Notes of Love. Sinfonie unserer Herzen - Nadja Raiser - E-Book
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Nadja Raiser

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Beschreibung

**Spüre die Melodie deines Herzens** Anna hat es geschafft: Endlich darf sie an der weltbesten Universität für klassische Musik ihr Studium beginnen. Doch seit der Zusage sind inzwischen zwei Jahre vergangen – Jahre, in denen Anna den Tod ihrer Mutter und die Verhaftung ihres Vaters verschmerzen musste. Jegliche Euphorie und Freude sind längst verschwunden, die Liebe zum Klavierspiel ist allerdings geblieben und Anna fest entschlossen, auf Schloss Luisenburg einen neuen Anfang zu wagen. Dieser verläuft jedoch alles andere als reibungslos, denn als sie auf den arroganten Pianisten Noel trifft, fliegen die Funken. Und obwohl sie den Finnen mit den stahlblauen Augen am liebsten erwürgen würde, ist es doch die Musik, die sie einander langsam näherbringt …   Musik überwindet alle Grenzen!  Zwei vom Schicksal zerrissene Herzen, die nur im Einklang mit der Musik zueinanderfinden können. Gefühlvoll und bewegend vom ersten bis zum letzten Ton. Textausschnitt:  Seine Finger schwebten über die Tasten und Anna spürte die Melodie im Inneren ihres Herzens widerhallen. Sie fühlte jeden einzelnen Takt – sie sah seine Hingebung und seine Aufmerksamkeit, die einzig und allein dem Klavier gehörte. Anna fühlte sich verzaubert. Diese Musik! Bis ins kleinste Detail ausgefeilte Läufe und Tonfolgen! Nie zuvor hatte Anna so eine Art des Spiels gehört!   //»Notes of Love. Sinfonie der Herzen« ist ein in sich abgeschlossener Einzelband.// 

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Nadja Raiser

Notes of Love. Sinfonie unserer Herzen

**Spüre die Melodie deines Herzens**Anna hat es geschafft: Endlich darf sie an der weltbesten Universität für klassische Musik ihr Studium beginnen. Doch seit der Zusage sind inzwischen zwei Jahre vergangen – Jahre, in denen Anna den Tod ihrer Mutter und die Verhaftung ihres Vaters verschmerzen musste. Jegliche Euphorie und Freude sind längst verschwunden, die Liebe zum Klavierspiel ist allerdings geblieben und Anna fest entschlossen, auf Schloss Luisenburg einen neuen Anfang zu wagen. Dieser verläuft jedoch alles andere als reibungslos, denn als sie auf den arroganten Pianisten Noel trifft, fliegen die Funken. Und obwohl sie den Finnen mit den stahlblauen Augen am liebsten erwürgen würde, ist es doch die Musik, die sie einander langsam näherbringt …

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Vita

Danksagung

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© privat

Nadja Raisernoch kein Text

Ich widme dieses Buch allen, die genau wie ich ohne Musik nicht leben könnten. Und ganz besonders Marc, denn bist die Melodie meines Lebens.

Prolog

»Herzlich willkommen auf Schloss Luisenburg! Mein Name ist Madame Polonsky und ich führe Sie heute durch Ihre Aufnahmeprüfung.«

Anna betrachtete nervös die Professorin. Sie saß auf einer der vielen Sitzreihen, die typisch für einen Hörsaal halbkreisförmig und stufenartig nach unten liefen. Unsympathisch erschien ihr bei dieser Frau noch als eine schmeichelhafte Bezeichnung, denn Madame Polonsky wirkte mit ihrem streng zurückgesteckten Dutt aus grau meliertem Haar und der dunkelbraunen Filzkombination alles andere als freundlich. Der ernste Blick durch eine goldene Lesebrille und das fehlende Lächeln wirkten auf Anna fast schon gruselig.

»Wie Sie bereits aus dem Anschreiben erfahren haben, besteht Ihre Prüfung aus drei Teilen. Am Vormittag findet der schriftliche Test statt, bei dem ihr theoretisches Wissen abgefragt wird. Direkt im Anschluss erfolgt die mündliche Prüfung. Diese beinhaltet einen Diskussionsteil, bei dem Sie zweisprachig über klassische Literatur und Musikgeschichte debattieren werden. Und zu guter Letzt erfolgt nachmittags die Praxisprüfung. Anschließend erhalten Sie eine Hausführung. Für die schriftliche Prüfung haben Sie exakt zwei Stunden Zeit. Gibt es noch Fragen? Nein? In Ordnung, dann wünsche ich Ihnen viel Erfolg!« Im Anschluss dieser Worte schlug Madame Polonsky auf ein kleines Glöckchen, das vor ihr auf dem Pult lag, und sogleich erklang um Anna herum das laute, aufgeregte Rascheln der Arbeitsblätter. Die Bewerber begannen, ihre Prüfungsfragen auszufüllen.

Anna atmete tief durch, band ihr hellbraunes Haar zusammen, bevor sie nach ihren eigenen Prüfungsunterlagen griff. Der Aufnahmetest der weltbesten Universität für klassische Musik begann. Dass der Zusatz »weltbeste« nicht nur ein Werbeslogan von Schloss Luisenburg war, hatte sie spätestens beim Anblick der Bewerber erkannt. Ein bunter Haufen aus den unterschiedlichsten Nationen saß hier zusammen und hoffte auf das Glück, zu den zehn Auserwählten zu gehören, zu den zehn talentierten Musikern, die für das nächste Studienjahr eine Zusage erhalten würden. Anna nahm mit zittrigen Fingern ihren Stift zur Hand und begann, die erste Frage zu lesen.

Aufnahmeprüfung der Universität Schloss Luisenburg. Bereich Musiktheorie.

1. Erklären Sie den Quintenzirkel und wenden Sie ihn auf folgende modale Tonarten an: lydisch, dorisch und äolisch. Hierbei dürfen Sie den jeweiligen Modus genauer erläutern.

Anna hörte nur noch ihren Herzschlag. Oder war es das Ticken der großen Wanduhr, die schräg hinter dem Dozentenpult hing?

Natürlich hatte sie sich auf diese Prüfung vorbereitet und in den letzten Wochen gemeinsam mit ihrer Mutter und dem Musiklehrer ihrer Schule sämtliche Theoriestunden wiederholt. Doch nun schienen alle Informationen wie weggeblasen und in ihrem Kopf herrschte gähnende Leere. Was sind noch mal modale Tonarten? Verdammt!

Ängstlich hob Anna ihren Blick und beobachtete die anderen. Jeder schien in seine Prüfungen vertieft. Sie hörte das Kratzen der Stifte auf dem Papier, das Rascheln, zwischendurch ein schüchternes Räuspern. Die eigentlich so leisen Geräusche erschienen ihr mit einem Mal unglaublich laut. O Gott, Anna! Konzentrier dich!, schrie sie in Gedanken und blickte noch einmal auf das Blatt.

2. Beschreiben Sie die große Kadenz nach Hugo Riemann mit Ihren eigenen Worten und anhand eines musikalischen Beispiels Ihrer Wahl.

Hugo wer? Anna atmete ein paarmal tief durch und sah sich die weiteren Fragen an. Doch je weiter sie ihren Blick wandern ließ, desto ratloser wurde sie. Sie hatte einen totalen Blackout! Zugegeben, Annas musikalisches Theoriewissen hatte noch nie zum Umfangreichsten gezählt – genau genommen hatte sie sich sämtliche Inhalte in den letzten Wochen und Monaten mehr oder weniger in ihren Kopf geprügelt –, doch dass sie selbst von diesem wenigen Wissen im Stich gelassen wurde, war wirklich zum Verzweifeln.

6. Erklären Sie die Begriffe »affettuoso« und »affrettando«.

Anna vergrub ihr Gesicht in beiden Händen und kämpfte gegen die Tränen an. Diese Prüfung hatte sie jetzt schon vergeigt. Und das, noch bevor sie überhaupt richtig angefangen hatte! Während die Zeit unbarmherzig weiter rannte, starrte Anna ununterbrochen auf ihr leeres Blatt Papier. Ihre Hände zitterten, während sie die einzelnen Aufgaben immer und immer wieder durchlas. Doch es half nichts, ihr Kopf war wie leer gefegt. Mit Mühe und Not schaffte sie es am Ende, den Quintenzirkel aufzuzeichnen und dazu ein paar leere Phrasen und ungenaue Beschreibungen einzelner Musikbezeichnungen zu notieren.

Dann ertönte auch schon die unangenehme Stimme von Madame Polonsky: »Ihre Zeit ist abgelaufen. Bitte legen Sie Ihre Stifte beiseite und bleiben Sie noch sitzen. Ich rufe jetzt nacheinander diejenigen auf, die gleich mit den mündlichen Prüfungen fortfahren werden.«

Anna starrte auf ihr fast leeres Blatt Papier und überlegte, ob sie das Schloss nicht gleich verlassen sollte. Als ihr Name aufgerufen wurde, zögerte sie. Anna konnte Klavier spielen, doch das allein würde an dieser Universität niemals genügen.

Doch dann dachte sie an ihre Mutter, die in der Mensa auf sie wartete, erinnerte sich an ihren stolzen Blick und raffte sich doch noch auf. Wenn ich schon scheitere, dann auf ganzer Ebene! Entschlossen erhob sie sich von ihrem Platz, kämpfte sich durch die Reihe und verließ den Hörsaal. An der Tür, hinter der die Professoren die mündliche Prüfung abhielten, klopfte sie an.

