Nothing breaks - Runa Norrn - E-Book

Nothing breaks E-Book

Runa Norrn

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Beschreibung

Sie war ein Stein. Steine fühlten nichts. Als Casper nach seinem Abschluss wegzieht, verliert Skylar den einzigen Halt. Zehn Jahre später treffen sie zufällig aufeinander, doch das Leben hat Spuren hinterlassen. Sky trägt die Narben der Vergangenheit auf ihrer Haut und betäubt ihre Gefühle im Meer. Casper ist als Newcomer ausgebrannt und führt eine zerrüttete Beziehung, die ihm die letzte Energie raubt. Das Wiedersehen sorgt für Aufruhr. Casper stellt sich infrage und Skylar kann die Gefühle nicht mehr händeln. Zwischen ihnen das verzehrende Wollen und das tiefe Nichtkönnen. Was passiert, wenn das Aufflammen einer alten Freundschaft zu einem Brennen wird? Was geschieht, wenn man etwas findet, das man nicht gesucht hat, aber braucht? Und was, wenn Steine brechen können? Skylar & Casper Zwei unterschiedliche Leben. Eine Liebe, die man nie vergisst.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Skylar – Wind

Casper – ausgebrannt

Skylar - Ungewiss

Casper – Beziehung

Skylar - Abschied

Skylar – Geister

Casper – Vergangenheit

Skylar – Momente

Casper – Leben

Skylar – Narben

Casper – Alles auf Anfang

Skylar – Wellen

Casper – Gegen einsam

Skylar – 24h

Casper – Geben

Skylar – Kontrolle

Casper – Zerrissen

Skylar – Geirrt

Casper – Vergessen

Skylar – Sturm

Casper – Rückkehr

Skylar – Warten

Runa Norrn

Nothing breaks

 

zwischen Sturmgrau und Meer

 

 

Die Autorin:

 

Runa Norrn, 1994 in Berlin geboren, lebt nach Irrungen und Wirrungen heute im beschaulichen Nordfriesland.

 

2013 fasste sie den Entschluss, ihre Charaktere zum Leben zu erwecken und die ersten Veröffentlichungen erfolgten. Kurzgeschichten in Anthologien, später Romane verschiedenster Stilrichtungen im Selbstverlag.

 

Nach einer tiefen Blockade, in der sie sich aus dem Schreibuniversum zurückzog und sich ihrem beruflichen sowie privaten Umfeld widmete, begannen sich wieder Stories zu entwickeln und schrien nach einem Buch.

 

2024 wechselt sie das Genre mit einem neuen Pseudonym.

 

Ihr Debüt:

Nothing breaks – Zwischen Sturmgrau und Meer

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum:

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

 

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß §44b UrhG (Text und Data Mining*) zu gewinnen, ist untersagt.

 

© 2024 Runa Norrn

Lektorat: L.F.L.

Coverdesign: T.S.Nightsoul

Bildmaterial: depositphotos.de

[email protected]

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich.

Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig.

Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: Tracy Lüttenberg, Holländerdeich 18, 25899 Dagebüll, Germany.

Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung:

[email protected]

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für dich, weil du mich fühlen lässt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Prolog

 

Etwas traf Skylar am Hinterkopf. Sie hielt im Schreiben inne, legte den Stift beiseite und betastete zögerlich ihr Haar.

Was zum …? An ihren Fingerspitzen klebte eine feuchte, bräunliche Creme. Sie verzog das Gesicht und versuchte, unauffällig daran zu schnuppern. Es war Pudding. In diesem Moment ertönte Gelächter hinter ihr. Es baute sich auf, bis es den gesamten Raum füllte und in ihren Ohren dröhnte.

Ihr wurde heiß. Wut und Scham krochen ihren Hals hinauf, sie presste die Lippen fest zusammen. Kein Tag wurde langweilig.

«Wow, wie lustig!», stieß sie aus und warf ihren Mitschülern einen wütenden Blick über die Schulter zu. Einige Mädchen kicherten hinter vorgehaltener Hand, andere starrten sie selbstzufrieden an. Das Schlimmste von ihnen saß in der Mitte, mit einem Löffel und einem Becher in den Händen. Anna zog einen Schmollmund und schaute sie auffallend betroffen an.

«Habe ich dich erwischt? Das tut mir leid.»

Alles, was Skylar in diesem Moment durch den Kopf ging, schluckte sie mühsam hinunter. Sie wollte nicht ausrasten, ihnen keine Genugtuung geben. Skylar war stark. Innerlich war sie ein Stein. Steine fühlten nichts.

Stoisch stand sie auf. Der Pudding platschte von ihrem Hinterkopf hinunter in den Nacken. Sie musste raus aus diesem Klassenzimmer, raus aus dieser Hölle. Mit krampfhafter Ruhe erreichte sie die Tür.

Als diese sich hinter ihr schloss und sie ein paar Schritte den Schulflur entlanggelaufen war, erlaubte sie sich, zittrig einzuatmen. Das Gelächter echote gedämpft durch den leeren Gang und trieb sie dazu, zu verschwinden. Hastig stieß sie die Tür zu den Toiletten auf.

Sie mied den Blick in den Spiegel, zog wahllos Papiertücher aus dem Spender und wischte sich den Pudding aus dem Nacken. Ihre Handgriffe waren fahrig, sodass sie ihn verschmierte. Es war hoffnungslos, ihn aus dem Haar zu kriegen.

