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Ost-Berlin in den 80er Jahren: Roy liebt Katrin. Doch die Schwesternschülerin braucht ihre täglichen Kuscheleinheiten und kann nicht auf Roy warten. Nur weil er Medizin studieren will und deshalb zur Armee muss und dann auch noch 3 Jahre. Zumal der Kompaniechef immer wieder den Urlaub streicht und Roy mit Knast droht. Katrin verfällt aus Kummer dem Alkohol und verursacht betrunken einen Autounfall. Sie soll ins Gefängnis und gerät so in die Fänge der Stasi. Werden die beiden am Ende trotzdem ein Paar sein?
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Inhaltsverzeichnis
PROLOG
Impressum
Über den Autor John McShultz:
Geboren 1965 in Ost-Berlin. Abitur 1984 und anschließend Krankenpflege-Praktikum. Armeedienst an den Standorten Bad Düben, Neubrandenburg und Karlshagen / Peenemünde. Studium in Berlin 1987–1995. Seitdem diverse berufliche Stationen bundesweit, aktuell in Leipzig lebend und arbeitend.
Veröffentlichungen:
1. „Sehnsucht nach Nirgendwo“, Lieder und Gedichte für anonyme Romantiker und sensible Melancholiker, mit 6 Bildern von Andreas Weißgerber, Geest-Verlag 2015.
2. CD „Ein Tag in einer anderen Welt“ 2020 bei SCREAMBYRD RECORDS, www.johnmcshultz.com
3. „Was man von hier aus denken kann. Kurzgeschichten und Persiflagen aus der Provinz, SCREAMBYRD RECORDS PRESS, 2022, ebook.
JOHN MCSHULTZ
NO RECORD RELEASE
Zwischen Liebe, Verrat und Vergebung
Ein Gesellschaftsroman
© 2022 John McShultz
SCREAMBYRD RECORDS PRESS
www.johnmcshultz.com
1. Auflage
Gedruckt in Deutschland auf 100 % Recyclingpapier
Umschlaggestaltung: Idee John McShultz / Umsetzung von 99designs unter Verwendung folgender Fotos:
1) Jörg Hartmann als Falk Kupfer in „Weissensee“, ARD / Julia Terjung
2) https://www.spiegel.de/fotostrecke/stasi-personalchef-tot-fotostrecke-107973.html
3) Viktoriia Hnatiuk/Shutterstock.com
ISBN: 978-3-949970-00-9
Ich Hätt auch gern Kommunismus, die Idee Ist gut. Wenn nur die Menschen besser wärn. Der Kommunismus ist was für die Zeitung.
Rammler in „Die Umsiedlerin oder das Leben auf dem Lande“, Heiner Müller, 1961
Roy rang nach Luft wie ein Schwimmer, der zu lange getaucht war. Sein Herz ächzte wie ein Blasebalg, um das zu Lava erstarrte Blut durch die Gefäßbahnen zu pumpen. Seine Hände vibrierten, als er sich im Bett aufrichtete.
Wieder hatte er von panzergrauen Uniformen, monotonem Trappeln von Stiefeln auf eisigem Beton und rausgerotzten Worthülsen der Unteroffiziere geträumt.
Roy blickte zum Fenster. Einsame Nebelschwaden jagten durch die Straßen von Ost-Berlin und warfen im faltigen Licht der wachestehenden Straßenlaternen Trugbilder an die Wand.
Erschöpft ließ er den Kopf ins Kissen zurückfallen. Niemand außer ihm war im Zimmer.
Im flackernden Spot der durch das Fenster einfallenden Irrlichter tappte Roy in die Küche. Tastend suchte er nach Zigaretten und steckte sich eine an. Das gelbblaue Licht der Flamme zuckte über sein totenbleiches Gesicht und spiegelte sich in seiner Pupille. Gierig sog er an der Zigarette, um den Rauch durch die Nase wieder auszustoßen.
Die Rauchwolken mischten sich mit den Nebelbildern von der Straße und verscheuchten die Boten des Hades.
Das Zigarettenende funkelte wie eine ausgehende Wunderkerze und mit ihrem Verlöschen kamen die Bilder in seinem Kopf zum Erliegen.
Friedlich schunkelte das Meer und spiegelte an seiner krausen Oberfläche schläfrige Sonnenstrahlen. Die Gischt trieb verrottete Muschelreste vor sich her und scheuchte ein paar Einsiedlerkrebse auf. Einem alten Tanker gleich dümpelte das Kulturhaus vor sich hin und träumte von großer Fahrt. Die Fassade hatte vergeblich versucht der Salzluft zu trotzen. Mit den Jahren blätterte das Bernsteinorange resigniert vor sich hin und war zu einem stumpfen Gelb geworden. Nur die Parole über dem Eingang „Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen!“, hatte man in weißer Schrift auf sattem Kupferrot neu getüncht.
In den Regalen des einzigen Ladens lagerten die von den Urlaubern zurückgelassenen Fischkonserven und setzten Rost an.
Mit gebrochenen Pupillen starrten die Fischer in die toten Augen der frisch gefangenen Heringe und betäubten sich mit selbstgebranntem Korn.
Irgendwo da draußen lagen die Weltmeere.
Ein Posten mit Kalaschnikow stand vor dem Gelände mit den gestutzten Kiefern und den in Sand eingelassenen einstöckigen schwarzbraunen Holzbaracken.
Es war keine Jugendherberge.
Für einen Glatten 1) wie Roy bestand das abendliche Ritual aus Essen fassen und Revier 2).
Torfdorsch, ein Fischkopf mit Hamsterzähnen und sandblondem Haar, sonnte sich in seiner Macht. Beim Gang über den in Neonlicht getunkten Flur zupfte er sich die fleischrote UvD-Binde 3) fast schon zärtlich über seiner Ein-Strich-kein-Strich-Uniform 4) zurecht.
Roy hörte ihn nicht zum ersten Mal an diesem Abend heranschlurfen.
„Richtig Staub wischen hebb ick secht. Zu Hause hatt woll alles Mutti macht, häh? Dat jeht sauberer!“
Torfdorsch füllte mit seinem Walrosskörper den Türrahmen von Major Staslins Arbeitszimmer, welches Roy zu reinigen hatte. Die wässrigen Fischaugen, die unter dem strubbligen Haar hervorlugten, rotierten in den Augenhöhlen und stierten angestrengt in jede Ecke. Er ließ ein Wiehern hören und zeigte seine vom Nikotin vergilbten Zähne.
Roy wischte sich mit dem rechten Uniformärmel den Schweiß von der Stirn. „Verfluchter Schinder“, seufzte er leise vor sich hin. „Warum triezt er mich so? Welchen Frust will er loswerden?“
Das Schlurfen des schweren Körpers und das ächzende Quietschen der mit diesem Gewicht überforderten Stiefel wurde leiser.
Roy schaute auf die Uhr in Major Staslins Arbeitszimmer. „Verfluchte Scheiße, schon neun. Ich wollte doch im Don Carlos lesen.“ Sein Magen knurrte.
„Na, heute wirds wohl nix mehr mit Lesen.“ Torfdorsch hatte sich angeschlichen und gelauscht. „Wollen doch mal sehen.“ Diesmal hatte Torfdorsch weiße Stoffhandschuhe mitgebracht, die er sich mit einem genüsslichen Grienen überzog. Mit einer beflissenen Sanftheit, die Roy diesem Kerl nicht zugetraut hätte, fuhr Torfdorsch mit der linken Hand über sämtliche Oberflächen. „So, denn man tau. Jeht doch.“ Torfdorsch grunzte von dannen.
„Grätenfresse“, fluchte Roy grimmig und rieb sich müde die Augen hinter seiner Nickelbrille auf dem Weg zum Zimmer. „Sollte mal zum Kieferorthopäden. Wunder könnte der nicht mehr vollbringen, aber das Schlimmste abwenden.“
Auf dem glatt gekeulten, glänzenden Flur wurde das Bellen von Torfdorsch seltener. Die meisten Glatten hatten die heutige Revierschlacht überstanden.