Drei Männer mit grauen und weißen Bärten, die sie alle allein von ihrer Optik und Mimik ein bisschen an Professor Dumbledore erinnerten, saßen an einem langen Tisch. Ein einzelner Stuhl stand ihnen gegenüber. Anna versuchte so gut es ging zu verdrängen, dass sie sich wie ein Schaf auf dem Weg zur Schlachtbank fühlte, und trat schüchtern vor.

»Wen haben wir hier?«, wandte sich der Professor in der Mitte an Anna. »Lohsert – nein, halt, Lohnert steht auf meiner Liste. Ist das richtig?«

Anna nickte schwach. »Ähm, ja, das bin ich. Guten Morgen.«

»Guten Morgen. Ich bin Professor Loyd, erster Vorstand dieser Universität. Rechts neben mir sitzt Professor Klaas-Steiner und das ist Professor Klymcik. Nun gut, Frau Lohnert, dann sehen wir uns einmal Ihre Prüfungsunterlagen an.«

Sie sah, wie Professor Loyd ihr Prüfungsblatt begutachtete und schluckte. Na super! Noch bevor Anna sich persönlich vorstellen konnte, erkannten die Professoren ihr schriftliches Scheitern. Sie kämpfte erneut gegen ihre Tränen an.

Annas Prüfungsblatt wurde langsam weitergereicht und sie beobachtete die hochgezogenen Augenbrauen, die verwirrten Gesichter, und zwang sich zu einem Lächeln. Der Professor mit einem buschigen weißen Schnurrbart, der ihr als Professor Klaas-Steiner vorgestellt worden war, schenkte ihr ein freundliches Lächeln und legte ihre Unterlagen zur Seite.

»Sie hatten allem Anschein nach einen kleinen Aussetzer. Nun gut, vielleicht fällt Ihnen später noch etwas ein, womit Sie Ihr Wissen unter Beweis stellen können. Doch jetzt erzählen Sie erst einmal von sich. Welches Instrument spielen Sie? Wer war Ihr Lehrer? Woher kommt Ihr Wunsch, hier zu studieren?«

Anna presste die Lippen fest zusammen. Allmählich war sie sich sicher, dass sie hier überhaupt nichts verloren hatte.

»Ich spiele Klavier«, begann sie dennoch und überlegte, wie sie die anderen Fragen beantworten sollte. »Ja … ähm, und ich hatte keinen Lehrer. Also nicht wirklich. Der Chorleiter meiner Mutter hat mir das Klavierspielen an sich ein bisschen erklärt und … na ja, meine Musiklehrer im Gymnasium haben mir das Theoriewissen beigebracht«, fügte sie leise hinzu.

»Sie hatten keinen Lehrer?« Professor Klaas-Steiner starrte fassungslos zu den beiden anderen Herren und schüttelte den Kopf. »Was macht sie hier?«, hörte Anna ihn flüstern und beobachtete, wie Professor Klymcik in einem Papierstapel vor sich herumblätterte. Gleichzeitig fragte sie sich jedoch genau dasselbe – was machte sie hier?

»Ah, Anna Lohnert! Jetzt weiß ich es wieder.« Er holte ein Tablet aus seiner Tasche, die neben ihm am Boden stand, tippte darauf herum und zeigte es anschließend seinen Kollegen, während Anna ihr eigenes Klavierspiel erkannte, das nun erklang. »Hier, dieses Video hatte sie ihrer Bewerbung beigefügt. Eine Variation von Bach war es, wenn ich mich recht entsinne. Außerdem habe ich erst vor wenigen Wochen im Internet ein Video von Ihnen gesehen, Frau Lohnert, das Sie bei einem Schulkonzert zeigt. Sehr beeindruckend, wie Sie aus Pachelbels Kanon Ihr ganz eigenes Stück kreiert haben!«

»Danke sehr«, antwortete Anna und stöhnte innerlich auf. Eigentlich wollte sie genau dieses Stück von Pachelbel in ihrer praktischen Prüfung spielen. Ihre Chancen auf einen Studienplatz, wenn es denn überhaupt noch welche gab, schmolzen dahin.

Professor Klaas-Steiner schien es ähnlich zu sehen wie sie, denn er schüttelte weiter den Kopf. »Ich will ehrlich sein, Anna. Ihre Theorieprüfung … nun, Sie wissen selbst, dass Sie hier durchgefallen sind. Die Tatsache, dass Sie nicht einmal einen Lehrer hatten, lässt mich stark daran zweifeln, ob Sie hierher gehören. Eine Debatte über Künstler und deren Werke sehe ich persönlich daher als reine Zeitverschwendung. Allerdings sind wir angewiesen, mit jedem Bewerber alle Prüfungsteile durchzugehen. Daher dürfen Sie uns gerne zum Abschluss das Stück vorspielen, das sie eingeübt haben. Doch alles Weitere werden wir hiermit beenden.«

Anna hatte also versagt. In allen Punkten. Eigentlich sollte sie sofort den Raum verlassen, um den Professoren nicht noch mehr Zeit zu stehlen oder vor ihnen in Tränen auszubrechen. Doch andererseits stand dort hinten ein Flügel – ein echter Konzertflügel! Zu Hause hatte sie nur ein altes, notdürftig restauriertes Klavier herumstehen, weswegen es ihr jetzt in den Fingern kitzelte. Einmal, nur ein einziges Mal auf einem richtigen Flügel zu spielen, diese Chance durfte sie sich nicht entgehen lassen!

Sie stand auf und trat andächtig an das schöne Instrument. Zärtlich fuhr sie über das Holz. Ihr Herz wurde warm, als sie ihre Finger auf die Tasten legte. Sie setzte sich und schloss die Augen. Dieser Augenblick gehörte nur ihr! Ein Klavier, bei dem alle Tasten funktionierten, bei dem jede Saite korrekt gestimmt war, bei dem jeder Ton zu schweben schien.

Da die Professoren ihre Variation von Pachelbel bereits kannten und sie sowieso schon durchgefallen war, tat Anna genau das, was sie am liebsten tat – sie glitt mit ihren Finger über die Klaviatur und ließ sich von der Musik davontragen. Sie spielte das, was ihr in den Sinn kam. In diesem Fall irgendein Klavierkonzert, das sie einmal im Radio gehört hatte. Sie legte all ihre Gefühle hinein und genoss den Klang, den der Flügel erzeugte. Sie nahm nichts anderes mehr wahr – das Klavier und sie waren eins und nur gemeinsam vollständig.

Die letzten Töne verklangen und langsam kehrte Anna zurück in den Prüfungsraum. Sie atmete tief durch, stand auf und bemerkte erst jetzt die Gesichter der drei Professoren. Alle drei wirkten sprachlos und wie erstarrt.

»Sie spielen Schuberts Klaviersonate D 960 auswendig? Ohne Noten?«, fragte Professor Klaas-Steiner.

Anna zuckte unschuldig mit den Schultern. Sie verschwieg die Tatsache lieber, dass sie nicht einmal gewusst hatte, um welches Stück es sich gehandelt hatte. Sie hätte nicht einmal den Komponisten nennen können.

»Wer hat sie Ihnen beigebracht?«, fragte der Professor weiter, doch Anna schüttelte den Kopf.

»Ich habe sie einmal im Radio gehört.«

»Einmal im Radio?« Ein leises Raunen ging durch den Raum und Anna sah ein stummes Lachen des Professors. »Schubert im Radio …«

»In Ordnung«, meldete sich schließlich Professor Loyd zu Wort. »Zunächst vielen Dank, Anna, für diese überraschende Kostprobe Ihres Könnens. In der Tat, Klavierspielen beherrschen Sie. Vielen Dank für dieses schöne Stück. Ich denke, wir werden uns zuerst beratschlagen müssen. Ein Fall wie der Ihre kommt doch eher selten vor. Aber Sie werden möglicherweise doch noch von uns hören.«

Anna lächelte Professor Loyd an und wollte gerade gehen, als er sich erneut zu Wort meldete.

»Eins noch, eine letzte Frage: Noten lesen können Sie, nicht wahr? Ich meine Violinschlüssel, Bassschlüssel … Oder spielen Sie alles auswendig, rein nach Gehör?«

»Ich kann Noten lesen, obwohl ich meistens nach Gehör spiele«, antwortete sie wahrheitsgetreu.

»Gut. Das ist gut. Immerhin … Vielen Dank, Anna. Sie können jetzt gehen und sich noch das Haus zeigen lassen.«

Kaum hatte sie den Raum verlassen, wurde Anna bereits von der unfreundlich und hektisch wirkenden Madame Polonsky aufgefordert, sich zur Gruppe derjenigen zu begeben, die an der Führung teilnahmen.

Da Anna wusste, dass sie dieses Schloss nie wieder von innen sehen würde, folgte sie der Professorin und einigen anderen Bewerbern und versuchte jedes Detail in sich aufzusaugen. Die langen dunklen Korridore, an deren Wänden unzählig viele Porträts hingen, wirkten noch wie vor hundert Jahren. Die Hörsäle und Unterrichtsräume fügten sich, trotz ihrer modernen technischen Ausstattung, durch stuckverzierte Wände und der schlichten Eleganz perfekt in das Ambiente eines Schlosses ein.