Binnen weniger Sekunden fasste sie einen Entschluss, beugte sich über das Becken und wusch sich mit eisigem Wasser den Kopf. Die Kälte betäubte den Schmerz, der in ihr weilte. Sie kniff die Augen zusammen. Sie war stark …

Mühsam schaffte es Skylar, die Enge in ihrem Hals zu ignorieren und sich auf die Schadensbegrenzung zu konzentrieren. Um ihr Haar halbwegs zu trocknen, zog sie ihren Pullover aus und wickelte es darin ein. Die letzten Stunden würde sie im T-Shirt überbrücken. Sie wäre gern nach Hause gegangen, doch mittlerweile hatte sie genügend Fehltage angesammelt, um die Versetzung zu gefährden. Ein Jahr zu wiederholen wäre der absolute Worstcase. Sie brauchte endlich ihren verdammten Abschluss, um zu fliehen.

Nachdem sie ein paar Minuten später die Toilette verließ, war der Pulli achtlos um ihre Mitte gebunden und das Haar mit den Fingern entwirrt.

Skylar wollte nicht zurück. Die restliche Freistunde würde sie außerhalb der Klasse verbringen, sodass sie den Weg zur Aula einschlug.

Diese war ihre Zuflucht. Im letzten Jahr hatte sie sich häufiger dort als im Klassenraum aufgehalten. Zumindest hatte sie den Eindruck. Am liebsten saß sie auf dem Rand der Bühne, weil sie von da aus alles überblicken konnte. Damit lief sie keine Gefahr, von irgendwem überrascht zu werden.

Doch sie war nicht allein. Casper saß auf ihrem Lieblingsplatz, ein Schüler der zwei Jahrgangsstufen über ihr war. Er trug schwarze Kleidung, hatte sich eine metallische Kette an der rechten Seite befestigt, die schlangenähnlich auf dem Bühnenboden ruhte. Er hatte graue Augen und tiefdunkles Haar. Letzteres versteckte er fast immer unter einer Mütze.

In der Hand hielt er einen Stapel Papier und konzentrierte sich darauf. Vielleicht waren es neue Songtexte. Caspar spielte Klavier und Gitarre, war Frontsänger in der Schulband. Jeder himmelte ihn an.

Skylar mochte ihn, weil er der Einzige war, der sie vernünftig behandelte. Sie hatten sich von Zeit zu Zeit immer zufällig in den stillen Ecken der Schule getroffen, manchmal geredet, oft gemeinsam geschwiegen. Es hatte gepasst, von Anfang an. Weil sie sich in seiner Nähe wie ein Mensch und nicht wie ein widerwärtiges Wesen vorkam.

Ihr imponierte, wie er sich um seine Angelegenheiten kümmerte. Fokussiert, zielstrebig, leidenschaftlich. Er wirkte unbeirrbar.

Casper schaute auf, während sie sich näherte. Musternd glitt sein Blick über sie hinweg. Skylar nestelte an ihren Händen.

«Hey», begrüßte sie ihn.

«Hey.» Seine Stimme war warm und tief, besaß eine elektrisierende Wirkung, die direkt unter die Haut fuhr. Sie mochte seine Anwesenheit, zeitgleich wummerte ihr Herz ein bisschen mehr.

Wieder musterte Casper sie von oben bis unten, als könne er nicht verstehen, was er sah. Für einen Moment verweilte sein Blick auf ihrem Oberkörper.

Hatte sie dort …? Nein, ihr T-Shirt war nass durch die Haare.

«Du bist feucht», stellte er nüchtern fest und fixierte sie. Es gab Angelegenheiten, über die sie nie gesprochen hatten. Casper wusste, dass sie ein paar Probleme mit ihren Klassenkameraden hatte, nicht, wie weitreichend diese waren. Beschämt trat sie auf der Stelle. Der Drang zu flüchten kehrte zurück.

«Willst du drüber reden?», hakte er nach, in seiner Stimme vermeinte sie, eine Spur Sorge herauszuhören. Entschieden schüttelte sie den Kopf. Skylar würde es nicht ertragen, wenn er sie mit anderen Augen sah. Zudem konnte Mitleid ihr wahrlich gestohlen bleiben.

«Okay.» Caspar nickte, presste kurz die Lippen aufeinander. Er legte die Papiere zur Seite und sprang mit Leichtigkeit vom Bühnenrand. «Aber ich möchte nicht, dass du dir was wegholst. Hier.»

Direkt vor ihr zog er seine Sweatjacke aus. Sein Duft wehte durch den Luftzug der Bewegung zu ihr herüber. Er roch nach frischer Seife und dezentem Parfüm. Der Stoff war herrlich warm. Erst jetzt wurde Skylar bewusst, dass sie fror.

«Danke», brachte sie abgewürgt hervor. Das war die netteste Geste, die je einer für sie getan hatte. Casper wich nicht zurück. Sie musste den Kopf leicht in den Nacken legen, um den Blickkontakt zu halten. Obwohl sie nicht wusste, woher diese Empfindung kam, war sie nervös. Caspar starrte sie an, als würde er sie zum ersten Mal sehen. Seine grauen Augen wirkten wie ein aufziehender Sturm.

«Skylar …»

«Ja?», flüsterte sie.

«Ich …» Er brach ab, vermied, das zu sagen, was ihm auf der Zunge lag. Schließlich setzte er erneut an: «Möchtest du mir Gesellschaft leisten?»

Sie hatte das Gefühl, dass ihr irgendetwas Wichtiges vorenthalten wurde, dennoch nickte sie.

«Die nächste Unterrichtsstunde beginnt erst in zwanzig Minuten. So lange könnte ich bleiben.»

«Gut.» Casper lächelte sie an. «Ich habe hier ein paar neue Texte und würde gerne wissen, was du davon hältst.»

