über seine Stirn.
„Aber ich bin nichts Besonderes“, erklärte Konstantin.
„Darling, wenn du eine Stunde zu spät kommst, und Alain schickt dich zum Stylen, ohne dir eine Standpauke zu halten, bist du was Besonderes!“
Als Nancy fertig war, griff sie zielsicher in einen der Kleiderständer und reichte Konstantin ein dunkelbraunes Sakko.
„Zieh das bitte mal über.“
Er zog das Sakko an und betrachtete sich im Spiegel. Er kam sich älter vor. Reifer. Fremder. Unsichtbarer.
Im Studio warteten alle schon auf ihn. Nachdem Alain noch mal seine Kamera kontrolliert hatte, begann das Probeshooting. Konstantin musste sich vor die Tapetenwand stellen und verschiedene Posen einnehmen. „Lazy“ sollte er sein und „genervt“ und „verführerisch“. Er bemühte sich, den Anweisungen zu folgen, aber sein Körper fühlte sich an wie ferngesteuert. Während er mit hoch gezogenen Schultern, um sich kleiner zu machen, über den Catwalk schlich, dachte er an zu Hause. Er hatte seiner Familie nichts von dem Casting erzählt. Nur Antonia wusste von seinem Entschluss, nach Frankfurt zu fahren, nachdem ihm beim Ausziehen Saschas Visitenkarte vor die Füße gefallen war. Begeistert hatte sie ihn mit Tipps aus Germany’s Next Top Model überschüttet: Sei locker! Spiel mit der Kamera! Mach große Schritte! Und während sie auf ihn eingeredet hatte, war ihm immer wieder eine Szene aus der Show durch den Kopf gegangen, in der ein großes Mädchen im roten Bikini und auf High Heels versuchte, vor der Jury auf einer rotierenden Scheibe das Gleichgewicht zu halten. Sie stellte ungelenk die Beine auseinander wie eine Giraffe am Wasserloch und ruderte mit den Armen. Das Bild hatte sich in sein Bewusstsein eingebrannt.
Antonia hatte gebettelt, ihn zum Casting begleiten zu dürfen. Aber das hatte Konstantin aus irgendeinem Grund nicht gewollt.
„Danke, das reicht mir“, sagte Alain jetzt.
Konstantin sah zu den anderen Models herüber, die sich gelangweilt vom Sofa erhoben und den Nebenraum ansteuerten. Er ahnte, was jetzt kam. Ein Händedruck. Wir rufen dich an! Was hatte er eigentlich erwartet?
„Augenblick“, rief Sascha. Er winkte Alain und Nancy herbei. Sie steckten die Köpfe zusammen. Nach einer kurzen Besprechung kam Sascha zu ihm. Er sah aus, als hätte er ein schlechtes Gewissen.
„Wir möchten etwas ausprobieren. Nancy wird dich noch mal neu stylen. Und zwar ein bisschen anders.“
„Wie – anders?“, fragte Konstantin.
„Androgyn.“
„Was heißt das?“
„Männlich und weiblich zugleich.“
Er blickte unsicher zu Nancy. Ihr Lächeln beruhigte ihn etwas. Die anderen Models nahmen wieder auf dem Sofa Platz. Konstantin fragte sich, ob sie die Anweisung bekommen hatten, ihm beim Laufen zuzuschauen.
„Du brauchst keine Angst zu haben“, erklärte Nancy, während sie Konstantin zum zweiten Mal in den Maskenraum führte. „Es passiert nichts Schlimmes.“
Durch die Tür konnte er hören, wie Alain und Sascha miteinander sprachen. Er verstand nicht, um was es ging. Aber kurz darauf richteten sie offenbar eine Frage an die anderen Models, die von allen lautstark und begeistert bejaht wurde.
„Wie groß bist du?“, fragte Nancy. Konstantin hatte nicht den Eindruck, als würde sie diese Information wirklich benötigen.
„Einsfünfundachtzig“, antwortete er.
