Notärztin Andrea Bergen 1383 - Marina Anders - E-Book

Notärztin Andrea Bergen 1383 E-Book

Marina Anders

0,0
1,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ich will kein Wunderkind sein!

Verzweifeltes Schluchzen reißt die hübsche Julia aus dem Schlaf. Mara!, ist ihr erster Gedanke, und sie hastet ins Zimmer ihrer Tochter, die tränenüberströmt in ihrem Bett sitzt. "Will kein Wunderkind sein! Will nicht mehr Geige üben, will spielen - mit richtigen, lebendigen Kindern!" Während Julia die Kleine tröstend an sich zieht, steigt wieder Wut in ihr auf - Wut auf ihren Mann Viktor, den gefeierten Geigen-Virtuosen, dessen fixe Idee es ist, aus Mara den nächsten Star zu machen. Seit frühester Kindheit muss Mara deshalb Geige spielen üben, und sie gilt schon jetzt als musikalisches Genie. Dass ihre Gesundheit und kindliche Freude bei dem täglichen Drill auf der Strecke bleiben, will Viktor nicht sehen, und Julias Warnungen und Bitten verklingen ungehört ...
Doch dann wird der seelische Druck, der auf Mara lastet, zu groß, und sie läuft von zu Hause weg! Auch Tage später bleibt die fieberhafte Suche nach dem sechsjährigen Mädchen erfolglos, und Eltern und Ermittler müssen mit dem Schlimmsten rechnen ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 136

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Cover

Impressum

Ich will kein Wunderkind sein!

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabeder beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: karelnoppe / shutterstock

eBook-Produktion:3w+p GmbH, Rimpar

ISBN 9-783-7325-8372-0

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Ich will kein Wunderkind sein!

„Ich bin Mara, das Wunderkind.“

Ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem ich die sechsjährige Mara kennenlernte, das kleine Geigengenie – und daran, wie mir bei Maras Worten das Lächeln gefror! Obwohl das Mädchen ganz bezaubernd ist, spürte ich schon damals die Traurigkeit, die Mara umgibt, und ihren sehnlichsten Wunsch, endlich Kind sein und spielen zu dürfen. Doch das bleibt Mara versagt, denn ihr Vater Viktor Nosty, der berühmte Violinist, arbeitet verbissen daran, auch aus ihr einen Star zu machen. Aber das tägliche Üben und Viktors krankhafte Angst vor ansteckenden Krankheiten haben aus Mara ein unglückliches, einsames Mädchen gemacht. „Ich will kein Wunderkind mehr sein!“, hat sie kürzlich ihrem Vater mit allem Nachdruck erklärt – ohne von ihm beachtet zu werden…

Nun ist geschehen, was ich lange befürchtet habe: Mara ist von zu Hause weggelaufen, und auch noch nach Tagen fehlt jede Spur von ihr! Ihre Mutter Julia ist verzweifelt und weiß nicht mehr ein noch aus. Und auch ich habe schreckliche Angst um die traurige kleine Mara …

Seufzend blickte Julia Nosty auf die Umzugskartons, die im ganzen Haus den Weg versperrten. Es würde eine Weile dauern, bis alles ausgepackt war und sie sich eingerichtet hatten.

Sie streckte den schmerzenden Rücken und band ihren Pferdeschwanz neu, aus dem einige Haarsträhnen gerutscht waren. Dann nahm sie sich einen der kleineren Kartons vor und begann, ihn auszupacken. Es war der Inhalt ihrer Hausapotheke – einer äußerst umfangreichen Hausapotheke. Sie selbst brauchte nur hin und wieder ein Mittel, wenn sie sich eine Erkältung zugezogen hatte. Viktor, ihr Mann, war der große Medikamentenkonsument. Er hatte Angst vor jeder Art von Krankheiten und nahm ständig irgendwelche Mittel ein.

Julia schüttelte ein ums andere Mal den Kopf, als sie die vielen Tablettenpackungen, Tropfen, Hustensäfte und Vitaminpräparate begutachtete, bevor sie diese in den Spiegelschrank über dem Waschbecken einsortierte. Es war einfach verrückt, dermaßen viele Medikamente zu horten. Sie konnte kaum alles unterbringen.

Das Schlimme war, dass Viktor nicht nur um seine eigene Gesundheit fürchtete, sondern auch um die seiner Familie. In erster Linie galt seine Besorgnis Mara, ihrer sechsjährigen Tochter. Nieste sie mal, war Viktor gleich mit einem Mittel zur Stelle.