Skylar nahm die Zettel entgegen. Sie las die melodisch klingenden Zeilen, die von Sehnsucht und fernem Leben sprachen. Unweigerlich stieg ein leichtes Brennen in ihr auf, das den Höhepunkt in ihren Augen fand. Skylar blinzelte, ihre Kehle war eng.

Das, was Casper beschrieb, fühlte sie. Empfand es so sehr, dass ihr die Luft wegblieb. Traurigschön war der Gedanke, dass sich irgendwann alles ändern würde.

«Perfekt», flüsterte sie, nachdem sie den Text drei Mal gelesen hatte. Es gab nicht das Mindeste zu verbessern.

«Danke für das Lob. Aber nichts kann jemals perfekt sein.»

Caspers Blick ruhte auf ihr. Skylar spürte ihn auf ihrer Haut, einer sanften Berührung gleich. Für einen kleinen, bedeutungsvollen Moment verlor sie sich in dem Sturmgrau seiner Augen.

«Manche Dinge schon», meinte sie leise, überzeugt von dem, was sie sagte.

Skylar – Wind

10 Jahre später

 

Skylar stand auf der Deichkrone. Sie merkte den Wind auf ihrem Gesicht, kalt und salzig. Er zerrte erbarmungslos an ihrer Kleidung. Graue, tosende Wellen bäumten sich in der stürmischen See, rollten zum Ufer, brachen donnernd.

Die Betonrampe für Badegäste wurde beidseits überspült, die sich begegnenden Wogen brachten kreuzartige Strömungen hervor. Ein paar Stränge Blasentang blieben auf dem Asphalt liegen, neben Krebspanzern und Schaumkronen. In der Ferne kreischten Möwen.

Skylar spürte der Luft nach, die ihre Lunge füllte, ihr Freiheit in die Adern flößte. Entschlossen setzte sie sich in Bewegung, hinunter zum Fuß des Deiches, wo sie ihre Kleidung auf dem Gras ablegte.

Es war frisch. Die ersten Frühlingstage hatten wenig Wärme gebracht, die Nordsee hielt die niedrigen Temperaturen. Sie hatte nach Vorhersage sechs Grad. Skylar lächelte. Bestes Badewetter!

Sie ging die Rampe hinab. Als das Wasser ihre nackten Füße erreichte, verschlug es ihr für einen Moment den Atem. Die Kälte war ein Brennen, das ihre Beine hinaufzog. Es gab kein Zurück.

Ein Stück weiter, noch eines. Die erste Welle brach sich an ihren Knien, ließ sie kurz taumeln. Bei der Nächsten wurde ihr Rumpf umspült. Beinahe wurde sie von den Füßen gerissen. Sie passte ihre Atmung den Wogen an. Wenn eine kam, atmete sie ein, hielt den eisigen Temperaturen stand. Kam das Abebben, stieß sie die Luft aus.

Als der Beton unter ihren Sohlen von Watt abgelöst wurde, wusste sie, dass sie tief genug war. Die nächste Welle würde sie nehmen. Diese kam, schäumend, gewaltvoll, verschlang Skylar gänzlich, als sie abtauchte und in dem Sog der Strömung verschwand.

Das Wasser riss an ihr, von allen Seiten. Sie spürte den Unterstrom, der sie tiefer ins Meer zog. Kraftvoll stieß sie sich vom Boden ab und tauchte mit einem lauten Prusten wieder auf.

Sie hatte kaum Zeit zum Atmen, bevor die nächste Welle ihr ins Gesicht schlug und sie niederrang. Unter Wasser setzte Skylar zum Schwimmen an. Harte Arm- und Beinschläge ließen sie angestrengt die ersten Meter überbrücken. Ihre Gedanken waren verstummt.

Es gab nur das Meer um sie herum, die Kälte, die sie vollständig vereinnahmte, die Ströme, die ihr die Kraft raubten. Nach dem erneuten Auftauchen visierte sie die im Wasser stehenden Pfähle. Bis dort würde sie schwimmen.

Der Wellengang war stark, sodass sie die Distanz nur einmal schaffte. Mittlerweile besaß sie ein Gespür dafür, welche Entfernungen zu bewältigen waren und welche sie besser sein ließ. Im schlimmsten Fall würde sie an Land gespült werden.

Sky nutzte die Wucht der türmenden Wellen, um nach vorne zu kommen, bündelte all ihre Kräfte, um den Rückweg zu schaffen. Meter um Meter zog sie sich durchs Wasser. Kurze Zeit später erreichte sie eine Höhe, in der sie Boden unter den Füßen hatte und watete die restliche Strecke. Mit der nächsten auslaufenden Welle ging sie aus dem Meer. Keuchend legte sie sich in sicherer Entfernung auf die Rampe. Skylar nahm die Kälte nicht mehr wahr, ihre Glieder waren steif, ihr Herzschlag schnell.

Salz brannte in ihren Augen und klebte auf der Haut. Der Himmel über ihr war wolkenverhangen, stürmisches Grau mischte sich mit Weißtönen. Sie konnte den flauschigen Gebilden beim Weiterziehen zusehen.

Während Skylar Atem ringend auf dem Asphalt lag, war ihr Innerstes verstummt. Nur das ungestüme Meer konnte ihr die Empfindungen nehmen. Sie schloss die Augen.

Fast jeden Tag war das ihr Ventil, wenn ihr alles zu viel wurde, sie ausbrechen musste. Sie testete ihre Grenzen, lotete aus, wie weit sie gehen konnte, ohne zu verlieren. Und wenn es doch passierte – sie wäre angekommen. Zuhause im Meer.

«Hallo, hallo? Ist alles in Ordnung bei Ihnen?»

Eine ferne Stimme brachte Skylar dazu, den Kopf zu heben. Es wäre nicht das erste Mal, dass jemand sie für angespült hielt.