„Gewicht?“
„Neunundsechzig Kilo.“
Nancy zog eine ärmellose schwarze Bluse und eine Skinny Jeans vom Kleiderständer und reichte sie Konstantin.
„Das soll ich anziehen?“ fragte er.
„Nur, wenn es für dich okay ist. Du musst nicht. Es ist eine Art Test.“
„Was für ein Test?“
„Ob das zu dir passt.“
Konstantin starrte auf die Kleidung. Schließlich nickte er.
„Welche Schuhgröße hast du?“, fragte Nancy.
„Zweiundvierzig.“
Sie griff in den Schuhschachtelberg und reichte Konstantin ein paar schwarze Stiefeletten. Sie waren mit Strasssteinchen besetzt, hatten einen Reißverschluss und einen etwa acht Zentimeter hohen Absatz. Vor ein paar Tagen hatte sich Antonia ein ähnliches Modell gekauft.
„Auf keinen Fall!“, sagte Konstantin.
Sofort stellte Nancy die Stiefeletten zurück.
„No problem. Das verstehe ich.“
Er legte seine Kleidung bis auf die Unterhose ab, schlüpfte in die Bluse und knöpfte sie zu. Der Stoff fühlte sich sanft und vertraut an, wie eine zweite Haut. Aber in dem Moment, als er die Jeans über seine Hüften zog und den Hosenknopf schloss, spürte er die Energie einer unsichtbaren Macht, die ein fehlendes Teil zu ihm hinzufügte, und plötzlich setzte sich alles zusammen und verschmolz von Sekunde zu Sekunde dichter miteinander. Das Gefühl durchdrang seinen ganzen Körper. Es war schön und beunruhigend zugleich. Konstantin hatte es schon früher in seinem Leben gespürt, aber noch nie so stark wie jetzt.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte Nancy mit gerunzelter Stirn.
„Wo ist die Toilette?“
„Durch die Seitentür, links hinter der Rezeption.“
Er stürmte aus dem Raum. Vom Empfang lächelte Ultraviolence mit Headset auf dem Kopf. Er knallte die Toilettentür zu und stützte sich auf das Waschbecken. Sein Körper taumelte. Er hatte das Gefühl, einen Ozean in sich zu tragen. Gewaltige Wellen tobten in ihm, während sich sein Blickfeld in flüchtige Bilder teilte. Eine Duftkerze in einem Wasserteller neben dem Seifenspender. Ein Schmetterling aus Silberdraht. Zwei Ausgaben der Vogue mit Covergirls in Bikinis und Bolerojacken. Konstantin wartete, bis sich die Wellen beruhigt hatten. Als sein Körper endlich still stand, streckte er die Hand aus. Der Drahtschmetterling landete in seinen Haaren. Seine Flügel klappten auf, und Konstantin schloss die Augen.
Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als er seine Augen wieder öffnete, den Schmetterling aus seinen Haaren zog und in den Garderobenraum zurückkehrte. Es kam ihm vor wie Stunden.
Nancy wartete vor dem Maskenspiegel. Sie wirkte besorgt.
„Sollen wir es lassen, Konstantin?“
„Nein, ich mache es“, hörte er sich sagen. „Wo sind die Schuhe?“
Sie zögerte einen Moment, bevor sie ihm die Stiefeletten reichte. Er schlüpfte in den ersten Schuh und zog den Reißverschluss hoch. Wieder durchströmte ihn eine seltsame Vertrautheit, als ob jemand diesen Schuh extra für ihn geschaffen hätte. Er zog auch den zweiten an und richtete sich auf. Sein Körper verformte sich. Er wuchs, wurde größer. Stärker. Zerbrechlicher. Die ersten Schritte durch den Raum waren ungewohnt. Aber dann steuerte er den Stuhl an und spürte beim Hinsetzen, dass er an Sicherheit gewonnen hatte.
