NordKap - Rainer Doh - E-Book

NordKap E-Book

Rainer Doh

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Beschreibung

Im eiskalten Norwegen sieht sich Kriminalkommissar Arne Jakobson mit einer Reihe von rätselhaften Fällen konfrontiert: Vom mysteriösen Tod eines deutschen Touristen auf einem Kreuzfahrtschiff, über einen Mord, der mit einem vermeintlichen Goldschatz zu tun haben scheint, bis hin zu einem politischen Attentat mit weitreichenden Folgen. Als die Peer-Gynt-Papers auftauchen, gerät Jakobson ins Visier skrupelloser Wirtschaftsbosse und internationaler Geheimdienste. Zwischen Schneestürmen und politischen Intrigen muss er die Wahrheit ans Licht bringen, um nicht selbst zum Opfer zu werden. Ein packender Sammelband voller Spannung, Action und unvorhersehbarer Wendungen.

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Rainer Doh

NordKap

Die Kriminalfälle des Arne Jakobson

Sammelband

Rainer Doh

Mordkap

Kriminalroman

I. Nordgehend

Skjervøy

Am frühen Nachmittag hatte leichter Schneefall eingesetzt. Etwas später war Wind aus Nordost aufgekommen und im Lauf des Abends immer stärker geworden. Jetzt, eine Stunde vor Mitternacht, trieb ein Sturm den Schnee waagerecht durch die Bucht von Skjervøy. Vom Hurtigrutenkai aus waren mittlerweile weder die Lichter der Hafeneinfahrt noch die der Häuser zu erkennen, die sich im Halbrund der Bucht den Hang hinaufzogen.

Unter den trüben gelben Lichtkegeln der drei Lampen, die am Dach einer Lagerhalle angeschraubt waren, versuchte Bjørn Frugård mit einem Schneepflug den fünfundzwanzig Meter langen Streifen zwischen Halle und Kaimauer vom Schnee freizuhalten. Laut Fahrplan sollte die MS Midnatsol, aus Tromsø kommend, in den nächsten Minuten in Skjervøy eintreffen. Bei schlechtem Wetter ist die Hurtigrute noch immer die schnellste Verbindung zwischen den kleinen Küstendörfern der Provinzen Nordland, Troms und Finnmark. Und oft ist sie bei Winterstürmen sogar die einzige Verkehrsmöglichkeit an der Küste, weil dann nicht nur lokale Schiffsverbindungen wie das Schnellboot, das zweimal täglich zwischen Tromsø und Skjervøy verkehrt, den Betrieb einstellen, sondern weil auch die kleinen Flugplätze der Küstenorte schließen und etliche Straßen unpassierbar sind.

Zwischen den Gebäuden entlang der Hauptstraße von Skjervøy tauchte ein Auto auf. Das Licht seiner Scheinwerfer strich für ein paar Sekunden an den Häusern entlang, am Friedhof und an der weißen Holzkirche, für einen Moment waren die Scheinwerfer von Oskar Stymnes leer stehendem Laden verdeckt, aber gleich darauf tauchten sie an der Ecke des Kulturhauses wieder auf. Hier bogen sie von der Hauptstraße ab und schwenkten zum Hafen hinunter. Es waren die Scheinwerfer des einzigen Polizeiautos des Ortes. Der Volvo-Geländewagen mit seiner markanten blau-weißen Lackierung suchte sich vorsichtig einen Weg über die schneebedeckte Fahrbahn. Schließlich hielt der Wagen am Hurtigrutenkai im Windschatten der Lagerhalle, einem grauen, rechteckigen Klotz aus Fertigbauteilen. Stabil, funktional und hässlich, wie die meisten Bauten in Norwegens Häfen.

Arne Jakobson und Stig Dyrdal, die Beamten der Polizeistation Skjervøy, stiegen aus, warfen die Türen zu, liefen mit eingezogenem Kopf zur Halle und flüchteten unter dem halb hoch gezogenen Rolltor ins Innere.

Bjørn hatte den Volvo kommen sehen. Er stellte den Schneepflug neben der Halle ab, kletterte aus dem Fahrerhaus. Er folgte den beiden Polizisten in die Halle und ließ hinter sich das Tor herunter.

„Hei! Was macht ihr denn hier? Habe ich falsch geparkt?“, fragte er und streifte seine dicken Fäustlinge ab.

Stig ging nicht darauf ein. „Hei. Müsste sie nicht schon da sein?“ Er deutete mit einer Kopfbewegung in Richtung Hafen.

„Sie kommt kurz nach elf. Bei diesem Wetter ist das pünktlich. Aber wenn es so weitergeht, dann weiß ich nicht, wie es morgen aussieht. Die Temperatur ist seit heute Morgen um fünf Grad rauf, das gefällt mir gar nicht. Das bedeutet Sturm. Warum seid ihr hier? Wollt ihr etwa mitfahren? Nach Hammerfest? Heute Nacht noch? Na, dann viel Vergnügen. Da draußen geht es bestimmt schon hoch her.“

Die beiden Polizisten ließen sich nicht entlocken, was sie so spät am Abend noch zum Kai geführt hatte. „Hast du Fracht für die Midnatsol?“, erkundigte sich Stig und schaute sich in der Halle um. Ein Dutzend Fünfzigkilosäcke mit Fischfutter stand herum, ein in Folien verpacktes Schneemobil, zwei Paletten mit Lackdosen in verschiedenen Farben und, mit einer Plane abgedeckt, Ersatzteile für eine Autowerkstätte. Seit Jahren schon wandert der Frachtverkehr von der Hurtigrute zur Straße ab, wo der Transport einfach billiger ist.

„Das Zeug hier ist vorgestern ausgeladen worden. Nach Norden hab ich heute nichts. Passagiere gibt es auch keine. Außer euch beiden. Falls ihr tatsächlich nach Hammerfest wollt.“ Er lachte, aber weder Arne noch Stig lachten mit.

Arnes Mobiltelefon piepte. Er drückte auf die grüne Taste und nahm das Gespräch an. Es war Steffen Egeland, der Kommissar der Polizeidirektion in Tromsø. „Ist sie schon da?“, fragte er.

„Nein. Sie hat Verspätung“, antwortete Arne. „Aber wohl nur ein paar Minuten.“

„Ist der Arzt gekommen?“

„Nein, aber der wird auch gleich eintreffen.“

„Gut. Er soll sich den Mann gleich in der Kabine anschauen. Du musst mit den Passagieren und Besatzungsmitgliedern sprechen. Ob jemand etwas beobachtet hat.“

Das war neu, dass Arne Vernehmungen durchführen sollte. „Es sind vermutlich ein paar hundert Leute an Bord“, sagte er.

Steffen sah die Sache ganz unkompliziert. „Rede mit den Leuten aus den Nachbarkabinen und mit denen, die bei ihm im Restaurant am Tisch saßen. Es ist nur, damit wir was für den Bericht haben. Weil es sich um einen Ausländer handelt, brauchen sie in Oslo einen ausführlichen Bericht, den sie an die Botschaft schicken können. Aber deswegen müssen wir uns nicht verrückt machen. Im Grunde ist es eine Formsache, verstehst du?“

Arne verstand schon: möglichst wenig Arbeit investieren, ohne dass es so aussah. Im Grunde waren solche Vernehmungen ohnehin Aufgabe der Kriminalpolizei und nicht die der Polizeistation in Skjervøy. Deren Tätigkeit sollte sich in so einem Fall eigentlich darauf beschränken, die Örtlichkeiten mit einem weiß-roten Plastikband abzusperren und dafür zu sorgen, dass der Kriminalpolizei immer genug heißer Kaffee zur Verfügung stand.

„Aber das kann trotzdem Stunden dauern“, wandte Arne ein. „Es ist spät. Die meisten Passagiere werden schon im Bett sein. Bis wir die alle auftreiben …“

„Ja, das ist klar“, gab Steffen zu. „Die Hurtigrute kann natürlich nicht warten, bis die aufstehen. Deshalb haben wir uns gedacht, dass es das Beste ist, wenn du an Bord bleibst und einfach ein Stück mit fährst. Nur so lange, bis du mit der Untersuchung fertig bist.“

„Ich?“, fragte Arne. „Ich soll mit der Midnatsol fahren? Jetzt?“

„Nur für ein paar Häfen. Morgen fährst du gleich wieder zurück. Von uns kann derzeit keiner nach Skjervøy kommen. Du weißt selbst, wie das Wetter aussieht. Und es ist ja auch keine große Sache.“ Steffen machte eine Pause. „Rasmus meint, du könntest das bestimmt auch ohne uns durchziehen.“

„Hat Rasmus das gesagt?“, fragte Arne. Rasmus Kjær war der Polizeichef der Provinzen Troms und Finnmark.

„Ja, er kennt dich vom Seminar in Bodø. Und er meint, dass du der richtige Mann für diese Aufgabe bist.“ Das Seminar hatte sich „Grundlagen moderner Ermittlungsarbeit“ genannt und es hatte vor über zwei Jahren stattgefunden. Arne hielt es für ausgeschlossen, dass sich Rasmus Kjær nach so langer Zeit noch an einen Dorfpolizisten aus Skjervøy erinnerte. Es gab in Troms und Finnmark immerhin ein paar hundert Polizisten. Sie hatten vermutlich in ihrer Datenbank nachgesehen und rasch ein paar Informationen über ihn zusammengestellt.