Als Madame Polonsky sie schließlich in den Schlossgarten führte, hielt Anna den Atem an. Ein Schotterweg aus weißen Kieselsteinen führte durch einen symmetrisch angelegten Park. Zwischen kugelrunden Buchsbäumen leuchteten Rosensträucher, Bartnelken und Lavendel in den verschiedensten Farben, einige Rosen rankten sich um Torbögen, andere waren um einen Brunnen herum angelegt. Und überall gab es verschnörkelte weiße Bänke, die zum Verweilen einluden. Einfach perfekt. Es fehlte nur noch ein Klavier inmitten der Blumen, überlegte Anna lächelnd, während sie den Duft der Rosen einatmete.

»Fräulein! Worauf warten Sie?«, riss Madame Polonsky sie aus ihren Gedanken. Tatsächlich stand die Gruppe Bewerber längst an einer der Terrassentüren und wartete auf sie. Eine leise Entschuldigung murmelnd eilte sie den anderen hinterher zurück ins Schloss.

Dieses Mal führte eine steile Wendeltreppe sie in die oberen Etagen, den sogenannten Turm. Anna betrachtete die riesigen, aktuell leer stehenden Schlafzimmer, die gemütlichen Gemeinschaftsräume, die Studierzimmer und die hauseigene Bibliothek. Alles wirkte so mächtig, so elegant und wahnsinnig teuer. Schließlich standen sie vor einer massiven, mit Schnitzereien verzierten Tür, durch die gedämpft Musik drang. Anna hielt sofort den Atem an. Diese Musik hatte sie binnen Sekunden verzaubert.

»Hier befinden wir uns vor dem Musiksaal. Außerhalb der Unterrichtszeiten steht dieser Raum allen Studierenden offen. So haben Sie jederzeit die Möglichkeit zu üben. Während der Studienzeit ist er mein Unterrichtssaal. Sollten Sie Studenten auf Schloss Luisenburg werden, erlernen Sie in diesem Saal zusammen mit anderen Schülern die Musikpraxis – das gemeinsame Spielen, das Komponieren, das Interpretieren. Der Kurs nennt sich Orchesterarbeit, doch es steckt viel mehr dahinter, als man anhand des Namens glauben könnte. Sie dürfen gerne ein paar Minuten lauschen. Aktuell spielen sich die Studenten eigene Interpretationen und Kompositionen vor und beurteilen sich anschließend gegenseitig.«

Madame Polonsky machte eine theatralische Pause und sah Anna und die anderen vielsagend an. »Im Moment spielt einer unserer Meisterschüler seine Stücke vor. Seien Sie aufmerksam, von diesem jungen Mann werden Sie gewiss noch so einiges hören.«

Mit diesen geflüsterten Worten drückte die Professorin vorsichtig die Tür auf und Anna spürte, wie die Musik sie unwillkürlich einnahm. Sie bekam nur vage mit, wie Madame Polonsky mit den Armen vor ihr herumfuchtelte und sie anschließend durch den Türrahmen zog. Offensichtlich hatte sie die anderen am Eintreten gehindert. Doch sie konnte nicht anders, denn sie war wie gebannt. Ihr Blick haftete nur noch an diesem jungen Typ, der seine dunkelblonden, schulterlangen Haare unordentlich zusammengebunden hatte und mit einer verschlissenen Hose am Klavier saß. Seine Finger schwebten über die Tasten und Anna spürte die Melodie im Inneren ihres Herzens widerhallen. Sie fühlte jeden einzelnen Takt – sie sah seine Hingebung und seine Aufmerksamkeit, die einzig und allein dem Klavier gehörten. Anna fühlte sich, als wäre sie im Himmel. Diese Musik! Bis ins kleinste Detail ausgefeilte Läufe und Tonfolgen! Nie zuvor hatte Anna so eine Art des Spiels gehört! Sie schloss die Augen, um die Melodie vollständig in sich aufzunehmen, als der Mann abrupt aufhörte und unschlüssig aufsah.

»Ab diesem Punkt weiß ich noch nicht, wie es weitergeht. Das ist jetzt nur Teil eins, sozusagen«, sagte er verlegen.

Zaghafter Applaus hallte durch den Raum, doch Anna achtete gar nicht darauf. Sie bekam nur in Trance mit, wie Madame Polonsky sie unsanft wieder hinausbeförderte und die Führung für beendet erklärte. Noch während sie, getragen von der Flut der anderen, die Wendeltreppe zurück nach unten ging, lief in Annas Kopf und in ihrem Herzen unentwegt diese Klaviermelodie, die alles um sie herum unwichtig erscheinen ließ. Erst die stürmische Umarmung ihrer Mutter, die in der Mensa auf sie gewartet hatte, brachte sie wieder zurück ins Hier und Jetzt.

»Na, wie ist es gelaufen?«, fragte ihre Mutter.

Anna atmete tief durch. Für einen kurzen Moment hatte sie den Grund ihrer Anwesenheit hier tatsächlich vergessen. Doch nun überschwemmte sie die Traurigkeit und sie schüttelte den Kopf.

»Totale Katastrophe. Ich habe null Chancen.« Anna wischte sich schnell eine einzelne Träne aus dem Augenwinkel und lächelte ihre Mutter an. »Aber immerhin war ich einmal hier. Und ich durfte auf einem echten Flügel spielen. Außerdem war da ein Typ, gegen den Mozart einpacken kann! Er hat eben seine eigene Komposition vorgespielt, die werde ich zu Hause sofort nachspielen – der Wahnsinn! Als hätte ich all seine Gefühle selbst wahrgenommen.« Mittlerweile strahlte sie bis über beide Ohren. »Danke, danke, dass du mir das ermöglicht hast, Mama. Auch wenn ich niemals aufgenommen werde, ich vergesse diesen Tag nie!«

Claudia Lohnert nahm ihre Tochter liebevoll in den Arm und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Wer weiß«, murmelte sie, doch Anna wusste es besser.

»Niemals. Du willst gar nicht wissen, wie verzweifelt die Professoren sich angestarrt haben. Als wüssten sie nicht, wie sie mich schnell genug loswerden könnten. Aber egal – das war es wert!«

Anna spürte den liebenden Blick ihrer Mutter auf sich und ihr wurde warm ums Herz. Trotz der jahrelangen Krebserkrankung ihrer Mutter, durch die sie bis letztes Jahr regelmäßig wochenlang ans Bett gefesselt gewesen war, hatte sie Anna all die Jahre immer unterstützt. Sie hatte ihr ein Klavier besorgt und sich mit Lehrern ihrer Schule auseinandergesetzt, um Annas Talent weiter zu fördern. Ihr hatte sie es zu verdanken, dass sie diese Universität zumindest einmal von innen gesehen hatte.

»Danke Mama.«

1. Kapitel

Sehr geehrte Frau Lohnert,zunächst möchten wir uns bei Ihnen für die lange Wartezeit unseres Schreibens entschuldigen, doch Ihr Fall hat uns diese gesamte Zeit über beschäftigt. Nun möchten wir Ihnen herzlichst gratulieren, denn Sie haben die Aufnahmeprüfung für ein Studium an unserer Universität in der Fachrichtung Klavier bestanden. Allerdings nicht für das kommende Studienjahr, sondern das darauffolgende. Grund dafür sind Ihre fehlenden Kenntnisse in den Bereichen Theorie/Geschichte und Literatur, die jedoch für unsere Universität Voraussetzung sind. Daher bitten wir Sie dringlich, dieses Wissen bestmöglich in den kommenden eineinhalb Jahren nachzuholen. Im Anhang 1 finden Sie eine Liste mit hilfreicher Literatur zu diesen Themen. Falls Sie sich für das nächste Jahr um ein Stipendium bewerben möchten, finden Sie in Anhang 2 Adressen, wo Sie sich diesbezüglich informieren können.Bitte beachten Sie, dass unsere Winter- und damit Einstiegssemester angepasst an den internationalen Studienrhythmus jeweils im August beginnen und Studenten nur in Ausnahmefällen zum Wechsel des Semesters im Januar einsteigen können.Wir verbleiben daher mit freundlichen Grüßen und freuen uns schon, Sie auf Schloss Luisenburg begrüßen zu dürfen.

Hochachtungsvoll

Professor Loyd (Fachrichtung Violine, Theorie, erster Vorstand)Professor Klaas-Steiner (Fachrichtung Musikgeschichte)

August, eineinhalb Jahre später

Wie sehr hatte Anna sich damals gefreut, als sie den Brief erhalten hatte! Sie war sofort in die nächste Bücherei gefahren, hatte sich sämtliche Bücher besorgt und noch am selben Tag bis spät in die Nacht gelernt, um all das Wissen aufzuholen, das die Universität verlangte. Sie hatte Freudentänze mit ihrer Mutter veranstaltet und jede weitere freie Minute am Klavier verbracht, um zu üben.

Damals.

Als ihr Leben noch in Ordnung war.

Als es hieß, der Krebs ihrer Mutter sei endgültig besiegt. Als ihr Vater erklärt hatte, dass er seine Alkoholsucht ein für alle Mal im Griff hätte. Als die einzige Sorge ihrer Schwester Bibi galt, ob sie sich im neuen Wohnheim für schwerbehinderte Menschen wohlfühlen würde.

Damals.

Als sie alle glücklich waren.

Anna stopfte den mittlerweile total verschlissenen Brief in ihre Hosentasche und klopfte zaghaft an der Zimmertür im Wohnheim ihrer Schwester.

»Hey Bibi«, begann sie und wurde sogleich schwungvoll umgeworfen. Ihre Schwester übertraf sie sowohl an Körpergröße als auch an Gewicht. Ihr Temperament führte immer wieder dazu, dass Anna nach einer Umarmung auf dem Boden lag.