Außer ihr war niemand so verrückt, zu dieser Jahreszeit zu schwimmen. Dieses Mal schien es wieder ein Passant zu sein, der sich sorgte.

Beschwichtigend hob sie die Hand.

«Es ist alles in Ordnung», rief sie gegen das Tosen des Windes. Ein älterer Mann starrte sie skeptisch an.

«Ich war schwimmen!» Sie lächelte. Ungläubig schüttelte der Fremde den Kopf. Sie erkannte, dass sich seine Lippen bewegten, verstand jedoch nicht, was er sagte. Er hielt sie sicherlich für wahnsinnig. Das wäre nichts Neues.

Steif stand Skylar auf. Auf der Wiese trocknete sie sich ab und schlüpfte in frische Kleidung. Allmählich spürte sie, wie ihr Körper die ausgekühlte Haut wärmen wollte, nahm das Kribbeln in ihren fast tauben Gliedern wahr.

Sie stülpte die Kapuze ihrer Jacke über, bevor sie mit den nassen Klamotten in den Händen den Rückweg antrat.

 

-

 

Im Geschäft Meeresbrise roch es herrlich nach frischer Seife. Sämtliche Düfte vermischten sich zu einem Potpourri, das manchem zu Kopf gestiegen wäre.

Für Skylar war die Seifenmanufaktur Geborgenheit. Sie liebte die Gerüche, die verschiedenen Formen, Düfte und Farbmischungen der handgesiedeten Seifen. Jede Sorte hatte sie mit Herzblut erschaffen.

Vor fünf Jahren hatte sie die Meeresbrise in Dagebüll eröffnet. Durch die Fährverbindungen zu den nordfriesischen Inseln hatte sie einige Laufkundschaften, die auf dem Weg in den Urlaub meist das erste Souvenir mitnahmen.

«Warst du wieder schwimmen?»

Skylar zuckte zusammen. Sie hatte Tom nicht kommen gehört. Ihr einziger Mitarbeiter deutete aufs feuchte Haar.

«Ja.»

«Hat dir mal jemand gesagt, dass du verrückt bist?»

«Gelegentlich.» Skylar lächelte. Tom äußerte dies ständig, weil er nicht verstand, wie man so sonderbar sein konnte, um bei den schlimmsten Wetterlagen ins Wasser zu steigen.

Für Skylar war das typisch. Sie brauchte das Schwimmen wie die Luft zum Atmen. Das war ihre Art, die Vergangenheit zu verdrängen. Im Wasser war sie frei.

Dort war sie der Elementarkraft restlos ausgeliefert, war ein kleines, unbedeutendes Licht, das jederzeit erlöschen konnte, wenn die Stärke sie verließ.

«Ich hoffe, du hast dein Testament geschrieben», meinte er feixend, bevor er sich einem Regal widmete, dessen Layout er thematisch für Ostern anpasste.

Skylar veränderte regelmäßig das Dekor ihrer Auslagen, um die Neugierde potenzieller Kundschaft zu wecken. Begehrt waren vor allem die Naturseifen mit Schafmilch, die sie in ebensolchem Design anbot.

Während Tom das Layout veränderte, bediente sie die wenige Kundschaft und fertigte Entwürfe für neue Seifenmotive.

Sie war den Jahreszeiten immerzu voraus. Bald konnte sie mit der Produktion der Sommerseifen starten, um bei den ersten warmen Temperaturen frische, fruchtige Düfte anbieten zu können.

Gegen Siebzehnuhr schloss Sky das Geschäft. Draußen war es grau und feucht, der Himmel sah Unheil verkündend aus. Skylar mochte dieses Wetter am liebsten. Es gaukelte keine gute Laune vor. Das Sturmgrau war ehrlich, passte perfekt zu ihrem Gemüt.

Ihr Haar wehte ihr ins Gesicht, einzelne Strähnen klebten auf ihren Lippen. Skylar liebte das Gefühl vom Wind auf ihrer Haut.

Kurze Zeit später erreichte sie ihr kleines Reetdachhäuschen, das abseits von den anderen Häusern auf einer Warft lag. Das Grundstück war umrahmt von einem Staketenzaun.

Ein altes, hölzernes Gartentor versperrte Unbefugten den Zutritt, dahinter führte ein Weg aus Kopfsteinpflaster zum Hauseingang. Aus den Fugen wucherten vereinzelt Grashalme.

Neben der Haustür wuchs ein Rosenstrauch. Im Sommer blühten die Rosen in dem schönsten Dunkelrot. Jetzt ließ das Holz davon nichts erahnen. Es fristete ein kümmerliches Dasein in trostloser Umgebung.

Im Haus wurde Skylar von tiefster Dunkelheit begrüßt. Sie schaltete eine Wandleuchte ein, die mit einem Flammeneffekt warmes Licht spendete. Sie mochte keine hellen Lampen.

Die einzigen Ausnahmen bildeten die Leuchtmittel im Badezimmer und in der Küche. In allen anderen Räumen kam sie mit spärlicher Beleuchtung zurecht. Am liebsten hatte sie ohnehin Kerzenschein.

Mit einem frisch gebrühten Tee ließ Sky sich im Wohnzimmer auf dem Sofa nieder. Dieser Raum war mit einem Panoramafenster ausgestattet, wodurch sie über den Deich zur Nordsee schauen konnte. Im Dunkeln blickte sie hinaus auf das tosende Meer, das sich schemenhaft in Grauabstufungen und weißen Tupfen zeigte.