„Es ist im Grund ganz einfach“, fuhr Steffen fort. „Du gehst an Bord, schaust dich um und redest mit den Leuten. Dann schreibst du einen Bericht, und spätestens in Honningsvåg steigst du wieder aus und fährst mit dem nächsten Schiff zurück. Morgen Abend bist du wieder zu Hause.“

Auch wenn das Wetter mehr als schlecht war, auch wenn die Kriminalpolizei in den nächsten Stunden unmöglich nach Skjervøy kommen konnte, mit Steffens Vorschlag würde die Polizeidienststelle Skjervøy ihre Zuständigkeit klar überschreiten. Andererseits – für jemanden, der Skjervøy so bald wie möglich verlassen wollte, der der Auffassung war, drei Jahre Dienst im dunklen Norden seien schon lange genug, für jemanden also, der unbedingt zurück nach Trondheim und dort vielleicht selbst zur Kriminalpolizei wechseln wollte und der deshalb schon zweimal seine Versetzung beantragt hatte, für so jemanden bot eine solche Kompetenzüberschreitung natürlich die Chance, seine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Oder zumindest auf sich aufmerksam zu machen. Immerhin bestand die Möglichkeit, dass sich Rasmus Kjær den Namen von diesem Jemand dann wirklich merken würde. Arne sagte: „Okay, kein Problem.“

„Noch was“, sagte Steffen. „Hast du einen Fotoapparat dabei?“

„Selbstverständlich.“

„Wir brauchen von jedem Winkel der Kabine Fotos.“ Die Sache mit den Fotos hatte Rasmus in seinem Grundlagenseminar fast über vier Stunden ausgewalzt.

„Klar, mach ich“, sagte Arne.

„Sie kommt!“, rief Bjørn, der am Fenster stand. Tatsächlich waren in der Hafeneinfahrt durch das Schneetreiben nun die Scheinwerfer eines großen Schiffs zu erkennen.

„Ich muss Schluss machen, sie ist da“, gab Arne an Steffen weiter. Im selben Moment war das Signalhorn der Midnatsol zu hören.

„Ja, ich höre es bis hierher“, sagte Steffen. „Also, ihr wisst, was zu tun ist. Wenn es ein Problem gibt, dann ruft ihr uns einfach an. Wir sind heute Nacht immer erreichbar.“

„In Ordnung.“ Arne schaltete das Telefon ab und steckte es in den Anorak. Er trat neben Stig, der jetzt ebenfalls am Fenster stand. „Sie wollen, dass ich mitfahre“, sagte er.

„Die halten uns für Dorftrottel“, sagte Stig, ohne sich umzudrehen. Er drücke die Stirn an die kalte Scheibe und versuchte mit beiden Händen, das Innenlicht abzuschirmen. „Ich sehe gar nichts“, sagte er. Auch die Scheinwerfer waren wieder verschwunden.

„Ihr seid beide blind“, raunzte Bjørn. Er setzte seine Mütze auf, zog die Arbeitshandschuhe an und ließ das elektrische Rolltor hochfahren.

Sie duckten sich alle drei unter dem langsam mit grässlichem Quietschen nach oben fahrenden Tor durch und gingen auf den Kai hinaus. Das Schiff war tatsächlich nur noch wenige Meter entfernt. Es hatte sich fast lautlos an die Kaimauer herangeschoben und erhob sich nun riesenhaft über der Lagerhalle – eine schwarz-rot-weiße, neun Stockwerke aufragende Wand aus Stahl, die den Kai auf fast hundertfünfzig Metern gegen den Schneesturm abschirmte.

Bjørn fuhr mit dem Gabelstapler zum Heck des Schiffs und nahm eine Leine auf, die ihm von oben zugeworfen wurde. Er zog damit ein Tau zu sich herunter und legte die Schlaufe über einen Poller; dann kam eine zweite Leine, das zweite Tau, der zweite Poller. Während das Heck der Midnatsol sich an den beiden Tauen die letzten Meter an die Kaimauer heranzog, fuhr Bjørn mit dem Gabelstapler schon zum Bug, um das Schiff auch dort festzumachen. Die riesigen Lkw-Reifen, die als Puffer an der Kaimauer hingen, ächzten für ein paar Sekunden unter dem Druck, dann lag die Midnatsol fest vertäut am Kai. Das Manöver hatte nur ein paar Minuten gedauert.

Schon während des Anlegens hatte die Besatzung das Tor für die Passagiere geöffnet und die Gangway ausgefahren. Ein paar Meter rechts davon wurde auch das große Ladetor hydraulisch nach oben geklappt. Zwei Matrosen machten den Frachtaufzug fertig, mit dem die Ladung drei Decks nach unten in den Rumpf des Schiffes gefahren werden konnte. Stig schlug den Kragen seiner Jacke hoch und ging zum Tor. Er rief den Matrosen etwas zu, aber sie konnten ihn nicht verstehen, weil Bjørn den Gabelstapler an die Rampe gefahren hatte und keine zwei Meter hinter Stig den Motor aufheulen ließ.

Stig blieb unten am Kai. Arne lief die Gangway hinauf. Oben an der Treppe empfing ihn ein Schiffsoffizier, ein junger Mann Ende zwanzig, blond, groß und dünn. Er hatte sich eine Daunenjacke über die Uniform gestreift.

„Ich bin Ole Henriksen, Sicherheitsoffizier der Midnatsol“, sagte er und gab Arne die Hand. „Du bist Arne Jakobson?“

„Ja, von der Polizeistation hier in Skjervøy. Ich führe die Untersuchung an Bord durch. Das Wichtigste: Vorerst darf niemand das Schiff verlassen.“

„Geht klar. Wir wissen Bescheid. Die Kriminalpolizei aus Tromsø hat schon ein paar Mal bei uns angerufen.“

Arne verzog den Mund. „Nicht nur bei euch. Also, wo ist es?“ „Auf Deck 7. Komm mit, ich gehe voraus.“ Er führte Arne in das große, hell erleuchtete Atrium und dort nach links zu einem der beiden gläsernen Aufzüge.

Gegenüber dem Eingang, vor der Rezeption, stand eine Handvoll Passagiere mit Taschen und Koffern. Sie wollten aussteigen und protestierten lautstark, als sie hörten, dass sie vorerst an Bord bleiben mussten. Da Skjervøy ein kleiner Ort ist, kannte Arne alle persönlich. Ein rotblonder, untersetzter Mann mit einer Reisetasche über der Schulter hatte ihn auf das Schiff kommen sehen und rief jetzt: „Arne, man lässt uns nicht von Bord gehen! Da musst du eingreifen.“

Aber Arne war schon hinter Ole im Lift, und während sie nach oben fuhren, sah Arne seine Mitbürger unten an der Rezeption stehen und ihm hinterher schimpfen.

„Wir haben natürlich nichts angerührt“, sagte Ole. „Die Kabine ist verschlossen und wird bewacht.“

„Ist der Mann ein Tourist?“, fragte Arne.

„Ja, ein Deutscher. Er war seit Bergen an Bord.“

Der Lift hielt. Arne und Ole wurden von einer jungen Frau erwartet. Sie trug ebenfalls Uniform, war Anfang dreißig und hatte die dunklen Haare nach hinten gebunden. Arne vermutete, dass sie normalerweise ein fröhliches Gesicht hatte.

„Das ist Britta“, sagte Ole. „Britta Lund. Sie ist auf der Midnatsol für den Passagierbereich zuständig. Sie hat den Mann gefunden.“

Britta gab Arne die Hand und wollte etwas sagen. Aber sie schluckte nur zweimal und brachte nichts heraus.

„Alles okay mit dir?“, fragte Arne.

Britta räusperte sich. „Na ja. Es geht schon wieder. Das war … das war ein ziemlicher Schock für mich.“ Sie räusperte sich noch einmal. „Ich habe … so etwas … noch nie gesehen. Bloß im Fernsehen, aber nicht so aus der Nähe.“

Sie betraten einen schmalen Korridor, von dem die Kabinen abgingen. Vor der drittletzten Kabinentür auf der linken Seite blieb Ole stehen. Ein Matrose in einem roten Overall lehnte an der Wand.

„Das ist Petter, er hat hier aufgepasst“, sagte Ole, und zu Petter: „War inzwischen etwas Besonderes?“

Petter nickte Arne kurz zu und sagte: „Nein. Ein paar Mal sind Passagiere vorbeigekommen. Sie haben mich nur mit großen Augen angeglotzt. Sonst war nichts.“

„Also, können wir?“, fragte Arne und sah Britta und Ole auffordernd an.

Britta musste sich sichtlich zusammennehmen. Sie holte tief Luft und gab Arne eine weiße Plastikkarte, ihre Universalschlüsselkarte, mit der sie alle Kabinen auf dem Schiff öffnen konnte.

„Mit dem Strichcode voraus“, erklärte sie.

Arne steckte die Karte in den Schlitz am Türschloss, drückte die Klinke hinunter und schob die Tür auf.

In der Kabine brannte Licht. Arne gab der Tür einen Stoß, sodass sie zurück schwang und den Blick in die Kabine freigab. Es war ein enger Raum, nicht viel mehr als vier Meter lang und etwa zwei Meter breit. Das rechteckige Fenster ging nach Steuerbord, auf die vom Kai abgewandte Seite. Vorne rechts, gleich neben der Tür, befanden sich ein Schrank und ein in eine Kommode eingebautes Tischchen, davor stand ein Stuhl, daneben eine Klappcouch, auf der eine zusammengefaltete, blaue Wolldecke lag. Links neben dem Eingang führte eine Tür in die Dusche und Toilette, etwas verdeckt dahinter standen ein weiterer schmaler Schrank und das Bett.