»Anna, Anna, Aaaannnaaa!«

Sie ließ die feuchten Küsse über sich ergehen und schenkte ihrer großen Schwester ein liebevolles Lächeln.

»Hey Große, na, wie geht’s dir?«

Bianca, wie sie eigentlich hieß, fuhr mit ihren Fingern wie mit einem Kamm durch Annas hellbraune schulterlange Haare und Anna schloss kurz ihre Augen, um es zu genießen. Das war schon immer Bibis Lieblingsbeschäftigung gewesen. Erstens entspannte sich ihre kräftige, temperamentvolle Schwester dabei und wirkte viel zufriedener und zweitens fühlte es sich einfach herrlich an. Eine Erinnerung an Annas Kindheit, an eine Zeit, in der das Leben noch schön gewesen war.

»Wo ist Mama, Anna?«

Anna schluckte. Dieselbe Frage. Seit zwei Jahren. »Sie kommt nicht mehr, Bibi. Sie wohnt doch jetzt im Himmel.« Sie kämpfte gegen ihre Tränen an, wie immer, wenn Bibi diese Frage stellte.

»Wo MAMA????«

Bianca verstand sie nicht. Natürlich nicht. Ihre geistige Behinderung ließ es nicht zu, komplexe Themen zu verstehen, geschweige denn, sie sich zu merken. Wie sollte sie daher begreifen, dass der Krebs vor zwei Jahren zurückgekehrt war, ohne dass es jemand erkannt hatte? Dass er in Leber und Bauchspeicheldrüse gestreut hatte und ihre Mutter dadurch bereits wenige Tage nach der erneuten Diagnose gestorben war?

Anna zog ihre Schwester an eines der Zimmerfenster und deutete in den wolkenfreien Himmel. »Sieh mal nach oben, Bibi. Siehst du die Sonne? Den Himmel? Dort oben, ganz weit oben? Dort lebt sie jetzt. Da ist unsere Mama.«

Anna beobachtete ihre Schwester, die die Augen fest zusammenkniff, als würde sie den gesamten Himmel nach ihrer Mutter absuchen. »Ist Papa auch da oben?«

Anna schloss die Augen und versuchte zu schlucken, um den Knoten in ihrer Brust zu vertreiben. Sie hatte diese Fragen schon so oft beantwortet, doch immer wieder schmerzte es, als würde Bibi zum ersten Mal fragen – als wäre all das Schreckliche erst vor wenigen Tagen geschehen. Als würde sie alles immer und immer wieder aufs Neue erleben. Die Nachricht über den Unfall ihres Vaters, den Tod ihrer Mutter, die grauenhafte Beerdigung, die stumme, einsame Zeit danach. Alles.

»Nein, Bibi. Papa ist nicht im Himmel. Er kommt wieder. Irgendwann.« In genau acht Jahren, vier Monaten und vierzehn Tagen, fügte sie in Gedanken hinzu. Denn so lange musste er noch in der Haft ausharren. Ein Urteil, dessen Härte sie bis zum heutigen Tag nicht verstand.

»Papa kommt heim. Ja, okay. Musik?«

»Na klar, spielen wir Klavier. Kommst du mit in den Aufenthaltsraum?«

Anna nahm ihre Schwester an die Hand und ging mit ihr in den geräumigen Aufenthaltsraum. Dort setzte sie sich an das Klavier und begann zu spielen.

Bibi klatschte begeistert in die Hände und tanzte um die eigene Achse, während Anna ein Kinderlied nach dem anderen spielte. Wie sehr beneidete diese ihre Schwester um ihre Fröhlichkeit, ihre Sorglosigkeit. Bibi trauerte nicht – nicht wirklich jedenfalls. Sie lebte von einem Tag in den nächsten und schien glücklich damit zu sein. Sie erinnerte sich an ihre Mutter und bestimmt vermisste sie sie, doch niemals so schmerzhaft, wie sie es täglich tat.

Anna konnte sie einfach nicht vergessen. Diese Bilder, die letzten Momente, die sie mit ihrer Mutter erlebt hatte. Ihren schwachen Händedruck, das letzte glühende Funkeln in ihren Augen, als sie nach zehn Stunden völliger Abwesenheit noch einmal die Augen geöffnet hatte, nur um sie dann für immer zu schließen. Anna konnte so vieles nicht vergessen. Die Gespräche mit den Polizisten, die wenige Stunden vor dem Tod ihrer Mutter ins Krankenhaus gestürmt waren, um von dem Unfall ihres Vaters zu berichten, die Bilder des Gerichtssaals, das schreckliche Urteil, das verzweifelte Gesicht ihres Vaters. Und letztendlich die Erinnerungen an die Beerdigung ihrer Mutter. Sie glich einem Trauerspiel und war ihrer Mutter ganz und gar nicht angemessen. Dazu kamen noch der missgelaunte Pfarrer vor dem Altar und der einfache Holzsarg. Und Anna am Klavier.

Sie hatte sich an diesem Tag die Seele aus dem Leib gespielt, hatte versucht ihrer Mutter all ihre Gefühle mithilfe der Musik zu vermitteln: die Dankbarkeit, diese unendliche Liebe, die schreckliche Wut darüber, dass sie gegangen war, die Trauer, allein zu sein, und die Hilflosigkeit, dieses Chaos, das ihre Mutter hinterlassen hatte.

Irgendwann hatte der Pfarrer sie unterbrochen, da er, wie er erklärte, gerne Feierabend machen wollte. Doch Bibi kannte keine dieser Erinnerungen. Die Heimleitung hatte Anna damals davon abgeraten, ihre Schwester mit auf die Beerdigung zu nehmen, aus Angst, Bibi würde den Tod ihrer Mutter nicht verkraften oder begreifen. Doch Anna wusste genau, dass die Leitung nur Angst vor den Wutausbrüchen Biancas gehabt hatte. Dies war der Grund, warum Anna mit ihrer Trauer völlig allein geblieben war. Niemand teilte ihre Verzweiflung, verstand ihren Kummer, niemand kannte ihre Einsamkeit. Niemand wusste, wie schwer die zwei vergangenen Jahre für Anna gewesen waren, wie schrecklich ihr Leben nun war.

»Bist du traurig?« Bibi hatte innegehalten und deutete auf Annas Finger. Sie selbst hatte nicht einmal gemerkt, dass sie keine Kinderlieder mehr spielte, sondern stattdessen ihre Gefühle in eine Melodie umgewandelt hatte. Doch Bibi verstand es. Sie hatte ihre Musik schon immer verstanden.

»Ja, ich bin traurig, Bibi. Aber es geht mir schon viel besser, ich bin ja bei dir.«

Bibi umarmte Anna und kämmte erneut mit den Fingern ihre hellbraunen Haare, während Anna zu ihren Kinderliedern zurückkehrte und Bibis Lieblingslieder spielte.

***

Am selben Abend holte Anna noch einmal den Brief aus ihrer Hosentasche und seufzte. Morgen würde es losgehen. Ein neues Kapitel ihres Lebens. Ihr Studium an der weltbesten Universität für klassische Musik.

Doch die Freude, dort studieren zu können, existierte nicht mehr. Am liebsten hätte sie für immer und ewig im Café nebenan weitergearbeitet, um sich zumindest über Wasser zu halten, und hätte sich den Rest ihrer freien Zeit in ihrer Wohnung verkrochen. Weit weg von der Welt, weit weg von anderen Menschen und deren fröhlichen Gesichtern. Doch das durfte sie nicht. Sie konnte es sich, genauer gesagt, keinen weiteren Monat mehr leisten, in ihrer alten Wohnung zu bleiben. Sanft fuhr Anna über das Papier und strich es glatt.

Schloss Luisenburg. Herzlich willkommen …

Sie schloss die Augen und ignorierte den schmerzenden Stich.

»Das tu ich nur für dich, Mama.«

2. Kapitel

Anna überkam dasselbe Gefühl wie vor zwei Jahren, als sie diese ausladende Eingangshalle betrat. Sie fühlte sich fehl am Platz und ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Doch mit einem Mal spürte sie zusätzlich, wie einsam sie war. Heute war sie alleine angereist, mit dem Bus und anschließend zu Fuß. Und sie konnte auch keine tröstende Hand halten.

Die letzten zwei Jahre hatten sie verändert. Zeit für Freunde hatte sie keine gehabt, weil sie neben ihrem Schulabschluss noch Geld für die Miete hatte verdienen müssen. Und da das Stipendium, das sie Gott sei Dank erhalten hatte, der einzige Grund war, dass sie nicht ins Heim oder in eine Pflegefamilie musste, hatte sie an jedem freien Tag und nachts zu ihren Theorie-Büchern gegriffen und gebüffelt. Nun kannte sie sämtliche Biografien der Künstler der klassischen Musik – von den Anfängen bis heute. Mittlerweile wusste sie auch, aus welchem Grund die Professoren damals so überrascht gewesen waren, als sie diese Schubert-Sonate gespielt hatte. Sie zählte zu den besonders anspruchsvollen Klaviersonaten. Anna kannte nun auch den Quintenzirkel in all seinen Einzelheiten und hatte sämtliche Fachbegriffe, die in der Literatur vorkamen, auswendig gelernt.

