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Die Heimatkinder verkörpern einen neuen Romantypus, der seinesgleichen sucht. Zugleich Liebesroman, Heimatroman, Familienroman – geschildert auf eine bezaubernde, herzerfrischende Weise, wie wir alle sie schon immer ersehnt haben. Wundervolle, Familienromane die die Herzen aller höherschlagen lassen. E-Book 11: Sein Wunschkind E-Book 12: Zweifaches Glück auf dem Birkenhof E-Book 13: Das Glück wich von der Erlenmühle E-Book 14: So glücklich ist ein Kinderherz E-Book 15: Alles dreht sich ums Annerl E-Book 16: Blumen für die Mami E-Book 17: Heiraten, wie geht denn das? E-Book 18: Du kannst der Liebe nicht entfliehen E-Book 19: Es wird alles gut, kleine Maxi E-Book 20: Zwei, die sich nach Liebe sehnen E-Book 1: Sein Wunschkind E-Book 2: Sein Wunschkind E-Book 3: Zweifaches Glück auf dem Birkenhof E-Book 4: Zweifaches Glück auf dem Birkenhof E-Book 5: Das Glück wich von der Erlenmühle E-Book 6: Das Glück wich von der Erlenmühle E-Book 7: So glücklich ist ein Kinderherz E-Book 8: So glücklich ist ein Kinderherz E-Book 9: Alles dreht sich ums Annerl E-Book 10: Alles dreht sich ums Annerl E-Book 11: Blumen für die Mami E-Book 12: Blumen für die Mami E-Book 13: Heiraten, wie geht denn das? E-Book 14: Heiraten, wie geht denn das? E-Book 15: Du kannst der Liebe nicht entfliehen E-Book 16: Du kannst der Liebe nicht entfliehen E-Book 17: Es wird alles gut, kleine Maxi E-Book 18: Es wird alles gut, kleine Maxi E-Book 19: Zwei, die sich nach Liebe sehnen E-Book 20: Zwei, die sich nach Liebe sehnen
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Seitenzahl: 1249
Veröffentlichungsjahr: 2017
Sein Wunschkind
Zweifaches Glück auf dem Birkenhof
Das Glück wich von der Erlenmühle
So glücklich ist ein Kinderherz
Alles dreht sich ums Annerl
Blumen für die Mami
Heiraten, wie geht denn das?
Du kannst der Liebe nicht entfliehen
Es wird alles gut, kleine Maxi
Zwei, die sich nach Liebe sehnen
Mit verhängten Zügeln sprengte Ulrich Warner auf den Hof seines Elternhauses, einer Villa aus der Zeit der Jahrhundertwende, geheimnisvoll in dunkelgrüne Efeuschleier gehüllt.
Ulrich glitt aus dem Sattel. Liebevoll tätschelte er den Hals seines vierbeinigen Kameraden. »Brav, mein Schöner! Jetzt nur noch rasch abzäumen und trockenreiben, dann machen wir es uns gemütlich, du an der Haferkrippe und ich vor dem Kamin.« Er führte das temperamentvolle Pferd in den Stall und zuckte zusammen, als es unvermittelt den Kopf in den Nacken warf und unwillig wieherte. »Warum denn so nervös, Prinz? Was hast du? Was hat dich so erschreckt? Eine Maus, die im Stroh raschelt? Schauen wir doch einmal nach.«
Der dreißigjährige Junggeselle hatte ein leises Geräusch wahrgenommen. Vorsichtig näherte er sich dem Strohhaufen, der lose in einer Ecke lag. Da, irgendetwas rührte sich! Energisch griff Ulrich hinein.
»Aua!«, ertönte eine helle Stimme.
Der Mann wich unwillkürlich zurück, als habe ihn eine Viper gestochen.
»Wer versteckt sich denn da?« Mit schnellen Handbewegungen warf er das Stroh beiseite. Ein kleiner Junge war es, der sich im hintersten Winkel zu verbergen suchte. »He, Freundchen, was treibst du denn hier?« Ulrich packte das Kind am Arm und zog es in die Höhe. »Dich habe ich noch nie gesehen – wer bist du?«
Das hübsche Gesicht des etwa achtjährigen blonden Jungen verschloss sich. Der Mund wurde zum Strich. In den auffallend blauen Augen mischten sich Angst und Trotz zu einem Ausdruck, der Ulrich Warner ans Herz griff.
»Du brauchst dich doch vor mir nicht zu fürchten, mein Kleiner. Du wolltest dich hier bestimmt nur einmal umschauen und hast dich versteckt, als du hörtest, dass einer kam. Habe ich recht?«
Das fremde Kind schwieg verbissen.
»Zu klauen gibt es hier nichts«, lächelte der Besitzer des Anwesens.
»Nicht einmal Äpfel. Höchstens ein paar Händevoll Hafer.«
»Ich klaue nicht!«
»Weiß ich doch.«
Die Augen des Jungen wurden schmal. »Woher wollen Sie das wissen?«
»Ich sehe dir an, dass du ein feiner Kerl bist. Hast du Lust, mir zu helfen?«
»Was denn?«
Ulrich drückte dem Kleinen eine Handvoll Stroh in die Hand und stellte ihn mit Schwung auf eine Kiste.
»Du hilfst mir, Prinz trockenzureiben. Ich stelle dich meinem Freund jetzt vor, dann wird er dir nichts tun. – Also, Prinz, das ist … Ich kenne leider seinen Namen nicht.«
»Tobias.«
»Tobias also. Ein schöner Name. Hast du gehört, Prinz? Gut! – Das machst du sehr gut, Tobias, ausgezeichnet. Schade, dass du nicht ein bisschen älter bist.«
»Ja, ich möchte auch viel lieber älter sein! Aber wieso ist das schade, was meinen Sie?«
»Ich suche einen jungen Mann, der mein Pferd täglich regelmäßig ausreitet, um es zu bewegen.«
»Warum machen Sie das denn nicht selbst? Verstehe ich nicht.«
»Weil ich leider so wenig Zeit habe.«
»Kenne ich.« Tobias nickte altklug. »Alle Erwachsenen haben nie Zeit.«
»Möglicherweise ist es der allergrößte Fehler der Menschen, keine Zeit mehr zu haben. Aber ich bin zurzeit wirklich sehr eingespannt. Mir wächst die Arbeit förmlich über den Kopf.«
»Was machen Sie denn?«
»Ich leite eine Marmeladen-Fabrik.«
»Eine – waaaas?«
Tobias beugte sich mit geweiteten Augen über den Pferderücken.
»Ja, ja, du hast richtig verstanden. Ich habe das Unternehmen von meinem leider schon verstorbenen Vater geerbt. Momentan versuche ich unser Sortiment zu erweitern und auf dem Markt durchzusetzen.«
»Mann, wenn ich eine Marmeladen-Fabrik hätte!« Tobias leckte sich unwillkürlich genießerisch über die Lippen. »Marmelade ist nämlich mein Lieblingsessen. Ein ganzes Glas könnte ich mit einem Male aufessen, aber wir bekommen immer bloß einen kleinen Klacks!«
»Ich glaube, ich habe gerade keine im Hause, aber wenn du mich wieder einmal besuchen kommst, steht ein Glas für dich parat. Welche Sorte magst du denn am liebsten?«
»Am liebsten mag ich Aprikosen und Schattenmorellen und Johannisbeeren und Erdbeeren.«
»Okay, das werde ich mir merken!«, schmunzelte Ulrich. »So, wir sind fertig. Danke für deine Hilfe. Hier, dein Lohn.« Er drückte dem Jungen ein Zweieurostück in die Hand.
»Danke! Vielleicht – vielleicht bin ich doch nicht zu klein, um Prinz zu reiten! Sie müssen es mir bloß beibringen. Und füttern kann ich ihn auch! Und den Stall ausmisten! Können Sie mich nicht behalten?«
»Das ist ja ein tolles Angebot, das du mir machst! Aber bei allem guten Willen, ich fürchte, es wird nicht gehen.«
»Schade.« Tobias senkte bedrückt den Kopf.
Ulrich zauste den Blondschopf des Jungen.
»Nicht traurig sein, Tobias. Vielleicht kommen wir eines Tages doch noch ins Geschäft, wir beide, wenn du ein paar Jährchen älter geworden bist. Wohnst du in der Nähe?«
»Ein Stück weg.«
»Nun, du weißt ja, wo ich zu finden bin. So, jetzt lauf nach Hause. Es regnet nicht mehr.«
Langsam und zögernd näherte sich Tobias der offenen Stalltür. Er setzte zum Sprechen an, senkte den Kopf, druckste herum und lehnte sich schließlich an den Türrahmen.
»Nun, was hast du denn noch auf dem Herzen?«, erkundigte sich Ulrich Warner.
Der Junge hob den Kopf. In seinen Augen war ein Flehen, das einen Stein erweichen konnte.
»Darf ich – darf ich vielleicht heute Nacht im Stroh schlafen?«, fragte er gepresst.
»Wie bitte?« Mit einem Sprung war Ulrich bei ihm. »Traust du dich nicht nach Hause? Hast du etwas ausgefressen?«
Tobias schüttelte den Kopf. Noch kämpfte er mannhaft mit den Tränen.
»Die wollen mich holen«, flüsterte er angsterfüllt.
»Wer denn? Wer will dich holen?«
»Die Leute. Ich weiß nicht, wie sie heißen. Hab’ es vergessen. Aber ich will da nicht hin! Lieber im Wald verhungern!«
»Moment mal! Moment mal! Das hört sich ja schlimm an!« Ulrich nahm den Jungen spontan auf den Arm. »Was sind das für schreckliche Leute? Und was sagen deine Eltern dazu?«
»Ich – ich hab’ doch keine mehr.«
»Bist du etwa aus dem Kinderheim ausgebüxt?«, fragte Ulrich Warner ahnungsvoll.