Am Boden lag ein Mann, den Kopf zur Seite gedreht, die Beine ausgestreckt, den rechten Arm leicht angewinkelt. Er war mit einer grauen Jeans und einem hellblauen Hemd bekleidet. Arne sah sofort die große dunkelrote, fast schwarze Wunde an der rechten Schläfe. Und die Pistole auf dem Boden, gleich neben der rechten Hand des Mannes.

Arne holte ein paar Gummihandschuhe aus seiner Jackentasche und streifte sie über. Er trat zwei Schritte in die Kabine, ging in die Hocke und beugte sich über den Mann. Da er keinen Atem feststellen konnte, tastete er mit zwei Fingern nach der Halsschlagader. Er hatte nicht damit gerechnet, noch einen Puls zu finden, aber so war das korrekte Vorgehen beim Auffinden einer Leiche, und so hatte er es in der Polizeischule gelernt.

Er richtete sich wieder auf und sah Britta und Ole an, die noch in der Tür standen. „Tot“, sagte er lapidar, und die Todesursache lag auf der Hand: Der Mann hatte sich erschossen. Selbstmord. Oder wie es amtlich hieß: Suizid. So würde es Arne auch in seinen Bericht schreiben.

Soweit er es ohne kriminaltechnische Untersuchung feststellen konnte, gab es keine Anzeichen für eine Fremdeinwirkung: Die Waffe lag unmittelbar neben der Leiche, der Schuss schien aus nächster Nähe abgegeben worden zu sein. Der Tote befand sich in keiner unnatürlichen Stellung und in der Kabine wies nichts auf eine mögliche Beteiligung Dritter hin. Jetzt musste Arne eigentlich nur noch einen Abschiedsbrief finden, und damit wäre der Fall erledigt. Es war tatsächlich reine Routine, auch wenn es an Bord eines Hurtigruten-Schiffs passiert war.

Es war nicht der erste Mal, dass Arne einen Selbstmord zu untersuchen hatte. Viele Fälle waren es nicht gewesen, aber oben im Norden ist Suizid keine ganz seltene Todesart. Vor einem halben Jahr erst hatten Arne und Stig auf der Insel Arnøy einen Bauern gefunden, der sich in seinem Stall erhängt hatte, nachdem seine Frau mit den Kindern nach Oslo gezogen war. Und in Gråsand hatte im vorletzten Winter eine Frau zwei Schachteln Schlaftabletten geschluckt; ein Nachbar hatte die Polizei alarmiert, Arne und Stig hatten das Haus aufgebrochen und die Frau in ihrer Küche gefunden. Und einen Winter davor hatte sich Jon Åge Selbekk, der Lehrer, mit dem Auto umgebracht. Er war am Kåfjord gegen die Einfahrt eines Tunnels gerast. Es hatte zuerst wie ein Unfall ausgesehen, aber Selbekk hatte mit der Post einen Abschiedsbrief an Kjetil Isaakson, den Pfarrer von Olderdalen, geschickt. Die Frau aus Gråsand hatte keinen Abschiedsbrief hinterlassen, jedenfalls hatten Arne und Stig das Haus von oben bis unten durchsucht und nichts dergleichen gefunden.

Leute aus dem Süden behaupten immer wieder, es sei die lange Zeit der Dunkelheit, die die Menschen im Norden depressiv machen würde. Psychologen der Universität Tromsø hatten das untersucht, doch keine statistisch haltbaren Belege dafür gefunden. Aber vielleicht stimmte es trotzdem. Nicht jeder ist für das Leben jenseits des Polarkreises geeignet, nicht jeder steckt die lange Polarnacht so einfach weg, wenn von Anfang Dezember bis Ende Januar die Sonne nicht mehr zu sehen ist, und auch davor und danach ist es wochenlang nur für wenige Stunden am Tag hell. So viel Licht, wie einem in dieser Zeit fehlt, kann man im Sommer, wenn es für ein Vierteljahr nicht mehr dunkel wird, gar nicht aufnehmen. „Wer da oben nicht depressiv wird, der säuft“, hatte Arnes Vater behauptet. Bei manchen kam beides zusammen. Das waren jene, die Arne und Stig dann irgendwo in einem Straßengraben aufsammeln mussten. Andere gingen jeden Tag ins Sonnenstudio, oder wenigstens einmal in der Woche, man erkannte diese Leute leicht an ihren braunen Gesichtern. Am besten hatte es Arnes Nachbar Geir Vaular, der Ende Oktober seinen Laden am Hafen zusperrte und für fünf Monate zu seinem Sohn nach Los Angeles zog. Zubehör fürs Segeln und Tauchen war im Winter sowieso ein schlechtes Geschäft.

Arne hatte sich selbst nie an die lange Dunkelheit gewöhnen können, obwohl er nun bereits seit drei Jahren in Skjervøy lebte. Vor allem die Wochen im Februar schienen ihm in jedem Jahr unerträglich langsam zu vergehen. Manchmal rief er dann seine Schwester in Trondheim an, nur um sich zu vergewissern, dass es wenigstens dort richtig hell war. Trotzdem glaubte Arne nicht so recht daran, dass es die Dunkelheit war, die die Leute aus dem Leben trieb. Da war in der Regel auch noch anderes passiert, Eheprobleme, zerbrochene Familien, keine Aussicht auf einen geregelten Lebensunterhalt, Drogen, Alkohol. All die Dinge, die neben Verkehrsvergehen einen Großteil von Arnes Arbeit ausmachten. „Das passiert alles auch in Oslo“, sagte Stig dazu. Und es brachten sich ja auch Leute um, die nicht im Norden lebten, so wie dieser Tourist aus Deutschland.

Eine Urlaubsreise war nicht das typische Szenario für einen Selbstmord. Umbringen kann man sich schließlich auch zu Hause, dachte Arne. Freut man sich nicht auf so eine Reise? Aber vielleicht schafft man es dann doch nicht, das Zuhause ganz abzuschütteln. Oder hatte der Mann die Reise schon mit dem Vorhaben angetreten, sich unterwegs umzubringen? Ausgerechnet auf einem Hurtigruten-Schiff? Weshalb? Geldsorgen, eine Krankheit, Depressionen? Alles war möglich und ohne Abschiedsbrief gab es für nichts einen Anhaltspunkt. Ohne die persönlichen Verhältnisse des Toten zu kennen, war das nicht zu entscheiden, aber es war sicher nicht die Aufgabe der Polizei von Skjervøy, es herauszufinden. Vermutlich war es nicht einmal die Aufgabe der norwegischen Polizei; letzten Endes würden das die Kollegen in Deutschland klären müssen. Wenn überhaupt.

Arne stand wieder auf und sah sich in der Kabine um. Es war anzunehmen, dass der Abschiedsbrief, sofern es einen gab, offen herumlag, zumindest leicht zu finden. Niemand schreibt so einen Brief, um ihn dann zu verstecken. Aber auf der kleinen Schreibkonsole lag nichts und auch nicht auf dem runden Nachttischchen. Dort fand sich nur ein Zettel mit dem Fahrplan der Hurtigrute. An einem Garderobenhaken hing ein dunkelblauer Anorak mit Kapuze. Arne fasste in die Taschen des Anoraks, doch außer einem Paar Handschuhen fand er nichts. Er musste die Kabine gründlich durchsuchen, vor allem das Gepäck, aber dafür war später noch Zeit.

Zuerst zog er eine kleine Digitalkamera aus seiner Jackentasche und fotografierte den Toten aus verschiedenen Richtungen. Dann trat er zwei Schritte zurück und fotografierte die ganze Kabine. Tromsø würde an seiner Ermittlungsarbeit nichts zu beanstanden haben.

Arne beugte sich wieder über den Mann und nahm die Pistole an sich. Er hielt sie mit zwei Fingern hoch – es war eine Beretta, Kaliber neun Millimeter. Woher hatte der Tote die Waffe? Wenn er sie mitgebracht hatte, konnte er nicht mit dem Flugzeug nach Bergen gereist sein, denn es ist mittlerweile so gut wie unmöglich, eine Waffe in ein Flugzeug zu bekommen, auch nicht im aufgegebenen Gepäck. Falls er die Pistole nicht in Norwegen gekauft hatte, musste der Mann also auf dem Landweg, vermutlich mit der Bergenbahn angereist sein.

Arne sicherte die Pistole und steckte sie in einen Plastikbeutel, den er mit einer Klammer verschloss und auf dem kleinen Schreibtisch ablegte. Er wandte sich wieder der Leiche zu und sah sich die Schusswunde genauer an. In der Mitte des Blutflecks, etwa so groß wie ein Zehnkronenstück, war das Blut fast schwarz, die Ränder der Wunde waren versengt. Er musste sich abwenden.

In der Hosentasche des Toten fand er eine Geldbörse; sie enthielt fünfhundert Euro in Scheinen und etwa tausend Norwegische Kronen in Scheinen und Münzen. Dazu zwei Kreditkarten und einen Ausweis für die städtische Bibliothek in Darmstadt. Im Schrank hing eine Jacke, in der Arne eine Brieftasche mit einem deutschen Personalausweis sowie einem zerknitterten alten Führerschein fand. Er steckte mit Ausnahme des Personalausweises alles in Plastiktüten, verschloss sie mit einem Klebestreifen und legte sie auf dem Schreibtisch ab.