Wie betäubt ließ sich Roy auf den Stuhl fallen. „Scheiße, war das wieder lange heute.“ Er seufzte und rieb die Tränen hinter seiner Brille weg. Diese Welt war immer noch ein Schock für ihn. Aus einem behüteten Einzelkind-Dasein hineinkatapultiert in diese Vorhölle. Sein Rücken schmerzte vom stundenlangen Vorbeugen und Bücken. In seiner Nase hing noch der Geruch vom Bohnerwachs.
Er nestelte an dem Schloss des Schuhkarton-großen Privatfaches des Schrankes und nahm die ungarische Salami heraus, die ihm seine Eltern aus dem Spezialitätenladen in Berlin geschickt hatten. Er schnitt sich mit seinem Taschenmesser eine dicke Scheibe ab, belegte damit eine Brötchenhälfte und begann mechanisch zu kauen. Dabei ließ er seinen Blick im Zimmer schweifen. Zwischen zwei Einzelbetten aus einem dürren, zementgrauen Metallgestell auf jeder Seite drängten sich jeweils zwei wacklige ölbraune Schränke, auf der einen Seite kam noch ein Besenschrank dazu.
Ausnahmsweise würde er die nächsten Wochen dieses Zimmer für sich ganz allein haben, was eine ungemeine Wohltat bedeutete, nach dem zusammengepferchten Dasein der letzten Monate. Umso mehr genoss er jetzt die Stille. Die Nachtluft sickerte durch die Fensterritzen, und selbst die schwefelgelbe Neonlampe über ihm summte friedlich.
„Mähnsch, nehmen Se Haltung an, machen Se Meldung!“
Roy ließ das angebissene Brötchen fallen und sprang auf „Genosse …“, stammelte Roy, da ihm vor Schreck der Dienstgrad nicht einfiel.
„Mähnsch, sind Se taub? Blöd? Ich denke, Sie haben Abitur? Wie sieht das überhaupt aus hier? Machen Se mal Ordnung hier in der Bude. Mähnsch, ich bring Se in’ Knast, Sie asoziales Element! Im Knast haben Se genug Zeit, sich die Dienstgrade einzuprägen! Da wirds erst mal nix mit Studieren!“
Torfdorsch lugte um den Türpfosten und bleckte die Zähne.
Mit seinen kotbraunen Augen schaute das pockennarbige Bulldoggengesicht angewidert zur Seite und zog die Schilfrohr-ähnlichen Brauen zusammen. Die Haltung des massigen Schädels, der eine Glatze unter der Schirmmütze ahnen ließ, und der gedrungene Rumpf, signalisierten totalitäres Herrschertum. „UvD, Sie überprüfen nachher das Zimmer dieses Genossen!“
„Jawoll, Genosse Oberstleutnant.“ Torfdorsch hechelte vor Freude und machte Männchen. Aus dem offenen Mund tropfte Fischgeruch ins Zimmer.
Roy wurde übel. Ihn fröstelte. Mühsam schlug er die Hacken zusammen, so gut das ohne Stiefel ging. „Genosse Oberstleutnant, keine besonderen Vorkommnisse. Es meldet Unteroffizier Müller.“
„Weitermachen! Müller, soso. Den Namen werde ich mir merken, Sie scheinen ja ’n ganz verkommenes Subjekt zu sein! Und brauchen wahrscheinlich ein paar Wochen Sonderrevier-Behandlung, was Torfdorsch?“ Ein Lachen wie eine Gewehrsalve donnerte los und überschlug sich in dem kleinen Raum.
Es mischte sich mit dem dienernden Johlen von Torfdorsch, dem Kiemendeckelklappern eines großen Welses nicht unähnlich.
Roy hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten.
„Und falls Sie in Urlaub wollen, der ist erst mal gestrichen, klar?“
„Zu Befehl, Genosse Oberstleutnant.“
OSL 5) Brüllinski, der Kommandeur der Abteilung von Roy, und um keinen anderen handelte es sich, schritt mit knirschenden Stiefeln von dannen, nicht ohne von Torfdorsch in der Tür noch mit einem „Achtung“ eskortiert zu werden.
Roy schnappte. Sein Atem glich dem asthmatischen Pfeifen einer altersschwachen Schiffssirene. Die schmalen Hände zitterten im Rhythmus mit seinem Herzschlag, die Handflächen schwitzten. Mehrere Minuten inhalierte er am geöffneten Fenster die kühle Abendluft. Dennoch fand Roy in der Abgeschiedenheit des Zimmers keine Ruhe. Fieberhaft begann er an dem Salamibrötchen zu kauen.
Seine Augen ertasteten den Brief von Katrin. Vielleicht konnte Roy sich damit ablenken. Er hatte es den ganzen Tag hinausgeschoben, den Brief zu lesen. Nicht auszudenken, wenn der OSL den Urlaub streichen würde.
Wodanski zog an seiner Zigarette. Der Rauch quoll aus seinen ledernen Nüstern und zog in Schwaden Richtung Leuchtstoffröhre, deren leises Sirren unüberhörbar war, und weiter zu den tabakbraunen Übergardinen, um sich dort mit dem bereits exhalierten Rauch zu vereinigen.
Er verschaffte sich mit der linken behaarten Hand durch Wegziehen der Dederon-Gardine einen Überblick über das kasernenähnliche Gelände.
Ein als Handwerkerauto getarnter Barkas B1000 6) passierte die Schranke und knatterte mit einer Benzinwolke in den abgeschirmten Innenhof. Sofort schloss sich das hohe Stahlblechtor von innen.
„Na, da ham se wohl wieder ein staatsfeindliches Subjekt erwischt.“ OSL Wodanski rieb sich zufrieden die Hände, die Zigarette zwischen den geschwungenen Lippen. Wenn alles so einfach wäre in diesem Land wie das Festnehmen von gegnerischen Subjekten.
Das Telefon schrillte. Wodanski nahm den Hörer ab. „Ja bitte? Ich komme.“ Er lief in die Zentrale der Hauptabteilung XX.
„Na Genossen, dann zeigen Se mal, wen wa erwischt haben.“
Der als Funker ausgebildete Angestellte unterbrach kurz seine Schreibmaschinentätigkeit und beugte sich über den Aktenstapel. Mit geübtem Auge überflog er die Namen und übergab Wodanski die neu angelegte Akte. „Hier Genosse Oberstleutnant, immer gern.“
Wodanski zog die dünnen Brauen hoch über seiner wulstigen Stirn, nahm aber ohne Kommentar die Akte und verließ den Raum. „So ein Blödmann, macht hier einen auf jovial. Dabei is’ der höchstens Fähnrich.“ 7)
Kopfschüttelnd überflog er die Angaben. Es handelte sich bei der neu gebrachten Person im Barkas tatsächlich um einen Regimekritiker. „Na, den werden wa schon weich kriejen. Wäre doch gelacht. Aber vorher muss ich noch mein Täubchen abschöpfen.“
Voller Vorfreude sprang Wodanski in den Paternoster und eilte schnellen Schrittes in sein Büro. Mit präziser Knappheit drückte er die Duett 8) aus und auf den Knopf der Wechselsprechanlage. „Genossin Taubmeier, bin außer Haus.“
Er schnappte sich seine Aktentasche, trampelte im Paternoster und lief zu seinem Lada 1500 9). Mit einem Brüllen sprang der Motor an und stoppte mit einem Aufheulen vor der Schranke.
Der Unteroffizier des Wachregimentes „Feliks Dzierzynski“ 10) salutierte, öffnete den Schlagbaum und ließ den Wagen passieren.
Wodanski nestelte am Schlüsselbund. „Warum können die blöden Genossen nicht die Schlüssel der verschiedenen konspirativen Wohnungen farblich oder wie auch immer unterschiedlich kennzeichnen“, fluchte er.
Das hatte er schon so oft moniert, aber es schien sich kein Schwein dafür zuständig zu fühlen. Endlich hatte er den Schlüssel gefunden und trat ein. Sorgfältig verschloss er von innen die Wohnung und vergewisserte sich durch den Spion, dass ihn niemand beobachtet hatte.
Wodanski machte sich daran, aufzuräumen. Schließlich sollte sich die Süße ja wohlfühlen. Und er wusste, was seine Schäfchen so brauchten, besonders die eine, die jetzt kommen würde.