Tobias nickte zögernd. Und plötzlich schlang er beide Arme um den Hals des Mannes und flüsterte heiß:
»Du musst mich verstecken! Bitte! Kein Mensch hat mich gesehen. Dann bin ich eben weg, und die können mich suchen, bis sie schwarz werden!«
Das Vertrauen des Jungen, der ihn flehend und mit Verschwörermiene ansah, rührte den Mann. Er fühlte sich unwillkürlich in seine eigene Kinderzeit zurückversetzt, als er gemeinsam mit seinen Freunden Streiche ausheckte, um die Erwachsenen anzuschmieren. Einfach weglaufen und untertauchen – welcher richtige Junge hatte diesen Traum nie geträumt!
»Ja?«, fragte Tobias drängend und mit hoffnungsvoll leuchtenden Augen.
Ulrich seufzte. »Das ist leider ausgeschlossen, Tobias. Wir leben nicht im Wilden Westen.«
Noch nie hatte Ulrich beobachtet, wie alle Hoffnung auf dem Gesicht eines Menschenkindes jäh erlosch und tieftrauriger Verzweiflung Raum machte. Tröstend drückte er den Jungen an sich.
»Du, Tobias, ich habe eine Idee! Den Leiter eures Heimes, Herrn Neumann, kenne ich ziemlich gut. Wir sind nämlich zusammen zur Schule gegangen. Ich werde mich mit ihm unterhalten und ihm auseinandersetzen, dass du deine zukünftigen Adoptiveltern nicht leiden kannst.«
»Hab’ ich ihm doch schon gesagt, schon hundertmal«, flüsterte das Kind mit gesenktem Kopf.
»Wahrscheinlich handelt es sich um eine ausgezeichnete Familie, in die man dich vermitteln möchte. Aber ich finde, ein Junge deines Alters sollte schon ein gewisses Einspruchsrecht haben. Am besten, ich rede sofort mit Olaf Neumann, was meinst du?«
»Und ich warte hier so lange!«
Ulrich kam sich in diesem Moment wie ein Schuft und Verräter vor. Er war überzeugt, in ihm einen Freund und Verbündeten gefunden zu haben. Und doch musste er den Jungen enttäuschen, so schwer es ihm auch fiel.
»Tobias, ich verspreche dir, alles für dich zu tun, was in meiner Macht steht.«
Aus großen wundergläubigen Augen sah der blonde Junge ihn an. Ulrich spürte förmlich, dass die Bande von Sekunde zu Sekunde enger und fester wurden. Hatte er sich nicht immer einen Sohn wie Tobias erträumt? Einen aufgeweckten, offenherzigen Jungen, der ihm sein Vertrauen schenkte?
Sie fuhren zum Kinderheim hinaus. Mit dem Auto waren es nur wenige Minuten. Tobias versuchte sich auf dem Beifahrersitz unsichtbar zu machen, rutschte mehr und mehr in sich zusammen. Ulrichs Fragen beantwortete er einsilbig.
Hand in Hand betraten sie das Büro des Heimleiters. Olaf Neumann, ein blonder bärtiger Sozialarbeiter, schnellte von seinem Schreibtischstuhl. »Tobias! Du kostest mich allmählich meine letzten Nerven! Gerade war ich im Begriff, die Polizei anzurufen. – Hallo, Ulrich!« Jetzt erst war sein Blick auf den Begleiter des Jungen gefallen. »Bist du es wirklich, altes Haus? Ich traue meinen Augen nicht!«
»Hallo, Olaf. Tja, weißt du, ich bin mitgekommen, um dir zu erklären, dass Tobias mir im Stall geholfen hat. Deshalb die Verspätung. Ich bin schuld, denn ich ahnte nicht, dass Tobias aus deiner Kükenschar stammt, ich hielt ihn für einen Jungen aus der Nachbarschaft, sonst hätte ich ihn selbstredend früher heimgeschickt.«
»So ist das«, entgegnete der Heimleiter mit leisem Misstrauen. »Na, da hast du ja noch einmal Glück gehabt, mein Lieber.« Er zauste das blonde Haar seines Schützlings. »Troll dich.«
Tobias warf seinem neuen großen Freund noch einen Blick zu, einen Blick voller Sehnsucht und Verzweiflung, der Ulrich mitten ins Herz traf. Er schluckte aufgeregt und musste sich Mühe geben, seiner Verwirrung Herr zu werden, während Olaf Neumann ihm Platz anbot und von alten Zeiten zu plaudern begann.
Schließlich lenkte er die Unterhaltung auf das Problem, das ihm unter den Nägeln brannte: »Tobias erzählte mir, dass er adoptiert werden soll.«
»Ja, stell dir vor, der Junge hat wirklich Glück!«
»Glück?«
Olaf Neumann nickte strahlend. »Ein verständnisvolles, wohlhabendes Ehepaar. Die Frau kann keine Kinder bekommen. Den Jungen mögen sie, obwohl er zu unseren Sorgenkindern gehört. Ich habe die Angelegenheit jetzt beschleunigt, um diese Adoption rasch unter Dach und Fach zu bringen.«
»Und Tobias wird überhaupt nicht gefragt?«, erkundigte sich Ulrich düster.
»Hat er sich bei dir beklagt? Das darfst du nicht zu ernst nehmen. Tobias gehört zu denen, die immer und überall ein Haar in der Suppe finden. Dabei habe ich ihm gesagt, wie schwer es ist, für ihn geeignete Adoptiveltern zu finden!«
»Habe ich nicht neulich gelesen, dass es viel mehr adoptivwillige Paare gibt, als Kinder zur Verfügung stehen?«
»Tja, mein Lieber, mit Kindern könntest du einen schwunghaften Handel aufziehen, aber klein müssen sie sein! Im Kinderwagen müssen sie krähen! Achtjährige Buben kannst du bereits anpreisen wie Sauerbier. Wenn sie noch älter werden, will sie überhaupt keiner mehr, dann sind sie dazu verurteilt, bis zu ihrem achtzehnten Jahr in Heimen zu verbringen. Du siehst also ein, dass ich sehr froh sein muss, Tobias unterzubringen.«
Ulrich Warner senkte betreten den Kopf.
*
Vierzehn Tage später saß Ulrich wieder im Büro des Heimleiters. Olaf Neumann hatte den ehemaligen Schulfreund hereingebeten. Er verschanzte sich hinter seinem Schreibtisch und versuchte, dem Gespräch einen offiziellen Anstrich zu geben.
»Ulrich, ich finde es ganz rührend, wie du dich um Tobias kümmerst, wie viel Zeit du dem Jungen opferst, dass du ihn fast jeden Tag besuchst oder zu dir einlädst oder Ausflüge mit ihm unternimmst …« Er stockte.
»Aber?«, fragte Ulrich ahnungsvoll.
Olaf Neumann räusperte sich. »Ich muss dich leider bitten, den Kontakt zu dem Jungen einzuschränken, beziehungsweise – um ganz offen zu sein – abzubrechen.«
»Wie bitte? Das kann doch nicht dein Ernst sein! Tobias und ich, wir sind Freunde geworden!«
»Eben darum. Der Junge begeistert sich für dich und schwärmt von dir, dass man meinen könnte, du kämst in der Rangordnung nicht weit hinter dem Herrgott persönlich.«
»Du übertreibst, mein Lieber. Tobias und ich mögen uns, das ist alles.«
»Streiten wir nicht um Worte. Tatsache ist, dass du Tobias seinen zukünftigen Adoptiveltern mehr und mehr entfremdest. So geht es nicht weiter. Es geht schließlich um die Zukunft des Jungen, die du ihm doch nicht verbauen möchtest.«
»Auf keinen Fall! Ich weiß nur nicht, ob Tobias mit ungeliebten Eltern wirklich eine so rosige Zukunft hat, wie du sie siehst.«
»Um es kurz zu machen, ich bitte dich, einen Schlussstrich zu ziehen und dich fernerhin nicht mehr mit Tobias zu treffen, auch nicht heimlich hinter meinem Rücken.«
»Sag mal, ist dir eigentlich klar, was du von mir verlangst, Olaf? Ich habe Tobias inzwischen lieb, als ob er mein eigener Sohn wäre!«
Der Heimleiter seufzte. »Schön und gut, aber du kannst ihn nicht adoptieren, und wenn du ihn noch so gern hast.«
»Warum eigentlich nicht? Es gibt heutzutage schon viele Väter, die allein für ihre Kinder sorgen! Außerdem würde ich eine nette Haushälterin engagieren! Das wäre doch die Lösung!«
Olaf Neumann schüttelte lächelnd den Kopf. »Du bist schon ein komischer Heiliger. Du musst wirklich einen Narren an Tobias gefressen haben. Denn bisher warst du doch, wie man hörte, alles andere als der Typ eines treusorgenden Familienvaters.«
»Mein lieber Freund, ich bin ein hart arbeitender Unternehmer, und die Klischees, die dir im Kopf herumspuken, stammen offenbar aus der Mottenkiste. Sicher, ich habe nicht wie ein Mönch gelebt, das hat auch niemand von mir verlangt. Es gab ein paar mehr oder weniger unbedeutende Abenteuer. Aber daraus kannst du doch unmöglich schließen, dass ich für den Jungen nicht anständig sorgen würde. Also, was ist, stellst du dich hinter mich, wenn ich eine Adoption beantrage?«
»Ulrich, das wäre reine Zeitverschwendung. Ich habe noch nie erlebt, dass ein Junggeselle …«
»Ja, zum Teufel, dann muss ich eben heiraten!«, entfuhr es Ulrich. Seine Wangen röteten sich. Seine dunklen Augen blitzten.
»Ach, da ist etwas im Busch? Eines von deinen Abenteuern?«
Ulrich Warner winkte verächtlich ab. »Natürlich nicht. Ich habe nicht die Absicht, meinem Tobias eine flotte Biene als Mutter unterzujubeln. Es müsste ein nettes Mädchen sein, eines zum Liebhaben und zum Heiraten.«
»Vielleicht versuchst du es mit einer Annonce?« Der Heimleiter lächelte spöttisch.