Da stand sie nun mitten im Foyer, ihren abgenutzten Rucksack auf den Schultern, eine kleine Reisetasche in der Hand, und beobachtete die ordentlich gekleideten Studenten, die in kleinen Gruppen durch die Halle liefen. Allem Anschein nach hatte von ihnen sicher niemand je arbeiten müssen, um sich das Essen für den nächsten Tag leisten zu können. Zumindest wirkten die teure Kleidung und die Smartphones, die sie in den Händen hielten, nicht gerade günstig.

»Fräulein Lohnert?« Eine Frau mittleren Alters mit dunkelbraunen halblangen Haaren kam schnellen Schrittes auf sie zu. »Was stehen Sie hier herum? Kommen Sie bitte zur Anmeldung! Wenn Sie vor Beginn Ihres Unterrichts noch Ihr Zimmer beziehen wollen, eilt es jetzt.«

Anna schüttelte ihre Starre ab und trat langsam auf die Frau zu. »Guten Morgen, Frau …?«

»Wagner. Ich benötige Ihre Ausweise, Ihre Anmeldebestätigung und das Stipendiumsschreiben.« Anna kramte die Unterlagen aus ihrem Rucksack und hielt sie der Frau hin. »Ah, perfekt, danke.« Frau Wagner nahm gestresst die Dokumente aus Annas Händen und betrachtete skeptisch die mehrmals gefaltete und teilweise eingerissene Aufnahmebestätigung der Universität. Plötzlich riss sie erschrocken die Augen auf. »Gleich drei Stipendien? Du meine Güte! Wie haben Sie das denn angestellt? Damit könnten Sie sich ein Einzelzimmer im Turm mit eigenem Klavier leisten. Die Informationen wären im Vorfeld sinnvoll gewesen, denn jetzt habe ich nur ein Zweibettzimmer herrichten lassen. Das müsste ich dann noch einmal ändern. Wobei das dann doch etwas mehr Zeit in Anspruch nehmen wird. Wäre es in Ordnung, wenn Sie doch erst mittags Ihr Zimmer beziehen?«

Anna starrte Frau Wagner ungläubig an. Sie selbst hatte bei den Antwortschreiben ihrer Stipendienbewerbung nur auf das »Herzlichen Glückwunsch« geschaut, alles andere hatte sie nicht einmal durchgelesen. Gleich drei Zusagen hatte sie selbst nicht erwartet.

»Ähm, nein, schon gut. Ich bin mit dem Doppelzimmer ganz zufrieden.« Immerhin war ich lange genug allein, fügte sie in Gedanken hinzu. Außerdem wusste sie von der Führung damals, dass das Musikzimmer immer offen stand, sodass sie jederzeit die Möglichkeit hatte, Klavier zu spielen. Wer brauchte schon ein kleines Klavier im eigenen Zimmer, wenn es doch nur wenige Meter entfernt einen großen Konzertflügel gab?

»Sind Sie sicher?« Anna nickte. »In Ordnung. Gut, dann zeige ich Ihnen jetzt Ihr Zimmer. Kommen Sie mit! Benötigen Sie Hilfe mit Ihrem Gepäck? Wo haben Sie denn Ihre Koffer?«

Anna deutete auf ihre kleine Reisetasche und auf ihren Rucksack. »Alles da. Danke.«

Wieder riss Frau Wagner ungläubig die Augen auf. »Sie wissen aber schon, dass Sie, da sie noch nicht volljährig sind, erst in drei Monaten wieder Gelegenheit bekommen, nach Hause zu fahren?«

Anna lächelte matt, während sie ihr folgte, um zu ihrem neuen Zimmer zu gelangen. Ja, sie kam sich wirklich fehl am Platz vor, denn Frau Wagner musterte immer wieder ungläubig ihre Reisetasche. »Mehr brauche ich nicht.« Das sagte sie nur, weil »Mehr habe ich nicht« in diesem Schloss ziemlich schräg klingen musste, selbst wenn es der Wahrheit entsprach. Annas gesamtes Hab und Gut passte tatsächlich in diesen Rucksack und die Reisetasche. Einmal abgesehen von ihrem verstimmten, ramponierten Klavier, das sie, so blöd es klang, trotz allem vermissen würde. Obwohl sie in Zukunft auf einem echten Flügel üben durfte, verband sie so viele Erinnerungen mit dem alten Freund. Es hatte immer einen ganz speziellen Geruch, eine Mischung aus antikem Mobiliar und Lackfarbe, nicht gerade angenehm, aber individuell und unverwechselbar. Dieser Duft hatte um ihre Nase geweht, wenn sie gespielt hatte, und ihr ein Gefühl von Freiheit verliehen.

Das Klavier war das einzige Möbelstück, das sie mit Bitten und Betteln auf unbegrenzte Zeit im Keller ihrer Nachbarin hatte unterstellen dürfen. Alles andere war im Container gelandet, denn Anna hatte die Wohnung auflösen müssen. Da sie nicht mehr arbeitete, konnte sie sich auch die Miete nicht mehr leisten. Zudem gab es auch gar keinen Grund, sie zu behalten. Bibi lebte im Wohnheim und Anna konnte sie frühestens in zwei Jahren zu sich holen, wo immer das dann sein mochte. Und ihr Vater musste noch über acht Jahre im Gefängnis bleiben. Zu lange, um die Wohnung für ihn freizuhalten.

Anna hatte sich beim letzten Besuchstag mit ihm geeinigt, seinen gesamten Kleiderschrankinhalt zu spenden. Die Kleidung würde ihm ohnehin nicht mehr passen, da er nach dem Unfall so viel abgenommen hatte, dass er dreimal in seine alten Jeans passen würde. Einzig und allein seine Schallplattensammlung hatte er behalten wollen, Fotoalben und Erinnerungen an Annas Mutter hatten sie untereinander aufgeteilt.

Ein Teil lagerte daher in einer Pappschachtel in der Justizvollzugsanstalt und der andere, der zwei Fotoalben, die Perlenkette ihrer Mutter und zwei ihrer Kleider enthielt, befanden sich in Annas Reisetasche. Erinnerungen einer gesamten Familie – nur eine kleine Tasche und ein kleiner Karton, mehr nicht.

»So, da wären wir. Zimmer Nummer 4.1«, riss Frau Wagner sie aus ihren Gedanken und klopfte zweimal kurz an der schlichten Holztür. »Guten Morgen, Fräulein Chen, ich bringe Ihnen Ihre neue Mitbewohnerin, Anna Lohnert. Anna, das ist Fräulein Chen, die genau wie Sie heute ihr Studium an der Universität beginnt.« Annas neue Mitbewohnerin stand aktuell hinter einer offenen Schranktür, sodass Anna gerade nicht mehr als den Rücken eines kleineren Mädchens erkannte. »Ihre erste Unterrichtsstunde ist – Sie werden gleich enttäuscht sein – Englisch. Doch bedenken Sie: Sollten Sie eine internationale Karriere anstreben, was hier auf Schloss Luisenburg keine Seltenheit ist, ist ein perfektes Englisch eine wichtige Voraussetzung. Ich habe Ihnen einen Plan von unserem Anwesen ausgelegt. Sie werden sich, denke ich, schnell zurechtfinden. Sollten Sie Fragen haben, kommen Sie zu mir. Ihr Unterricht beginnt in«, sie blickte kurz auf ihre Armbanduhr, »exakt fünf Minuten. Das sollten Sie schaffen, oder? Dann wünsche ich Ihnen alles Gute und viel Erfolg an Ihrem ersten Tag.«

Mit diesen Worten ließ Frau Wagner Anna in ihrem neuen Zimmer stehen und eilte zurück in die Empfangshalle.

Anna schaute sich um. Ein kleines, schlichtes Zimmer, völlig anders als der ganze Prunk in diesem Schloss. Auf beiden Seiten standen jeweils ein Holzbett, ein kleiner Schreibtisch und ein großer Schrank, in dem Annas Gepäck locker viermal hineinpasste. Hinter der nun geschlossenen Tür versteckte sich zusätzlich ein kleines, schlichtes Waschbecken. Schließlich schloss das Mädchen ihre Schranktür und trat hervor.

»Hi, ich bin Ling. Ja, ich weiß, ich hatte auch irgendwie mehr erwartet. Immerhin sind wir auf Schloss Luisenburg. Bei der Führung hat man mir nur die großen Turmzimmer gezeigt, dir auch? Nicht mal ein eigenes Bad haben wir.« Annas Mitbewohnerin stand quirlig fuchtelnd vor ihr und verbreitete so eine Lebensfreude, dass Anna sie sofort mochte. Und das, obwohl sie beim ersten Blick auf das Zimmer eindeutig nicht die gleichen Gedanken gehabt hatte. Vielmehr war die Hoffnung in ihr aufgekeimt, dass sie sich vielleicht doch ein bisschen wohlfühlen könnte. Diese Schlichtheit … Fast wie zu Hause.

»Ja. Hi! Hast du dir schon eine Seite ausgesucht?«

Ling war etwa einen Kopf kleiner als Anna, ein zierliches Mädchen mit einem tiefschwarzen Bob und einer leuchtend roten Brille, die ihre asiatischen Augen perfekt zur Geltung brachte. Zum Glück gab es auf dieser Universität keine Uniform, denn Lings Aussehen brachte in den wenigen Minuten so viel Farbe in Annas Leben wie schon lange nichts mehr. Neben der knalligen Brille trug sie ein gelb-blau kariertes Kleid, das vorn mit großen Holzknöpfen geschlossen wurde sowie eine bunt getupfte Strumpfhose, die in weinroten Lederboots steckte. Jeder einzelne ihrer Fingernägel war in einer anderen Farbe lackiert. Daneben wirkte Anna mit ihrer blauen Jeans und ihrem weißen Shirt wie eine graue Maus. Offensichtlich bemerkte Ling, wie Anna sie anstarrte, denn sie drehte sich lachend einmal um ihre eigene Achse.