Seit ihrer Jugend gehörte sie nichts und niemandem an. Das Wasser hingegen vermittelte ihr Verbundenheit. Es hatte gedauert, sich diesem anzunähern, weil sie in ihrem früheren Leben keinen Zugang dazu besessen hatte. Aber seit sie im Norden lebte, verging kaum ein Tag, an dem sie nicht schwamm.

Mittlerweile war ihr Dasein okay. Sie liebte, was sie hatte und was sie tat, war angekommen in ihrer Wahlheimat. Der Weg bis dahin war holprig gewesen. Doch wenn sie hinausschaute und das Meer sah, war es egal. Dann verblasste die Vergangenheit wieder um einen Tag. Und so würde sie weitermachen, bis von den Erinnerungen nichts mehr übrigblieb.

Casper – ausgebrannt

 

Das Licht der Scheinwerfer ließ ihn schwitzen. Er saß auf dem Hocker vor dem Klavier, das Mikrofon unmittelbar an seinen Lippen. Seine Hände verweilten über den Tasten. Die Aufregung pulsierte in seinen Adern.

Casper, für die Öffentlichkeit CAS, erkannte das Publikum aus seiner Position nicht. Er war geblendet und schaute in ein verschwommenes schwarzes Meer, in dem er minimal ein paar Umrisse von Köpfen ausmachen konnte.

«Hallo liebe Leute, hallo Hamburg», raunte er ins Mikrofon. Lauter Jubel erklang, Pfiffe und unverständliche Rufe erschallten.

«So ungeduldig», kommentierte er die Reaktion und lachte leise. «Bevor ich beginne, muss ich noch loswerden, dass ich euch zu Dank verpflichtet bin. Es ist mein letztes Konzert dieser Tour und es ist restlos ausverkauft. Ihr seid klasse!»

Die Menge flippte aus. Während der Jubel aufbrandete, wie eine ungestüme Welle auf ihn zuraste, nutzte Casper das Hoch und spielte die ersten Akkorde von Niemals genug.

«Viel Spaß Hamburg. Habt einen genau so geilen Abend wie ich», tönte er und verfiel dabei in den ersten Gesang. Niemals genug, haben deine Augen gesagt …

Als der Song endete, war die Menge still. Casper konnte die Erwartung beinahe greifen. Er nutzte diese Spannung, um den nächsten Titel anzuspielen.

Es war ein Lied über ihn selbst, der davon handelte, sich zu finden. Was vergeblich versucht wurde, immer wieder misslang.

Die Melodie war melancholisch, sprach aus seinem Herzen, offenbarte alles über sein derzeitiges Seelenleben.

Casper sah Gedanken verloren auf die Klaviatur, ging mit dem Körper bei jedem einzelnen Ton mit. Es war der einzige Song, der ihn berührte. Weil dieses Lied genau das ausdrückte, was er empfand.

Seit Wochen stand Casper neben sich. Er hatte die Leidenschaft für das verloren, was er einst geliebt hatte, war völlig ausgebrannt, als gäbe es nichts mehr, was er in seinen Songs erzählen konnte.

Es wurde Zeit für einen Resett. Er hatte Angst, den Erwartungen seiner Fans nicht mehr gerecht zu werden und am allermeisten um sich. Casper lebte für seine Musik, doch die eigene war verklungen.

Bei jedem Konzert, das er in den letzten Wochen gespielt hatte, war dieser Song an zweiter Stelle gekommen. Casper musste ihn dort spielen, weil er mit den heiteren Titeln, die danach kamen, die Stimmung wieder hochreißen konnte. Er wollte die Leere nicht auf seine Fans übertragen. Darüber zu singen, war das Einzige, was blieb.

Wie zu erwarten war, nahm er das Anhalten des Atems seines Publikums wahr, die Trauer und die Zweifel, die seine ehrlichen Worte hinterlassen hatten. Die letzten Töne verklangen und die Menge war wie erstarrt.

«Atmen nicht vergessen», flüsterte er und warf einen Blick in das schwarze Meer. Er bildete sich ein, das seelische Luftschnappen zu hören. Blackout.

Casper stand vom Klavierhocker auf, gab seiner Crew ein Zeichen. Zügig wurde ein Standmikrofon aufgebaut und ihm die E-Gitarre gereicht. Er nickte, war so weit.

Ein Spotlight ließ ihn in hellstem Licht erstrahlen. Er bemerkte die Schwingungen in der Menge, die Bewegung, die in die Menschen kam. Seine Hände ruhten auf Griffbrett und Saiten, angespannt.

«Nachdem wir wieder alle zu uns gekommen sind, wird es Zeit, euch eine kleine Story zu erzählen. Was meint ihr?»

Bejahendes Rufen erklang. In gespielter Enttäuschung verzog er das Gesicht.

«Wie lahm war das denn?», beschwerte er sich. «Ich zähle von drei runter, dann versucht ihr es erneut, okay? Drei, zwei, eins!»

Dieses Mal war das Bejahen um Dezibel lauter. Zufrieden nickte er.

«Geht doch. Also: Wie ihr wisst, lebte ich ein paar Jahre in London. Für alle, die diese Stadt mögen – mein Beileid.» Amüsiertes Lachen erschallte. «Aber der Untergrund war cool. Dort habe ich eine ereignisreiche Bekanntschaft mit einem Punker gehabt. Ich will, dass ihr jetzt genauso rebellisch seid wie er. Rebell.»

Casper schlug die Saiten hart an. Eines seiner Rockstücke, auf das die Fans steil gingen. Die ersten Akkorde sorgten für wippende Menschen. Als die Lichter der Scheinwerfer über die Menge hinweg glitten und sie für wenige Sekunden erleuchtete, setzte er zur ersten Strophe an. Das war der Zeitpunkt, bei dem die Fans ausflippten.