»Viel zu riskant und zeitraubend. Weißt du, es müsste ein Mädchen sein, von dem man weiß, dass es Kinder gernhat zum Beispiel eine von diesen Helferinnen, die hin und wieder freiwillig bei euch im Heim Dienst tun. Ich habe nämlich davon gehört. Wenn ich nicht irre, handelt es sich dabei um junge Mädchen, die vor der Berufsausbildung oder dem Studium ein Jahr oder auch nur ein halbes überbrücken möchten und im Kinderheim oder in anderen sozialen Einrichtungen einspringen, für ein Taschengeld oder auch ganz ohne Bezahlung. Das finde ich fantastisch! So ein Mädchen wäre die Richtige!«
Olaf Neumann nickte. »Du bist gut informiert. Ja, es sind die nettesten und patentesten Mädchen, die zu uns kommen.«
Ulrich war plötzlich wie elektrisiert. »Und sie sind durchweg unverheiratet, nicht war? Wie kann ich sie kennenlernen?«
»In den letzten Jahren waren zwar etliche Helferinnen bei uns, im Moment haben wir jedoch keine Einzige.« Olaf Neumann kramte in den Schubladen seines Schreibtisches, zog einen Aktendeckel hervor und schlug ihn auf. »Hier habe ich die Namen und Adressen …« Er unterbrach sich selbst, knallte den Ordner zu und meinte: »Das ist doch Unsinn! Bin ich Heiratsvermittler?«
Ulrich beugte sich erregt über den Schreibtisch. »Olaf, ich flehe dich an, gib Tobias und mir eine Chance! Sag mir, wer die Mädchen sind!«
»Ich weiß nicht einmal, ob ich das darf, ob es korrekt wäre.«
»Aber ich bitte dich! Was soll denn daran nicht korrekt sein! Ich will doch dieses oder jenes Mädchen nicht entführen, sondern nur kennenlernen, um eine gute Mutti für Tobias zu finden! Hätte ich denn eine echte Chance, Tobias zu bekommen, wenn ich verheiratet wäre?«
»Wenn sich zwei Paare, die beide die Voraussetzungen erfüllen, um ein Kind bewerben, würden wir selbstverständlich jenen Eltern den Vorzug geben, zu denen sich das betreffende Kind am meisten hingezogen fühlt.«
»Ich bin dreißig Jahre alt. Es ist sowieso die höchste Zeit zu heiraten! Olaf, ich bitte dich, schau dir die Liste der Mädchen einmal in Ruhe an und sage mir, welche nach deiner Meinung am ehesten infrage käme! Für mich und Tobias.«
Ulrich Warner sprach so beschwörend auf den Heimleiter ein, dass der den Aktendeckel tatsächlich wieder öffnete und mit gerunzelter Stirn die Namen und Adressen durchzugehen begann.
»Tja, ich weiß nicht«, meinte er nach einer Weile. »Sie waren alle nett, sympathisch und hübsch. Kinderlieb sowieso, sonst hätten sie bei uns gar nicht angefangen.«
»Alle durch die Bank?«, rief Ulrich aufgeregt. »Ja, weißt du was?« Er griff nach den Notizzetteln, die in einem Behälter auf dem Schreibtisch standen. »Dann lassen wir doch einfach das Los entscheiden! Wir schreiben auf jeden Zettel einen Namen nebst Adresse. Und dann soll mir die Glücksgöttin beistehen!«
»Bitte!« Ulrich drehte den Aktendeckel halb herum und begann hektisch, die Namen auf die Zettelchen zu schreiben.
Olaf lehnte sich zurück. »Wenn du unbedingt willst, aber ich wasche meine Hände in Unschuld.«
»Sicher! Wenn du schweigst, wird kein Mensch jemals erfahren, wie ich die Bekanntschaft des betreffenden Mädchens gemacht habe. Alles muss wie Zufall aussehen, das ist sogar sehr wichtig!«
»Ja, das ist wichtig, denn das Mädchen wäre nicht besonders glücklich darüber, als Heiratskandidatin aus dem Lostopf gezogen zu sein.«
»Aus dem Lostopf …« Ulrich sah sich im Büro um und entdeckte eine leere Blumenvase auf dem Schrank. Rasch holte er sie herunter, faltete die Zettel zusammen, warf sie hinein und schüttelte sie tüchtig durcheinander.
»So, jetzt!« Er schloss die Augen und griff in die Vase. »Fortuna, hilf mir, die Richtige zu finden.«
Er hob die Hand und sah, dass er zwei Lose herausgezogen hatte, die aneinanderhingen. »Oje!« Er betrachtete die weißen Zettelchen wie einen gefährlichen Sprengsatz. »Zwei Stück? Liebe Güte, ich will doch keinen Harem! Vielleicht eines zur Reserve.« Kurz entschlossen traf Ulrich seine Wahl und steckte ein Los in die Brieftasche, ohne es anzusehen. Das andere faltete er mit zitternden Fingern auseinander.
»Bettina Lühr«, las er und sah seinen ehemaligen Schulkameraden forschend an. »Wer ist Bettina Lühr?«
»Bettina – ja, ich erinnere mich genau. Sie war schon etwas älter als die meisten Mädchen, die zu uns kamen.«
»O weh, eine alte Jungfer?«, rief Ulrich erschrocken.
Lächelnd schüttelte der Heimleiter den Kopf. »Keine Spur. Im Gegenteil, mit etwas älter, meine ich, dass sie schon über zwanzig war, als sie hier tätig war, zweiundzwanzig Jahre, glaube ich, heute wäre sie also dreiundzwanzig.«
»Wunderbar! Sonst wäre sie ja auch viel zu jung, um Mutter eines achtjährigen Jungen zu werden! Du siehst, dass mir das Schicksal hold ist! Und wie sieht sie aus, diese Bettina?«
Die Augen des Heimleiters bekamen plötzlich einen verträumten Glanz.
»Wie eine Heide-Prinzessin«, antwortete er.
»Wieso, was heißt das?«
Olaf Neumann griff nach der Zeitung, die auf seinem Schreibtisch lag. »Morgen kannst du sie dir anschauen, wenn du zum Schützenfest nach Aadorf fährst. Dort wird sie nämlich zur Heidekönigin gekrönt.«
»Ist ein Bild in der Zeitung?«, fragte Ulrich aufgeregt und griff nach dem Blatt.
Der Heimleiter schüttelte den Kopf, sah den Schulfreund nachdenklich an und meinte: »Nimm lieber das andere Los.«
»Wieso denn?«
»An Bettina wirst du dir die Zähne ausbeißen. Sie ist ein sprödes Mädchen.«
»Sie hat dir also auch gefallen.«
»Das kann ich nicht leugnen.«
»Ich will dir einmal etwas verraten. Ich mag spröde Mädchen. Ich finde es gar nicht komisch, wenn sie einem gleich in die Arme sinken. Übrigens, hat Bettina Lühr einen Beruf?«
»Sie ist Zahnarzthelferin. Sie kam damals aus Hamburg, wo sie eine gute Stellung hatte, hierher, um ihren Großvater zu versorgen. Ihr Vater war ganz plötzlich verstorben, die Mutter lebte schon seit Jahren nicht mehr. Der alte Herr war früher Förster. Er wohnt mit seiner Enkelin noch immer im Forsthaus, weil kein neuer Förster für das Revier eingestellt wurde. Ich glaube, sie haben das alte Forsthaus sogar gekauft.«
»Und warum kam Bettina hierher zu euch?«
»Ihr Großvater ist noch einigermaßen rüstig mit seinen fünfundsiebzig Jahren. Bettina fühlte sich nicht ausgelastet. Sie fand zunächst keine passende Stellung in der Gegend. Inzwischen arbeitet sie jedoch, wenn ich richtig informiert bin, als Helferin bei einem Zahnarzt im Dorf.«
»Sie scheint wirklich ein patentes Mädchen zu sein.«
»O ja!«
»Du meinst auch, es wäre ein Glücksfall für den kleinen Tobias, wenn Bettina mich heiraten würde?«
Olaf Neumann musterte den Schulfreund mit undurchsichtigem Lächeln. »In der Tat, ein Glücksfall. Für Tobias und für dich. Ich glaube zwar nicht, dass du Erfolg hast, wünsche dir dennoch viel Glück.«
*
Bettina stand in ihrem Zimmer vor dem Spiegel und kämmte ihr schulterlanges Haar, das in weichen Wellen wie eine goldgelbe Flut herniederrieselte. Sie trug ein langes weißes Kleid, selbst genäht – extra für diesen Tag. Ein spöttisches Lächeln spielte um den Mund der Dreiundzwanzigjährigen. Sie kam sich ein bisschen albern vor. Wenn der Trubel doch schon vorbei wäre!
»Deern, wo bleibst du denn?«, hörte sie ihren Großvater ungeduldig rufen.
»Opa, wir haben viel Zeit!«, rief sie durch die halboffene Tür zurück.
»Und wenn dein Auto unterwegs stecken bleibt? Wir müssen doch pünktlich sein, Kind!«
»Opa, du hast erheblich mehr Lampenfieber als ich!«, lachte Bettina unbekümmert. Sie trat ans Fenster, um es zu schließen. Einen Moment lang verharrte sie und atmete den würzigen Duft des Waldes ein. Vor dem Fenster rauschten die Bäume, die sie schon in ihren Kindertagen in den Schlaf gesungen hatten. Es war schön, wieder zu Hause zu sein! Leider war alles Schöne auf dieser Welt vergänglich. Bettina seufzte schwer. Sie ließ die Stirn an den harten Fensterrahmen sinken. Sie konnten dieses Haus nach dem Tode ihres Vaters nicht mehr halten. Zu viele Hypotheken lasteten darauf. Es blieb ihnen kein anderer Ausweg, als es zu verkaufen, dieses kleine Paradies, in dem ihr Großvater fast sechzig Jahre lang geschaltet und gewaltet hatte. Ihm fiel es noch schwerer als ihr, sich von diesem Besitz zu trennen, wenn er auch versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.
Darum hatte sie sich breitschlagen lassen, Heide-Königin zu werden, nur dem Großvater zuliebe.
Bettina richtete sich entschlossen auf und verließ ihr Zimmer unter dem Dach. Sie musste das bodenlange Kleid raffen, als sie die schmale steile Holzstiege hinunterschritt.