Erneut begann Nancy, ihn zu stylen. Sie wölbte seine Wimpern mit einer Zange nach oben und färbte sie mit Mascara, zupfte seine Augenbrauen, legte ihm Liedschatten, Puder und Rouge auf und bepinselte seine Lippen mit pinkfarbenem Gloss. Seine Haare föhnte sie diesmal als Pony tief in die Stirn. Als er sich aus dem Stuhl erhob, starrte ihm im Spiegel ein geschminktes Mädchen entgegen. Es schien ihn anzulächeln, obwohl er ernst war.
„Ready?“, fragte Nancy.
Später konnte er Antonia nicht mehr erzählen, was passiert war. Er hatte vor der Papiertapete seine Hände die Hüften gestemmt. Er hatte kleine Hüpfer gemacht und mit gesenktem Kinn abwechselnd „lazy“ und „genervt“ in die Kamera geschaut. Er war über den Catwalk stolziert auf acht Zentimeter hohen Absätzen, während Sascha jede seiner Bewegungen beobachtete und Alain den Finger nicht mehr vom Auslöser ließ. Irgendwann waren alle Models vom weißen Ledersofa aufgesprungen und hatten ihm applaudiert und ihn in den Arm genommen, und er war befreit in sich selbst hineingestürzt, wie in ein seit vielen Jahren für ihn bereit gestelltes Leben.
2
Traumwandeln
Die Prinzessin des Reichs der Tausend Inseln wurde bei Vollmond geboren. Ihre königlichen Eltern betteten sie in eine Venusmuschel mit rotem Sand als Untergrund, und das gesamte Volk versammelte sich, um sie zu begrüßen.
„Es ist ein Mädchen!“, riefen die Priester des Tempels, und alle jubelten und schenkten der Prinzessin Ketten aus Perlmutt und Armreifen aus Korallenkalk, und die älteren Mädchen kämmten liebevoll ihr seidenweiches Haar mit Bürsten aus Stacheln von jungen Seeigeln.
Als die Prinzessin zwölf Jahre alt war, bekam sie von ihrem Vater das Stirnband der Alabasterdrachen geschenkt. Von nun an durfte sie die geflügelten Monster mit der milchigen Haut lenken, die als Boten zwischen den Inseln verkehrten. Und obwohl die Prinzessin noch nicht menstruierte, genoss sie es, auf ihren Drachen zu reiten, während unter ihr das Leben ganz normal weiterging, die Bewohner Häfen bauten, zur See fuhren und glücklich waren.
Doch mit vierzehn menstruierte die Prinzessin immer noch nicht. Auch entwickelte sie keine Brüste. Bei einer Untersuchung stellte man fest, dass sich an der Stelle, an der ihre Scham sein sollte, nichts anderes befand als nackte Haut. Das Königspaar wusste, was das bedeutete. Laut den strengen Gesetzen war ihre Tochter als Thronfolgerin ungeeignet. Sie musste ihr Drachenstirnband zurückgeben und wurde aus dem Königreich verstoßen.
Am Morgen der Verbannung schickten drei blaue Sonnen ihre Strahlen über den gewaltigen Tempel der Tausend Inseln. Vor den Augen des Königspaars legte die Prinzessin ihre Kleider ab. Anschließen wurde sie von der Priesterschaft über einen langen, von Fackeln gesäumten Gang zur Schaukel der Wahrheit geführt. Das Volk weinte und stimmte Trauergesänge an, während das Meer tobte und sich die Wellen nach dem Opfer verzehrten.
„Seid ihr willens, eure Verbannung anzunehmen?“, fragte der Hohepriester.