Er hatte sich quasi auf jüngere Frauen um die 30 „spezialisiert“. Diese standen voll im Berufsleben, hatten also gute „Quellen“ in ihrem Arbeitsumfeld. Und sie waren dankbar, ja nahezu gierig nach Romantik und einfallsreichem, auch ausgefallenem Sex. Die Ehemänner waren zu müde, zu beschäftigt, zu fantasielos oder alles zusammen. Und auf die „Samstagabend-Pflichtnummer“ hatten die meisten dieser Frauen keinen Bock.
Wodanski genoss diese Facette seiner operativen Arbeit. Er ließ hier seine Fantasie spielen, nicht zuletzt ging für seine Täubchen ein Großteil seines Westgeld-Kontingentes drauf. So erntete er den einen oder anderen freudigen Überraschungsschrei, dem dann ein besonderes Engagement beim Nummerschieben oder ein besonders detaillierter Bericht folgte.
Er öffnete zunächst die Fenster, um den Zigaretten- und Alkoholdunst abziehen zu lassen. „Mann, Mann, Mann, watt haben da die Jenossen letzte Woche hier abjezogen?“ Angewidert schüttelte er den Kopf. Roch fast wie bei ihm zu Hause.
Mit Widerwillen musste er an seine Ehefrau denken. Meist war sie vor ihm da, saß vor dem Fernseher und rauchte. Der Aschenbecher quoll über, die Flasche Chantré 11) war zur Hälfte geleert, und die Rauchschwaden kräuselten sich unter der geblümten Stofffransen-Lampe.
Brunja starrte mit ihrer PGH-Kurzhaarfrisur 12) auf den Farbbildschirm, als gäbe es kein Morgen.
Auf sein „Guten Abend“ folgte nur ein kurzes Brummen, ohne dass sie den Kopf zu Wodanski wendete.
Wodanski begann meistens erstmal das Geschirr in der Küche zu spülen. Beim Herausnehmen des Mülleimers unter der Spüle kippte dieser regelmäßig um und der Müll quoll auf den Linoleumboden.
Fluchend fegte Wodanski dann mit einer Kehrschaufel den Müll zusammen, schüttelte ihn in ein „Neues Deutschland“ 13) und brachte das Paket zum Müllschlucker. Er nahm noch zwei Weinbrandflaschen mit, die er davorstellte, damit die Pioniere was für den SERO 14) hatten.
Beim Zurückgehen trödelte er immer, las die Namensschilder der Mitmieter, schaute zum Treppenhaus hinunter und verweilte vor der Wohnungstür.
Am liebsten würde er die Tür von außen zuknallen und abhauen. Wie oft hatte er sich das schon gewünscht.
Einfach mit Roys Mutter nach Venezuela oder Chile, meinetwegen auch mit Drogen handeln. Mit der Waffe umgehen konnte er doch.
Er lächelte schmerzverzerrt. Wenn er sich scheiden lassen würde, wäre seine Karriere im Eimer, denn die Genossen erwarteten eine gefestigte sozialistische Persönlichkeit mit stabilen Ehe- und Familienverhältnissen. Und da er ein braver Tschekist 15) war, tat er das, was die Partei und das MfS 16) von ihm verlangten.
Also wusch er den Mülleimer sorgfältig aus, stellte ihn in die Spüle zurück und begann Abendbrot zu machen.
Dabei warf er nochmal einen Blick auf Brunja. Wie die sich gehenließ. Der ganze Körper glich mehr und mehr einem Fass. Und mit der Hygiene schien sie es auch nicht mehr so genau zu nehmen, seit sie ihre Tage nicht mehr hatte. Anfassen tat er sie seit langem nicht mehr.
Sie schien aber nichts zu vermissen, solange es genug Alkohol, Zigaretten und Kaffee im Haus gab, Bouletten mit Kartoffelsalat und Spreewald-Gurken nicht zu vergessen.
Wodanski boxte sich selbst ins Gesicht, um die Gedanken abzuschütteln. Bald würde er eine ganz andere Frau in seinen Armen halten!
Er schmiss die leeren Flaschen in den Müllschlucker, die klirrend in die Tiefe rauschten. Den prüfenden Blick über die Klingelschilder gleiten lassend, schlenderte er zur Wohnung zurück. Dort leerte er zunächst den Aschenbecher und spülte mit Fit sorgfältig im Bad nach.
Anschließend zog er die Bettwäsche ab und schmiss diese in die Wäschetruhe. Aus dem Schrank entnahm er die Bettwäsche mit dem Rosendesign, schnupperte kurz, ob diese auch gut röche, und begann, langsam und konzentriert das Bett zu beziehen.
Im Wohnzimmer wischte er den Tisch ab, saugte kurz durch und ordnete die Stifte und das Papier auf dem Schreibtisch. Kurz noch die Igelit-Unterlage 17) ausrichten, fertig. Das Täubchen konnte kommen! Nein, noch nicht ganz. Wodanski entnahm seiner Aktentasche einen Parfümflacon und besprühte damit die Kissen auf dem Bett. Zusätzlich entnahm er eine Packung Hakle Feucht 18) aus dem Intershop 19). Sein Täubchen litt doch immer an einem wunden Po wegen des harten Ostkrepp.
Die Melodie „Die Partei, die Partei, die hat immer recht …“ pfeifend ging er ins Bad, um sich zu entkleiden. Sorgfältig legte er die Sachen zusammen und richtete sie auf Kante aus.
Dann nahm er ein Stück Nautik 20) von der Ablage, schnüffelte kurz daran und begab sich unter die Dusche. Gründlich seifte er den ganzen Körper einschließlich der Haare ein, zuletzt widmete er sich seinem besten Stück. Er schloss die Augen und ließ minutenlang das heiße Wasser über seinen Körper laufen. Sein unmelodisches Brummen mischte sich mit dem Plätschern des Wassers, das von seinem maskulinen Körper abperlte.
Im Kinderheim, wo Wodanski aufgewachsen war, hatte er nie richtig duschen können. Entweder hatten die älteren Kinder das warme Wasser bereits verbraucht, und er musste fröstelnd den Strahl der kalten Brause über seinen Körper gleiten lassen.
Oder den Erziehern ging es mal wieder nicht schnell genug und sie brüllten schon zum Frühstück oder zum Abendbrot.
Manche der älteren Kinder betatschten ihn auch schon mal, als er noch klein war, versuchten seinen Schwanz anzufassen oder einen Finger in seinen Po zu stecken. Angewidert stellten sich seine Nackenhaare hoch.
Einem älteren Jungen, der den Anführer gab, musste Wodanski mal einen blasen. Er spürte immer noch die Übelkeit aufsteigen. Der Junge wollte unbedingt in seinem Mund kommen, aber Wodanski kotzte ihm zwischen die Beine und rannte heulend nackt aus der Dusche.
Keiner der Erzieher hatte sich damals dafür interessiert, warum ein heulender Junge verängstigt und nackt über den Flur rannte.
Zu fünft fielen sie damals über ihn her und traten immer wieder in Bauch- und Nierengegend.
Nachdem er einige Stunden auf den Kacheln gelegen hatte, schleppte er sich abends mit letzter Kraft heimlich in das Erzieherzimmer. Er trat die dünne Bürotür ein und begann seine Akte zu suchen. Wodanski fand die Adresse seiner Stieftante und machte sich sofort auf den Weg.
Ein paar Tage später stand die Stasi vor der Tür und wollte den Jungen zurück ins Heim bringen.
Obwohl die Stieftante eine sehr resolute Person war und nichts zu verlieren hatte, konnte sie ihn nicht schützen.
Ein großer, gut gekleideter Mann mit breitkrempigem Hut und schwarzem Ledermantel sprach mit Wodanski und bot an, für ihn da zu sein, wenn er kleine Aufgaben für ihn übernehmen würde. Damals begann seine Karriere bei der Stasi.
Ins Heim musste er trotzdem zurück, wurde aber in Ruhe gelassen. Die fünf Prügelknaben kamen in den Jugendwerkhof 21). Zwei der Erzieher mussten sich „in der Produktion beweisen“ 22).