Rudolf Lühr, der seine Enkelin im Flur unter den mächtigen Hirschgeweihen erwartete, hatte zur Feier des Tages seine alte Forstmeisteruniform angelegt. Die verschmitzt blickenden hellblauen Augen und der gepflegt gestutzte, eisgraue Kinnbart machten ihn vollends zu einem betagten Herrn der Wälder, der stets liebevoll über sein Reich der Tiere und Bäume geherrscht hatte.
Der alte Lühr musterte das blonde Mädchen wohlgefällig. Seine Augen strahlten. »Fein siehst du aus, Deern. Fehlt nur noch das Krönchen. Und die Schärpe natürlich.«
Bettina seufzte übertrieben komisch. »Ich wünschte, wir hätten die Zeremonien nebst Ball und alles, was drum und dranhängt, schon hinter uns.«
»Aber Kind, freust du dich denn nicht, Heide-Königin zu werden?«, fragte Rudolf Lühr mit allen Anzeichen der Entrüstung.
»Ach, weißt du, ich lasse mich nicht so gern bestaunen, und außerdem finde ich, bin ich mit meinen dreiundzwanzig Lenzen für derartige Kindereien schon entschieden zu alt.«
»Papperlapapp! Die Schönste soll Königin werden, und das bist du! Klar, die hätten dich schon längst gekrönt, schon mit siebzehn oder achtzehn, aber du bist ja nie hier gewesen. Heute ist es endlich soweit!« Der alte Herr warf sich voller Stolz in die Brust.
Bettina lächelte gerührt. Für ihren Großvater war es ein denkwürdiger Tag, von dem er noch lange zehren würde. Wie er es genoss, dass seine Enkeltochter heute im Blickpunkt der Öffentlichkeit stand! Als die Allerschönste, wie er meinte. Dabei hatte das Festkomitee ihm, dem allseits beliebten Forstmeister im Ruhestand, sicher nur einen Gefallen tun wollen.
»So, jetzt müssen wir uns aber schleunigst auf den Weg machen, Betti«, drängte er aufgeregt.
Sie verließen das Forsthaus und stiegen in Bettinas Volkswagen, den nur ein gütiges Schicksal und ein äußerst zählebiger Motor bisher vor dem Schrottplatz bewahrt hatten.
Während sie durch den stillen Wald fuhren, wurde Bettina allmählich von einer feiertäglichen Stimmung erfasst. Die freudige Erwartung ihres Großvaters sprang auf sie über.
Bald erreichten sie das Dorf. Birkengrün schmückte alle Häuser. Bunte Fahnen wehten. Von fern her tönte die schmissige Blasmusik der Feuerwehrkapelle.
Als Bettina auf den Parkplatz fuhr, fiel ihr sofort eine große elegante Luxuslimousine auf, die in dezentem Weinrot schimmerte, und neben der ihr klappriges Blechvehikel geradezu grotesk wirkte.
Aus diesem Traumwagen stieg ein Mann.
Ein Traummann!
Groß und schlank war er, dazu breitschultrig und sportlich trainiert. Er mochte etwa dreißig Jahre sein – ein Alter, das Bettina für Männer immer besonders attraktiv und günstig gefunden hatte.
Das dunkle, leicht gewellte Haar und der forsche offene Blick verliehen ihm etwas Verwegenes.
Ein paar Sekunden lang verharrte die Dreiundzwanzigjährige reglos, eine Hand auf der offenen Wagentür. Und in diesen Sekunden geschah etwas Rätselhaftes, etwas völlig Unerklärliches. Die Welt und ihre Gesetze gerieten aus den Angeln. Es war, als stoppe das Schicksal selbst den Lauf der Erde – wie ein Kind, das die Hand auf den rotierenden Globus legt.
In diesen Sekunden, in denen ihr Blick in den dunklen Augen des Fremden versank, war es Bettina, als gleite sie durch undenkliche Zeiträume, allein mit diesem Unbekannten.
Er lächelte nicht. Es schien, als begegne sie unvermutet einem verlorenen Freund.
Und dann war das Wunder vorbei. Ihr Großvater rüttelte Bettina aufgeregt am Arm. »Komm doch, Betti.«
Er stieß den Wagenschlag zu, umklammerte das Handgelenk seiner Enkeltochter und zog sie mit sich.
Während der Krönungszeremonie, als ihre Nachfolgerin ihr das golden schimmernde Krönchen aufs Haar setzte, als der Bürgermeister ihr den purpurnen Mantel um die Schultern legte, sah Bettina den Fremden wieder. Er stand in der Menge, eingekeilt zwischen den Dorfbewohnern, den Schaulustigen und Touristen. Doch sie sah nur ihn, als stehe er einsam auf dem leeren Festplatz. Diesmal war ein kleines amüsiertes Lächeln in seinen Augen, und unwillkürlich lächelte Bettina zurück. Nur ihm galt dieser Gruß, und er begriff, das signalisierte er mit einem kaum merklichen Kopfnicken.
Während der folgenden Stunden, da sie ihren »Pflichten« als neugewählte Heidekönigin nachkommen musste, sah sie den Unbekannten immer wieder. Zufall? Verfolgte er sie? Allmählich wurde Bettina unruhig. Wie er sie musterte! Abschätzend? Frech? Herausfordernd?
Wer war dieser Mensch? Warum ließ er sie nicht aus den Augen? War er allein zum Heideblütenfest gekommen?
Wenn Bettina seine Blicke anfänglich auf seltsame Weise verzaubert hatten, so machten diese bohrenden dunklen Augen sie nun zunehmend nervöser und verlegener. Sie wusste ja kaum noch, wohin sie schauen sollte! Wenn das Fest doch endlich zu Ende wäre. Aber noch stand ihr das Schlimmste bevor, der große Festball.
Am liebsten wäre Bettina geflüchtet. Doch sie wurde von einem Tänzer zum anderen weitergereicht, vom Bürgermeister zum Lehrer und Vorsitzenden des Festkomitees, vom Feuerwehrhauptmann zum Fremdenverkehrsdirektor.
Und dann, nachdem sie mit sämtlichen Honoratioren ihre Ehrentänze absolviert hatte, als das freundliche Lächeln auf ihrem Gesicht schon wie eingefroren wirkte, stand er plötzlich vor ihr.
»Darf ich bitten?«, fragte er höflich.
Bettina bekam plötzlich weiche Knie. Wo war ihre Selbstsicherheit geblieben?
Stumm und betroffen stand sie da.
»Oder tanzen Eure Durchlaucht nicht mit hergelaufenen Fremden?«, fragte er mit freundlichem Spott und einem ungemein gewinnenden Lächeln.
»O doch, sicher«, stammelte sie und kam ihm einen halben Schritt entgegen.
Lässig und elegant nahm er sie in die Arme. Auf der gedrängt vollen Fläche war es jedoch unmöglich, schwungvoll zu tanzen, wie der Mann es zunächst vorhatte. Bald bewegten sie sich nur noch mit kleinen Schritten durch die wogende Menge.
»Nun, wie fühlt man sich als Königin?«, begann der Unbekannte nach einer Weile das Gespräch.
Bettina warf den Kopf in den Nacken. »Die armen Königinnen! Für mich ist glücklicherweise morgen alles vorbei. Das Repräsentieren liegt mir doch weniger, als ich dachte.«
»Dafür haben Sie Ihre Sache aber sehr gut gemacht. Alle Achtung! Meine Bewunderung, Durchlaucht.«
»Sie haben sich alles ganz genau angeschaut, nicht wahr? Sind Sie vielleicht von der Zeitung?«
»Bewahre! Nein, ich bin als Privatmann hier. So, es ist Ihnen also aufgefallen, dass ich zu Ihren ausdauerndsten Bewunderern zählte, Hoheit?«
»Hm – Sie waren nicht zu übersehen.«
»Erstaunlich! In der Menge.«
Bettina musterte ihren Tänzer mit schräg geneigtem Kopf. Er sah aus der Nähe noch hinreißender aus.
»Was möchten Sie denn nun gerne hören?«, fragte sie belustigt und mit blitzenden Augen.
»Aus Ihrem Munde – alles!«
»Ach nein! Zum Beispiel, dass man einen Charakterkopf wie den Ihren auch in der Masse unmöglich übersehen kann?«
»Ich nehme an, es lag eher daran, dass ich einen halben Charakterkopf größer bin als die meisten!«
»Immerhin, Sie sehen nicht so aus, wie man sich den durchschnittlichen Besucher eines Heideblütenfestes vorstellt. Wieso sind Sie hier, zudem noch so ausdauernd, viele Stunden lang.«
»Einzig und allein, um die neue Heidekönigin kennenzulernen!«
»Ach nein, wie aufregend!« Bettina musterte ihn ironisch. Er schien zu den gutaussehenden Draufgängern zu gehören, die sich ihrer Wirkung auf Mädchen und Frauen voll bewusst sind und erwarten, dass ihnen eine jede zu Füßen sinkt. Diese Sorte von Männern hatte Bettina nie gemocht.
»Ich glaubte schon, all die seriösen Herren würden Sie überhaupt nicht mehr freigeben. – Aber gestatten Sie, dass ich mich erst einmal vorstelle.«
»Ich gestatte.«
»Danke, Hoheit. Mein Name ist Warner. Ulrich Warner. Und ich schätze mich überglücklich, nun doch noch die Bekanntschaft der Königin Bettina gemacht zu haben, die als die schönste und zauberhafteste Heideblüten-Durchlaucht eingehen wird.«
Ein Alarmsignal zuckte in Bettina auf.
»Brechen Sie sich bloß keine Verzierungen ab, Herr Warner.«
»Mitnichten. Leider bin ich kein Dichter, sodass mir die passenden Worte fehlen. Sie haben sich vielleicht gewundert, dass ich Ihnen auf Schritt und Tritt folgte.«
»Allerdings.«
»Ich konnte mich von Ihrem Anblick einfach nicht losreißen. So etwas ist mir noch nie im Leben passiert, das dürfen Sie mir glauben. Ich war einfach hingerissen.«
»Erzählen Sie das allen Mädchen, die Sie gern kennenlernen möchten?«
Er schüttelte den Kopf und sagte irgendetwas, das Bettina nicht verstand, denn die Musiker gerieten gerade in Ekstase.