„Ja“, antwortete die Prinzessin und stieg auf die Schaukel. Die Priester wickelten dornenbewehrten Seetang um ihre Handgelenke. Das Volk verstummte, und der König erhob sich, um das Verbannungsritual zu eröffnen. Vor der Prinzessin lag der Ozean, und als sich die Schaukel langsam in Bewegung setzte, spürte sie bereits die Kraft des Wassers. Ihre Hände umklammerten die Seile. Die scharfen Dornen des Tangs bohrten sich in ihre Handgelenke. Blut tropfte aus den Wunden, aber sie wusste, dass sie keine Träne vergießen durfte. Immer stärker schwang die Schaukel hin und her. Bald färbte das Blut der Prinzessin den Tempelplatz rot, und das Volk befürchtete schon, dass sie vor der Verbannung sterben würde. Doch als der Hohepriester kurz davor war, das Ritual abzubrechen, sprang die Prinzessin von der Schaukel und stürzte sich in die Fluten.
Und in der Sekunde, in dem sie in den Ozean eintauchte, verwandelte sich ihr Körper unterhalb des Bauchnabels in einen prächtigen Fischschwanz, und sie wurde zu einer Meerjungfrau. Hunderte von leuchtenden Fischen kamen herbeigeschwommen, hießen die Prinzessin in ihrem neuen Reich willkommen und wollten sie beschützen. Daraufhin erschien sie zum ersten Mal an der Oberfläche, um sich ihren erleichterten Eltern und ihrem Volk zu zeigen. Sie schwamm federleicht zwischen den Wellen, die im Licht der blauen Sonnen auf und nieder wogten, und ihre Wunden waren auf wundersame Weise verheilt, und ihre Lippen funkelten, denn sie gehörte zum Geschlecht der Meerjungfrauen.
„Ich bin –“
Hannah öffnete die Augen. Ihre Hände glitten über den Bauch zum Hals, bis die Narben an den Gelenken ihre Brustwarzen berührten. An der Zimmerdecke schwebten die geisterhaften Umrisse eines nackten Mädchenkörpers mit Fischschwanz. Hannah versuchte das Gesicht zu erkennen, aber es blieb verschwommen und löste sich schließlich auf. Dafür spürte sie etwas zwischen ihren Beinen.
„Ich hasse es!“, wimmerte sie.
Hannah schleuderte das verschwitzte Kopfkissen auf ihre Morgenlatte und presste es mit den Oberschenkeln zusammen. Zu spät. Sie beugte sich über den Eimer neben dem Bett und würgte so lange, bis ein paar bittere Fäden aus Speichel und Galle heraustropften. Ihr Brustkorb schmerzte. Sie rollte auf den Rücken, umklammerte ihren riesigen Teddybären und atmete schwer.
Die Sonne fraß sich durch die Lamellen der Jalousie und bildete ein Kettenmuster von der Dachschräge bis zum GreatBarrier-Riff-Poster über dem Schreibtisch. Ein Lichtstrich traf genau die Pupille der Karettschildkröte. Der Wecker zeigte kurz nach sieben. Hannah versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Begann der Unterricht am letzten Tag vor den Sommerferien nicht erst zur zweiten Stunde? Machte es Sinn, heute in die Schule zu gehen? Machte überhaupt irgendetwas Sinn? Und warum, verflucht noch mal, war es früh morgens schon so heiß?
Ihr Blick schweifte durch den Raum, über das Regal aus Olivenholz mit den schneeweißen Buchrücken der Shojo Mangas, den Laptop, die Siegerurkunden vom Schwimmverein und die Postkarte mit der Kleinen Meerjungfrau aus Kopenhagen, die ihr Vater vor ein paar Jahren während eines Urlaubstrips aus Dänemark geschickt hatte.
Mit einem Ruck kämpfte sich Hannah aus dem Bett und stakste zum Spiegel. Der erste morgendliche Blick in ihr Gesicht war immer der schwerste. Schulterlange, sich wellende Haare. Gut. Neue Ohrlöcher. Gut. Bartschatten. Schlecht. Panisch suchte sie nach weiteren Veränderungen. Waren ihre Lippen schmaler geworden? Ihre Wangenknochen eckiger? Ihre Stirnpartie breiter? Als sie den Druck kaum noch aushielt, legte Hannah die rechte Hand auf ihr Gesicht im Spiegel und die linke auf die Beule in ihrem roten Slip und starrte regungslos auf ihren Bauchnabel. Schließlich hatte sie sich so weit beruhigt, dass sie ihr Zimmer verlassen konnte. Wahllos schnappte sie sich ein T-Shirt, eine Jeans und ein Paar Socken aus dem Kleiderschrank und eilte unter die Dusche.