Ein Blick zur Uhr, er musste sich beeilen. Noch schnell eine Trockenrasur, etwas Boss-Aftershave 22) und eine Schiesser-Unterhose 23), und er war bereit.
„Kannst du nicht irgendwas für meinen Sohn tun? Du kennst doch diesen Brüllinski“, säuselte Roys Mutter im Negligee neben Wodanski.
„Wenn du brav Berichte schreibst über deine Kollegen und mir immer so gut einen bläst wie heute, meine liebe Simone, mal sehen.“
„Wie mal sehen? Ich mache doch alles ganz brav nach deinen Wünschen und schreibe die Berichte, die du willst. Der Brüllinski macht Roy das Leben zur Hölle.“ Sie drehte sich enttäuscht zur Seite und griff nach einer Zigarette.
„Selbst schuld.“ Wodanski grinste dämonisch. „Hätte dein lieber Sohn sich damals im Wehrkreiskommando 25) für das Wachregiment verpflichtet, wäre er jetzt Außenschläfer, könnte jeden Abend seine Süße bespringen und müsste nicht bangen, dass die ihm untreu wird. Was kein Wunder wäre, so selten wie sein Schwanz ihre Muschi besucht.“
„Ach, du bist widerwärtig.“ Simone strich sich das wilde, fast struppige lange schwarze Haar aus der Stirn und blies Wodanski den Rauch ins Gesicht. „Woher weißt du das mit dem WKK?“
„Nichts bleibt geheim.“ Wodanski wechselte sofort das Thema. „Und du bist eine vernachlässigte Ehefrau, die einfach gern geritten wird. Das mit den Berichten ist doch für dich zweitrangig.“
Simone seufzte schuldbewusst. Wodanski wusste genau, welche Regionen ihres Körpers er wann wie berühren musste, um sie in Ekstase zu treiben.
Kurz dachte sie an ihren Ehemann, der sicher schon wieder am Haus werkelte. Andererseits: Wenn es den Hausbau und die komplizierte Materialbeschaffung im Osten nicht gäbe, hätte sie Wodanski womöglich niemals getroffen …
Es ging um neuen Zement, und Simone klapperte mit dem Wartburg 26) und einem Anhänger versehen die PGHs im Umland ab.
Zement war im Umland von Berlin Mangelware und es gab ihn nur auf Zuteilung.
Roys Vater und sie hatten abgemacht, dass Simone auf alleinstehende hilflose Frau machte und sich ein wenig „aufbrezelte“, weil sie damit die meist männlichen Angestellten eher überzeugen konnte. Simone zog extra keinen BH an und ließ die Bluse mit Absicht sehr weit offen.
Heute war die PGH in Wandlitz dran.
Mit Schwung fuhr sie auf den Hof, die Bremsen quietschten. Der Angestellte kam aus dem Büro gerannt und wollte gerade losmeckern, da schälte sich Simone aus dem roten Wartburg, ließ keck die Sonnenbrille im Mundwinkel spielen und setzte einen flehenden Gesichtsausdruck auf.
„Guter Mann, ich brauche unbedingt Zement. Sie sind meine letzte Hoffnung.“
„Mmh.“ Der Angestellte schaute prüfend.
Eine Windböe fing sich in der Bluse und ließ eine Brustwarze kurz aufblitzen.
Der Mann schluckte. „Sie wissen ja, alles zugeteilt und abgezählt.“
„Ich weiß, ich weiß, Sie tun Ihr Möglichstes, aber vielleicht gibt es ja doch eine Lösung.“ Und Roys Mutter strich die Bluse glatt, damit die Brustwarzen durchschimmern konnten.
Der Mann im dämmergrauen Handwerkerkittel fuhr sich durch das schüttere Haar und nestelte an seinem Schlüsselbund. Sein Blick flackerte und Schweißperlen schimmerten auf der Stirn wie kleine Öllachen. „Komm Se mal mit rein.“
Simone folgte ihm ins Büro. Der Mann nahm Platz, Simone beugte sich über den Bürotisch und brachte ihre Argumente nochmals in Position.
Die Hand des Mannes zuckte.
„Nee, anfassen is’ nich’, vielleicht beim nächsten Mal.“
Der Mann grinste ertappt und nestelte an der Schreibtischschublade. Er stellte eine Quittung aus und reichte sie rüber. „Also zehn Sack könnten Se mitnehmen, und dann beim nächsten Mal …“
„Ach, Sie sind meine Rettung.“ Simone hauchte dem Mann ein Luftküsschen zu, schnappte sich die Quittung, verließ das Büro und lief Richtung Ausgang zum Materiallager.
Auch hier überzeugte die weibliche Ausstrahlung von Simone den Lageristen, die Zementsäcke in den Hänger zu laden.
Mit deutlich weniger Schwung verließ Simone das PGH-Gelände. Der Wartburg kam mit den 500 kg schwer an seine Belastungsgrenze.
Es begann zu regnen. Das schlierig gewordene Kopfsteinpflaster glitzerte im Schein der untergehenden Abendsonne.
Plötzlich bremste der Wagen vor ihr und Simone trat ebenfalls ruckartig auf die Bremse. Der Wartburg begann zu schlingern, der Hänger mit dem Zement ebenfalls. Erst nach 65 Metern kam der Wagen quer zur Fahrbahn zum Stehen. Zwei Säcke Zement waren dabei auf die Fahrbahn geknallt und aufgerissen.
„Verflucht!“ Simone fuhr den Wagen vorsichtig an die Seite, machte die Warnblinkanlage an und sprang aus dem Wartburg.
„Ach du meine Scheiße!“ Die Zementsäcke lagen praktisch mitten auf der Fahrbahn und versperrten so eine Fahrtrichtung. Durch den Regen begann der Zement bereits hart zu werden.
Simone fing an zu weinen: „Ach, warum ist jetzt der Rainer nicht da?“
Ein schwarzer Lada 1500 mit Chromgrill bremste scharf vor dem Zementhaufen.
Ein Mann mit lachsrosa Hemd und Schlips öffnete gemächlich die Wagentür. „Kann ich helfen, Verehrteste?“
„Ja, der Zement wird hart und ist ja auch ein Verkehrshindernis. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Können Sie mir helfen, guter Mann?“ Simone strich ihre Bluse glatt.
„Na, mit Ihren Argumenten kriegen Sie sicher immer das, was Sie wollen, Verehrteste.“
Der Mann stieg aus und gab Simone die Hand. „Wodanski, Ihr Helfer in allen Lebenslagen.“
„Ach, es gibt noch Kavaliere in diesem Land.“
„Wie man’s nimmt. Ich tue was für Sie und Sie revanchieren sich mal bei mir. Jetzt bestelle ich erst mal einen Muldenkipper, der das Zeug abfährt.“
Und Wodanski lief zum Wagen und griff dort zum Autotelefon.
Spätestens jetzt wusste Simone, was für einen Mann sie vor sich hatte.
Wodanski unterbrach ihre Gedanken, indem er ihr zärtlich das Negligee zur Seite zog und intensiv begann, ihre Spalte zu lecken.
Simone riss sich das Negligee vom Leib, was nun den Anblick ihres zarten Mädchenkörpers mit festen Brüsten und kleinem Becken zuließ. Sie stellte ihre Schenkel auf und spreizte sie, damit Wodanski freie Bahn hatte.
Wodanski verweilte kurz bei den Brüsten und widmete sich dann der freiliegenden Schnecke.
„Mmh.“ Ein Teufelskerl, was der mit seiner Zunge so anstellte. Wenn ihr Ehemann sich das mal trauen würde.
Simone stöhnte immer intensiver und lauter und schloss ihre moosgrünen Augen. In diesem Moment hatte sie Ehemann, Sohn und die Welt um sich herum vergessen und bestand nur aus ihrer Lustgrotte. Mit einem schnaubenden Kehllaut kam sie erstmals.
Wodanski drehte sie nun und drang von hinten in sie ein. Er pflügte tief in ihrer Grotte und bearbeitete mit seinen Bratpfannenhänden ihren knackigen Po, dessen Haut sich etwas rötete.
Das Keuchen und Seufzen des Paares schwoll zu einem Duetto furioso, beendet durch einen gleichzeitigen stöhnenden Schrei.