Casper rockte mit seinem Publikum die Halle. Er sprang über die Bühne, spielte sich beinahe die Finger wund, versuchte alles an Energie zu übertragen. Schweiß rann ihm von der Stirn, durchfeuchtete sein Shirt.

Da er die Nummer einige Male gespielt hatte, rief er sie wie einen Film ab. Casper brauchte nicht zu überlegen, an welcher Stelle er sich reinhängen musste. Sein Hirn gab Anweisungen und er führte sie aus.

Der Abend verlief reibungslos. Er schaffte es, das Publikum zu begeistern, spielte die komplette Setlist. Am Ende gab es eine Zugabe, die die Fans mit Klatschen und Rufen begleiteten. Nach zwei Stunden Programm war Casper froh, als der letzte Blackout kam. Er überreichte sein Instrument einem Crewmitglied.

Durchgeschwitzt verschwand er in den Backstagebereich. In seiner Kabine nahm er ein Wasser und trank durstig die gesamte Flasche aus. Mit den feuchten Klamotten sank er aufs Sofa, die Beine von sich gestreckt.

Casper legte den Kopf in den Nacken. Sein Puls raste, die Musik klang in seinem Körper nach, die Vibration der Bässe, die Lautstärke der Sounds. Doch er empfand nichts außer Erschöpfung.

Früher war das anders gewesen. Da war reinstes Adrenalin in seinen Adern geflossen, hatte ihm ein Hochgefühl beschert, ihm suggeriert, angekommen zu sein. In den letzten Wochen war dieses Empfindung verschwunden. Das hatte Auswirkungen auf seine Beziehung zu Melanie, die zu etwas verkommen war, was ihn regelmäßig zweifeln ließ. Das Traurige daran war, Casper konnte keinen Grund benennen, der zu dieser Veränderung geführt hatte. Wie ein Schalter, der einfach umgelegt worden war. Casper fühlte sich restlos ausgebrannt. Vielleicht wurde es Zeit für eine Pause. Eine lange Auszeit, in der er sich nur auf sich selbst konzentrierte.

Ohne den Druck, Neues produzieren, anderen Menschen gerecht werden und Erwartungen erfüllen zu müssen. Insbesondere Letzteres hatte am wenigsten mit seiner Karriere zu tun.

Im vergangenen Jahr hatte er genug verdient. Er konnte sich diese Schaffenspause leisten. Da das Label von seinen Eltern abhängig war, brauchte er keine Konsequenzen zu fürchten. Ein Vorteil, wenn man aus einem Elternhaus kam, in dem Geld nie eine Rolle spielte.

Casper benötigte Luft zum Atmen. Fern ab von allem und jeden.

 

-

 

Einen Tag später, völlig übermüdet, durchsuchte Casper das Netz nach etwas Langweiligem. Abgeschiedenheit, Land, Wasser und am besten ein Ort, an dem ihn niemand kannte. Ein paar Atemzüge lang überlegte er, ob er ins Ausland reisen sollte.

Richtung Skandinavien hoch, in die Einsamkeit Norwegens oder Finnlands, aber letztlich war ihm das zu anstrengend.

Obwohl er fließend Englisch sprach, hatte er keinen Bedarf, sich in seiner Zweitsprache zu verständigen. Das hatte er jahrelang getan. Zudem wollte er sein Ziel ohne mehrtägige Anreise erreichen. In die Suchleiste des Browsers gab er die Stichworte: Urlaub, langweilig, Deutschland, ein. Zu seiner Belustigung wurde ihm Hamburg angezeigt.

Da er sich dort schon aufhielt, kam das weniger infrage. Außerdem war das nicht annähernd das, was er als Ziel suchte. Wo hatte man in der Stadt seine Ruhe?

Erst wenn Schafe keinen Locken mehr haben …

Eine Anzeige erregte seine Aufmerksamkeit. Kurzerhand klickte er auf den Link. Er wurde auf ein Buchungsportal weitergeleitet, in dem Bilder von diversen Reetdachhäusern angezeigt wurden.

Es gab ein paar Hotels. Da er oft auf solche angewiesen war, stand ihm wenig der Sinn danach. Also weitete er die Suche auf Pensionen und Ferienhäuser aus. Siehe da, er fand ein Angebot, das eine Unterkunft direkt an der Nordsee versprach, mit Ausblick auf das Meer. Neugierig klickte er auf die Karte. Nicht, dass es auch in Hamburg stand.

Nordfriesland. Dagebüll.

Vage hatte Casper mal davon gehört. Scheinbar lag dieses Ferienhaus im wahrsten Sinne direkt hinter dem Deich. Das fand er cool. In einem neuen Tab gab er die Gegend ein, durchsuchte Bilder und Weblinks.

Schafe, Wasser, Friesenmäntel.

Das schien perfekt. Entschleunigt, um zur Ruhe zu kommen und zeitgleich angebunden genug, um Tagestrips zu unternehmen. Ah ja, die Inseln waren auch erreichbar … Kurzerhand buchte Casper für fünf Wochen. Er konnte den Aufenthalt immer noch verkürzen, für den Moment wollte er einfach raus.

-

 

Von der Autobahn runter, zog sich die Bundesstraße wie Kaugummi. Aufgrund des Gegenverkehrs war das Überholen nicht möglich und durch eine Baustelle auf der Strecke, die sich über Kilometer zog, war er zur Geschwindigkeit verdammt, bei der er Blümchen hätte pflücken können. Vielleicht hätte er nicht kurz vor Mittag losfahren sollen. Dadurch geriet er überall in den Berufsverkehr.