Auch sie, Julia, musste gezwungenermaßen etwas einnehmen, wenn sie auch nur den geringsten Eindruck machte, dass sie etwas ausbrüten könnte. Aber beileibe nicht, weil er sich um ihre Gesundheit sorgte, sondern weil er fürchtete, sie könnte ihn oder Mara anstecken. Es käme einer Katastrophe gleich, wenn er, der begnadete Violin-Virtuose, und seine zum Wunderkind gedrillte Tochter wegen eines Schnupfens nicht auftreten könnten.

Julia versuchte, alle bitteren Gedanken zur Seite zu schieben, doch es gelang ihr nicht. Warum tue ich das alles?, fragte sie sich, während sie auf das Umzugschaos blickte. Warum bin ich überhaupt hier? Warum bin ich nicht in Wien geblieben, wo ich Freunde und Familie habe? Wo ich bestimmt wieder ein Engagement als Orchester-Klarinettistin bekommen hätte?

Weil Viktor nie mit einer Trennung einverstanden wäre, gab sie sich die Antwort selbst. Zumindest nicht mit einer Trennung von Mara. Sie war sein Produkt, er hatte sie zu dem gemacht, was sie heute war: ein musikalisches Wunderkind, das schon mit vier Jahren durch ein perfektes Geigenspiel verblüffte. Julia konnte sich zwar eine Trennung von Viktor bestens vorstellen, nicht aber eine Trennung von Mara. Denn er würde um seine Tochter kämpfen wie eine Löwin um ihre Jungen. Sie wollte nicht riskieren, dass er letzten Endes das Sorgerecht zugesprochen bekam.

Julia öffnete den nächsten Karton, auf dem Bad stand. Er enthielt Handtücher und Waschlappen. Nach Farben geordnet, so wie Viktor es liebte, sortierte sie die Wäsche in die Regale und Schubladen.

Oben im ersten Stock erklang Violinenspiel. Natürlich, Viktor übte lieber, als dass er sich am Auspacken der Kisten und Kartons beteiligte. Der größte Teil der Arbeit würde wieder mal an ihr hängen bleiben – wie üblich. Der große Meister musste seine Hände schonen, was sie ja auch größtenteils verstand. Trotzdem könnte er hier und da mit anpacken.

Julia hielt inne und lauschte. Viktor spielte Mendelssohn, ein Stück, das sie besonders liebte. Jetzt wechselte er zu Brahms und versetzte sie damit in jene Zeit zurück, in der sie Klarinettistin im Wiener Sinfonieorchester gewesen war und er der aufsteigende Stern am Himmel des klassischen Violinspiels. Wie stolz war sie gewesen, ihn begleiten zu dürfen, auch wenn sie in dem großen Orchester nur eine von vielen gewesen war! Und wie selig war sie gewesen, als er sich für sie zu interessieren begann!

Schon längst war Julia in ihrer Ehe nicht mehr glücklich. Wie oft schon hatte sie es bereut, den exzentrischen Violin-Virtuosen, für den nur der Erfolg zählte, geheiratet zu haben! Gerade zwanzig war sie damals gewesen. Sie erinnerte sich noch daran, wie sie im siebten Himmel geschwebt war, als Viktor anfing, um sie zu werben, und ihr schließlich einen Heiratsantrag gemacht hatte. Doch im Laufe ihrer Ehe hatte sich dieser Himmel – wenn nicht gerade als Hölle – so doch als Gefängnis entpuppt. Ja, sie fühlte sich gefangen in einer lieblosen Beziehung, aus der sie am liebsten ausgebrochen wäre.

Sie hatte Viktor auch schon mehrmals ganz offen gesagt, dass sie an Scheidung dachte, doch er hatte nur gelacht. Anscheinend konnte er sich nicht vorstellen, dass sich eine Frau freiwillig von ihm trennen könnte.

Ihr Blick fiel auf zwei große Kartons, die noch original verschlossen waren. Sie stammten von einem Drogeriegroßhandel. Julia stöhnte, als sie las, was sich darin befand. Sie enthielten Desinfektionsspray, Handgel und antiseptische Tücher in rauen Mengen.

Viktor und sein Sauberkeitswahn!

Er fürchtete sich nicht nur vor Krankheiten aller Art, die seiner Karriere ein jähes Ende setzen konnten, er hatte auch eine panische Angst vor Bakterien. Ständig kontrollierte er, ob zu Hause alles picobello sauber war. Im Moment, mitten in dem Chaos, das so ein Umzug mit sich brachte, war das garantiert nicht der Fall. Aber das ließ sich auch nicht so einfach ändern.