Dann kniete er sich neben den Toten und tastete mit der flachen Hand den Boden ab. Er musste nicht lange suchen – das kleine Metallstück war unter den Fuß des runden Tischchens gerollt. Arne hob es mit zwei Fingern auf und hielt es ans Licht: Es war eine leere Patronenhülse, der Durchmesser war etwas größer als bei den Patronen seiner Dienstwaffe, also vermutlich Kaliber neun Millimeter. Das passte ebenfalls. Arne stand auf, steckte die Patronenhülse in eine weitere Plastiktüte und legte sie zu den beiden anderen.

Er stand auf. „Du hast ihn genau so gefunden?“, wandte er sich an Britta, die mit Ole noch vor der offenen Kabinentür stand und ihm mit einer Mischung aus Interesse und Grausen bei der Arbeit zuschaute.

„Ja, genau so. Ich habe nichts angefasst. Ich habe ja gesehen, dass er tot war.“

„Und das Licht in der Kabine war an?“

„Ja, die Karte ist noch drin.“ Britta zeigt auf das kleine Kästchen neben der Türe, in dem die Schlüsselkarte steckte. Nur wenn diese Karte nach dem Betreten der Kabine in das Kästchen gesteckt wird, lässt sich das Licht einschalten. Arne ging zur Tür und zog die Karte heraus. Sofort ging das Licht aus. Er machte einen Schritt auf den Korridor, hielt die Karte ins Licht und las den unter der Kabinennummer aufgedruckten Namen. „Gunter Bertram“, las er halblaut. Das stimmte mit den Angaben im Personalausweis des Toten überein.

Britta zog einen Computerausdruck aus der Seitentasche ihrer Uniformjacke und las die Daten davon ab: „Gunter Bertram aus Darmstadt, Deutschland, zweiundfünfzig Jahre alt. Er war seit Bergen an Bord und hat die Reise nordgehend bis Kirkenes und anschließend südgehend bis Trondheim gebucht …“

„Und zwischen Tromsø und Skjervøy erschießt er sich“, ergänzte Arne und schüttelte den Kopf. Das war schon eine seltsame Sache – dass jemand durch halb Europa fuhr, um sich umzubringen. Er steckte Brittas Schlüsselkarte in das Kästchen, sodass sich das Licht in der Kabine wieder einschaltete. Die Karte des Toten ließ er in eine Plastiktüte fallen und legte sie neben die Pistole. Dann schaute er sich noch einmal den Ausweis des Toten an, und ja, die Daten stimmten mit den Angaben der Passagierliste überein.

„Ist euch während der Fahrt irgendetwas Besonderes an ihm aufgefallen? Hat er sich irgendwie merkwürdig benommen?“

„Nein, da ist mir nichts aufgefallen“, sagte Britta. „Ich habe ihn einige Male im Speisesaal gesehen, daran erinnere ich mich. Aber besonders aufgefallen ist er mir nie.“

„Warum hast du die Kabine überhaupt geöffnet?“

„Er war nicht zum Abendessen gekommen.“

„Aber du holst doch bestimmt nicht jeden Passagier aus der Kabine, der nicht zum Abendessen kommt?“

„Nein. Natürlich nicht. Es ist an sich auch nicht ungewöhnlich, dass jemand nicht zum Essen kommt. Wenn wir Seegang haben, sind viele Passagiere nicht dazu in der Lage. Aber ein paar Mitreisende, die ihn aus dem Restaurant kannten, wollten nachsehen, wie es ihm geht, und als er seine Kabinentüre nicht öffnete, haben sie mich verständigt. Ich bin rein, und dann hab ich es gesehen.“

„Waren die Passagiere dabei?“

„Nein, ich hatte sie wieder nach oben geschickt. Ich habe sofort die Brücke verständigt. Kapitän Alsgaard und Ole waren ein paar Minuten später hier. Sie haben dann die Polizei in Tromsø alarmiert.“ „Weißt du, wann er zuletzt lebend gesehen wurde?“

„Die anderen Passagiere haben ihn kurz nach der Abfahrt von Tromsø noch an Bord gesehen.“

„Also muss es zwischen Tromsø und Skjervøy passiert sein, in diesen vier Stunden. Wann genau haben dich die Passagiere verständigt?“ „

Nach dem Abendessen, also kurz nach acht. Ich hatte noch an der Rezeption zu tun und bin dann einige Zeit später rauf. Das war etwa um halb neun. Ich hatte angenommen, dass er seekrank ist, wie einige andere auch. Gegen Seekrankheit kann man ohnehin nicht viel ausrichten.“

Arne nickte. Mit der Seekrankheit kannte er sich aus. Da war er ein Betroffener. Sein Vater hätte gesagt: ein stark Betroffener.

„Du kennst die Leute, die gemeldet haben, dass er nicht zum Essen gekommen ist?“

„Ja, natürlich.“

„Wissen sie Bescheid, dass er … über das, was passiert ist?“

„Ich habe ihnen gesagt, dass er tot ist, nicht …“ Sie zögerte. „Es wäre sowieso besser, wenn wir möglichst wenig darüber erzählen. Diese Sache … Sie machte eine Handbewegung in Richtung des Toten. „Diese Sache könnte die Passagiere doch sehr beunruhigen. So etwas ist an Bord eines Schiffs … nicht gut.“

„Ich muss trotzdem möglichst bald mit ihnen reden. Wo sind sie jetzt?“

„Sie sitzen alle oben in der Bibliothek. Ich habe ihnen gesagt, dass in Skjervøy die Polizei an Bord kommen wird, und sie gebeten zu warten. Aber sie sind ein wenig durcheinander, das ist ja auch verständlich. Es rechnet ja niemand damit, dass ein Mitreisender, mit dem man mittags noch am Tisch gesessen ist, auf einmal tot ist.“ „

Gut, dann können wir vielleicht …“

Auf dem Korridor war eine dunkle Männerstimme zu hören: „Ist es hier? Ist hier der Tatort?“

Ole ging hinaus und zog die Kabinentüre ein Stück hinter sich zu. „Nein, du kannst hier jetzt nicht durch. Halt!“ Und dann lauter und ärgerlich: „Nein. Stopp. Hörst du nicht?“

Der Mann ließ sich offenbar nicht beirren, er wollte Ole beiseite schieben, aber der hielt ihn am Arm fest und es kam zu einem kurzen Gerangel. Der Mann rief: „Arne? Bist du da drin? Sag dem Kerl, er soll mich vorbeilassen.“

„Geht in Ordnung, Ole“, sagte Arne. „Das ist der Arzt.“

Ole gab nach kurzem Zögern die Kabinentüre frei und Rune Erling, ein großer, breiter Mann mit rotblonden Haaren und rotem Gesicht, schob seine hundertzehn Kilogramm in die enge Kabine. Sein roter Daunenmantel stand offen, von seiner Hose und seinen Stiefeln triefte die Nässe. Er stellt eine große schwarze Ledertasche auf den Boden und schob sie mit dem Fuß weiter.

„Du kommst reichlich spät“, sagte Arne zu ihm. „Wir haben dich vor einer Stunde angerufen.“

„Erst die Lebenden, dann die Toten“, antwortete Rune. „Ich bin an der Ausfahrt vom Kågentunnel in einer Schneeverwehung stecken geblieben. Wenn nicht zufällig Hermund Sætersdal mit seinem Traktor vorbeigekommen wäre, dann würde ich die ganze Nacht dort sitzen. Weißt du überhaupt, was draußen für ein Wetter ist? … Ah, hier ist ja unsere Leiche!“

„Nicht so laut bitte“, zischte Britta. „Das muss doch nicht das ganze Schiff hören!“

Rune gab mit unveränderter Lautstärke zurück: „Ach was. Macht euch da keine Sorgen. Hier kann doch sowieso keiner Norwegisch. Alles Touristen, die Lebenden und die Toten.“

Er drückt sich an Arne vorbei, zog seinen Mantel aus und schaute sich nach einem Haken um. Weil er keinen entdeckte, warf er den Mantel Britta zu, die ihn gerade noch auffangen konnte.

„Es sieht ganz nach Selbstmord aus“, sagte Arne. „Was meinst du?“

Rune beugte sich über den Toten und musterte ihn. „Seltsame Leute, diese Touristen“, murmelte er. „Fahren in Urlaub und bringen sich um. Geht doch zu Hause viel besser.“ Aus seiner Tasche holte er ein paar Gummihandschuhe, streifte sie über und tastete routinemäßig nach der Halsschlagader des Mannes. Dann zog er eine kleine Taschenlampe aus seiner Jacke und richtete den Lichtstrahl auf den Toten. Er leuchtete ihm zuerst ins Gesicht, dann auf die Wunde, als könne er so Näheres über die Todesursache erfahren. Schließlich sagte er zu Arne: „In bin zwar kein Pathologe, aber vermutlich hast du recht, das sieht sehr nach Selbstmord aus. Es könnte ihm natürlich jemand die Pistole in die Hand gedrückt haben – in Molde gab es vor ein paar Jahren so einen Fall, erinnerst du dich? Man müsste die Hand auf Schmauchspuren untersuchen, aber dafür ist Tromsø zuständig.“

„Sonst kannst du nichts sagen?“

Rune schüttelte den Kopf. „Wie gesagt, ich bin kein Pathologe, ich bin Landarzt. Von mir erfährst du nur, ob der Mann überhaupt tot ist.“ Rune streifte dem Toten die Schuhe von den Füßen.

„Dass er tot ist, sehe ich“, sagte Arne, den Runes Wichtigtuerei ein wenig ärgerte.