Nachdem Casper von der Bundesstraße runtergeleitet wurde, atmete er auf. Plötzlich erstreckte sich eine Weite vor ihm, die er nicht für möglich gehalten hätte. Obwohl das Wetter mit Grauschattierungen glänzte, tat das der Landschaft keinen Abbruch. Das Raue, Ungestüme passte zum Norden, damit verband er die Gegend.

Hinter einem Deich im Landesinneren fuhr er rechts ran, um sich endlich die Beine zu vertreten.

Beharrlich kühler Wind wehte ihm ins Gesicht, zerrte seine offen getragene Sweatjacke auseinander. In der Luft lag der unverkennbare Duft von Meer und Salz. Weiße, riesige Windräder drehten unweit von ihm ihre Runden, von denen er das gleichmäßige Surren der Flügel vernahm. Möwen kämpften gegen die Böen an, segelten in den Luftströmen, ließen sich auf den Wiesen nieder.

Casper lehnte sich rücklings an das Auto. Diese Landschaft war traumhaft. Nach Wochen verspürte er das erste Mal etwas Freiheit.

Vor dem Auto lief er einige Meter auf und ab. Das Navi sagte die Ankunftszeit in unter einer Stunde voraus. Ihm gefiel dieses Fleckchen Land, sodass er überzeugt davon war, die richtige Wahl mit dem Urlaubsziel getroffen zu haben.

Auf der restlichen Strecke nahm er sich bewusst Zeit und entdeckte aus dem Auto heraus weitere Landschaftsmerkmale. Deiche, Speicherbecken, Vogelschwärme, grasende Schafe und plötzlich war er inmitten eines verschlafenen, kleinen Dorfes.

Die Promenade, durch die er gelotst wurde, fiel durch die Häuser auf, die im Schwedenstil gebaut worden waren. Mehrere Geschäfte reihten sich aneinander.

Er passierte einen größeren Platz und sah über die Straße hinweg, die durch den Deich führte, das stürmische Meer.

Aufregung erfasste ihn. Er wollte unbedingt ans Wasser und konnte es kaum erwarten, auszusteigen. Ein letztes Mal bog er ab. Endlich! Endlich hatte er das Ziel erreicht! Dreieinhalb Stunden Autofahrt reichten ihm.

Mit dem Koffer im Schlepptau legte Casper den schmalen Weg zum Eingang zurück. Aus einem Code gesicherten Kasten entnahm er den Haustürschlüssel. Im Ferienhaus empfing ihn Dunkelheit und abgestandene Luft, aber der Geruch war nicht unangenehm.

Er stellte den Koffer im Eingangsbereich ab, überprüfte mit einem kurzen Rundgang, ob alles in Ordnung war, schnappte sich eine wärmere Jacke und war direkt wieder draußen.

Unmittelbar hinter dem Haus führte ein öffentlicher Weg über den Deich. Der Wind war auf der Deichkrone bedeutend stärker als im Landesinneren. Casper zog den Reißverschluss bis unters Kinn.

Das graue Meer erstreckte sich vor ihm. In der Ferne machte er die Umrisse einer großen Insel aus, links von ihm führte ein langer Damm ins Wasser, auf dem Eisenbahnschienen verlegt waren. Ein Leuchtturm ragte knapp über dem Deich empor, schien nicht mehr in Betrieb zu sein. Rechts von ihm leitete die Wegführung Fußgänger zu einem Hotel und zum Fährhafen, in dem soeben ein großes Schiff beladen wurde.

Am Deich des Fußes war der Weg ebenfalls gepflastert, eine große, asphaltierte Rampe ragte von dort ins Wasser. Die Wellen brandeten auf, hinterließen einen Teppich aus Schaum.

Casper beschloss, den Weg rechtsherum zu laufen, um am Ende seines Spaziergangs wieder beim Ferienhaus anzukommen. Da es ordentlich pustig war, zog er die Kapuze über den Kopf. Seine Ohren waren empfindlich und er hatte wenig Lust, sich direkt am ersten Tag eine Erkältung aufzusacken.

Dennoch genoss er es, den Wind auf seinem Gesicht zu spüren, die Kälte, den feinen Sprühnebel vom Meer auf seiner Haut. Seine Gedanken wurden still. Er kannte das Gefühl der Leere, das ihm immer etwas unbehaglich war, doch nun vermischte es sich mit Zufriedenheit. Es war eine Wohltat, an nichts zu denken.

Casper passierte vier Flaggenmasten mit unterschiedlichen Fahnen, bevor er das Hotel erreichte und den Weg zum Fuß des Deiches nahm.

Ihn beeindruckte das wuchtige Donnern der Wellen, die Schaumkronen, das Sturmgrau des Wassers. Die Wellen brachen sich an den Steinen und zerstoben in einer Fontäne aus Spritzern.

Unweigerlich lächelte er.

An der Rampe angekommen, ging er hinunter. Damit das auflaufende Wasser nicht seine Schuhe erwischte, blieb er in sicherer Entfernung stehen. Mit der Handykamera schoss er einige Fotos, die er später seiner Mutter schicken würde. Minutenlang verweilte er dort, war wie hypnotisiert von dem Naturschauspiel. Erst als die Kälte merklich unter seine Jacke kroch, schlug er den Rückweg ein.

In Höhe des Ferienhauses schaute er sich ein letztes Mal um. In der Zwischenzeit hatte sich ein weiterer Spaziergänger an der Rampe eingefunden. Diese Person trug nur einen Badeanzug, es handelte sich um eine Frau. Aber Moment – Badeanzug?!

Fassungslos registrierte Casper, dass die Fremde in Richtung Wasser lief. Als würde ihr die Kälte nichts anhaben, watete sie die ersten Schritte ins Meer. Sie hielt inne, während sich einzelne Wellen an ihr brachen.