»Ich liebe Farben. Und meine Eltern nicht. Ein Grund mehr, bunte Kleidung zu tragen … Ich hätte gerne das Bett rechts, wenn es okay ist. Was ist denn dein Hauptinstrument? Nein, lass mich raten!« Ling betrachtete sie aufmerksam von oben bis unten und zog dabei ihre Lippen kraus. »Ich finde, Blasinstrument passt nicht zu dir, ich weiß auch nicht, wieso. Hm, du siehst jetzt nicht ganz so klassisch aus wie die anderen schnöden Leute hier, also irgendein hippes Instrument. Nur welches? Oder vielleicht Gesang? Obwohl ich gehört habe, dass hier nur selten Studenten mit dem Hauptfach Gesang genommen werden. Nein! Ich hab’s! Deine Finger! Die verraten dich! So lang und dünn. Du spielst Klavier!«

»Das hippe Klavier?«

»Stimmt auch wieder. Zu deinem Äußeren passt das nicht wirklich. Saxofon vielleicht?«

Anna musste lachen und wackelte mit ihren Fingern. »Nein, du hast genau richtig getippt. Klavierfinger. Und du? Wenn ich jetzt nach deinem Style gehe, würde ich auf Schlagzeug tippen.«

Ling holte lachend imaginäre Sticks heraus und trommelte wild um sich. »Das wär’s! Ich wechsle zum Schlagzeug. Meine Eltern würden mich umbringen!« Sie grinste über beide Ohren. »Nein, Geige. Seit meinem dritten Lebensjahr. Mein Vater ist selbst Violinist beim Shanghai Symphony Orchestra und meine Mutter Sopranistin in der Oper dort – Schlagzeug wäre ein Todesurteil für mich!«

»Das heißt, du kommst aus China? Dafür sprichst du echt gut Deutsch.«

Ling legte den Kopf schief und grinste Anna breit an. »Tja, den deutschen Privatlehrern sei Dank! Und Filmen wie die Edelstein-Trilogie oder der Twilight-Saga«, fügte sie grinsend hinzu.

»Twilight? Das ist aber kein deutscher Film, das ist dir schon bewusst, oder?«

»Und vor allem ist mir bewusst, dass er in der Originalversion tausendmal besser ist.«

Anna schüttelte fassungslos den Kopf. »Wieso siehst du dir deutsch synchronisierte Filme an?«

»Ganz einfach: Sie sind auf Chinesisch katastrophal und ich lerne nichts dabei, wenn ich mir die Originalversionen ansehe.«

Anna stellte erst jetzt ihre Tasche und ihren Rucksack auf ihr neues Bett. Sie konnte ihr Grinsen nicht unterdrücken. Die Hoffnung, hier wieder ein Stück Lebensfreude zurückzugewinnen, wurde beim Anblick ihrer Mitbewohnerin immer größer. So viel Energie und gute Laune in so einer kleinen Person waren faszinierend. Das hatte sie schon lange nicht mehr erlebt.

»Verdammt!«, riss Ling sie aus ihren freudigen Gedanken. »Der Unterricht hat vor zwei Minuten begonnen! Wir müssen los! Weißt du, wo wir hinmüssen?«

3. Kapitel

»Good morning, Ladies. Es freut mich, dass Sie mir und Ihren Kommilitonen noch die Ehre erweisen, aufzutauchen. Take a seat, please!« Ein ergrauter Herr mit streng nach hinten gekämmten Haaren blickte Anna und Ling so strafend an, dass sie sich nicht einmal mehr trauten zu erklären, warum sie sich verspätet hatten. Wenn man von der Tatsache einmal absah, dass sie schon viel zu spät losgegangen waren, hatten sie sich zudem noch komplett verlaufen. Zweimal waren die beiden wieder in der großen Empfangshalle angekommen, um vergeblich nach Frau Wagner Ausschau zu halten, die ihnen mit Sicherheit geholfen hätte. Erst dank der Hilfe eines anderen Studenten fanden sie schließlich den Weg zum Englischkurs.

Anna und Ling ließen sich so schnell wie möglich auf die letzten beiden Plätze – natürlich die ganz vorne, direkt vor dem Pult – nieder. Eigentlich hätte Anna sich noch gerne umgesehen, sie wollte zu gerne wissen, wie viele Studierende hier saßen, doch sie wagte keinen weiteren Blick hinter sich, da der strenge Ausdruck des Dozenten definitiv nichts Gutes verhieß.

»Let’s carry on with our lesson at page number five; Opera Carmen, part one.«

Anna teilte sich dankbar das Buch mit Ling, denn sie selbst besaß noch keins. Das Geld für die Bücher hatte ihr bis jetzt gefehlt und sie hoffte, sich die nötigen Werke in der hauseigenen Bibliothek ausleihen zu können.

Sie sah in das Buch, während der Dozent – wie immer er heißen mochte – in flottem Englisch weitersprach. Als er über den ersten Teil der Oper Carmen sprach, musste Anna sich eingestehen, dass ihre Kenntnisse in dieser Sprache nicht annähernd so tadellos waren, wie sie gedacht hatte. Obwohl ihre Abiturnote einer guten Zwei entsprach, half ihr das hier nicht wirklich weiter. Sämtliche musikalischen Fachausdrücke, die sie sich erst in ihrer Muttersprache eingebläut hatte, ratterte der Dozent nun in einem rasanten Englisch herunter, ohne dass Anna genug Zeit blieb, irgendetwas davon zu übersetzen. Daher starrte sie nur stur auf das Buch und krampfte ihre Finger um ihren Kugelschreiber.

»I have a question, Professor Müller. At part two, line four, bar 22«, sagte ein weißblondes Mädchen, das zwei Tische neben Anna saß und mit ihrem höchstwahrscheinlich maßgeschneiderten Hosenanzug zwanzig Jahre älter wirkte, in perfektem Englisch und fragte anschließend nach Interpretationsmöglichkeiten für die Holzbläser an dieser Stelle. Soweit konnte Anna ihr zumindest noch folgen. Was genau sie interpretieren wollte, verstand sie jedoch schon nicht mehr. Schwer seufzend ließ sie ihren Kopf wieder sinken, doch Ling stupste sie liebevoll in die Seite.

»Da haben wir schon unseren Streber gefunden! Sogar meine Oma hat einen besseren Modegeschmack als sie. Und wen interessiert es bitte, wenn die Bläser hier nicht acceleratamente spielen können? Was für ein Schwachsinn!«

»Immerhin hast du verstanden, was sie wollte«, murrte Anna nüchtern zurück. Mit einem Mal wollte sie am liebsten wieder nach Hause, wenn sie nur noch eines hätte …

»Wollen Sie Ihre Meinung dazu nicht allgemein kundtun, Miss …?« Anna starrte erschrocken in das strenge Gesicht des Dozenten, dessen buschige Augenbrauen so tief nach unten gezogen waren, dass Anna seine Augen kaum noch erkannte.

Mein Gott! Was sollte sie nur sagen? Ihr Puls begann zu rasen und sie spürte die Hitze in ihre Wangen steigen. Doch gerade als sie den Mund öffnete, um irgendwelche englischen Begriffe herunter zu stottern, ergriff Ling neben ihr die Initiative.

»Of course Professor Müller …« Und so antwortete Ling in fließendem Englisch, wieso die Ideen der Blonden nicht funktionierten. Zumindest vermutete Anna, dass Ling davon sprach, wenn sie vom wutentbrannten Gesicht der Blondine ausging. Wirklich viel verstanden hatte sie nämlich nicht. Die Blondine sah allerdings so aus, als würde sie gleich explodieren. Jep – die erste Feindin hatten sie sich wohl auch schon gemacht.

***

»Hast du gedacht, der Englischkurs hier ist eine Fortsetzung vom Schulenglisch? Was würde uns denn die Fähigkeit für Small Talk in den international erfolgreichsten Orchestern schon bringen?«

Ling schlenderte mit Anna am Arm durch den Schlossgarten der Universität. Doch diesmal konnte Anna sich nicht über die Blütenpracht freuen. Nach der niederschmetternden Englischstunde folgte zum Glück erst einmal eine Freistunde.

»Ich meine, wie sollen wir uns denn sonst verständigen oder verstehen, was der Dirigent von uns verlangt?«

Anna atmete tief durch und genoss den zarten Duft der Rosen, der zu ihnen herüberwehte. »Ich habe mir, ehrlich gesagt, gar nichts dabei gedacht. Ich werde nur das blöde Gefühl nicht los, dass ich hier nichts verloren habe.«

Ling betrachtete sie daraufhin von oben bis unten und zwar dermaßen intensiv, dass es Anna schon unangenehm wurde.