Ermattet sank Wodanski zur Seite und schmiegte sich an den Rücken von seinem Täubchen, um noch eine Weile in der Position zu verharren.
Mit geschlossenen Augen rekelte sich Simone, noch immer außer Atem, auf dem mitgenommenem Laken. „Waren wir zu laut?“
„Ist doch alles schalldicht, Süße.“ Wodanski zog seinen Prügel raus, sprang auf und reichte ihr eine Serviette für das herauslaufende Sperma. Dann zündete er zwei Duett an, wovon er Simone eine reichte.
Die öffnete jetzt die Augen, nahm mit glasigem Blick die Zigarette und sog voll Verlangen daran.
Der Rauch beider Liegenden vermischte sich und stieg langsam zur gehäkelten Deckenlampe.
Die Stille danach wurde nur vom sekundengenauen Ticken der Uhr unterbrochen.
Roys Mutter drückte die Zigarette aus und sah zur Uhr. „O Gott, schon 17 Uhr, ich muss los.“
„Lass mal Gott aus dem Spiel“, wetterte Wodanski. „Wir müssen noch die Instruktionen besprechen für den neuen Kollegen eurer Abteilung. Der soll in einer Kirchengemeinde aktiv sein.“
„Wie schnell du immer umschalten kannst.“ Simone schüttelte den Kopf und begann sich anzuziehen.
Wie auf Knopfdruck wurde aus dem Liebhaber wieder der Führungsoffizier.
„Ja gut, aber beeil dich mit deinen Instruktionen. Sonst wundert sich mein Mann, wo ich jetzt erst herkomme.“
„Sag doch einfach Parteiversammlung“, grinste Wodanski.
„Schlaumeier, daran hab ich selbst gedacht.“
Wodanski und seine weibliche Quelle beugten sich jetzt über den Schreibtisch und gingen gemeinsam die Instruktionen durch.
Simone sollte die Sympathie des neuen Kollegen gewinnen und ihn scheinbar beiläufig zu seinen Freizeitinteressen befragen. Wenn sie sein Vertrauen gewonnen hatte, sollte sie ihn einfach mal einladen. Vielleicht könnte sie sein sexuelles Interesse wecken.
Sie würde ihn dann in eine konspirative Wohnung locken, wo Wodanski beim Tete-a‑Tete plötzlich unerwartet auftauchen und den wütenden Ehemann geben würde.
Der Kollege würde in der Falle sitzen und wahrscheinlich bereit sein, konspirativ in der Kirchengemeinde für die Stasi zu arbeiten.
„Eure Methoden sind wirklich ekelerregend!“ Simone stieg die Schamröte ins Gesicht. „Und ich unterstütze dich auch noch bei deinen dreckigen Spielchen.“ Sie verließ fluchtartig die Wohnung.
„Nichts ist umsonst, nur der Tod, mon amour“, rief Wodanski ihr ins Treppenhaus nach und verschloss die Tür.
Unten hörte er den Wartburg davonbrausen.
Roy saß in der S‑Bahn nach Oranienburg und dämmerte vor sich hin. Das monoton-vertraute Ruckeln machte ihn schläfrig.
Er blickte aus dem Fenster. An den Scheiben sammelte sich Nässe. Zur abflauenden Dämmerung hatte sich ein aus den Wiesen aufsteigender, rapsgelber Nebel gesellt, der die Landschaft wie mit klebriger Watte erdrückte.
Roy hatte sich auf dem Fahrrad abgehetzt, um diese S‑Bahn zu schaffen und nicht zu spät zu kommen. Er wollte keine Probleme heraufbeschwören.
Oranienburg lag so j. w. d., dass er nur alle Jubeljahre mal hinfuhr und dann nur, wenn er musste, so wie jetzt zu der Vorladung. Insofern kannte er sich hier nicht aus.
„Wo ist nur der verdammte Eingang zum Wehrkreiskommando“, fluchte Roy. Schien ja fast so zu sein, als schäme sich die Stadt für den Ort. „Ein Glück, dass ich hier nicht hinmuss.“
Roy hatte einen Abiturplatz in Pankow bekommen, und mit dem Bus war er in 35 Minuten in der Schule.
Der Weg nach O‑burg, wie es auch genannt wurde, hätte über eine Stunde Fahrtzeit bedeutet.
Er blickte um sich. Verlassen beulten sich die Straßenzüge. Ständig buddelten sie bei Bauarbeiten Bomben des letzten Weltkrieges aus. Mit seinen vom Krieg lädierten Gründerzeit-Häusern und den ramponierten Villen mutete der Ort wie ein Strafgefangenenlager an.
Roy schüttelte sich, ein Schauer lief ihm über den Rücken und er lief schneller. „Sieht irgendwie geschunden aus, und ein bisschen vergessen.“
Roy empfand fast Mitleid mit der Stadt. Die Menschen schienen sich in den Straßenzügen wegzuducken. Das WKK machte Oranienburg auch nicht sympathischer.
Endlich hatte er das Gebäude gefunden. Der erbsengrün gestrichene Flur des WKK war mit den üblichen Kampfparolen drapiert, deren Farben bereits vergilbten.
Ein paar Plakate schienen noch vom V. Parteitag der SED 27) zu stammen. Damals wurde neben Marx, Engels und Lenin auch noch Stalin angebetet.
Der ackerbraune Linoleumboden machte einen stumpfen und müden Eindruck, der sich auf die Mitarbeiter zu übertragen schien.
Die Stühle mit den karottenfarbenen, durchgesessenen Lehnen und Sitzbezügen waren nichts für Rückenkranke.
Aber hier wartete ja die Jugend auf ihren Einsatzbefehl, um für den Frieden auf Wacht stehen zu dürfen.
Roy war der Einzige, der seit mehr als einer Stunde wartete.
Gelegentlich kam eine wichtig dreinschauende Sekretärin über den Flur gewatschelt. Sie trug unter einem ihrer fleischigen Arme die übliche paprikarote Aktenmappe geklemmt, mit der anderen fuhr sie sich durch ihren Dauerwellen-Haarschnitt. Der feldgraue Rock vermochte es nur schwer, die überzähligen Kilo Fleisch zusammenzuhalten, und auch die stahlblaue Bluse verlangte ihren Knöpfen viel ab.
Die Sekretärin hielt die pfeffergrauen Augen hinter ihrer dicken Hornbrille ängstlich auf den unebenen Boden geheftet, um mit ihren Stöckelschuhen nicht ins Schlingern zu geraten, und streifte Roy mit einem verächtlichen Blick.
Der rapsgelbe Nebel hatte es von den märkischen Feldern bis hierher geschafft und drang durch die Ritzen der Fenster.
Wie am Ende der Welt.
Das Knallen einer aufgestoßenen Tür riss Roy aus seinen Gedanken.
„Müller?“
Roy meldete sich zaghaft.
„Zu mihhhrrr! Zackig, zackig, zackig, das hat schneller zu gehen.“
Ein Mann mit einer Dachsfresse statt einem Gesicht stand auf dem Flur. Er atmete schwer.
Roy sprang auf. Er wollte schon „zu Befehl“ rufen, so eingeschüchtert war er von dieser Erscheinung. „Warum soll denn auf einmal alles so schnell gehen? Ich warte hier schon mehr als eine Stunde.“
Dem Dachsgesicht klaffte der Mund offen. „Sie sind wohl ’n ganz witziger, Genosse“, brummte der Mann, von Hustenattacken unterbrochen und Roy anstierend. „Na, bei der Fahne werden se dir die Flausen schon austreiben. So, mir folgen“, röhrte der Dachsbart und begann mit den Plasteabsatzschuhen den Flur entlangzuklappern. Die Neonröhren flackerten und machten aus dem Schwefelgelb am Ende des Flures ein düsteres Kupferorange.
Roy hoppelte wie mit einem Brandzeichen versehenes Schlachtvieh hinterdrein.
Der Dachsbart schob seinen Bauch an den Schreibtisch und steckte sich eine filterlose Zigarette an. Nach mehreren tiefen Zügen nahm er erst wieder Notiz von Roy, der immer noch in der Tür stand.