„Das meinst du“, sagte Rune und stand auf. „Weil du ein Laie bist. Anna Bågenholm zum Beispiel war schon drei Stunden klinisch tot – keine Herzbewegungen, keine Hirnströme, Körpertemperatur dreizehn Grad …“

„… und heute geht sie wieder Skilaufen, ich weiß, ich weiß.“ Jeder in Skjervøy kannte diese Geschichte, weil Rune vor über zehn Jahren zu jenem Ärzteteam der Universitätsklinik von Tromsø gehört hatte, das Anna Bågenholm, die nach einem Skiunfall in der Nähe von Narvik für mehrere Stunden klinisch tot war, wieder ins Leben zurückgeholt hatte; ein Fall, der in die medizinischen Lehrbücher eingegangen war und der das Krankenhaus von Tromsø über Nacht weltberühmt gemacht hatte. Es war, gleich in Runes erstem Jahr als Assistenzarzt, auch schon der Höhepunkt seiner Karriere gewesen – und würde es bleiben, denn als Landarzt in Skjervøy boten sich ihm nur wenige Gelegenheiten zu spektakulären medizinischen Leistungen.

„Aber Anna hatte sich nicht erschossen“, fuhr Arne fort. „Also, was meinst du?“

„Tja, ich fürchte …“ Rune schaute kopfschüttelnd auf den Toten. Eine medizinische Sensation wie im Fall Bågenholm war hier definitiv ausgeschlossen. „Ich fürchte, der bleibt tot. Vermutlich erschossen. Vermutlich, denn, wie du weißt, bin ich kein Pathologe und wer weiß, vielleicht wurde er ja vergiftet, bevor er …“

Arne unterbrach ihn. „Hör auf zu schwadronieren. Kannst du feststellen, seit wann er tot ist?“

„Zwei bis vier Stunden schätze ich“, sagte Rune, der nun begonnen hatte, die Kleidung des Toten zu öffnen. „Aber das wisst ihr wohl auch schon.“

Arnes Handy summte. Er sah auf dem Display, dass es Steffen war, aber er nahm das Gespräch nicht an, er wollte nicht in Gegenwart anderer mit Tromsø telefonieren. Stattdessen wandte er sich noch einmal an Rune: „Wenn du fertig bist, müssen wir die Leiche von Bord schaffen. Sie muss nach Tromsø in die Gerichtsmedizin.“

„Oh nein“, stöhnte Britta. „Das Foyer ist voller Passagiere. Wenn wir da einen Toten durchtragen …“

Rune sagte, ohne sich umzusehen: „Übrigens, Arne – die Leute da vorne im Treppenhaus, die du nicht von Bord gehen lässt, die sind alles andere als gut auf dich zu sprechen. Ich habe gehört, dass Einar Iversen dir kein Benzin mehr verkaufen will. Und Mikael Krogstadt … das will ich gar nicht wiederholen.“

„Ich kümmere mich gleich darum. Aber der Tote muss irgendwie von Bord.“

„Wir können ihn über den Lastenaufzug in den Laderaum schaffen“, schlug Ole vor. „Habt ihr ein Auto hier? Dann könnten wir ihn rausfahren, ohne dass ihn jemand sieht.“

„Aber bitte kein Polizeiauto“, sagte Britta. „Sonst weiß es innerhalb von zehn Minuten das ganze Schiff.“

„Ihr könnt ihn in meinen Kombi legen“, sagte Rune. „Steht gleich am Kai, der Schlüssel steckt.“

„Gut, kümmert euch bitte darum“, sagte Arne. Als Ole etwas einwenden wollte, fügte er mit Blick auf Rune hinzu: „Er kann auch ganz nett sein.“

Er zog die Gummihandschuhe aus, steckte die Plastiktüten mit seinen Fundstücken in seinen Anorak und ließ Rune und Ole in der Kabine zurück. Er ging mit Britta durch den Korridor zum Treppenhaus. „Ich brauche für die Vernehmungen noch ein Foto des Mannes …“ Er zögerte einen Moment. „Eins, auf dem er noch als Lebender zu sehen ist. Hast du eine Idee, wie ich an eins komme?“

„Das ist kein Problem. Es gab kurz nach der Abfahrt eine kleine Begrüßungsfeier, dabei wurden auch Fotos gemacht. Und vorgestern beim Überqueren des Polarkreises ebenfalls. Ich suche dir ein paar Bilder heraus. Aber ich habe hier nur einen Tintenstrahldrucker. Also erwarte bitte keine Wunderwerke.“

Britta war offensichtlich froh, etwas tun zu können, und ging rasch weiter zur Rezeption. Arne schaute ihr einen Moment lang nach, dann setzte er sich auf eine Bank vor dem großen Fenster des Treppenhauses. In den dunklen Scheiben spiegelte sich die Innenbeleuchtung, sodass vom Wetter draußen wenig zu sehen war – bis auf den Schnee, den der Sturm gegen die Fenster trieb und der in den Ecken der Rahmen kleben blieb.

Er rief Steffen Egeland in Tromsø an und berichtete kurz, was er in der Kabine festgestellt hatte.

„Also bleibt es bei Selbstmord“, schloss Steffen. Er hatte nichts anderes erwartet. Aber jetzt war es von Arne bestätigt.

„Wenn Rune mit seiner Untersuchung fertig ist, laden wir die Leiche ins Auto“, sagte Arne. „Wir haben hier in Skjervøy jemanden, der sie morgen früh mit seinem Transporter nach Tromsø bringen kann. Dann habt ihr sie im Lauf des Vormittags, spätestens am Mittag. Ist das okay?“

„Perfekt! Und die Waffe?“

„Ist sichergestellt. Dazu eine Patronenhülse, die ich auf dem Boden gefunden habe. Außerdem die Schlüsselkarte, mit der man die Kabine aufschließt. Das schicken wir euch. Von uns kann das morgen aber niemand nach Tromsø bringen, denn wenn ich hier mitfahre, ist Stig allein auf der Wache. Wir können die Sachen am Abend dem südgehenden Schiff mitgeben. Oder sollen wir es mit der Leiche schicken?“

Steffen überlegte kurz. Unter normalen Umständen hätte er ein Polizeiauto nach Skjervøy geschickt, um die Beweisstücke holen zu lassen, aber bei der aktuellen Wetterlage wollte er keinen Kollegen mit dieser Fahrt beauftragen. „Ja, gib alles dem Fahrer mit. Ist er zuverlässig?“, sagte er. Je eher man alles beisammen hatte, desto schneller konnte man den Fall abschließen. Sollten sich die Deutschen um alles Weitere kümmern. Die Behörden in Deutschland würden sowieso spätestens morgen von der zuständigen Dienststelle in Oslo informiert werden.

„Natürlich. In Skjervøy sind alle zuverlässig. Was mache ich mit den Passagieren, die hier aussteigen wollen? Können die nun das Schiff verlassen?“

„Es spricht nichts dagegen. Schreib dir sicherheitshalber ihre Adressen auf.“

„Gut. Dann melde ich mich morgen früh wieder.“

Arne hatte das Handy gerade eingesteckt, als ein großer Mann in Schiffsuniform die Treppe herunterkam. „Hei! Du musst Arne Jakobson sein“, rief er, ging auf ihn zu und streckte ihm die Hand entgegen. „Ich bin Thore Alsgaard, der Kapitän der Midnatsol. Du bist doch der Sohn von Jon Arved, nicht wahr?“ Er packte Arnes Hand, als wolle er sie auswringen.

„Ja, stimmt“, antwortete Arne erstaunt. „Kanntest du meinen Vater?“

„Aber sicher. Ich bin auf der Nordstjernen unter seinem Kommando als Steuermann gefahren. Das war 1982. Da warst du noch ein ziemlich kleiner Bursche. Lange her. Wie geht es deiner Schwester? Solveig, nicht wahr?“

Arne zögerte einen Moment. Hatte Alsgaard tatsächlich so ein gutes Gedächtnis oder hatte er rasch noch Erkundigungen eingezogen, nachdem er gehört hatte, dass Arne für die Untersuchung dieses Vorfalls an Bord kommen würde? „Sie lebt in Trondheim. Sie ist dort Lehrerin.“

Alsgaard zog die Brauen zusammen. „Schade, dass wir uns unter diesen nicht so schönen Umständen wiedersehen. Hast du dir schon einen Überblick verschaffen können? Weißt du, was passiert ist?“

„Ja. Der Mann hat sich erschossen. Das ist recht eindeutig, auch wenn wir noch keinen Abschiedsbrief gefunden haben. Mehr kann ich jetzt noch nicht sagen. Der Arzt ist gerade unten und schaut sich den Toten an. Wir werden ihn auf alle Fälle nach Tromsø in die Gerichtsmedizin bringen. Dann wissen wir mehr.“

„Und wie lange werdet ihr noch brauchen? Du und dieser Arzt? Wir sind jetzt schon über eine halbe Stunde hinter dem Fahrplan zurück. Ich will nicht drängen, du musst hier deine Arbeit machen, Arne, das ist klar. Aber wir müssen wieder auslaufen. Das Wetter wird nicht besser. Wir werden bis Windstärke neun oder sogar zehn bekommen, und bis es soweit ist, würde ich gerne den Sørøysund erreicht haben. Dort kann uns der Sturm nichts mehr anhaben.“

Arne zucke mit den Schultern. Er kannte derartige Überlegungen von seinem Vater, der sein Leben und das seiner Familie in enger Abstimmung mit dem Wetterbericht und dem Fahrplan der Hurtigrute eingerichtet hatte. Vermutlich hatte Alsgaard ihn genau aus diesem Grund erwähnt.

„Also, wie geht es nun konkret weiter?