Auf dem Rückweg vom Bad fiel ihr Blick in Lillys Zimmer. Zerwühlte Kissen voller Plüschtierbabys mit riesigen Augen. Puppenhaus. Rapunzelturm. Trampolin. Eine pinkfarbene Mädchenwelt im Morgenlicht. Hannah riss ihren Blick los und rannte die Kalksteintreppe hinunter.
Auf der blitzblank geputzten Kücheninsel lagen ein paar Supermarktprospekte und der Gemeindebrief der örtlichen Kirche mit dem Titel „Gottes versteckte Welt“. Odette döste im Wohnzimmer und sprang auf, als Hannah herein trat. Sie gab dem Dalmatiner einen Kuss auf die Schnauze.
„Hallo Prinzessin“, flüsterte sie. „Geht’s dir gut?"
Als Antwort begann Odette, Hannahs Gesicht abzulecken.
„Danke. Wenigstens du hast mich lieb.“
Odette ließ sich vor dem Teleskop nieder und starrte hechelnd auf den Kescher, den jemand gegen die Scheibe gelehnt hatte. Hannahs Mutter öffnete von außen die Terrassentür. Sie winkte mit dem Telefonhörer in der Hand.
„Wir sind hier draußen, Konstantin!“
„Wie stellen Sie sich das eigentlich vor, Herr Müller? Sollen meine Kundinnen in der Umkleidekabine Sandburgen bauen?“
Hannahs Mutter klemmte den Hörer zwischen Kopf und Schulter und zerrte ein paar trockene Äste aus der Bambushecke am Ende der Terrasse.
„Was hat Mama für ein Problem?“, fragte Hannah.
„Irgendwas mit der Boutique.“ Lilly fuhr sich mit der Zunge über ihre neue Zahnspange. „Gibst du mir mal den Quark, Koni?“
Hannah ignorierte ihre Schwester und blickte zu ihrem Vater hinüber, der in eine Autozeitschrift vertieft war. Es war das typische Bild. Auf der einen Seite ihre Mutter, die immer zwei oder drei Dinge gleichzeitig erledigte und bei allem eine Spur zu nervös und hektisch war. Auf der anderen Seite ihr Vater, den so schnell nichts aus der Ruhe brachte. Vermutlich wäre er sogar in der Lage, die Explosion einer Wasserstoffbombe in seinem Werkzeugkeller auszublenden.
Hannah biss in ihren Magerquarktoast. Lilly versetzte der Hollywoodschaukel einen wütenden Stoß mit den Füßen. Hannah kippte nach vorne. Ihre Nase bohrte sich in den Quark. Fluchend stemmte sie ihre Füße auf den Boden, um die Schaukel wieder zum Stehen zu bringen.
„Den Quark, Konstantin Wolf! Bist du taub?“ Hannah schleuderte ihrer Schwester die Quarkdose in den Schoß.
„Da, du Nervensäge.“
„Spinnst du?“
Lilly hob die verschlossene Dose mit zwei Fingern und inspizierte ihre Jeans. Als sie die Gewissheit hatte, dass nichts ausgelaufen war, beruhigte sie sich wieder.
„Zu gnädig, der Herr.“
Hannah wischte sich den Quark von der Nase. Ihre Mutter telefonierte immer noch.
„Wie läuft’s denn mit Mamas Boutique?“
„Komm vorbei, dann weißt du’s“, antwortete Lilly. „Ich bin total oft nach der Schule da. Mit Ronja und Nele.“
„Ich dachte, die findest du doof, weil sie ständig über Jungs reden.“
Lilly warf die Haare nach hinten und starrte auf ihr Selena-Gomez-Armband.