»Was ist?«

»Ich sehe dich an. Verzeih mir, wenn ich das sage, aber du siehst nicht so aus, als hättest du dir diesen Studienplatz erkauft, wie es hier mit Sicherheit einige getan haben. Und die Aufnahmeprüfungen hier waren wahnsinnig hart. Allein am Geschichtstest wäre ich beinahe verzweifelt! Was ich damit sagen will … Du hast schon echt viel geschafft und wir sind ja hier, um zu lernen, nicht weil wir bereits alles können!«

Anna dachte an ihre Aufnahmeprüfung zurück. Ja, das war definitiv eine katastrophale Erinnerung, doch Ling hatte diesen Theorietest sicherlich ausgefüllt, ohne mit der Wimper zu zucken. Den Test über Musikgeschichte hatten die Professoren nach ihrem misslungenen schriftlichen Teil ja weggelassen. Nach ihrer ersten Aufnahmeprüfung hatte sie ein Jahr später nur noch einen schriftlichen Test ausfüllen müssen und gleich im Anschluss ihre Zusage erhalten.

»Ja … äh … ich hatte keinen Test im Fach Musikgeschichte«, gab sie leise zu.

Ling starrte sie irritiert an. »Was? Dieses Gespräch mit den Professoren über die unterschiedlichen Musik-Epochen, deren Entstehungen, wie sie alle miteinander verwoben sind und welche Künstler wann und wo hervortraten. Das kann doch nicht sein! Hattest den wirklich nicht? Ich habe ein paar Studenten getroffen, die alle gesagt haben, dass der Geschichtstest am härtesten war!«

»Na ja. Nachdem ich bei dem schriftlichen Test total versagt habe, habe ich eigentlich nur noch Klavier gespielt.«

Mit offenem Mund starrte Ling sie an, wobei ihre Mundwinkel sich langsam zu einem Lächeln nach oben schoben. »Dann stimmen also die Gerüchte und ich stehe hier neben dem zweiten Wunderkind von Luisenburg?«

»Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.« Anna sah Ling irritiert an.

»Na, da gibt es doch schon seit zwei oder drei Jahren diesen Noel Johnson, der als Wunderkind angepriesen wird – übrigens auch am Klavier. Hast du noch nie von ihm gehört? Selbst wenn man nicht, wie ich und tausend andere Jugendliche, seit Jahren schon das Geschehen auf Schloss Luisenburg mitverfolgt, wird man doch spätestens, wenn man hier das erste Mal auftaucht, auf ihn aufmerksam gemacht. Meist erwähnen die Dozenten ihn ganz nebenbei. Obwohl … seit seinem Zusammenbruch wird er ja nicht mehr ganz so enthusiastisch vorgestellt. Du hast ihn sicher auch nicht mehr spielen gehört, oder?«

Während Anna Lings Erklärung folgte, plagte sie wieder einmal das schlechte Gewissen, da sie sich so gut wie gar nicht mit dieser Universität beschäftigt hatte. Ihre Mutter hatte sie ihr damals empfohlen und sie dort, mithilfe ihres Chorleiters, angemeldet. Der Gedanke, dort jederzeit Klavier spielen zu dürfen, hatte ihr genügt, um dort studieren zu wollen. Ziemlich naiv, wie sie nun begriff. Allerdings fiel Anna bei Lings Erwähnung eines Wunderkindes sofort wieder der Typ ein, der am Tag ihrer Aufnahmeprüfung das selbst komponierte Stück gespielt hatte. Sollte es stimmen, dass die Professoren das studierende Wunderkind den Neubewerbern vorstellten, dann war damit bestimmt er gemeint. Anna hatte immer noch jede einzelne seiner Tonfolgen im Kopf und bekam, auch wenn sie das Stück selbst schon dutzende Male nachgespielt hatte, immer wieder eine Gänsehaut beim Klang dieser Melodie.

»Bei meiner Prüfung hat so ein Typ seine eigene Komposition gespielt. Seit damals würde ich ihn so gerne kennenlernen! Ich brenne darauf, zu erfahren, wie sie endet.«

»Tja, wenn du von Noel sprichst – wovon ich ausgehe – hast du leider Pech gehabt. Er spielt seit Ewigkeiten nicht mehr. Offenbar hat irgendein traumatisches Erlebnis dazu geführt, dass er kein Klavier mehr berührt. Er studiert hier zwar noch, aber nur, weil er eben das Wunderkind von Luisenburg ist und alle Lehrer hoffen, dass er sich wieder fängt und dann so richtig abgeht. Aber zurück zu dir, bist du jetzt das zweite Wunderkind?«

Anna hing gedanklich noch immer bei dem traumatischen Erlebnis. Sie selbst wusste, wie das eigene Glück, beziehungsweise das Glück der Familie, dazu beiträgt, Wünsche und Ziele verwirklichen zu können. Was Noel wohl passiert war? Gleichzeitig spürte Anna aber auch ein großes Bedauern, denn sie hasste es, ein Musikstück nicht vollständig gehört zu haben. Und dazu noch solch ein Stück, das so anders war als alle Musikstücke, die sie bisher gehört hatte – so gefühlvoll und perfekt, so rein und klar! Es wäre eine furchtbare Vorstellung für sie, wenn es tatsächlich kein Ende für dieses Stück geben würde!

»Hallo, Anna! Bist du noch da?« Ling wedelte ungeduldig mit der Hand vor Annas Gesicht herum.

»Sorry, ich war in Gedanken. Was hast du gefragt?«

»Okay, ich hab’s verstanden, du antwortest absichtlich nicht auf meine Frage. Ein bescheidenes Wunderkind also. Da bin ich ja mal gespannt, was ich so von dir zu hören bekomme. Dann hast du mit Sicherheit auch ein Stipendium erhalten, oder?«

Anna nickte nur. Dass sie gleich drei bekommen hatte, wollte sie ungern zugeben. Nach dieser miserablen Englischstunde und ihrem kläglichen Geschichts- und Theoriewissen stand ihr, ihrer Meinung nach, nicht ein einziges davon zu. Sie beherrschte ihr Klavierspiel – sonst nichts.

»Ich fasse es nicht – meine Mitbewohnerin ist das zweite Wunderkind! Wie genial ist das denn? Du weißt aber schon, dass du hier gerade das Gesprächsthema Nummer eins bist? Obwohl, die einen halten dich sowieso nur für ein Gerücht der Lehrer, um den Ruf der Uni aufrechtzuerhalten, da dieser Johnson ja nichts mehr bringt. Und die anderen … die halten dich für einen zweiten Mozart oder so. Und wenn ich mir vorstelle, was für Augen die blonde Strebertussi machen würde, wenn sie wüsste, wer du bist …!«

»Halt, Ling! Erstens: Ich bin kein Wunderkind – PUNKT. Ich spiele Klavier, sonst nichts! Und egal, welche Gerüchte hier rumgehen, ich will definitiv nicht mit ihnen in Verbindung gebracht werden, okay?«

»Schon gut, schon gut.« Ling hob beschwichtigend ihre Hände. »Ich habe es verstanden. Von mir erfährt niemand, wer du bist.«

Anna rollte genervt mit den Augen. »Ich bin KEIN W…«

»Kein Wunderkind, schon klar«, beendete Ling Annas Satz. »Sollen wir jetzt mal los, den nächsten Unterrichtsraum suchen? Immerhin wären wir dann diesmal nicht zu spät.«

Dankbar über den Themenwechsel setzte Anna sich auf eine der Bänke und holte Schloss- und Stundenplan heraus.

»Musikgeschichte, Vorlesungssaal Nummer zwei«, erklärte Ling, nachdem sie beide Pläne ausgiebig studiert hatten. »Herrje, das fängt ja wirklich super an. Na gut, zweiter Stock, Westflügel, das ist der hier, oder?«

Mit dem Schlossplan in den Händen irrten die beiden aufs Neue durch die Universität.

4. Kapitel

»Tadaa, wir werden immer besser!« Ling sah Anna strahlend an. »Wir haben uns nur einmal verlaufen, um die Mensa zu finden! Ich finde, wir können stolz auf uns sein!«

Anna schüttelte lachend den Kopf und sah sich selbst in zwei Jahren noch durch die verzweigten Flure irren. Dieses Schloss mit seinen verwinkelten Gängen und gleich aussehenden Wendeltreppen war aber auch wirklich unübersichtlich!

Annas Blick wanderte durch den Speisesaal, an den am gegenüberliegenden Ende eine offene Küche angrenzte. Ihr gefiel die Mensa auf Anhieb. Vier verschiedene Bereiche boten unterschiedliche Speisen an. Die Studenten konnten auswählen, ob sie einfache Kost, vegane Gerichte, Bio-Kost oder exquisite Speisen eines Sternekochs essen wollten. Im Essbereich des Saals standen Vierertische, die mit dezent farbigen Tischdecken und Blumengestecken eingedeckt waren. Nicht wie in Annas ehemaliger Schulkantine, in der ewig lange Tischketten für ein riesiges Chaos gesorgt hatten. Das hier glich eher einem noblen Restaurant.

Einige Studenten saßen an einer großen Fensterfront auf gemütlichen Sofas, während sie ihren Cappuccino schlürften oder Gebäckteilchen aßen, die am Buffet angeboten wurden.

»Also, wenn ich euch so ansehe – tut mir leid, wenn ich das so direkt sage – aber ich denke, ihr solltet lieber ein Fast-Food-Restaurant aufsuchen. Ich weiß nicht, ob ihr euch die ›einfachen Speisen‹ hier leisten könnt.«

Noch bevor Anna richtig realisiert hatte, wer da vor ihnen stand, hatte Ling sich bereits ihre Brille zurechtgerückt und zu einen Gegenschlag gegen die blonde Streberin aus der Englischstunde angesetzt.