„Worauf wartest du? Auf Weihnachten?“ Und er ließ ein keckerndes Lachen ertönen. „Setzen.“ Er wies mit der linken Hand auf einen Stuhl ohne Lehne.
„So, Sie wollen also der Deutschen Demokratischen Republik beim Schutz für Frieden und Sozialismus dienen.“
Schleimiger hätte er es nicht sagen können. Erst jetzt fiel Roy im neonvioletten Halbdunkel des Raumes ein weiterer Mann auf.
„Das ist Genosse Untermeyer, der ist heute dabei“, preschte die Dachsfresse vor, gerade so, als könnte er Roys Gedanken erraten.
Roys Beklommenheit wuchs.
„So, Genosse!“
„Ich bin noch kein Genosse“, berichtigte Roy die Dachsfresse kleinlaut. „Vielleicht werde ich ja mal einer, aber in meinem Alter ist es wohl noch zu früh, nicht?“ Roy versuchte zu lächeln.
„Sie sollten sich mal überlegen, wie Sie hier reden, Müller“, zischte es aus dem Halbdunkel. Der hagere, sehnige und durchtrainierte Mann mit gelocktem blondem Haar beugte sich mit zusammengepressten Lippen und tief gezogenen Stirnfalten, die die gletschergrauen Augen im Kontrast dazu aufflackern ließen, Richtung Roy.
„Ich mein ja nur“, murmelte Roy, dessen Herz schneller zu schlagen begann.
„Ihre Meinung interessiert hier niemanden, verstanden? Sie stehen heute vor einer folgenschweren Entscheidung für Ihr Leben und Sie sollten mehr Disziplin in Ihre Wortwahl legen.“
Der blonde Hagere stand auf. Es fehlte nicht viel und er wäre mit seinem Kopf an die Decke gestoßen. Er nahm seinen Stuhl, stellte ihn mit der Lehne verkehrt herum hin und verschränkte die Arme.
Roy saß jetzt im Bermudadreieck zwischen der Dachsfresse und dem blonden Hageren, von dem Roy immer noch nicht wusste, was der hier wollte.
Gekrümmt hing Roy auf dem Hocker und blickte immer zwischen beiden Männern hin und her. Er begann zu schwitzen, obwohl in dem Raum keine Heizung lief.
Die Dachsfresse und der blonde Hagere genehmigten sich erst einmal einen Schluck aus der Privatbar, in der diverse Flaschen Wodka, Whisky und Cognac auch aus dem NSW 28) einträchtig nebeneinanderstanden.
„Zigarette dazu gefällig oder Zigarre?“ Dienstbeflissen zog das Dachsgesicht eine Schublade auf. „Sind von unseren kubanischen Genossen, quasi Direktimport.“
„Dann natürlich eine Zigarre, Genosse Tisegad, danke.“
Beide pafften, der kleine Raum füllte sich mit Zigarrenqualm. Roy hustete.
„So nun zu Ihnen.“ Der blonde Hagere machte eine bedeutungsschwere Pause und fixierte Roy mit seinen im uringelben Lichtschein glitzernden Augen.
„Ich habe Ihnen heute ein Angebot zu machen. Dieses Angebot ist einmalig und kommt nicht wieder. Denken Sie genau nach, was Sie mir erwidern. Egal, wie Sie sich entscheiden, es wird in jedem Fall für Sie und Ihre Familie ein Einschnitt sein.“
Verdammt, was spricht der Mann in Rätseln. Roys Unterhemd war klitschnass, es fehlte nicht viel, und der Schweiß würde auf den Boden tropfen.
„Sie wollen sich also für drei Jahre Dienst an der Waffe für Frieden und Sozialismus verpflichten?“
Immer bereit, echote innerlich Roy und nickte.
„Eine sehr gute Entscheidung. Unser Land braucht junge Leute wie Sie, die an den Sozialismus glauben.“
Woher will die Blondfresse wissen, was ich glaube.
„Sie bekommen ja schließlich auch etwas zurück: Sie sichern den Sozialismus und erhalten den Weltfrieden. Anschließend dürfen Sie dann Ihr Medizinstudium aufnehmen, sofern Ihre Leistungen beim Abitur entsprechend sind.“
Das lass mal meine Sorge sein. Roy wurde langsam wütend. Nu komm raus mit dem Angebot!
„Wir können Ihnen heute eine Unteroffiziersausbildung in den Luftstreitkräften unserer Nationalen Volksarmee anbieten. Sie bekommen dort eine hervorragende technische Ausbildung, die einem Facharbeiter entspricht. Erfahrene Militärexperten und Techniker werden Ihnen auf der Unteroffiziersschule in Bad Düben alles Notwendige beibringen, damit Sie in der Truppe Ihren Mann stehen werden.“
Mein Gott, wie lange will der jetzt noch schwallen.
„An welchen Standort Sie dann aber kommen, kann niemand vorhersagen.“
Roy spitzte die Ohren. Mist, irgendwie klang das nach Arsch der Welt.
Der blonde Hagere lehnte sich zurück und wechselte mit der Dachsfresse mehrere bedeutsame Blicke.
„Noch eine Zigarre gefällig, Genosse Oberstleutnant?“
Dem blonden Hageren schoss die Röte ins Gesicht. Es war abgemacht, dass kein Dienstgrad fallen sollte. Alles sollte einen zivilen Anschein wahren, der durch den dummen Versprecher des Dachsgesichtes hinfällig war.
Der blonde Hagere sprang auf. „Mensch Tisegad, Sie dummes Frontschwein! Hat Ihnen der Wodka den Verstand vernebelt?“
Das Dachsgesicht winselte. „Genosse … vielleicht eine Zigarette? Ich habe auch Duett da?“
„Schnauze, Sie Blödmann“, fuhr der blonde Hagere die Dachsfresse an. „Na, geben Se ’ne Duett her.“ Der blonde hagere Oberstleutnant inhalierte mehrmals und schien sich dann wieder an Roy zu erinnern. „Gießen Se mir nochmal ein, Tisegad.“
„Aber selbstverständlich.“ Das Dachsgesicht sprang erfreut auf und goss dem Oberstleutnant ein Wasserglas mit Wodka voll, das dieser in einem Zug leerte und sich danach die Lippen leckte. „Gut, nicht zu ändern. Hier mein Angebot an Sie, Müller.“
Roy begann zu frieren, da sich das Unterhemd langsam abkühlte.
„Sie verpflichten sich für das Wachregiment ‚Feliks Dzierzynski‘ und können für diese Zeit Außenschläfer machen. Das heißt, Sie können für diese drei Jahre zu Hause schlafen, entweder bei Mutti oder bei Ihrer Kirsche.“
Das Dachsgesicht meckerte los wie über einen Riesenwitz.
„Gekoppelt daran ist, dass Sie uns über Ihre Kommilitonen später an der Uni auf dem Laufenden halten.“
„Auf dem Laufenden halten? Was meinen Sie damit?“ Roy war komplett ahnungslos.
„Ich meine damit, dass Sie sich heute verpflichten, nach dem Dienst im Wachregiment als Inoffizieller Mitarbeiter zu arbeiten. Ich wäre dann Ihr Führungsoffizier.“
„Eine ganz tolle Chance für Sie, junger Mann“, versuchte sich die Dachsfresse einzuschleimen.
In Roys Ohren rauschte es und er hörte sein Herz pumpen. Sein Rücken war eiskalt und er sah, wie sich eine Gänsehaut auf seinen dünnen Unterarmen bildete. Roy glaubte noch immer, sich verhört zu haben.
Er erinnerte sich an die Erzählungen seines Vaters, der mehrfach vom MfS angeworben wurde, und sich die Meute nur mit dem Satz „Ich kann und will niemanden anscheißen“ vom Halse schaffte.
„Sie meinen Stasi?“ Roy machte den Rücken gerade und blickte den Oberstleutnant an.
„Das heißt Ministerium für Staatssicherheit“, blaffte das Dachsgesicht herüber.
Der Oberstleutnant gebot ihm Einhalt. „Ja, genau das meine ich. In Ihrer mütterlichen Verwandtschaft sind ja einige bereits in verantwortungsvollen Positionen tätig.“
Roy spuckte innerlich aus.