„Nee, jetzt nicht mehr.“
Hannah musterte ihre Schwester. Während Hannah im Krankenhaus gewesen war, hatte Lilly die Periode bekommen. Wie hatte sie sich gefühlt, als sie den ersten Blutfleck in ihrem Slip bemerkte? Hatte sie sich gefreut, weil sie auf dem Weg war, eine Frau zu werden? Hatte sie Schmerzen gehabt, wie Jaye, die ihre Periode hasste? War ihre Mutter mit Lilly zum Frauenarzt gegangen, um festzustellen, ob mit ihrer Vagina alles in Ordnung war? Hatten sie danach gemeinsam in der Drogerie extra dünne Binden für Teengirls gekauft? Mit roten Blümchen auf der Innenfläche und kleinen weißen Flügeln, die um den Steg des Slips herum geklappt werden? Unbarmherzig hörte Hannah ihre eigene Pubertätsuhr in Richtung Mann ablaufen. Tick. Tack. Tick. Tack. Tick. Tack. Sie musste schlucken.
Lillys Blick fiel auf ein Foto in der Autozeitschrift. Ein junges Mädchen im Blaumann und mit ölverschmierten Händen lächelte vor einer Hebebühne in die Kamera.
„Werden viele Mädchen Automechaniker?“
„Nein, Spatz“, murmelte Hannahs Vater.
„Deswegen gibt es ja den Girls’ Day.“
Lilly machte einen langen Hals, um das Foto besser sehen zu können.
„Girls Day? Cool! Das ist was für dich, Koni!“
Hannah verdrehte die Augen. Auf dieses Thema hatte sie gar keinen Nerv.
„Papa, darf ich am Dienstag zu Jaye?“
„Jaye ist voll der Typ!“, stichelte Lilly weiter. „Die steht sicher auf Zombies!“
„Und wenn schon“, sagte Hannah. „Ich will sie noch mal treffen, bevor wir nach Annecy fahren.“
Hannahs Vater legte die Zeitschrift zur Seite und blickte seine Töchter an. Es war offensichtlich, dass er schlechte Nachrichten hatte.
„Hat Mama euch noch nichts gesagt? Annecy fällt dieses Jahr aus. Wir sind nur zu dritt in der Werkstatt. Armin ist immer noch krank. Ich kann unmöglich Urlaub nehmen.“
Hannah starrte geschockt auf zwei Schwebfliegen, die sich in kreisenden Zick-Zack-Bewegungen den Klematisblüten an der Hauswand näherten. Seit zwölf Jahren war Annecy fester Bestandteil des Familienlebens, wie eine Wurzel, aus der heraus unzählige Kindheitserinnerungen gewachsen waren. Jetzt kam es Hannah so vor, als läge sie ausgerissen am Straßenrand.
„Heißt das, wir bleiben die ganzen Ferien zu Hause?“ Lilly stützte die Arme auf den Tisch. „Das wird ja mega öde!“
„Nein, nein“, beruhigte Hannahs Vater sie. „Mama will mit dir zu Oma und Opa ins Allgäu. Die freuen sich schon, dass du kommst.“
„Und was ist mit mir?“, fragte Hannah.
„Deine Mutter hat gestern mit deinem Therapeuten gesprochen. Herr Talberg hat einen hochinteressanten Vorschlag, über den er dringend mit dir –“
In diesem Moment trat Hannahs Mutter an den Tisch. Ihr Gesicht wirkte trotz des wie immer perfekten Make-ups müde und angespannt. Sie legte den Hörer ab und ließ sich auf den Stuhl fallen.
„Der Tag fängt ja gut an –“
„Was ist passiert?“, fragte Hannahs Vater.