»Tja, es gibt eben Schüler, die einfach begabt sind, und andere, die sich diesen Status erkaufen müssen. Übrigens, nettes Kostüm! Falls du es nicht mehr brauchst, würde ich gerne meine Oma fragen, ob sie es möchte.«

Anna biss sich auf die Lippen, um nicht laut loszulachen, denn der entsetzte Blick ihres Gegenübers war zu köstlich! Vor allem wunderte sie, dass man trotz der Ladung Make-up noch sah, wie sich das Gesicht allmählich dunkelrot färbte.

»Das hier ist ein original Armani! Aber von Mode scheinst du ja keine Ahnung zu haben, wenn man dich so ansieht … Gott! Eigentlich schon beschämend, wen diese Universität mittlerweile alles aufnimmt.« Mit diesen verächtlichen Worten drehte sie sich um und stolzierte in ihrem Armani-Kostüm davon, natürlich zu dem Stand, an dem heute Surf and Turf und Tagliatelle mit Trüffelsoße angeboten wurde.

Kurioserweise hatte sie mit ihrer schnippischen Bemerkung auf Lings Klamotten abgezielt. Hätte sie von Anna gesprochen, entspräche es sogar der Wahrheit – sie hatte tatsächlich noch nie einen echten Armani gesehen. Und ihre Kleidung hatte schon einige Jahre auf dem Buckel. Markenkleidung kannte Anna, wenn überhaupt, nur von anderen.

»Ich hasse sie jetzt schon!«, zischte Ling und starrte der Blondine wütend hinterher. »Ich habe tausend Ideen, was ich mit diesem original Armani alles anstellen könnte! Und dann diese piepsige Barbie-Stimme. ›Das ist ein original Armani!!‹ Wen interessiert’s?«

»Hey, beruhig dich! Die ist es nicht wert, sich aufzuregen. Und, na ja – es kann sein, dass ich mir das Essen hier wirklich nicht leisten kann. Zumindest nicht jeden Tag. Sechs Euro neunzig für ein Mittagessen sind nicht gerade wenig für mich.«

»Aber dir ist schon klar, dass du das Geld vom Stipendium auch für dein Studium ausgeben darfst? Oder reicht es nur für die Studiengebühren?«

Anna verzog ihr Gesicht. »Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung. So genau habe ich mir die Unterlagen noch gar nicht angesehen. Allerdings weiß ich, was diese Universität an Studiengebühren verlangt – ohne Unterkunft. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dann noch etwas übrig bleibt.«

»Ist ja egal. Auch wenn ich nicht so aussehe, meine Eltern haben mir genug Geld zur Verfügung gestellt. Wenn du also Lust auf Hummer und Co hast, ich lade dich ein. Mir selber sind die Spaghetti lieber.«

»Mir auch. Danke, Ling. Und ich verspreche dir, ich gehe heute Abend gleich noch mal die Stipendien-Unterlagen durch.«

Ling winkte ab und stellte sich mit dem Rücken zur Essensausgabe mit der einfachen Kost in die Schlange. Sie zupfte mit den Fingern an ihren Haaren, wie Anna es schon oft an diesem Tag bei ihr beobachtet hatte, und betrachtete die Studenten um sie herum.

Plötzlich hielt sie inne und deutete mit vielsagendem Blick in eine Richtung. »Da drüben sitzt er übrigens – unser Wunderkind. Sieht ja schon niedlich aus, findest du nicht?«

Anna folgte Lings Fingerzeig. Und tatsächlich, am anderen Ende der Mensa saß wirklich der gleiche Kerl, der sie damals auf dem Klavier so verzaubert hatte. Doch seine wilden, ungekämmten dunkelblonden Haare, die zerrissene Jeans und die Lederjacke wirkten auf sie weniger niedlich. Schon von Weitem glaubte sie, seine Niedergeschlagenheit zu erkennen, wie er da mit zusammengesunkenen Schultern lustlos in seinem Essen stocherte. Und wieder fragte sie sich, was ihm nur Schlimmes widerfahren war. Sie beobachtete seine langen Finger und sah im Geist, wie genau diese Finger über die Tasten des Flügels geschwebt waren, auf eine ihr bis dato unbekannte Weise. Sie hörte jeden einzelnen Ton im Innern ihres Herzens.

»Hallo! Anna!« Ling wedelte wild mit den Händen vor Annas Gesicht herum. »Bist du noch da? Schon seltsam. Das ist jetzt bereits das zweite Mal, dass du völlig aus der Fassung gerätst, wenn ich dich auf diesen Typen aufmerksam mache. So sexy ist er nun auch wieder nicht!«

»Was? Nein! Ich habe …«, wollte Anna sich gerade verteidigen, als ein Mädchen, das vor ihnen an der Essensausgabe stand, sich umdrehte und weit die Augen aufriss.

»Sprecht ihr von Noel Johnson? Der ist MEGAsexy! Hallo! Wer das nicht sieht, braucht eine Bril… Oh …« Das Mädchen starrte auf Lings nicht gerade unauffällige Brille. »Tja, also dann – vielleicht stehst du nicht auf Männer? Dann hätte ich eine Konkurrentin weniger. Ich heiße übrigens Josy. Josephine, um genau zu sein, aber ich hasse diesen Namen.«

Ihre großen grünen Augen richteten sich theatralisch schmachtend auf Noel Johnsons Tisch und Anna streckte ihr amüsiert die Hand entgegen. »Ich bin Anna, und das hier ist meine lesbische Freundin Ling.«

Ling riss empört die Augen auf. »Ich bin NICHT lesbisch, damit wir das gleich geklärt hätten! Ich stehe nur nicht so auf emotional verkorkste Wunderkinder.«

Emotional verkorkste Wunderkinder … Wenn Ling nur wüsste, wie emotional verkorkst ihre neue Mitbewohnerin war, die sie doch so vehement als Wunderkind bezeichnete.

»Dann bist du eine der wenigen Mädels hier, die sich nicht erhoffen, das Leuchten in ihm wieder zu entfachen.« Josy faltete die Hände ineinander und klimperte übertrieben mit ihren Wimpern, sodass Anna immer wieder das leuchtende Grün ihrer Iriden erkennen konnte. »Man stelle sich nur vor, er würde nur für dich persönlich ein Musikstück komponieren und spielen. Er – Noel Johnson, der international bekannte Pianist aus Luisenburg. Aber du bist auf meiner Seite, Anna, stimmt’s? Das sehe ich an deinem Blick. Du himmelst ihn genauso an wie ich.« Josy wackelte grinsend mit den Augenbrauen, während sie Anna in die Seite kniff.

»Was? Ich? Nein!« Anna atmete tief durch, verärgert über ihre roten Wangen, und hoffte, dass die Portion Spaghetti, die Josy im selben Augenblick entgegennahm, zu einem Themenwechsel führen würde. Denn ja, sie hatte tatsächlich wieder an sein Klavierspiel gedacht und ihn angehimmelt. Das leise Kichern von Ling ignorierte sie.

»Wo sitzt ihr?«, wollte Josy wissen. »Sollen wir den Tisch da drüben am Fenster nehmen? Ich darf mich doch zu euch setzen, oder?«

***

»Also, Anna, wir waren beim Thema Noel stehen geblieben …«

Verdammt! Anna schob sich demonstrativ langsam eine riesige Gabel mit Nudeln in den Mund und versuchte Josy unschuldig anzusehen.

»Ja, deine lesbische Freundin möchte auch gern mehr darüber erfahren«, grinste Ling sie spöttisch an. Das war ihre Rache für Annas freches Mundwerk.

»O Gott! Ich gebe es ja zu!« Anna gab sich seufzend geschlagen. »Ich habe ihn damals bei meinem Vorstellungstest spielen gehört, und ja, ich habe mich in seine Musik verliebt. Ich habe so eine Komposition noch nie zuvor gehört, das war so inspirierend! Er war irgendwie eine Art Ansporn für mich, auf musikalischer Ebene, versteht ihr?«

Ling und Josy sahen sich amüsiert an. »Rein musikalisch, na klar. Und du meinst nicht sein ganzes Auftreten, sein Aussehen und diese Ausstrahlung …«

Anna stöhnte genervt. »O Mann, Josy! Erstens: Ich sehe ihn gerade zum zweiten Mal und habe bis jetzt nie mehr als seinen Hinterkopf und seine Hände gesehen, daher kann ich sein Aussehen wirklich nicht beurteilen. Zweitens: Ausstrahlung? Er kauert über seinem Essen und scheint in einer anderen Welt versunken zu sein. Was soll da denn bitte strahlen? Ich habe erst heute Morgen von Ling erfahren, wie er heißt. Also nein, in allen Punkten nein!«

Josy zuckte mit den Schultern, unbeeindruckt davon, dass Anna sich gerade gerechtfertigt hatte, als würde ihr Leben davon abhängen. »Okay. Hey, anderes Thema: Angeblich soll Luisenburg dieses Jahr ein neues Wunderkind aufgenommen haben. Wisst ihr da mehr? Stimmt das? Und wenn ja – wer ist es und was spielt er?«

»Er?« Ling hob amüsiert die Augenbrauen, doch Anna holte aus und trat so kräftig wie möglich gegen Lings Schienbein, um sie an ihr Versprechen zu erinnern. Ling ließ sich bis auf ein leises Stöhnen nichts anmerken.

»Es ist eine Frau? Wer? Die blonde Tussi in dem Versace-Anzug?«

»Das ist ein echter Armani! Banause!«, erklärte Ling im Originalton der Streberin und Anna brach in schallendes Gelächter aus.