Ulrich Warner neigte sich zu ihr.
Seine Lippen berührten ihr lose rieselndes Haar.
Widerstreitende Gefühle erfüllten Bettina. Einerseits faszinierte sie dieser Mann, andererseits fühlte sie ganz deutlich, dass irgendetwas nicht stimmte. Er hatte einfach zu viel Leinwand gesetzt. Segelte mit zu hoher Geschwindigkeit.
»Ich glaube, ich habe mich in Sie verliebt, Bettina«, flüsterte Ulrich Warner ihr ins Ohr.
Sie zuckte zusammen. Nicht vor Glück.
Vor Enttäuschung.
»Sie sind nicht besonders anspruchsvoll, wie?«, spöttelte sie.
»Nicht anspruchsvoll? Haben Sie eine Ahnung! Wenn man sich in ein Mädchen wie Sie verl…«
»Sie wiederholen sich«, schnitt Bettina ihm das Wort ab. »Ich meinte, Sie können unmöglich anspruchsvoll sein, wenn Sie jedes Gefühlchen gleich unter Verliebtheit einordnen.«
Er sah ihr eindringlich in die Augen. »Glauben Sie denn nicht an die Liebe auf den ersten Blick?«
»Fällt Ihnen nichts Originelleres ein?«
»Hier ist es so stickig und so laut … Könnten wir nicht einen Moment hinausgehen?«
Bettina lachte auf, halb amüsiert, halb bitter. »Ich habe nichts dagegen. Die Luft ist hier wirklich zum Schneiden.«
Sie schoben sich durch das Menschengewimmel aus dem Festzeit. Kühle Luft wehte ihnen entgegen. Am Himmel funkelten bereits die Sterne.
Ein paar Augenblicke lang hatte Bettina das Gefühl, auf Wolken zu schweben. Doch dann bemerkte sie im ungewissen Schein der Laternen, die rings um das Zelt brannten, wie viele Blicke ihr Begleiter auf sich zog. Ein Herzensbrecher? Ein Frauenheld? Sein forsches Benehmen deutete darauf hin.
Schade, jammerschade. Ein kleiner Seufzer setzte den Schlusspunkt hinter diese Gedanken.
Ulrich Warner führte sie über den Platz, dem nahen Wäldchen zu. Schon bald begegnete ihnen keine Menschenseele mehr. Die Musik war nur noch eine ferne Untermalung zum Rauschen der Bäume. Sie hatten während der ganzen Zeit kein einziges Wort gesprochen.
»Bettina, ich glaube seit heute an Liebe auf den ersten Blick«, hörte sie den Mann leise sagen. Seine Hand spannte sich warm und zärtlich um ihren Unterarm.
Die Versuchung wurde groß, übergroß … Die Versuchung, sich einfach fallen zu lassen.
Nur den schönen Augenblick festzuhalten.
Nicht an das Morgen zu denken.
»Bettina, ich glaube, Sie sind für mich die Frau fürs Leben …«
»Wie bitte?« Fassungslos starrte sie ihn an. Sein Gesicht war nur ein Schemen im mondfahlen Dunkel.
Er wirkte plötzlich irritiert und verlegen.
»Vielleicht ist es verfrüht, darüber zu reden, aber ich könnte mir vorstellen, dass Sie und ich, dass wir …« Er stockte, offenbar über seine eigene Vorwitzigkeit erschrocken.
»Gehen Sie immer so scharf ran?«, fragte Bettina ärgerlich.
»Entschuldigen Sie, aber …«
»Gehen Sie immer gleich aufs Ganze? Bei mir ist da ja keine Gefahr, ich weiß, worauf Sie hinaus wollen. Aber wenn ich mir vorstelle, dass es Mädchen gibt, die Ihre schönen Worte für bare Münze nehmen – nein, das finde ich – gelinde gesagt – ein bisschen schäbig.«
»Sie irren sich, wenn Sie glauben, dass ich eine Masche abziehe. Ich meine es ernst!«
»Das ist ja lächerlich!«
»Durchaus nicht … Wie soll ich es Ihnen nur erklären …«
»Ach, hören Sie doch auf mit dem Unsinn!« Abrupt wandte Bettina sich ab und eilte den Weg zurück.
Mit ein paar langen Sätzen hatte der Mann sie eingeholt. Er stellte sich vor sie. »Warten Sie doch. Geben Sie mir eine Chance.«
»Wieso ausgerechnet ich?«
»Weil Sie …, weil Sie mir vom Schicksal bestimmt sind!«
»Meine Güte! Fällt Ihnen wirklich nichts Besseres ein? Lassen Sie mich!«
Sie wollte an ihm vorübereilen, doch jäh packte er sie, umklammerte ihre Oberarme und versuchte sie zu küssen.
Da sah Bettina rot. Sie hatte diesen überheblichen Burschen also genau richtig eingeschätzt!
Mit einer wütenden Bewegung machte sie ihren rechten Arm frei, holte weit aus und versetzte diesem zudringlichen Menschen, diesem unverschämten Kerl eine Ohrfeige, die sich gewaschen hatte.
War es die Wucht des Schlages? War es der Überraschungseffekt? Ulrich Warner taumelte zurück, dass er um ein Haar gestolpert und gefallen wäre.
Bettina aber raffte ihren Rock, und mit wehenden hellen Haaren geisterte sie durch das Mondlicht wie eine unirdische Erscheinung. Sie kehrte nicht mehr in den Trubel des Festes zurück. Im großen Bogen umging sie das Zelt mit seiner lautstarken Fröhlichkeit. Mehrere Male spähte sie vorsichtig über die Schulter. Nein, Warner verfolgte sie nicht.
Als sie wenig später vor dem Försterhaus aus dem Auto stieg, atmete Bettina tief auf. Geschafft! Ihr war zumute, als sei sie einer Gefahr entronnen – einer lockenden Gefahr.
Etwas Weiches berührte ihre Beine. Bettina bückte sich rasch und nahm ihren schwarzen Kater auf die Arme. »Da bist du ja, Schnubbelchen! Hast du dich schon nach Herrchen und Frauchen gebangt?« Sie schmiegte ihr Gesicht gegen das seidenweiche Fell des schwarz-weißen Tieres, als müsse sie angestaute Zärtlichkeit verströmen. Ein paar Augenblicke lang ließ der Kater sich die Liebkosungen gefallen, dann stemmte er die Samtpfötchen energisch gegen Bettinas Kinn und ließ einen unwilligen Laut hören.
»Ach, Schnubbelchen«, seufzte sie, »du magst es nicht, wenn man dich auf den Arm nimmt, du magst nicht schmusen, was bist du nur für ein komischer kleiner Kerl!« Sie setzte ihn auf den Boden.
»Prinz Schnubbel«, wie Bettina das eigenwillige Tierchen getauft hatte, strich noch einmal wie um Entschuldigung bittend an ihren Beinen entlang, dann trollte er sich und verschwand in den undurchdringlichen Schatten.
Als Bettina in ihrem Bett lag und den Fremden zu vergessen suchte, lauschte sie dem Rauschen der Wipfel und den Rufen des Kauzes, der schon seit Jahren in der Nähe des Forsthauses nistete. Sie mochte alle Tiere, doch Eulen und Katzen waren ihr besonders ans Herz gewachsen. Sie fühlte eine hintergründige Verwandtschaft mit diesen geheimnisvollen Geschöpfen der Nacht, deren Augen so unergründlich waren, dass kein Mensch sie zu enträtseln vermochte. So unergründlich wie die Augen des Fremden, dachte Bettina, schon halb im Schlaf.
Eine weiche dunkle Wolke hüllte das blonde Mädchen ein und trug es schwebend in die Weiten des Traumes.
*
Sonntagmorgen!
Obwohl es im Wald immer still war, vertiefte sich am Sonntag das Schweigen zu andächtiger Feierlichkeit. Man hörte beim Erwachen die Vögel freudiger zwitschern und jubilieren. Warmer und goldener flirrte der Sonnenglanz zwischen den Zweigen und tanzte wie kleine Lichtelfen durch die Fenster.
Bettina blinzelte und reckte sich. Sonntags genoss sie es besonders, eine Weile im Halbschlaf zu verdämmern.
Plötzlich fuhr sie in die Höhe. Die Erinnerungen trafen sie wie ein Hieb.
Der Fremde! Seine Zärtlichkeit, seine sprechenden dunklen Augen …
Schade, dass er so ein Hallodri war!
Einer, der sich einbildete, er müsste nur mit dem kleinen Finger winken!
»Nicht mit mir!«, sagte Bettina halblaut und schwang sich energisch aus den Federn.
Als sie wenig später in einem weißen Kleid mit schwingendem Rock die steile Treppe hinuntereilte, hörte sie ihren Großvater in der Küche rumoren. »Guten Morgen, Opa!« Sie begrüßte ihn mit einem Kuss auf die unrasierte Wange. »Du, ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich dich gestern Abend einfach im Stich gelassen habe.«
Der Alte winkte verschmitzt lächelnd ab. »Das schlechte Gewissen kannst du dir schenken, Deern. Der Kreisjägermeister hat mich nach Hause gebracht. Zusammen mit dem alten Lotzkat haben wir noch ein paar Runden Skat gedroschen. Hoffentlich waren wir nicht zu laut.«
»Ich habe nichts gehört.« Sie nahm dem pensionierten Forstmeister den Teekessel aus der Hand. »Lass mich das machen, das ist meine Aufgabe.«
»Sei doch nicht so eigensinnig, Kind! Meinst du, dass du besseren Kaffee kochen kannst?«
»Ich werde mich hüten, so etwas zu behaupten. Aber du musst dich schonen, besonders nach einem so anstrengenden Tag wie gestern.«
»Papperlapapp. Was heißt anstrengend! Ich gehöre noch längst nicht zum alten Eisen. Wir haben zwar alle einen über den Durst getrunken – aber immer senkrecht! Übrigens, wer war denn der nette junge Mann?«
»Du kennst ihn auch nicht?«, fragte Bettina, während sie sich angelegentlich auf das Kaffeebrühen konzentrierte.