„Die Handwerker haben im Ladenbüro das Waschbecken ausgetauscht. Jetzt kommen in der Umkleidekabine zwei dicke Metallschrauben aus der Wand. Und auf dem Boden liegt zentimeterhoch der Putz. Alles eine Woche vor der Präsentation.“
„Welcher Präsentation?“
„Der neuen Brautkleider.“ Sie nippte an ihrem Kaffee. „Hast du mir gestern nicht zugehört?“
„Doch“, antwortete er. „Ich hatte es nur nicht mehr auf dem Schirm.“
„Die Einladungen sind seit Wochen raus, und das Model ist fest gebucht. Ich kann den Termin unmöglich verschieben.“
„Mach dir nicht immer so viel Stress –“, begann Hannahs Vater. Dann verstummte er unter dem Blick seiner Frau wie ein kritisches Radioprogramm, dessen Übertragung abbricht, weil die Regierung droht, den Sender zu bombardieren. Er stieß ein resigniertes Brummen aus und widmete sich wieder seiner Autozeitschrift.
In den Wochen seit Hannahs Entlassung aus der Klinik schienen sich die seit Jahren schwelenden Familienkonflikte in Luft aufgelöst zu haben. Ihr Vater half bereitwillig im Haushalt und im Garten, und ihre Mutter übergab das kleine Brautmodengeschäft im Dorfzentrum an drei Nachmittagen in der Woche einer Freundin. Wenn sich Hannahs Eltern verabschiedeten und begrüßten, gaben sie sich einen Kuss wie früher. An den Sonntagen besuchten sie zu viert Volksfeste und Freizeitparks in der näheren Umgebung und gingen gemeinsam ins Kino. Aber in den letzten Tagen hatte sich die Familiendynamik wieder zunehmend auf den alten Stand zurückentwickelt, und Hannah fragte sich, warum.
„Koni trifft sich mit Jaye“, platzte es plötzlich aus Lilly heraus.
„Muss das sein?“ Hannahs Mutter bemerkte eine Blattlaus in Hannahs Nacken und wischte sie weg. „Karin Schwarz war gestern da und hat Storys von Jaye erzählt. Und von ihrer durchgeknallten Mutter –“
Hannahs Vater klappte die Autozeitschrift zu. Er sah seine Frau erstaunt an.
„Karin Schwarz? Was macht denn die Tratschtante in deinem Laden?“
„Ihr Sohn verlobt sich nächsten Monat.“ Hannahs Mutter rollte mit den Augen. „Mit achtzehn! Hat sie mir natürlich groß und breit unter die Nase gerieben. Außerdem ist er Vereinsmeister in 100 Meter Kraul geworden.“
Lilly zog ihre Beine auf die Hollywoodschaukel und prustete.
„Dennis? Der hat doch damals voll abgelost gegen Koni. Ich meine, wenn Koni nicht aus dem Schwimmverein ausgetreten wäre –“
„Was für einen hochinteressanten Vorschlag hat Herr Talberg für mich?“, unterbrach Hannah Lilly. Sie hatte es satt, wie das Schwarze Loch der Familie behandelt zu werden, das alle argwöhnisch beobachteten, während sie gleichzeitig versuchten, es großräumig zu umschiffen.
„Hat er nicht gesagt“, antwortete Hannahs Mutter. „Aber er wird es dir sicher heute Nachmittag erklären.“
Sie schenkte Hannah ein vielsagendes Lächeln, bevor sie einen Blick auf die Uhr warf und den Rest ihres Kaffees herunterkippte. „Ich muss in die Boutique. Bringst du die beiden zum Bus, Michael?“
Während Hannah darüber grübelte, was Herr Talberg ihr wohl vorschlagen würde, begannen ihre Eltern, den Frühstückstisch abzuräumen. In der Terrassentür erschien Odette. Die Hollywoodschaukel schwang sanft hin und her.
„Ist Koni eigentlich versetzt worden?“, fragte Lilly.