Während sie noch überlegte, ob sie die Desinfektionsmittel in den Keller bringen sollte, brach oben das Violinspiel abrupt ab. Eine Tür ging, Schritte waren zu hören. Unwillkürlich verharrte Julia auf der Stelle, als fürchtete sie sich vor dem, was als Nächstes kommen würde.

„Mara, du sollst nicht mit Puppen spielen, sondern auf deiner Geige üben“, hörte sie Viktors Stimme. „Du willst doch nicht, dass Papa enttäuscht von dir ist, oder?“

Mein Gott, er fängt schon wieder damit an!

„Will aber mit Puppen spielen“, antwortete Mara trotzig-weinerlich. Dann waren die Geräusche nur noch gedämpft zu vernehmen. Offenbar hatte Viktor die Tür zum Kinderzimmer geschlossen, damit Julia nicht mitbekam, mit welchen Drohungen er Mara zum Üben brachte.

Julia konzentrierte sich wieder auf ihre Arbeit, auch wenn sie am liebsten hinaufgegangen wäre und Viktor aufgefordert hätte, Mara in Ruhe zu lassen. Sie stellte die Kartons mit den Desinfektionsmitteln in den Flur und öffnete eine Korbtruhe, die mit Bettwäsche vollgepackt war. Viktor musste ihr später helfen, sie nach oben zu tragen.

Sie hörte, wie die Kinderzimmertür wieder aufging. Einen Moment später setzte Geigenspiel ein. Viktor hatte erreicht, dass Mara zu üben begann, wie es sich für ein Wunderkind gehörte.

Da kam er auch schon die Treppe herunter. Durch die offene Wohnzimmertür sah Julia, wie er bei den Kartons mit den Desinfektionsmitteln stehen blieb. Dann wandte er ihr den Blick zu.

Sein wildes dunkelblondes Haar, das bereits von grauen Fäden durchzogen war, fiel ihm bis auf die Schultern, der Dreitagebart unterstrich sein gutes Aussehen noch. Unwillkürlich musste Julia daran denken, wie verrückt sie einmal nach ihm gewesen war, wie sie sich nach einem Kuss von ihm verzehrt hatte, wie leidenschaftlich sie seinem Körper entgegengefiebert hatte. Doch das war lange her. Von dem einstigen Feuer, das in ihr geglüht hatte, waren nicht die kleinsten Funken übrig geblieben, nur graue Asche.

„Du darfst die Sachen gern auspacken und auch benutzen“, sagte er mit einem leicht ironischen Unterton, während er mit dem Fuß gegen einen der Kartons stieß.

„Es sind noch angebrochene Flaschen und Spraydosen da“, erwiderte Julia. „Die wollte ich erst aufbrauchen.“

Viktor schob die Hände in die Hosentaschen und betrachtete den Türgriff so argwöhnisch, als hätte sich ein Heer von Bakterien darauf niedergelassen. „Bist du sicher, dass du alle Türklinken im Haus desinfiziert hast?“, vergewisserte er sich.

„Aber ja, das habe ich doch schon vor ein paar Tagen erledigt“, erwiderte Julia. „Gleich, als wir hier angekommen sind.“

„Vor ein paar Tagen!“ Angewidert trat Viktor einen Schritt zurück. „Inzwischen waren die Männer von der Umzugsfirma hier und haben alles angefasst. Bitte desinfiziere alle Türklinken im Haus noch einmal, bevor du etwas anderes tust. Haben die Männer die Toilette benutzt?“

Ja, einer, aber das brauchte sie Viktor nicht auf die Nase zu binden. „Nein“, schwindelte sie und nahm sich vor, die Toilette im Zuge der Türklinkendesinfektion ebenfalls zu reinigen. Sie würde sich hinterher besser fühlen. Und wieder wurde ihr bewusst, dass sie auf dem besten Weg war, einen regelrechten Putzzwang zu entwickeln.

***

„Wir sind eingeladen“, verkündete Andrea Bergen, als sie vom Dienst nach Hause kam. „Du wirst nicht erraten, bei wem.“

Dr. Werner Bergen, der gerade ebenfalls aus seiner Kinderarztpraxis herübergekommen war, die sich in einem Anbau der Bergen’schen Villa befand, half seiner Frau aus dem Blazer und hängte ihn auf einen Garderobenbügel.