„Sobald der Arzt fertig ist, schaffen wir die Leiche von Bord.“

„Gut, aber beeilt euch bitte. Rasmus Kjær sagt, dass du ein guter Mann bist …“

„Rasmus Kjær? Du hast mit ihm gesprochen?“

Alsgaard seufzte. „Arne, es geht hier um mein Schiff. Ich bin dafür verantwortlich. Hier passiert nichts, von dem ich nichts weiß. Und ich hoffe, dass das so bleibt.“ Er schaute ihn auffordernd an, als warte er auf eine Bestätigung. Aber Arne sagte nichts.

„Ich will in spätestens einer halben Stunde ablegen“, fuhr Alsgaard fort. Er klopfte Arne auf die Schulter und ging, ohne eine Antwort abzuwarten, zurück in Richtung Brücke. Am nächsten Treppenabsatz blieb er noch einmal stehen. „Britta gibt dir eine schöne Kabine und das Essen ist auch umsonst.“ Dann verschwand er auf dem nächsten Deck.

Autobahn A1, Berlin – Braunschweig

Kriminaldirektor Doktor Dieter Leipold, Leiter der Abteilung S der Berliner Niederlassung des BKA, befand sich in dieser Nacht mit seiner Frau Ulrike auf dem Weg von Berlin nach Braunschweig, wo sein Vater am nächsten Tag seinen fünfundachtzigsten Geburtstag im Kreise der Familie feiern wollte. Leipold war wegen dringender Aufgaben noch bis spät abends in seiner Dienststelle festgehalten worden, sodass sich die geplante Abfahrt um mehrere Stunden verzögert hatte. Erschöpft von einem anstrengenden Tag, hatte er das Steuer seiner Frau überlassen, die mit dem schweren VW Phaeton ohnehin besser umgehen konnte.

Wenige Minuten nach dem Autobahnkreuz Magdeburg meldete sich das Autotelefon auf der geschützten Dienstleitung. Auch wenn nur seine Frau mit im Wagen saß, benutzte Leipold, entsprechend den Sicherheitsvorschriften, nicht die Freisprechanlage, sondern nahm den Hörer ab. Nachdem er sich gemeldet hatte, hörte er etwa eine halbe Minute schweigend dem Anrufer zu. Dann holte er tief Luft und sagte: „In Ordnung. Wenn es sein muss. Wir haben eben das Autobahnkreuz Magdeburg passiert.“

Er schaute auf das Display des Navigationsgeräts und sagte nach einer weiteren Pause: „Gut. In zehn Minuten. Danke.“ Er legte auf und wandte sich an seine Frau. „Ich muss zurück.“

Ulrike Leipold verzog keine Miene. An solche Überraschungen war sie gewöhnt. „Dachte ich mir. Ich fahre an der nächsten Ausfahrt raus und kehre um.“

„Nein, das dauert ihnen zu lange. Wir fahren weiter bis zum Parkplatz Uhrsleben. Sie holen mich dort in zehn Minuten ab. Sind schon unterwegs.“

„Das sind über fünfundzwanzig Kilometer, das könnte knapp werden.“

„Du schaffst das doch locker“, gab Leipold zurück. Seine Frau wollte etwas antworten, aber sie verzichtete darauf. Stattdessen trat sie das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Das Automatikgetriebe schaltete zurück, das Fahrzeug machte einen Satz nach vorne und schoss durch die Nacht. Erst bei zweihundertfünfzig Stundenkilometern nahm Ulrike Leipold das Gas weg. Die Strecke verlief einigermaßen gerade, die Fahrbahn war trocken und die wenigen Fahrzeuge auf der linken Spur machten Platz, sobald sie die mit Blaulicht heranrasende Limousine im Rückspiegel sahen.

Sieben Minuten später bremste Ulrike Leipold scharf ab, zog den Wagen auf die rechte Spur und fuhr auf den Parkplatz.

„Sind wir jetzt etwa zu früh?“, fragte sie.

„Nein, sie sind gerade gekommen“, sagte Leipold und zeigte nach rechts, wo auf einem Rasenstück neben der Parkharfe soeben ein Hubschrauber der Flugbereitschaft landete. Ulrike Leipold fuhr den Wagen so nahe wie möglich heran und stoppte. Ihr Mann stieg aus und holte einen Handkoffer aus dem Kofferraum. Er beugte sich zum Abschied noch einmal über die Beifahrertür.

„Können wir morgen mit dir rechnen?“, fragte seine Frau.

„Frühestens übermorgen. Wenn überhaupt.“

„So schlimm?“ Sie sah ihren Mann erstaunt an.

„Eine Katastrophe“, sagte er, doch der Hubschrauber hatte den Rotor wieder auf Touren gebracht, und Leipold war kaum noch zu verstehen. „Wir haben einen Mann verloren.“ Aber das ging im Lärm schon unter.

Leipold warf die Autotür ins Schloss und lief in gebückter Haltung auf den Hubschrauber zu.

Skjervøy – Øksfjord

Arne war auf die offene Galerie, die auf Deck 6 rings um das ganze Schiff läuft, hinausgetreten. Er hatte den Kragen seiner Windjacke hochgeschlagen und schaute von der Reling auf den Hurtigrutenkai, der im Schneetreiben kaum zu erkennen war. Unten war Bjørn schon dabei, die sechs Taue, die das Schiff an Bug und Heck festhielten, wieder von den Pollern zu ziehen. Arnes Kollege Stig, der mittlerweile am Kai fast steif gefroren war, hatte das Polizeiauto vor die Lagerhalle gefahren, gleich dahinter stand Runes schwarzer Volvo-Kombi, in dem in einem schwarzen Plastiksack der tote Tourist lag.

Die Midnatsol drückte sich mit den Bugstrahlern von der Kaimauer weg und drehte ihren Bug langsam in Richtung Hafenausfahrt. Die glänzend schwarze, von Strudeln aufgewirbelte Wasserfläche zwischen Schiffswand und Kaimauer wurde rasch breiter. Die zwei Autos auf dem Kai, die Lagerhalle und zuletzt die auch die beiden Lampen verschwanden im dichten Schneetreiben. Dann nahm das Schiff Fahrt auf und ein paar Minuten später waren von Skjervøy nicht einmal mehr Lichtpunkte zu sehen. Arne drückte die schwere Tür auf und ging ins Schiff. Er zog seine Handschuhe aus, klopfte sich den Schnee von der Hose und schüttelte seine Mütze aus.

Im Treppenhaus blieb er stehen und schaute über die Brüstung hinunter in das hell erleuchtete Atrium, das die Midnatsol wie ein riesiger Schacht im vorderen Drittel von Deck 4 bis hoch zu Deck 9 teilte. Arne schätzte die Höhe des Atriums, von oben bis hinunter zur der großen in den Boden eingelassenen Windrose auf mindestens fünfzehn Meter. Zu beiden Seiten dieses breiten, runden Schachts befanden sich breite Treppen, an seiner Stirnseite verliefen die beiden verglasten Aufzüge, die nun unten vor der Rezeption warteten. Arne versuchte sich die Örtlichkeiten einzuprägen. „Wenn du neu auf einem Schiff bist, schau dir genau an, was wo ist“, hatte ihm sein Vater beigebracht. „Du musst dich auch dann zurechtfinden, wenn alle Lichter ausfallen.“ Allzu oft hatte Arne solche Ratschläge – er hatte eine ganze Menge davon erhalten – nicht anwenden können, weil er Schiffsfahrten so weit wie möglich zu vermeiden suchte. Ganz ließ sich das im Norden nicht umgehen. Die Fahrten mit den zahlreichen kleinen Fähren machten ihm mittlerweile nichts mehr aus, sie gehörten zum Alltag und ohne Fähren hätte er sich in seinem Bezirk, zu dem große Inseln wie Laukøya und Arnøya gehörten, gar nicht bewegen können. Aber hin und wieder, nicht öfter als ein oder zwei Mal im Jahr, musste Arne auch die Hurtigrute benutzen. Auf einem der großen, neuen Schiffe, der Midnatsol, der Trollfjord oder der Finnmarken, die erst seit ein paar Jahren im Dienst standen, war er allerdings noch nie gewesen. Mit der Kong Harald und der Nordlys war er die kurze Strecke zwischen Tromsø nach Skjervøy gefahren, und einmal mit der MS Vesterålen über Nacht nach Hammerfest. Und er konnte sich noch gut an die alte Nordstjernen erinnern, wo er als Kind seinen Vater einige Male auf der Brücke besucht hatte, meist wenn sie in Trondheim für ein paar Stunden im Hafen lag. Damals war Arne auch eine längere Strecke mit der Hurtigrute mitgefahren. Er war zehn Jahre alt und mit seiner Mutter und seiner Schwester unterwegs gewesen – ein unvergessliches Erlebnis, weil er sich stundenlang hatte übergeben müssen. Damit war schon früh klar gewesen, dass eine Laufbahn als Seemann für ihn nicht in Frage kommen würde. Die Midnatsol war rund dreimal so groß wie die Nordstjernen, und es war anzunehmen, dass so ein großes Schiff bei schwerer See entsprechend weniger schwanken würde. Trotzdem war sich Arne nicht sicher, ob sie wirklich groß genug war, seinen Magen vor den Bewegungen des Nordmeeres zu bewahren. Ein Flugzeugträger oder ein Großtanker wäre vermutlich besser gewesen.

Die Rezeption auf Deck 4 war jetzt, kurz nach Mitternacht, nicht mehr besetzt, aber Arne sah, dass Britta in ihrem kleinen Büro hinter der Rezeption arbeitete. Als sie ihn entdeckte, kam sie nach vorne zum Tresen und gab ihm eine Passagierliste.