„Ja, ist er“, murmelte Hannah. „Und jetzt halt endlich die Klappe!“
Sina trug ein gelbes Longshirt mit Ledergürtel, Jeans und graue Stiefeletten. Leonie war mit einer orange-weiß gestreiften Bluse, einer blauen Stoffhose und weißen Ballerinas bekleidet. Hannah beobachtete jede ihrer Bewegungen, Sinas Kauen auf der vom Lipgloss glänzenden Unterlippe, das Schnippen ihres Fingers, um eine Fluse vom Ärmel zu befördern, das Drehen von Leonies Finger in einer Locke und den nervösen Gesichtsausdruck beim Aufstehen und Entgegennehmen des Zeugnisses. Wie hübsch sie waren! Alles an ihnen schien perfekt zusammenzupassen.
„Konstantin Wolf.“
Jemand boxte Hannah in die Rippen. Sie erschrak und blickte zu Aaron, ihrem Tischnachbarn, der mit dem Daumen in Richtung Lehrerpult zeigte.
„Ey, Femmy Boy. Dein Typ wird verlangt.“
Herr Peters starrte Hannah verständnislos an.
„Die Stunde ist gleich zu Ende. Holst du dein Zeugnis heute noch ab?“
„Koni träumt wieder von ihrer Catwalkkarriere“, rief jemand mit tuntigem Singsang aus der hinteren Reihe.
„Ich hab heute leider kein Foto für dich!“
„Ooooooooh!“
Einige brachen in Gelächter aus. Andere zischten sie nieder und schüttelten die Köpfe. Das war nichts Neues. So lief es seit Monaten. Hannah sah zu Ben hinüber, der teilnahmslos sein Smartphone fixierte. Bis zum Februar war Antonias Bruder ihr engster Freund gewesen. Jetzt schaute er nicht einmal auf, als Hannah zum Pult schlich und ihr Zeugnis in Empfang nahm
„Bitte noch etwas Ruhe!“
Das Gemurmel schwoll ab, und Herr Peters rief den nächsten Namen auf. Ohne auf das Blatt zu schauen, kehrte Hannah zu ihrem Platz zurück. Einen Tag nach der letzten Notenvergabe hatte sie auf sämtlichen Zeugnissen aus allen Schuljahren ihren Vornamen so fest mit Kugelschreiber durchgestrichen, dass das Papier zerfetzt war. Danach hatte sie sich so erleichtert gefühlt. Am folgenden Montagmorgen hatte auf dem Weg zur Bushaltestelle ihr Smartphone gepiept. Eine anonyme Nachricht ohne Text. Dafür mit einem Link zu einer Homepage mit Hannahs Castingfotos und der Überschrift: „Hallo, ich bin Konstantin W., ein süßer Mädchenjunge aus Rheinhessen!“
„Ich wünsche euch schöne und erholsame Sommerferien“, sagte Herr Peters. „Wir sehen uns im nächsten Schuljahr wieder.“
Angeführt von Ben, der als erster von seinem Platz aufsprang, stürmten die Schüler in lärmenden Grüppchen aus dem Klassensaal. In der Tür stießen sie mit Frau Lorenz zusammen. Die Schulsekretärin war dürr, hatte kurze knallrote Haare und trug unter den Schülern den Spitznamen Streichholz.
„Entschuldigung, Herr Peters. Wer ist Konstantin Wolf?“
Herr Peters blickte von seinem Klassenbuch auf und deutete mit dem Kugelschreiber auf Hannah.
„Kommst du bitte mit zum Direktor?“
Herr Bellinghaus strich seine marineblaue Krawatte glatt und blätterte in einem Heftordner. Hannah versuchte sich zu erinnern, wann sie den Direktor zum letzten Mal gesehen hatte. Er kam ihr wie ein blasses, trauriges Gespenst vor, das ein Mal im Jahr in der Aula des Gymnasiums erschien, um eine viel zu lange Begrüßungsrede zu halten und danach wieder für zwölf Monate hinter den undurchdringlichen Wänden der Schulverwaltung zu verschwinden.
„Ich habe unseren Schulpsychologen Herrn Hauff und Frau Tzschentke als deine Vertrauenslehrerin dazu gebeten. Ich hoffe, dass ist in Ordnung.“