»Woher wohl? Hab’ ihn vorher nie gesehen. Ich dachte, du kennst ihn näher.«
»Keine Spur.«
»Tatsächlich nicht? Ihr habt beim Tanzen so angeregt geplaudert, und plötzlich wart ihr verschwunden, alle beide.«
Bettina spürte, dass eine flüchtige Röte in ihre Wangen stieg. »Ich bin sofort nach Hause gefahren. Mir taten schon die Füße weh, das kannst du mir glauben.«
»Aber schön war es doch, oder? Jedenfalls warst du die netteste Heidekönigin seit Menschengedenken, das haben alle gesagt.«
»Du übertreibst, Opa.«
»Überhaupt nicht! Die ältesten Einwohner konnten sich nicht an eine so hübsche und liebe Königin erinnern, jawohl! Und morgen stehst du in der Zeitung!«
»Na prima! Dann hast du ja morgen auch noch deinen Spaß. Ich bin froh, dass der Rummel vorbei ist.«
Ihr Großvater musterte sie von der Seite. »Ärger gehabt, Betti? Mit dem jungen Mann?«
»Ärger? Wie kommst du denn darauf? Keine Spur!«
»Umso besser.«
Nach dem Frühstück erledigte Bettina noch rasch den Abwasch, während ihr Großvater es sich auf der Couch bequem machte und bald friedlich einschlummerte. Die Dreiundzwanzigjährige betrachtete ihn liebevoll.
Lautlos schlich Bettina sich aus der Küche. Der warme Sonnenschein hüllte sie wie in einen goldenen Zaubermantel. Ihr Haar schimmerte wie ein kostbarer Schatz.
Sie schlug den Waldweg ein, den sie besonders liebte. Wie ein lichterfüllter grüner Tunnel schlängelte sich dieser kaum begangene Pfad durch das Dickicht. Nirgendwo sonst spürte Bettina die Verzauberung des Waldes so intensiv wie hier. Die Bäume und Sträucher nahmen sie auf wie ihresgleichen, schützten sie mit ihren Zweigen und Blättern und hielten alle schlechten Gedanken von ihr fern.
Bettina fühlte sich nicht einsam. Der Wald war ihr Gefährte. Überall regte sich Leben.
Sie gelangte an ihren Lieblingsplatz Ein Bach durchrieselte eine kleine, sonnige Lichtung. »Märchenwiese« nannte sie diese Stelle, an der sie schon als kleines Mädchen oft vor sich hingeträumt hatte. Geträumt von einem geheimnisvollen dunkelhaarigen Prinzen mit zärtlichen Augen …
Sie schleuderte die Sandalen von den Füßen, setzte sich ans Ufer und ließ die nackten Füße ins kalte kristallklare Wasser baumeln.
Plötzlich hörte sie ein knackendes Geräusch. Wie ein gewarntes Wild blickte Bettina blitzschnell zur Seite.
Ihr Herz begann zu trommeln. Ihre Wangen glühten. Am Rande der Lichtung stand – er.
Ulrich Warner. Groß und herausfordernd.
Bettina schnellte in die Höhe. Sie war so durcheinander, dass sie kaum Worte fand. Ihre Gedanken kreiselten.
»Also, das ist doch eine Frechheit!«, stieß sie hervor.
Langsam kam Ulrich Warner näher. »Eine Frechheit? Wieso, ich habe heute Morgen doch noch nicht den geringsten Versuch gemacht, Sie zu küssen.«
»Sie haben mich heimlich verfolgt, Sie unverschämter Mensch! Es ist ja wohl kein Zufall, dass Sie mich hier treffen!«
»Nicht Zufall, sondern Schicksal.«
»Bleiben Sie mir bloß mit Ihren Kalendersprüchen vom Leibe! Was bilden Sie sich überhaupt ein!«
»Ich bilde mir bald gar nichts mehr ein, denn Sie haben genau die richtige Art, einen Mann vom hohen Pferd zu holen und winzig klein zu machen.«
Sie warf trotzig und mit spöttisch gewölbten Lippen den Kopf in den Nacken. »Dazu gehört nicht viel!«
»Möglich. Aber eine Königin soll auch großmütig sein und den Kleinen eine Chance geben.«
»Was reden Sie nur immer von Chance? Außerdem fühle ich mich heute nicht mehr als Königin und auch nicht als öffentliches Eigentum, das man ungeniert anstarren darf. Bitte, richten Sie sich danach.«
»Aua!« Ulrich Warner legte eine Hand auf die Wange. »Diese Ohrfeige war noch saftiger als die von gestern Nacht. Sind Sie immer so schlagfertig?«
»Wenn es sein muss, ja. Und Sie? Sind Sie immer so hartnäckig?«
»Wenn Sie mich so offen fragen nein. Sie sind das erste weibliche Wesen, seit ich fünf Jahre alt war, dem ich nachgelaufen bin.«
»Dann sollten Sie es auch weiterhin so halten, das ist der einzig gute Rat, den ich Ihnen geben kann. Leben Sie wohl.«
Bettina griff nach ihren Sandaletten, behielt sie in der Hand und lief barfuß quer über die Lichtung.
»Warten Sie doch!«, rief Warner.
Sie sprang über den Bach und verschwand wie ein scheues Reh im Unterholz.
Welch ein Mädchen!
Ulrich fühlte sich verzaubert. Verzaubert von einem Wesen, das ihm wie aus Gold und Licht gewoben erschien, unwirklich und erdverbunden zugleich. Bettina. Diese oder keine!
Schade, dass sie so kratzbürstig war. Doch wünschte er sie sich anders? Nein! Er liebte sie von Sekunde zu Sekunde inniger und ersehnte nur eines: Ihr zeigen zu dürfen, was sie ihm bedeutete.
Dass sie allein im Wald spazieren ging, stimmte ihn froh. Offenbar gab es keinen Mann in ihrem Leben. Auch gestern beim Fest war ihm niemand aufgefallen, den er als Rivalen identifiziert hätte.
Bettina, die junge unberührte Fee des Waldes!
Ja, er liebte sie. Es war keine Leidenschaft, die seine Sinne verwirrte. Bettina … Wenn sie eines Tags ihm gehörte, er wäre der glücklichste Mann unter der Sonne.
Doch vorerst musste er sie in Ruhe lassen. Offenbar hatte er sie gestern gekränkt.
Wenn er nur ein wenig mehr Zeit hätte!
Seufzend machte Ulrich sich auf den Rückweg, stieg in seinen Wagen, den er in der Nähe des Forsthauses geparkt hatte, und er erreichte wenig später das Städtische Kinderheim.
Als er auf das Gebäude zuging, entdeckte er seinen kleinen Freund Tobias im Garten. Der blonde Junge hockte auf der Erde, mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf. Er bot ein Bild des Jammers und der Mutlosigkeit.
»Tobias!« Ulrich stürmte auf den Achtjährigen zu. Er konnte gar nicht mit ansehen, wie der kleine Kerl, dem sonst die Lebensfreude aus den blauen Augen leuchtete, litt und sich fürchtete.
Tobias sprang auf und warf sich Ulrich in die Arme. »Ein Glück, dass du da bist, Ulrich, ein Glück!«
»Um Himmel Willen, was ist denn passiert?«
»Ach, ich soll heute wieder zu den Leuten – du weißt schon.« Ein wenig ratlos streichelte der Mann den Blondschopf des Kindes. »Es ist ja nur vorübergehend, Tobias, bald wird alles anders.«
»Ist das wirklich wahr?« Der Junge blickte so flehend, dass Ulrich schlucken musste.
»Ja, Tobias, ich gebe mir die größte Mühe. So rasch wie möglich werde ich heiraten, und dann – dann sind jedenfalls erst einmal die unüberwindlichen Schwierigkeiten aus dem Weg geräumt.«
»Du willst heiraten? Wen denn?«
»Du kennst sie nicht.«
»Und dann darf ich zu euch?« Das schmale hübsche Gesicht des Buben leuchtete auf. »Bestimmt? Du holst mich hier weg? Versprichst du mir das? Du bist der Allerbeste!« Tobias schlang beide Arme fest um den Hals des Mannes. »Du bist der allerbeste Vati der Welt!«, flüsterte er erstickt.
Ulrich räusperte sich. »Ja, Tobias, ich möchte dich für immer zu mir nehmen …«
Der Junge stieß ein Indianergeheul aus. In wenigen Sekunden hatte sich das Häufchen Elend, das verloren im Gras kauerte, zu einem überquellenden Energiebündel gemausert.
»Aber es dauert natürlich seine Zeit«, fuhr Ulrich voller Unbehagen fort. Er hatte zu viel gesagt. »Du bist doch schon ein großer vernünftiger Junge und weißt, dass eine Adoption nicht von heute auf morgen vor sich geht.«
»Ach, Ulrich, das macht nichts! Hauptsache, du hältst zu mir!«
»Immer.«
Tobias nickte ernsthaft. »Du bist der einzige richtige Freund, den ich habe.«
Ulrich dachte einen Moment lang nach. »Weißt du, Tobias, im Grunde ergeht es mir genauso. Ich habe zwar etliche gute Bekannte, aber einen Freund? Einen richtigen Freund, dem ich rückhaltlos vertrauen kann? Nein, du bist auch für mich der Einzige.«
»Wir zwei, nicht?« Tobias sah ihn plötzlich mit Augen an, die so jung und so alt waren wie die Welt.
Stumm nickte Ulrich.