„Doris und Hans?“, fragte er hoffnungsvoll. Beide gehörten zum engeren Freundeskreis der Bergens. Dr. Doris Gellert war die Oberärztin auf der Kinderstation des Elisabeth-Krankenhauses, in dem Andrea als Notärztin angestellt war und Werner als Belegarzt über mehrere Betten verfügte. Hans, Doris’ Mann, war Lehrer am Thomas-Morus-Gymnasium.

„Nein. Das wäre ja wirklich nicht schwer zu erraten gewesen. Ich meine jemanden, bei dem es uns überraschen würde, eingeladen zu werden.“

„Professor Hebestreit?“ Das war der Klinikchef des Elisabeth-Krankenhauses.

Wieder ein Nein. Andreas Stimme klang leicht ungeduldig. „Es ist doch nichts Ungewöhnliches, bei Hebestreits eingeladen zu werden. Hildchen ist mit Ruth sogar per Du.“ Hilde Bergen war Werners verwitwete Mutter, die bei ihnen lebte und ihnen den Haushalt führte.

„Hm.“ Werner legte den Finger an die Nase. Doch so angestrengt er auch überlegte, ihm fiel niemand ein, bei dem eine Einladung ungewöhnlich gewesen wäre. „Jemand aus dem Krankenhaus?“, vergewisserte er sich.

„Ja. Kein Arzt, aber eine höhergestellte Person.“

„Grossert?“ Philipp Grossert war der Verwaltungschef. Private Kontakte hatten sie noch nie zu ihm gehabt.

In diesem Moment kam Hilde Bergen aus der Küche. „Was macht ihr eigentlich so lange in der Diele?“, wollte sie neugierig wissen, nachdem sie ihre „Kinder“, wie sie die beiden liebevoll nannte, begrüßt hatte.

Andrea kicherte. „Wir machen ein Ratespiel.“

„Darf ich mitraten?“

„Klar, Mutsch.“ Werner grinste von einem Ohr zum anderen. „Vielleicht errätst du, bei wem Andrea und ich am Samstagabend zum Essen eingeladen sind. Sie hat nur so viele Information von sich gegeben, dass es jemand aus dem Krankenhaus ist, kein Arzt, aber eine höhergestellte Person, deren Einladung sehr überraschend kommt.“

„Bettina Eilers“, erriet Hilde prompt. Damit meinte sie die ältere Oberschwester des Elisabeth-Krankenhauses. Sie wirkte etwas streng, besaß jedoch einen verblüffenden Humor und war mehr oder weniger mit dem Elisabeth-Krankenhaus verheiratet. Alle Versuche der Ärzte, sie in ihren Freundeskreis einzubeziehen, waren bisher gescheitert.

Andrea blickte sie verblüfft an. „Wie bist du denn so schnell auf sie gekommen?“

„Na, bei Werners Beschreibung lag es doch auf der Hand“, erwiderte Hilde und zwinkerte ihrem Sohn vergnügt zu. „Eure Oberschwester gibt nichts auf Geselligkeit und zieht sich lieber in ihre Schneckenhausidylle zurück.“

Das stimmte. Abgesehen von ihrer Arbeit lebte Bettina Eilers äußerst zurückgezogen in einem verwunschen anmutenden, efeubewachsenen Fachwerkhaus am Rhein. Sie liebte ihren Garten, war sehr belesen und schätzte klassische Musik.

„Diesmal scheint ihr tatsächlich der Sinn nach Geselligkeit zu stehen“, meinte Andrea. „Wir sind nämlich nicht die Einzigen, die eingeladen sind.“

„Was?“ Werner zog die Brauen in die Höhe. „Wer kommt denn sonst noch?“

„Alexander. Dr. Brettschneider, der neue Röntgenologe, wird ebenfalls da sein.“ Dr. Alexander Hellweg war der Chefarzt der Röntgenstation.

„Wow, das wird ja eine richtige Dinnerparty!“ Werner war beeindruckt. „Dann lerne ich den neuen Kollegen endlich kennen. Bisher war noch keine Gelegenheit dazu.“

„Kollege Brettschneider ist Bettina Eilers Neffe“, wusste Andrea. „Im Moment wohnt er mit seinem Sohn bei ihr, bis er eine passende Wohnung gefunden hat.“

„Verspricht ein interessanter Abend zu werden“, meinte Werner.

„Kinder, wollt ihr noch länger in der Diele stehen bleiben?“, fragte Hilde. „Setzt euch doch ins Wohnzimmer und trinkt etwas, bevor ich das Essen auf den Tisch bringe.“

„Gute Idee.“ Andrea gähnte. Nach einem langen Tag im Notdienst war sie rechtschaffen müde und freute sich auf einen gemütlichen Abend im Kreise ihrer Lieben.