„Möchtest du jetzt mit den Passagieren sprechen, die den Toten kannten?“

Arne schaute auf die Uhr. „Sind die Leute denn noch auf?“

„Ja, sie sitzen immer noch in der Bibliothek.“

Arne wollte die Passagiere nicht länger warten lassen – je ungeduldiger Zeugen sind, desto ungenauer und schlechter die Informationen, die man von ihnen erhält. Eine Lebensweisheit aus dem Polizeiseminar in Bodø.

Britta ergriff ein Tablett mit einigen Tassen und drückte Arne eine große Kanne in die Hand. Sie fuhren mit dem Lift zu Deck 8 hinauf. Bis Mitternacht waren dort immer Passagiere in der Bar anzutreffen, nun aber war die Bar geschlossen, Flaschen und Gläser waren hinter einem dicken blauen Stoffvorhang verschwunden; die Sitzgruppen rund um die Theke waren leer und ebenso die sich anschließenden Aufenthaltsräume. Britta führte Arne in einen holzverkleideten kleinen Raum, in dem grüne Polstersessel in mehreren Gruppen um kleine runde Tische standen. Weiße und violette Lichtpunkte an der Decke sollten vermutlich eine Art Sternenhimmel darstellen; den Bücherregalen an den Wänden nach zu urteilen handelte es sich um die Bordbibliothek.

„Wo sind die Leute?“, frage Arne.

„Sie warten nebenan.“ Britta gab ihm eine handgeschriebene Liste. „Es sind sechs: Herr und Frau Schäfer, Herr und Frau Bunge, Frau Wolf und Frau Kessler. Sie sind alle Deutsche. Ich habe Alter, Wohnort und Reisestrecke aufgeschrieben.“

Fast ein wenig entschuldigend fügte sie hinzu: „Es sind alles ältere Leute. Abgesehen von den Bunges sind alle weit über siebzig. Kannst du Deutsch? Soll ich für dich übersetzen?“

„Nein danke, das ist nicht nötig. Ich habe zwei Jahre in Deutschland studiert, ich komme schon zurecht.“

„Brauchst du sonst noch was?“

Arne schüttelte den Kopf.

„Nervös?“, fragte Britta.

„Ja, schon, Selbstmorde sind immer eine unangenehme Sache. Aber nicht nur deshalb.“

Britta sah ihn fragend an.

„Mir macht vor allem der Seegang Sorgen.“

„Oh je, du Ärmster. Wir haben Tabletten für die Passagiere. Soll ich dir welche bringen? Willst du nicht doch etwas essen? Essen hilft. Manchmal. Zumindest hat man keinen leeren Magen, wenn …“

„Danke. Mein Vater fuhr zur See, von ihm weiß ich, dass das letzten Endes alles nichts hilft. Dir macht der Seegang wohl nichts aus?“

„Man gewöhnt sich daran. Aber wenn es zu arg wird, muss ich auch passen. Das Gute ist nur: Wenn es mal richtig schlimm wird, haben wir entsprechend weniger zu tun, weil die meisten Passagiere dann in den Kabinen bleiben. Es kommt zwar nur selten vor, aber es gibt Tage, da sind nur zehn Leute im Speisesaal.“

„Ist heute so ein Tag?“, fragte Arne vorsichtig.

„Nein, nein. Heute ganz bestimmt nicht“, sagte sie ein wenig zu schnell.

Arne betrat mit Britta einen kleinen Raum neben der Bibliothek, um sich den Passagieren, die dort warteten, vorzustellen. Die sechs Touristen, die auf Sofa und Sesseln um zwei Tische saßen, waren in ein angeregtes Gespräch vertieft, das sofort abbrach, als sie hereinkamen. Wie auf ein Kommando drehten sich sechs weiß- und grauhaarige Köpfe zu ihnen.

Die Leute hatten, obwohl es mittlerweile schon halb eins nachts war, seit mehr als zwei Stunden hier gewartet. Die Neugier hatte sie wach gehalten. Britta hatte ihnen nur mitgeteilt, dass der Mitreisende tot war, aber wenn nun die Polizei an Bord kam, musste etwas Ungewöhnliches geschehen sein, dann konnte es sich nicht um einen Herzinfarkt handeln.

Arne stellte sich als der Polizeibeamte vor, der die Ermittlungen leitete. Noch ehe er weitersprechen konnte, unterbrach ihn eine kleine, zierliche Frau mit kurz geschnittenen weißen Haaren, die in einem riesigen Norwegerpullover fast verschwand.

„Herr Inspektor, stimmt das? Hat sich Herr Bertram wirklich umgebracht?“

„Ja, so ist es“, antwortete Arne. Fast entschuldigend fügte er hinzu: „Es ist in Norwegen Vorschrift, dass bei jedem unnatürlichen Todesfall eine polizeiliche Untersuchung stattfindet.“

„Wir werden Sie natürlich nach Kräften unterstützen“, erklärte eine große, hagere Frau, die eine riesige Brille trug und ein auffällig gemustertes Seidentuch um ihre Schultern drapiert hatte. „Also, was wollen Sie wissen? Schießen Sie los. Stellen Sie Ihre Fragen.“

Alle bedauerten, dass Arne die Befragung in Einzelgesprächen abhalten wollte, viel lieber hätten sie die Fragen in einer gemeinsamen Runde erörtert und sich gegenseitig bei Erinnerungslücken ausgeholfen. Der Verweis auf entsprechende Vorschriften der norwegischen Polizei beeindruckte sie wenig.

„Mein Mann hört schlecht“, wandte eine füllige Dame ein, und der nicht weniger füllige Herr, der sich mit beiden Händen auf einen Gehstock stützte, sagte, als hätten sie es eingeübt: „Was? Was sagst du?“ Er unterstrich seine Worte, indem er beide Hände an die Ohren legte. Sein Gehstock fiel zu Boden.

„So pass doch auf!“, zischte die Dame, und er antwortete wie vorher: „Was? Was sagst du?“

„Aufpassen sollst du!“, rief seine Frau und zeigte auf den Stock.

„Sag das doch gleich“, brummte der Mann. Er versuchte seinen Stock aufzuheben, und hätte ihn seine Frau nicht festgehalten, wäre er dabei wegen einer unerwarteten Schiffsbewegung in die Lücke zwischen Sofa und Tisch gerutscht.

Arne hatte sich schon nach dem Stock gebückt. Er erklärte sich mit dem Kompromiss einverstanden, dass zumindest die beiden Ehepaare gemeinsam befragt wurden.

Der schwerhörige Herr und seine Gattin – das Ehepaar Schäfer, wie Arne erfuhr – ließen der Dame mit dem Seidentuch den Vortritt. Arne hatte sich kaum in der Bibliothek an den Tisch gesetzt und sein Notizheft aufgeschlagen, als die Frau ihre Handtasche vor ihm auf den Tisch stellte und begann, auf ihn einzureden.

„Da muss ich achtundsiebzig Jahre alt werden, um so etwas zu erleben! Selbstmord. Wissen die Leute überhaupt, was sie ihren Mitmenschen zumuten? Erst neulich ist in Leverkusen eine junge Frau mitsamt ihren zwei Kindern vor die S-Bahn gesprungen. Schrecklich. Der arme Lokführer. Und jetzt auch auf einem Schiff. Wissen Sie, junger Mann, ich fahre schon zum fünfzehnten Mal mit der Hurtigrute. Die erste Reise war 1985, damals noch mit meinem zweiten Mann. Aber das erlebe ich nun zum ersten Mal. Mein Gott! Wissen Sie, vor zwei Jahren hatte ein Herr aus Sigmaringen einen Schlaganfall; sie haben ihn noch mit dem Hubschrauber nach Bodø geflogen, aber beim Ausladen war er schon tot. Das war auch schlimm. Aber unser Herr Habermann, das war der Mann aus Sigmaringen, also er war schon zweiundneunzig. Am Tag zuvor sage ich noch zu ihm: ‚Herr Habermann, übernehmen Sie sich mal nicht.’ Blutdruck! Den musste ich nur ansehen. Hundertachtzig zu hundertzwanzig. Mindestens. Da muss man sich nicht wundern. Und trotzdem immer dreimal zum Buffet. Aber dieser Bertram jetzt, ich meine, der war doch noch keine sechzig. Ich habe ihn auf siebenundfünfzig geschätzt, Frau Wolf meinte: nicht älter als vierundfünfzig – wissen Sie, wie alt er wirklich war? Die Polizei muss das doch wissen.“

Arne holte einen Moment zu lange Luft. Schon sprudelte die Dame weiter. „Na ja, ist ja jetzt auch irgendwie egal. Jetzt, wo er tot ist. Jedenfalls war er ein Mann in den besten Jahren. Ich sage noch zu Frau Wolf: Warum hat denn der keine Frau? Und dann das. Also nein. Was ist denn nun genau passiert? Man hat uns ja nicht zu ihm gelassen. Wissen Sie, das ist nicht in Ordnung. Wir saßen ja mit ihm an einem Tisch, Frau Wolf und ich. Wir sind hier an Bord schließlich so eine Art Angehörige. Oder etwa nicht?“

Arne nutzte den Moment, in dem die Dame ihr verrutschtes Seidentuch neu drapieren musste, um selbst zu Wort zu kommen. „Verzeihung, gnädige Frau – darf ich zuerst nach Ihrem Namen fragen?“

Sie stutzte und sah ihn erstaunt an. „Kessler, Gudrun Kessler“, sagte sie fast ein wenig beleidigt. „Achtundsiebzig Jahre alt, sagte ich ja schon – schreiben Sie ruhig alles auf, junger Mann, ja, schreiben Sie es auf.“ Sie schob ihre Tasche zur Seite und tippte mit einem Finger in Arnes Notizbuch. „Kessler mit Doppel-S, wie die Zwillinge. Die Kessler-Zwillinge? Kennen Sie die hier in Norwegen auch? Na, vermutlich nicht. Wohnhaft Düsseldorf, Holthausen … Haben Sie das? Holthausen – soll ich buchstabieren?“

„Danke, nicht nötig.“ Arne wollte die Gelegenheit nutzen, um endlich seine erste Frage zu stellen: „Haben Sie …“

„Sie können aber gut Deutsch“, unterbrach ihn Gudrun Kessler sofort. „Lernt man das hier in der Schule?“

„Zum Teil. Ich habe zwei Jahre in Göttingen studiert.“

„In Göttingen? Wie schön. Welche Fakultät, wenn ich fragen darf? Mein Neffe hat Jura in Göttingen studiert. Heute ist er Anwalt in Hannover. Na, vielleicht kennen Sie ihn ja … Moment ich habe ein Foto von ihm … eine Sekunde bitte …“ Sie klappte ihre Handtasche auf und begann nach dem Foto ihres Neffen zu suchen.