Diese Widerlinge hatten absolut nichts zuwege gebracht, außer wahrscheinlich irgendwelche Berichte zu schreiben und Leute anzuscheißen. Damit hatten sie es in der DDR zu ziemlichem Wohlstand gebracht. Er hasste sie alle. Vielleicht hatten sie diesen „Operativen Vorgang“ 28) sogar arrangiert? Roy lachte grimmig.
„Was erlauben Sie sich hier zu lachen?“
Auch das Lachen der Galeerensklaven wird in der Brandung zu hören sein, dachte Roy grimmig. Und wenn sie sich erheben, wird euch das Lachen vergehen!
Dem Dachsgesicht war die Fassungslosigkeit anzusehen. „Sie gehören drei Jahre zu den Muckern gesteckt, Land der drei Meere, da können Sie Sand und Dreck fressen und wimmernd an dieses Treffen denken.“
„Nie wird man mir Verrat vorwerfen können“, keuchte Roy wie im Fieber, und er drückte seine schmalen Schultern durch.
Der Oberstleutnant blickte überrascht auf. „Was sprechen Sie in Rätseln? Reden Sie deutsch, Mann!“
„Hatten wir gerade in Deutsch, Antigone.“
„Anti, was? Das ist das Einzige, was ich verstehe. Sie sollten sich zügeln mit Ihren Worten, Genosse.“
„Ich gehe drei Jahre zur NVA, um meinem Land zu dienen und den Weltfrieden zu sichern, aber NIEMALS WERDE ICH EGAL WEN AUCH IMMER BEI DER STASI VERPFEIFEN!“ Die letzten Worte schleuderte Roy nahezu heraus.
Der Oberstleutnant erbleichte. Mit dieser brüsken Reaktion hatte er nicht gerechnet. „Sie werden es in Ihrem Leben mal sehr schwer haben, wenn Sie so unkooperativ sind, junger Mann.“
„Kann ich jetzt gehen?“ Roy blickte den OSL an.
„Treten Se weg, Mann! Diese Entscheidung werden Se noch mal bitter bereuen!“
Den Morgennebel hatte die Spätsommer-Sonne vertrieben und tauchte die Landschaft in phosphoreszierendes Licht. Die Gesichter der Jungs in den Uniformen der Nationalen Volksarmee schimmerten wie Totenmasken unter dem Stahlhelm.
Eigentlich hatte Roy geglaubt, dass diese Art Marschieren mit Stahlhelm und schräg gehaltenem Gewehr nach Art der Uschi-Schule 30) Geschichte sei, aber er wurde leider eines Besseren belehrt.
Die KRS 31) probte mal wieder für eine Schauveranstaltung.
OSL Brüllinski wollte sich in bestem Licht beim Oberst zeigen, und dafür mussten alle Unteroffiziere wie damals in der Grundausbildung endlose Runden marschieren, damit am großen Tag alles klappte.
Auf dem Flughafen und in der Reparaturhalle der KRS wurden alle Flächen mit neuem Anstrich übertüncht.
Auch die Wohnbaracke der Unteroffiziere war dafür besonders zu präparieren.
Seit Wochen war Großreinemachen angesagt. Sämtliche Flure, Dienstzimmer, Fernsehraum, Aufenthaltsraum und die Unterkunftsräume wurden besonders intensiv geschrubbt, gekeult, gewischt und gebohnert. Da es mehr und mehr weibliche Unteroffiziere gab, die separat im Ledigen-Wohnheim wohnten, mussten leider auch höhere Dienstgrade mit ran.
Brieskopf saß im Fernsehraum wie die meisten seiner Diensthalbjahr-Kumpel. Er hatte seine langen Staketen auf einem umgedrehten Stuhl platziert und kommentierte lautstark das Fernsehprogramm 32). Da heute ein glatter Fähnrich Hintergrunddienst hatte, wurde Bier getrunken und geraucht.
Katrin hatte wieder geschrieben. Im letzten Brief vom Mai hatte sie alle Hoffnungen Roys zerstört.
In seinem ersten längeren Urlaub im Mai war er unvermittelt auf eine Sandbank aufgelaufen, auf der Katrin lag.
Roys Herz hüpfte damals wie ein Wasserfloh, als er sie sah. Katrin trug als Einzige einen Schlabberpullover, der nur mühsam ihren Busen kaschierte. Sie tanzte mit geschlossenen Augen vor sich hin in der Disco im „Knaack-Club“ 33).
Auf der Tanzfläche wogten gestylte Discomiezen mit kurzen, gegelten Haaren à la Nena oder Duran Duran, die sich roboterhaft zur Musik bewegten.
Katrin sah mit ihren langen Haaren dagegen wie eine gestrandete Meerjungfrau aus. Sie schien zu einer eigenen inneren Melodie zu tanzen und schlenkerte mit den Armen, auf dem Gesicht ein Lächeln mit einem Schuss Wehmut.
„Wolln wir tanzen?“
Überrascht öffnete Katrin die olivbraunen Augen. Vor ihr stand Roy, mit schlecht sitzenden Ostjeans, Fleischerhemd, Nickelbrille und gut einen Kopf größer.
„Nee, lass mal, keen Bock. Ick will meene Ruhe haben.“
Enttäuscht zog Roy ab, beobachtete Katrin aber weiter aus der Distanz. Er lauerte schließlich an der Bar auf sie. „Drink gefällig?“
„Cola-Wodka ohne Eis“, sagte Katrin, ohne ihn anzusehen.
„Zwei Cola-Wodka ohne Eis bitte“, orderte Roy.
„Eis ham wa sowieso nich’, meen Kleener“, grinste die Barfrau, und stellte die Getränke hin. „Macht sechs Mark.“
„Machen Se sieben“, sagte Roy.
„Danke, meen Süßer, hast wohl de Spendierhosen an, wa? Oda willste die kleene Schnecke beeindrucken?“
Wenn das so einfach wäre.
Katrin trank den Cola-Wodka, ohne Roy zu beachten.
„Mit ’nem Danke wär ich erst mal zufrieden“, meinte Roy.
Katrin drehte den Kopf. „Tut mir leid, heute is’ nich’ meen Tach. Danke und Prost.“
Die Gläser klapperten.
Katrin trank das Glas mit einem Ruck aus.
„Großer Durst oder großer Kummer?“ Roy blickte sie an.
„Ach Scheiße Mann, allet Scheiße.“ Katrin begann plötzlich zu schluchzen und barg den Kopf an Roys Schulter.
Lindenblütenshampooduft stieg in Roys Nase. Er musste niesen.
„Du bist ja echt ’n Stratege.“ Katrin lachte und schluchzte gleichzeitig. „Kann ick noch een bekommen?“
Roy winkte der Bedienung, die nochmal zwei Gläser hinstellte. Katrin kippte es mit einem Zug hinter.
„Für mich nich’ mehr.“
„Lass ma’, ick trinke deins ooch. Komm, wir hauen ab.“
Roy zahlte, kippte den Rest des ersten Cola-Wodka hinunter und versuchte mit Katrin Schritt zu halten.
Die beiden landeten kurz darauf in Katrins Bett.
Da Katrin betrunken und Roy unerfahren war, lief außer wildem Knutschen und Anfassen nichts.
Diese Nacht hatte bei Roy ausgereicht, um für Katrin zu entflammen.
Seitdem masturbierte er vor dem Einschlafen behutsam unter der Decke, damit er die Bettfedern nicht zum Knarren brachte. Roy benutzte dazu ein Stück vom Bettlaken, das er unter der Matratze vorzog, um es dann nach seiner Erleichterung dort wieder zu verstauen. Beim Wäschewechsel zog er persönlich das Laken ab und steckte es in den Wäschesack.
Seit jener Nacht hatte Roy über Monate hinweg mehrere Briefe an Katrin geschrieben, wo er seine Gefühle und Gedanken in jener Nacht zu Papier brachte und Katrin für sich zu gewinnen versuchte. Alle Briefe blieben unbeantwortet – bis heute.
„Achtung!“
Roy zuckte zusammen.
Brieskopf mit seinem Hackklotzrumpf und den Hampelmann-Beinen stelzte herein. Brieskopf bölkte immer auf diese Art und Weise, wenn er ins Zimmer kam.