Während Hilde wieder in der Küche verschwand und letzte Hand ans Abendessen legte, machten Andrea und Werner es sich im Wohnzimmer bei einem Glas Wein bequem. Wie üblich erzählten sie sich gegenseitig von den Patienten, die sie den Tag über zu versorgen gehabt hatten, aber auch die Einladung bei Bettina Eilers war es wert, besprochen zu werden. Das war etwas Neues, das nicht jeden Tag vorkam.

„Hast du denn den neuen Röntgenarzt schon kennengelernt?“, wollte Werner von seiner Frau wissen. „Ich kann mich nicht erinnern, dass du etwas davon gesagt hast.“

„Hatte ich das nicht erwähnt?“ Andrea furchte die Stirn.

„Du hast nur mal eine Bemerkung darüber gemacht, dass auf der Röntgenstation bald ein neuer Kollege seinen Dienst antreten wird.“

„Er ist mir auch nur ganz kurz vorgestellt worden. Ich wusste nicht gleich, dass er der Neffe unserer Oberschwester ist, das habe ich erst später erfahren. Inzwischen weiß ich von Oberschwester Bettina, dass er und Alexander sich spontan angefreundet haben und dass Brettschneider einen elfjährigen Sohn hat, der sich mit Alexanders gleichaltrigem Sohnemann ebenfalls auf Anhieb verstanden hat.“

„Klingt nach einem sympathischen Kollegen“, meinte Werner.

„Das ist er auch.“ Andrea hob ihr Glas. „Auf Bettinas Einladung! Ich freue mich schon auf Samstag.“

„Ich mich auch.“ Lächelnd trank Werner ihr zu.

***

Julia legte ihre Klarinette zurück in den Instrumentenkoffer. Es hatte ihr Spaß gemacht, wieder einmal darauf zu spielen. Seit sie mit Viktor verheiratet war, hatte sie in keinem Orchester mehr gespielt, was sie wirklich sehr vermisste. Er wollte nicht, dass sie weiterhin öffentlich auftrat.

Wenn sie wenigstens vor ihrer Familie spielen dürfte, nicht immer nur, wenn sie allein war! Nicht nur vor Viktor und Mara, sondern auch mit ihnen. Sie waren doch eine Musikerfamilie. Leider musste sie es sich gefallen lassen, ausgeschlossen zu werden. Sie war ja auch ein Niemand, nicht berühmt wie der Violin-Virtuose und sein Wunderkind. Schlimmer noch, Viktor fand ihr Klarinettenspiel störend. Nur sein eigenes Spiel und das seiner Tochter zählten und waren wichtig.

Julia spürte wieder Bitterkeit in sich aufsteigen. Nicht zum ersten Mal überkam sie der Wunsch, einfach alles hinzuwerfen und auf und davon zu laufen. Aber sie würde es niemals fertigbringen, Mara bei ihrem Vater zurückzulassen. Er würde sie kaputtmachen, würde keine Rücksicht auf ihre zarte, bereits angegriffene Gesundheit nehmen, sondern sie weiter unter Druck setzen und immer mehr von ihr verlangen.

Julia ärgerte sich über das schlechte Gewissen, das sie plötzlich empfand, weil sie so viel Zeit mit ihrer Klarinette verbracht hatte, statt mit dem Auspacken der restlichen Kartons. Im Geist sah sie Viktor missbilligend die Stirn runzeln, wenn er mit Mara nach Hause kam. In seinem üblichen provokanten Tonfall würde er fragen, was zum Teufel sie den ganzen Tag gemacht hatte.

Dabei hatte sie nicht nur auf der Klarinette gespielt, sondern auch viel Zeit mit dem Desinfizieren von Türklinken, Fenstergriffen, Toilettenbrillen und Wasserhähnen verbracht. Sogar über den Briefkastenschlitz am Gartentor hatte sie gewischt. In dieser Hinsicht konnte Viktor sich wirklich nicht beschweren.

Julias Blick fiel in den Dielenspiegel, an dem sie gerade vorbeiging. Sie trat näher und schnitt ihrem Spiegelbild eine Grimasse. Wie sie aussah mit ihrem schlampigen Pferdeschwanz, der unförmigen karierten Bluse und der verbeulten Leinenhose! Aber egal, für die Hausarbeit taugte es. Für das Abendessen, wenn Viktor und Mara von ihrem Fernsehinterview zurück waren, würde sie sich umziehen.