»Wie heißt sie denn? Die Frau, die du heiraten willst?«
»Bettina.«
»Ist sie hübsch?«
»O ja, sehr!«
»Ist sie auch lieb?«
»Ganz bestimmt! Keine Frage! Sehr lieb. – Wie lange bist du schon hier im Kinderheim, Tobias?«
»Ach, noch nicht lange.«
»Dann kannst du dich sicher nicht an eine Tante Bettina erinnern, die hier einmal vorübergehend gearbeitet hat.«
»Nein. Nimmst du mich mit zu ihr? Vielleicht gleich heute?«
»Das geht leider nicht.«
»Wieso nicht?«
»Also, sie würde uns heute nicht empfangen. Später, Tobias. Ich werde sehen, was ich für uns tun kann.«
»Ehrenwort?«
»Ich versuche mein Möglichstes. Ehrenwort.«
»Tobias!«, ertönte in diesem Moment eine kraftvolle männliche Stimme. Der Heimleiter stapfte durch den Garten. Als er den ehemaligen Schulfreund erkannte, rötete sich sein Gesicht. Er erwiderte Ulrichs Gruß nur knapp und wandte sich an den Jungen: »Geh bitte ins Haus, du hast Besuch.«
Der Achtjährige zuckte zusammen, versteckte sich mit einem Sprung hinter dem Rücken seines großen Freundes und rief: »Die Leute sollen abhauen, ich gehe nicht mehr zu ihnen! Ulrich heiratet nämlich, und dann nimmt er mich zu sich, ganz bestimmt, das hat er versprochen!«
Olaf Neumann warf dem anderen Mann einen wütend-vorwurfsvollen Blick zu, ergriff das Handgelenk des Jungen und wiederholte mit erhobener Stimme: »Geh bitte ins Haus.«
Ulrich nickte beklommen und legte die Hand auf die Schulter des Kindes. »Du musst vernünftig sein, Tobias. Onkel Olaf ist der Boss.«
»Okay.« Tobias blinzelte dem Mann, der seine ganze Hoffnung war, verschwörerisch zu.
Kaum war der Junge außer Hörweite, als der Heimleiter aufgebracht begann: »Wie kommst du dazu, dem Jungen Flausen in den Kopf zu setzen? Hast du vergessen, worum ich dich gebeten habe? Du darfst ihn nicht mehr sehen. Ich habe sowieso schon genug Ärger mit Tobias. Du machst alles nur noch schlimmer.«
»Aber Olaf, die Sachlage hat sich doch grundlegend geändert.«
»Die Sachlage? Welche Sachlage? Ich bin kein Kind, dem du Märchen auftischen kannst. Du willst mir doch nicht erzählen, dass an der Geschichte mit deiner baldigen Heirat irgendetwas dran ist? Deine Idee von neulich – das war doch ein Scherz, nichts weiter!«
»Durchaus nicht. Die Zukunft des kleinen Tobias’ nehme ich ausgesprochen ernst. Im übrigen habe ich Bettina Lühr inzwischen persönlich kennengelernt.«
»Zielstrebig bist du, das muss man dir lassen, wenn es sich auch nur um die Ausführung einer Schnapsidee handelt. Und?«
»Bettina ist ein fantastisches Mädchen. Es war Liebe auf den ersten Blick – jedenfalls von meiner Seite aus.«
Ein triumphierendes Aufleuchten in den Augen des Heimleiters verriet die Genugtuung des anderen Mannes.
»Aha! Es hätte mich auch sehr gewundert, wenn Bettina Lühr ausgerechnet dir aufseufzend in die Arme gesunken wäre.«
»Wir haben uns jedenfalls sehr nett unterhalten. Ich bin dir zwar keine Rechenschaft schuldig, aber ich möchte, dass du mich verstehst und keinen Keil zwischen mich und Tobias treibst.«
»Ich treibe keinen Keil zwischen euch, ich tue nur meine Pflicht. Darum fordere ich dich noch einmal mit allem Nachdruck auf, von nun an jeden Kontakt mit dem Jungen zu meiden, in seinem Interesse.«
»Olaf, du enttäuscht mich schwer. Neulich warst du erheblich verständnisvoller.«
»Neulich war ich nicht ganz zurechnungsfähig. Du hast mich ja regelrecht besoffen geredet. So ein Quatsch! Zieht sich die zukünftige Ehefrau aus dem Lostopf! Nein, mein Lieber, ich bin Realist. Dass du in Kürze als verheirateter Mann herkommst, um die Adoption einzuleiten, ist reines Wunschdenken. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt? Also, von nun an muss ich dir leider untersagen, das Heim und das Gelände zu betreten.«
Ulrich wurde totenblass. »Ist das dein letztes Wort?«
»Nach reiflicher Überlegung – ja.«
Ulrich starrte den Heimleiter so eindringlich an, als wollte er bis auf den Grund seiner Seele schauen.
»Ich glaube, allmählich dämmert es mir«, murmelte er. »Du warst in Bettina auch verliebt, als sie bei euch arbeitete, nicht wahr? Sie hat dich abblitzen lassen, und jetzt wäre es für dich eine äußerst fatale Vorstellung, wenn ich mehr Glück bei Bettina Lühr hätte. Du gönnst sie mir nicht.«
Die Gestalt des blonden bärtigen Mannes straffte sich. »Stimmt. Ausgerechnet Bettina! Sie ist zu schade für dich. Ich gönne ihr einen besseren Ehemann.«
Ulrich maß den ehemaligen Schulfreund mit einem langen Blick von oben bis unten, dann drehte er sich wortlos um und verließ den Garten. Als er in seinem Wagen saß, krampften sich seine Hände um das Lenkrad, als suche er einen Halt. So war das also. Und er hatte sich eingebildet, Olaf Neumann sei sein Verbündeter.
Er dachte an Tobias, an die flehenden Augen des Jungen, und ein glühender Strom schoss ihm zum Herzen. Das Schicksal forderte ihn heraus. Es ging um den Jungen, der ihm vertraute.
Und unerbittlich verrann die kostbare Zeit.
*
Am Montag war es Ulrich fast unmöglich, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Er saß im Direktionsbüro der Früchtegold-Marmeladen-Werke, traf mechanisch einige Entscheidungen, leistete Unterschriften, führte Telefonate doch unentwegt grübelte er unterdessen, was er tun konnte, um Bettina näherzukommen.
Die Zeit drängte. Armer kleiner Tobias …
Als Ulrich am Abend die Firma verließ, regnete es in Strömen. Die Traurigkeit des Himmels senkte sich mehr und mehr in das Herz des verzweifelten Mannes.
Irgendetwas musste geschehen. Aber was?
In seinem leeren Haus lief Ulrich wie ein gefangener Tiger auf und ab. Immer wieder blieb er an den Fenstern stehen und starrte hinaus in die regendurchtränkte Dunkelheit. Und plötzlich durchzuckte ihn eine Idee. Ja, ungewöhnliche Situationen erforderten ungewöhnliche Maßnahmen!
Schon verließ er aufgeregt die Villa, schwang sich hinter das Lenkrad und jagte aus der Stadt. Es dauerte nicht lange, und die dunklen schweigenden Wälder nahmen ihn auf. Da er die Gegend inzwischen recht gut kannte, fiel es ihm nicht schwer, einen versteckten Nebenweg zu finden, in dem er seinen Wagen verbergen konnte.
»Fortuna, sei auch diesmal auf meiner Seite«, murmelte er, als er ausstieg und die Autotür abschloss.
Der Regen rauschte noch immer ins Blätterdach und tropfte von allen Zweigen. Als Ulrich wenige Minuten später das einsame Forsthaus erreichte, war er pudelnass. Mit hochgeschlagenem Jackenkragen, die Haare nass in der Stirn, so stand er vor der Tür und läutete.
Schon vernahm er leichte graziöse Schritte. Sein Herz tat einen kleinen Sprung, vor Schreck und Freude. Bettina öffnete. Sie stand im erleuchteten Flur und kam dem Mann schöner denn je vor.
»Guten Abend«, begann er mit einem mühsamen Lächeln.
Bettinas Gesicht verschloss sich, wurde kühl und abweisend. »Sie?«
»Ja, ich. Verzeihen Sie bitte die Störung, aber ich bin mit dem Wagen steckengeblieben, eine Panne.«
»Eine Panne? Ausgerechnet hier?«
»Ein Stück entfernt. Ich habe in der Gegend zu tun«, erklärte Ulrich mit dem Mut der Verzweiflung. »Ihr Haus war das Erste, auf das ich traf. Darf ich – darf ich telefonieren?«
Bettina warf den Kopf trotzig in den Nacken. »Bis zum Dorf ist es nicht mehr weit. Das werden Sie leicht schaffen. Dort finden Sie eine Telefonzelle.«
»Wie können Sie so herzlos sein? Ich …«
»Herzlos? Ihre faulen Tricks ziehen bei mir nicht. Ich habe Sie durchschaut!«
»Wenn Sie mich durchschaut hätten, Bettina, könnten Sie in mein Herz sehen und wüssten …«
»Wer ist denn da?«, ertönte plötzlich die raue Stimme des pensionierten Forstmeisters aus dem Hintergrund. Der alte Herr schlurfte auf Filzpantoffeln aus der Wohnstube in den Flur.
»Nichts Wichtiges, Opa«, versuchte Bettina ihren Großvater abzulenken. »Du brauchst dich nicht zu bemühen. Ich erledige das schon.«
»Aber der Herr ist ja völlig durchnässt! – Kommen Sie herein, kommen Sie, oder wollen Sie sich den Tod holen?«
»Oh, vielen Dank.« Bereitwillig wollte Ulrich eintreten, doch Bettina gab den Weg nicht frei.
»Merken Sie nicht, dass Sie unerwünscht sind?«
»Aber Betti!«, rief der alte Forstmeister entrüstet. »So kenne ich dich ja gar nicht! Man jagt keinen Hund bei so einem Wetter vor die Haustür. Kommen Sie nur, Herr, treten Sie näher.« Rudolf Lühr schob seine Enkelin energisch beiseite.
»Danke. Hoffentlich mache ich nicht alles nass und schmutzig.«
»Am besten Sie ziehen sich aus, und wir trocknen Ihr Zeug. Kennen wir uns nicht?« Der Alte musterte den Besucher mit schräggeneigtem Kopf.
»Richtig, Sie waren doch auf dem Fest!«
»Das stimmt. Mein Name ist Ulrich Warner«
»Lühr – Betti, am besten, du holst den Morgenmantel, den du mir zu Weihnachten geschenkt hast, den ich aber noch nie angezogen habe.«
Bettina zögerte einen Augenblick, doch dann gehorchte sie schulterzuckend.