Und jedes Mal erschreckte Roy sich aufs Neue, was Brieskopf immer diebisch freute.
„Mann, war das wieder ein hohler Film, so was von hohl.“ Brieskopf fuhr sich mit der Hand durch sein schütteres, dünnes Haar und sprach das hohl mit einem langgezogenen Vokal aus, etwa „hooouuuhl“. Sein Lieblingswort war deshalb auch Schokoladenhohlkörper, da hatte er gleich mehrere Vokale zum Langziehen. Auch wenn gerade nicht Weihnachten oder Ostern war, benutzte er gern dieses Wort zu allen möglichen und unmöglichen Gelegenheiten. Brieskopf glupschte zu Roy rüber, und seine Narbe am Kinn zuckte. „Machst ’n da?“
„Wonach siehts denn aus?“, fragte Roy.
„Brief lesen von deiner Kleenen? Gib ihr mal ’nen Küsschen von mir, wenn de zurückschreibst. Für mich pimpern geht ja schlecht.“
Obwohl Brieskopf dünn, schlaksig und unansehnlich war, hielt er sich für unwiderstehlich bei Frauen.
„Wohl kaum“, entgegnete angeekelt Roy.
„Na, na, na, nich’ so frech, mei’ Gudster. Sonst bekommste noch ’n Revier, morgen haben meine Leute wieder UvD. Und die Bude könnste ooch mal wieder machen.“
Brieskopfs Diensthalbjahr stellte etwa ein Drittel der Mannschaft und hatte daher praktisch immer UvD oder GUvD.
Roy schipperte also zwischen Skylla und Charybdis 34). Er durfte Brieskopf nicht zu sehr verärgern, andererseits wollte und konnte er nicht jede Bemerkung von Brieskopf kommentarlos hinnehmen.
„Na, jetzt biste ruhisch, wa?“ Brieskopf meckerte zufrieden und machte sich ans Strümpfestopfen.
Arschloch. Roy war schleierhaft, warum Brieskopf ständig Strümpfe stopfte, aber er tat es wohl, um die Zeit totzuschlagen. Und weil er keine Mutter mehr hatte. Also keine, die sich um ihn kümmerte. Da der Vater alles für Alkohol ausgab, was er als Berufsschullehrer verdiente, war die Mutter früh weg.
Und Brieskopf fischte seinen besoffenen Vater aus den Kneipen.
Mittlerweile hatte der Vater aber Probleme mit der Bauchspeicheldrüse und war mehr in Krankenhäusern als in der Klasse anzutreffen.
Brieskopf besuchte ihn während seiner Urlaube, wusch Wäsche und brachte die Wohnung auf Vordermann.
Roy blickte zu Brieskopf rüber und musste sich das Lachen verkneifen. Der sah mit der Brille aus wie seine 30 Jahre ältere Erbtante.
Andächtig setzte Brieskopf Stich für Stich. „Fertsch!“ Brieskopf sprang auf. „Ich geh eene rooouuuchen. Mach mir keene Dummheiten, hörste?“ Brieskopf starrte aus seinen wolfsgrauen Augen über den Brillenrand. Hastig nahm er die Brille ab, die selbst bei seinem eigenen Diensthalbjahr zu Spott und Hohn führte, und knallte die Tür zu, die Zigarette im Mundwinkel.
Ein knappes Jahr hatte Roy jetzt diese Narbenfresse auf dem Zimmer, und noch anderthalb weitere würde er ihn ertragen müssen. Dieses ständige Geblöke, Gelaber und Gegröle, die ständigen Ermahnungen, immer fragen zu müssen, ob Ausgang oder Urlaub möglich sei, machten Roy wahnsinnig. Auch auf dem Flugplatz stand er unter seiner Knute.
Insofern war ein Brief von einer Frau aus der Welt da draußen ein wundervolles Geschenk.
Roy drehte und wendete den Brief. Er roch sogar daran. Endlich überwand er sich, den Brief zu öffnen. Vorsichtig zog er das pflaumenviolette Briefpapier heraus und begann zu lesen.
„Mein liebster Roy, ich habe lange nachgedacht. Ich weiß, dass ich Dir mit meinem letzten Brief sicher wehgetan habe. Aber die Dämonen aus meiner Vergangenheit hatten sich wieder gemeldet, und ich war nicht in der Lage, irgendeinen Mann zu treffen. Nimm es bitte nicht persönlich.“
Roy schluckte. Die Dämonen aus meiner Vergangenheit, was sie wohl meinte damit?
„Ich denke oft beim Einschlafen an unser erstes Treffen und stelle mir vor, wie es ist, wenn Du mal wieder neben mir liegst. Kannst Du nicht kommen? Ich will Dich gern wiedersehen.“
Roy seufzte.
Am nächsten Tag sprach er in der Mittagspause Stabsfähnrich Kruthkopp an.
„Na, Genosse Müller, was haben Se denn aufm Herzen.“ Kruthkopp blickte ihn aus seinen Zanderaugen an, die schmalen Lippen ernst zusammengepresst. Sein schütteres kieselgraues Haar war über den Ohren akkurat gestutzt und wies ihn schon von weitem als Militärangehörigen aus. Die kräftigen Hände waren von Sonne und Arbeit gezeichnet und lagen schwer auf den Knien.
Roy roch eine leichte Alkoholfahne. Kruthkopp brauchte immer mal einen Schnaps. Wahrscheinlich war der Alte nicht da, wie OSL Brüllinski auch genannt wurde, und Kruthkopp hatte mit seinem Werkstatt-Kumpel einen gehoben. Die Zanderaugen blickten noch glasiger als sonst.
Für Roy gab es keinen besseren Zeitpunkt, um nach Urlaub zu fragen. „Ich brauch Urlaub, sonst geht meine Freundin fremd“, log Roy.
„Die Weiber, die Weiber“, seufzte Kruthkopp und sah Roy aus seinem leicht aufgedunsenen Gesicht an. „Na, datt jeht schon klar, Brieskopf noch fragen, aber datt wissen Se ja. Und dann schön einen wegstecken.“ Kruthkopp grinste versöhnlich. Viel reden war nicht seine Sache, allenfalls die immer gleichen Standardfloskeln.
Die Welt von Kruthkopp, der wie OSL Brüllinski Halbwaise war, bestand aus Arbeit, Arbeit, Arbeit oder NVA, NVA, NVA. Dann kam das Saufen und danach das „ab und an einen wegstecken“, wie er Sex nannte.
Lästermäuler behaupteten, Kruthkopp sei in einem Fischgeschäft gezeugt worden, weil der Vater Fischer und die Mutter Fischverkäuferin waren.
In den letzten Jahren kam Kruthkopp allerdings immer weniger zum einen Wegstecken.
Seine deutlich jüngere Frau war in den letzten Jahren immer wählerischer und zickiger geworden, obwohl er sie wie eine Göttin verehrte. Sie stellte Forderungen, die langsam seinen finanziellen Spielraum überforderten, obwohl er sich selbst außer Schnaps nichts gönnte.
Kruthkopp hatte Angst, dass sie ihn verlassen würde für einen Jüngeren und besser Verdienenden, vielleicht einen Offizier. Umso mehr jieperte er der hoffentlich dieses Jahr anstehenden Beförderung zum Stabsoberfähnrich entgegen, was deutlich mehr Ostmark in die Kasse spülen würde.
Roy ging vor dem Essenfassen schnell zur Post innerhalb der Kaserne, um ein Telegramm für Katrin aufzugeben. Bei der Deutschen Post wusste man ja nie, wie lange die Briefe gingen, und heute war schon Dienstag.
„Liebste Katrin, komme diese Woche!!! In Liebe Roy.“
Der Schalterbeamte, ein Zivilangestellter, nahm den Text entgegen. „Wenn Se nur ein Ausrufezeichen machen, wirds billiger.“
„Okay, dann lassen Sie bitte nur eins stehen.“
„Okay? Wir sind hier nicht bei der U.S. Army, Genosse Unteroffizier“, blaffte der Zivilangestellte los, um dann den Text in den Apparat zu hämmern.
Alter Frustbolzen, frotzelte Roy innerlich, welche Laus ist dir denn über den Pelz gelaufen?