Das Gespräch hatte noch keine drei Minuten gedauert und Arne musste erkennen, dass er die Kontrolle darüber völlig verloren hatte. Das verhieß nichts Gutes für den weiteren Verlauf der Ermittlung. Er dachte einen Moment daran, wie sich diese Unterhaltung wohl in einem Lehrfilm im Polizeiseminar machen würde. Er hob die Stimme und versuchte, sehr energisch zu klingen: „Ich denke, Sie wollen bald in Ihre Kabine, Frau Kessler? Erzählen Sie mir bitte etwas über Herrn Bertram. Sie saßen mit ihm am selben Tisch?“

Frau Kessler klappte die Handtasche wieder zu. „Tisch 80. Ja, mein Gott, der arme Herr Bertram. Ein netter Mann. Immer höflich und zuvorkommend. Einer, der einem noch die Türe aufhält. Und dann das … Ich kann es noch immer nicht fassen. Und wenn ich denke, dass ausgerechnet so einer …. unfassbar.“

Die Kaffeetassen und die Handtasche, die Frau Kessler auf dem Tisch abgestellt hatte, gerieten ins Rutschen. Das Schiff hatte die Bucht von Skjervøy verlassen und offene See erreicht. Sechs bis acht Meter hohe Wellen liefen auf die Midnatsol zu. Gudrun Kessler griff nach ihrer Tasche, Arne hielt sein Notizbuch fest und biss die Zähne zusammen. Wenn es so weiterging, würde er das Gespräch womöglich sehr schnell abbrechen müssen.

„Wann … wann haben Sie Herrn Bertram zum letzten Mal gesehen?“

„Als er in Tromsø zurück an Bord kam. Ich sagte noch zu Elfriede, also zu Frau Wolf: ‚Guck mal, da ist Bertram. Jetzt hätte er fast das Schiff verpasst.’ Frau Wolf und ich, wir reisen nämlich zusammen. Elfriede hat dann …“

„Um welche Uhrzeit war das?“

„Na, kurz bevor das Schiff ablegte. Etwa um sechs. Ja, das war um sechs. So ungefähr. Jedenfalls vor halb sieben. Ich sagte noch zu Elfriede …“

„Wissen Sie, warum er so spät kam?“

„Nein. Aber das hat nichts zu bedeuten. Darüber brauchen Sie sich keine Gedanken machen. Wir sind auch mal fast zu spät gekommen, Elfriede und ich. In Trondheim, vorgestern. Nein, halt, dass ich nichts Falsches sage: Es war am Donnerstag. Mein Gott war das eine Aufregung. Die Hurtigrute fährt nämlich unbarmherzig ab, ob alle an Bord sind oder nicht. Der Fahrplan ist denen heilig. Da kann man dann selbst sehen, wie man weiterkommt. Vor zwei Jahren hat ein Ehepaar aus Düren das Schiff verpasst, die mussten mit dem Taxi hinterherfahren und wenn …“

Arne unterbrach sie. „Wissen Sie, was Herr Bertram in Tromsø gemacht hat?“

„Nein. Geht mich ja auch nichts an, nicht wahr. Aber, lassen Sie mich das noch sagen, dieses Ehepaar aus Düren, damals, ich komme jetzt nicht auf den Namen … Aber Bunges kommen auch aus Düren, die kennen sie vielleicht …“

„Wann haben Sie zuletzt mit Herrn Bertram gesprochen?“, versuchte Arne es noch einmal.

„Gesprochen? Beim Mittagessen. Wir haben … wir haben über … Nein, das weiß ich jetzt nicht mehr. Es war etwas mit dem Fernsehprogramm. Aber da müssen Sie Frau Wolf fragen. Die hat ein Gedächtnis wie ein Elefant. Ich vergesse alles. Ich kann mich an gar nichts mehr erinnern.“

„Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen in Zusammenhang mit Herrn Bertram? War er heute anders als in den letzten Tagen?“

„Heute? Sie meinen gestern!“ Sie schaute demonstrativ auf ihre Uhr. „Also, gestern habe ich ihn nur wenig gesehen. Beim Mittagessen. Und später, als wir in Tromsø von Bord gingen, haben wir uns kurz gegrüßt. Das war alles. Mein Gott, das waren dann ja die letzten Worte, die ich mit ihm gewechselt habe. Schrecklich. Warum tut ein Mensch so was? Was muss ihn ihm vorgegangen sein?“

„Wer sitzt außer Ihnen noch an Tisch 80?“

„Elfriede, also Frau Wolf, und die beiden Schäfers, auch sehr nette Leute. Ja, und eben Herr Bertram, insgesamt waren wir sechs. Mit Frau Kuballa. Die ist jetzt aber schon in ihrer Kabine, die Ärmste wird nämlich leicht seekrank. Mir selbst macht Seegang zum Glück gar nichts aus. Da können die Wellen noch so hoch sein und die Brecher gegen das Schiff knallen, das lässt mich ganz kalt. Elfriede sagt: ‚Gudrun, du bist ein Phänomen!’ Frau Wolf war nämlich Ärztin, müssen Sie wissen. Frauenärztin, um genau zu sein.“

„Und die übrigen Leute, die nun drüben warten, die sind also nicht von Tisch 80?“

„Nein, so groß sind die Tische leider nicht. Die sind von Tisch 82, also vom Nachbartisch, aber es sind auch reizende Leute. Wir kennen uns alle gut. Wir sind gewissermaßen befreundet und waren schon zusammen auf Landausflug. Das Ehepaar Bunge und die Schäfers haben …“

Wieder lief ein Vibrieren durch das Schiff, und Arne musste die Tassen festhalten. Irgendwo klirrten Gläser. Die Bewegungen der Midnatsol wurden stärker, und Arne spürte den Druck im Magen, eine Kompression sämtlicher Organe, wenn das Schiff nach unten ging, dem eine noch unangenehmere Entspannung der Organe folgte, wenn es wieder aus einem Wellental aufstieg. Arne wusste, wenn diese Bewegung sich auch nur um eine Zehntelsekunde verzögerte, wurde es erst recht schlimm.

Frau Kessler sagte fröhlich: „Hoppla, jetzt geht’s aber rund! Also, wo waren wir … Ja, das Ehepaar Schäfer fährt schon das siebzehnte Mal mit der Hurtigrute. Auch alte Hasen, die beiden. Die Bunges haben erst fünf und der arme Herr Bertram machte seine erste Fahrt. Mein Gott, und gleich beim ersten Mal bringt er sich um … Ich meine, so eine schöne Reise muss einem doch neue Lebensfreude geben. Sollte man denken, nicht wahr?“

„Wer sitzt außerdem noch an Tisch 82?“

„Ach, das ist ein internationaler Tisch. Aber auch lauter nette Leute, wirklich. Herr Lüthi, ein Schweizer Apotheker, sehr honoriger Mann, Witwer. Und ich kann Ihnen sagen: beste Manieren. Also, wenn ich zwanzig Jahre jünger wäre, ich weiß nicht, ob ich da nicht schwach werden würde. Oder zum Beispiel diese Amerikanerin, eine ganz reizende Person. Und eine sehr attraktive Frau, sportlich und schlank wie eine Gerte, na ja, in dem Alter hab ich auch so ausgesehen. Fast. Sind Sie eigentlich verheiratet?“ Gudrun Kessler ordnete ihr Seidentuch, aber diesmal machte sie nicht den Fehler, währenddessen mit dem Sprechen aufzuhören. „Wie dem auch sei, ich glaube, Mrs. Harris ist doch schon ein Stückchen über fünfzig, auch wenn sie das bestimmt abstreiten würde. Ich meine, sie hat da bestimmt etwas machen lassen …“ Sie strich sich mit der flachen Hand über die Wange. „In Amerika ist das ja üblich. Wie dem auch sei, sie ist eher nicht Ihre Altersgruppe – wie alt sind Sie, wenn ich fragen darf? Sie sind doch erst knapp über dreißig, stimmt’s?“

Arne nickte. „So ungefähr.“ Er bekam das Gespräch einfach nicht in den Griff. Es wäre ihm unhöflich erschienen, eine ältere Dame einfach zu unterbrechen oder ihr gar über den Mund zu fahren, um sie zum Schweigen zu bringen.