Ulrich kam sich wie der verlorene Sohn vor. Mit rührender Fürsorge tat der alte Forstmeister alles nur erdenkliche, damit sich der durchnässte Gast nicht erkältete. Bald saßen sie sich vor dem rasch entzündeten kleinen Kamin gegenüber.
»Betti!«, rief der Alte. »Sei doch so lieb und bereite uns einen schönen steifen Grog!«
Bettina, die gerade aus dem Zimmer eilen wollte, zuckte zusammen. »Bin ich etwa das Dienstmädchen dieses Herrn?«
Rudolf Lühr machte Anstalten, sich aus seinem Lehnsessel zu rappeln. »Tja, dann muss ich eben selber …«
»Lass nur, Opa.«
Wenig später servierte sie die dampfenden, aromatisch duftenden Gläser.
»Danke, mein Kind. Nur zwei Gläser? Möchtest du nicht auch? Komm, setz dich wenigstens zu uns.«
»Ich habe noch zu tun.« Sie eilte hinaus.
»Na, denn!« Der Alte griff nach seinem Henkelglas, und sie prosteten einander zu.
Generationen trennten die beiden Männer voneinander, doch sie plauderten bald so angeregt, als wären sie durch viele gemeinsame Erinnerungen verbunden. Rudolf Lühr berichtete, wie er dieses Revier als ganz junger Förster übernommen hatte, wie ihm der Wald ans Herz gewachsen war, jeder einzelne Baum. Unvermittelt verschattete sich sein Gesicht.
»Tja, und das wird nun alles bald vorbei sein«, murmelte er.
»Warum denn, Herr Lühr, was sind denn das für trübe Gedanken?«
Der pensionierte Forstbeamte winkte ab. »Ich habe nicht an mein Ende gedacht, sondern daran, dass wir das Haus leider Gottes verkaufen müssen.«
Der alte Regulator über dem Kamin schlug dumpf die zehnte Stunde.
*
Als Bettina am Morgen erwachte, fühlte sie sich seltsam benommen. Ruckartig setzte sie sich auf. Dieser unverschämte Kerl! Konnte er keine Niederlage verkraften? An die Geschichte mit der Autopanne hatte sie keinen Augenblick geglaubt! Warum stellte er ihr nach? Weil ihn die Jagd reizte? Weil sie keine leichte Beute war? Der Fremde wurde ihr allmählich unheimlich, vor allem deshalb, weil er ihr nicht gleichgültig war, wie sie sich insgeheim eingestehen musste. Bis in die Träume hatte er sie verfolgt.
Als Bettina wenig später die Treppe hinunterstieg, trug sie ein weißes Kleid mit himmelblauen Tupfen, in dem sie ganz besonders entzückend aussah, wie ihr Großvater meinte. Dem alten Herrn zuliebe hatte sie es heute angezogen – was denn sonst? Allerdings hatte sie sich auch die Lippen kirschrot gemalt, und das mochte ihr Opa gar nicht. Welch eine Verwirrung der Gefühle!
Rudolf Lühr war als Förster ein passionierter Frühaufsteher.
Er hatte bereits den Frühstückstisch hübsch gedeckt – nur für zwei Personen, wie Bettina mit einem raschen Blick feststellte.
Er sprang vom Stuhl, als seine Enkeltochter in die Küche trat. Seine Augen leuchteten.
»Betti, ein Wunder! Ein Wunder ist geschehen!
»Wie bitte? Du bist ja so aufgekratzt. Habt ihr etwa bis in den frühen Morgen Grog gepichelt, du und unser seltsamer Gast?«
»Betti, dieser nette junge Mann, Herr Warner, er will unser Haus kaufen!«
»Und das nennst du ein Wunder? Ich würde eher sagen, eine Tragödie!«
Bettina lachte bitter und traurig auf.
»Hör mir doch erst einmal zu, Kindchen! Herr Warner macht zur Bedingung, dass wir hier wohnen bleiben, dass wir das Haus gewissermaßen für ihn einhüten! Wir brauchen nicht fort, begreifst du? Er will nur hin und wieder am Wochenende hier sein. Ach ja, und sein Pferd, den Prinz, will er bei uns unterstellen. Und ob du den Hengst manchmal ein bisschen bewegen würdest, hat er gefragt. Weil er selten dazu kommt. Du reitest doch für dein Leben gern, Bettilein – ist das nicht alles ein Wunder?«
»Moment, Moment, Opa, du redest ja wie ein Wasserfall. Setz dich erst einmal ruhig hin. Die ganze Geschichte kommt mir ziemlich merkwürdig vor. Ihr beide habt wohl doch zu tief ins Glas geschaut, wie?«
»Aber keine Spur! Wir waren vollkommen nüchtern und haben uns ganz sachlich unterhalten.«
Bettina ließ sich auf einen Küchenhocker sinken, ihr getupfter Rock bauschte sich wie ein Blütenkelch.
Mit einer verlorenen Handbewegung strich sie ihr Haar aus der Stirn.
»Wahrscheinlich ist er überhaupt nur gekommen, weil er wusste, dass wir unser Haus verkaufen müssen«, murmelte sie.
»Du irrst dich, er wusste es nicht. Er war sehr überrascht, als ich ihm davon erzählte.«
Bettina winkte müde ab. »Ist ja auch egal. Wir werden also in Zukunft von seiner Gnade und Barmherzigkeit abhängig sein.«
»Aber nein, das siehst du ganz falsch. Er braucht uns. Er möchte nicht, dass das Haus die Woche über leer steht. Und jemand muss auch sein Pferd versorgen. Das übernehme ich selbstredend. Nur reiten kann ich nicht mehr, das ist deine Aufgabe.«
»Und an jedem Wochenende muss ich für den hohen Herrn das Dienstmädchen spielen!«
»Davon war keine Rede.«
»Erwartet das ein wohlhabender Herr nicht von den Leuten, die sein Landhaus einhüten?«
»Und wenn schon! Wäre das so schlimm? Wir wohnen ja auch völlig kostenlos. Im Gegenteil, für die Pflege seines Pferdes will er uns noch etwas bezahlen!«
»Aber ich denke nicht daran, mich von ihm abhängig zu machen und ihn zu bedienen!«, fuhr Bettina auf. »Ich ziehe aus! Ich suche mir irgendwo ein Zimmer oder eine kleine Wohnung!«
Da veränderte sich das strahlende Gesicht ihres Großvaters schlagartig.
»Du willst mich verlassen, Betti?«, fragte er traurig.
Sie kämpfte nur ein paar Sekunden mit sich. Dann fiel sie dem heißgeliebten alten Mann um den Hals. »Nein, Opa, das kann ich gar nicht. Also gut! Nehmen wir diesen eingebildeten Menschen in Kauf! Ich werde schon mit ihm fertig werden!« Sie schüttelte ihre Haarmähne wie ein soeben eingefangenes junges Wildpferd.
Der alte Forstmeister aber seufzte erleichtert auf.
*
Der kleine Tobias war sehr niedergeschlagen. Er verstand die Welt nicht mehr. Bisher hatte Ulrich ihn fast jeden Tag besucht oder nach Hause geholt. Sie hatten sich um Prinz gekümmert und waren sogar gemeinsam ausgeritten. Und nun?
Einsam und verloren strich der Achtjährige durch den Garten des Kinderheims. Es machte ihm keinen Spaß, mit den anderen Jungen zu spielen. Ununterbrochen musste er an Ulrich denken, seinen großen Freund – seine einzige Rettung.
Plötzlich hörte er seinen Namen. Er drehte sich um und entdeckte den hochgewachsenen, dunkelhaarigen Mann jenseits des Zaunes.
»Ulrich!«, mit einem Jubelruf stürzte der Junge über die Rasenfläche.
»Pst!« Warnend legte Ulrich den Zeigefinger auf die Lippen. »Nicht so laut, Tobias. Ich möchte keine Unannehmlichkeiten mit Onkel Olaf haben.«
»Wieso denn?« Plötzlich kämpfte der sonst so tapfere und vernünftige Achtjährige mit den Tränen.
»Wir sollen uns nicht so oft sehen …«
»Das verstehe ich nicht!«
»Die Erwachsenen denken und handeln oftmals so kompliziert, dass sie sich selbst nicht mehr verstehen. Hab’ nur noch ein bisschen Geduld, Tobias. Bald wird alles anders, da bin ich ganz sicher. Inzwischen habe ich dir zum Trost drei Marmeladengläser mitgebracht.« Ulrich öffnete seine Aktentasche. »Aprikosen, Kirschen und Erdbeeren.« Er reichte die Gläser durch den Zaun.
»Ich bin richtig im Gefängnis, nicht, Ulrich?«, fragte der Junge bedrückt. Er presste die Marmeladenbehälter unter den linken Arm. »Danke.«
Ulrich schluckte schwer. »Tobias, wenn alles klappt, bekommst du nicht nur eine liebe und nette Mami, sondern auch einen fabelhaften Großvater. Ich sage dir, einen Großvater, wie man ihn sich nur wünschen kann. Er hat einen wunderschönen grauen Bart und war früher Förster.«
»Wohnt er mitten im Wald?«, erkundigte sich Tobias aufgeregt.
»Genau! In einem romantischen Forsthaus! Im Winter kommen die Rehe und die Hasen bis in den Garten, hat er mir erzählt. Eichhörnchen turnen durch die hohen Fichten, und man hört die Eulen rufen.«
Die Augen des blonden Jungen wurden größer und größer. »Oh, Ulrich …«, brachte er nur staunend hervor.
»Wir werden dort leben wie im Paradies, wir vier.«
»Aber wenn …« Der Junge stockte.
»Ja?«
»Aber wenn es nicht klappt?« Das klang sehr kläglich.
Ulrich zuckte kaum merklich zusammen und holte tief Luft. »Weißt du, ich habe einmal gelesen, dass das, was man sich von ganzem Herzen wünscht, auch in Erfüllung geht. Ich habe im Moment keinen anderen Wunsch, nur diesen einen. Er muss einfach in Erfüllung gehen, und zwar schon bald, bevor es zu spät ist.«
»Wieso zu spät?«
Ulrich zog die Unterlippe durch die Zähne. »Nun, ich meine – bevor wir alt und grau sind, wir beide.«
»Ach so.«