Völlig fasziniert beobachtete Casper, wie sich diese Frau ins Wasser stürzte. Inständig hoffte er, sie würde direkt wieder auftauchen. Oder hatte sie vor …?

Argwöhnisch sah er sich nach einem Rettungsring um. Sie beide wären hoffnungslos verloren. Sie durch die Naturkraft und er, weil er kaltes Wasser wie die Pest hasste und vermutlich direkt ertrinken würde.

Kurze Zeit später ragte ein Kopf aus der Wasseroberfläche. Die Frau kämpfte nicht wild rudernd um ihr Überleben, sodass Casper innerlich Entwarnung gab. Aber zur Hölle, welche Verrückte ging zu dieser Jahreszeit, bei diesem aufgewühlten Meer und bei diesen Temperaturen schwimmen?

Ihm fiel es schwer, einen rationalen Grund zu finden.

Casper beobachtete sie weiter. Obwohl er mittlerweile durchgefroren war, brachte er es nicht über sich, zu verschwinden. Für seinen inneren Frieden musste er mit eigenen Augen sehen, dass diese Person wieder aus dem Wasser stieg.

Sie brachte unglaublich viel Kraft auf, denn die Wellen und Strömungen waren rein optisch stark.

Während die Frau wieder für ein paar Sekunden untertauchte, hielt Casper angespannt die Luft an. Er versuchte sie in dem Grau auszumachen, irgendein Anzeichen zu finden, wo sie sich aufhielt. Sein Nacken kribbelte, sein Puls beschleunigte sich. Schließlich durchbrach sie erneut die Oberfläche. Erleichtert atmete er aus.

Glücklicherweise schien die Schwimmerin genug zu haben und näherte sich der Rampe. Als sie aus dem Wasser kam, wusste Casper, dass er gehen konnte. Diese Frau wollte sich nichts antun. Sie übte ihr Hobby oder ihre Leidenschaft aus. Völlig geflasht schlenderte er die letzten Meter zur Unterkunft.

Skylar - Ungewiss

10 Jahre zuvor

Skylar wischte sich mit dem Handrücken die Augen und verschmierte die Tränen auf den Wangen. Schniefend lief sie über den Pausenhof, rempelte andere Schüler an, brachte erstickte Entschuldigungen hervor.

Sie hasste es, so gesehen zu werden, weil es Genugtuung für die Menschen bedeutete, denen sie sie am allerwenigsten geben wollte.

Am Ende des Schulhofs gab es eine Böschung, in die Betonbänke eingelassen waren. Skylar stieg auf die Höchste, nahm Platz und drehte sich zur Seite, um ihr Gesicht zu verbergen. Sie machte sich klein, durfte den anderen keine Angriffsfläche mehr bieten.

Zu Beginn der Pause war sie von der coolen Clique abgefangen, bespuckt und getreten worden. Ein Fuß hatte sie schmerzhaft im Bauch getroffen. Sie hasste es, den Schikanen ausgeliefert zu sein. Kein Gespräche oder Schlichtungsversuche hatten etwas gebracht. Die Attacken waren schlimmer geworden.

Skylar schämte sich, nicht stark genug zu sein, um gegen ihre Klassenkameraden anzukommen. Es war kein ausgeglichenes Machtverhältnis. Das war unfair und aussichtslos. Sie wollte einfach ihren dämmlichen Abschluss. Wieso durfte sie nicht in Ruhe lernen?

Sie wusste, warum. Weil die gehörnten Ehefrauen erzählten, was ihre Mutter trieb. Gerüchte, die zu nah an der Wahrheit lagen, waren wie ein Lauffeuer. Unaufhaltsam. Sky stand mitten im Weg.

Wieder wischte sie sich über die Wangen, dieses Mal mit dem Ärmel ihres Pullis, der feucht von fremder Spucke war.

«Sky?»

«Geh weg», brachte sie erstickt hervor. Sie wollte Casper nicht sehen. Nicht zu diesem Zeitpunkt, in dem sie sich in einem solch desolaten Zustand befand.

«Du weinst.»

«Was für eine Erkenntnis», schniefte sie.

«Hey.»

Eine Hand berührte sie an der Schulter. Sie zuckte kurz zusammen, weil Berührungen oft Schmerz bedeuteten und schloss die Augen. Am liebsten hätte Sky sich fortgewünscht. Eine Alternative wäre Unsichtbarkeit gewesen.

«Du solltest gehen. Sie beobachten uns. Am Ende reden sie schlecht über dich.»

«Ich weiß zwar nicht, wen du meinst, aber prinzipiell ist es mir scheißegal, was andere von mir denken. Rück´ mal rüber.»

Überrascht schaute sie auf. Auffordernd wedelte Casper mit der Hand. Widerwillig rutschte sie zur Seite.

«Was ist los?», hakte er nach, nachdem er sich gesetzt hatte und zum Schulhof sah.

«Nichts.»

«Sky, lüg´ mich nicht an. Neuerdings ist ständig was mit dir. Das gefällt mir nicht.»

«Du brauchst dich nicht mit mir abzugeben, wenn es das ist, was dich beschäftigt.»

«Das meine ich überhaupt nicht und das weißt du. Machen dir deine Mitschüler Ärger?»

Skylar schwieg verbissen.

«Wenn du nicht antwortest, werte ich das als ein Ja. Hast du dich schon an deine Lehrer gewandt, wissen deine Eltern Bescheid?»

Sie schnaubte spöttisch. Weder die einen noch die anderen waren eine Option.

«Ich bin auf mich gestellt», gab sie zu. «Es gibt niemanden, der mir helfen kann.»

«Und ich?» Aufgewühltes Sturmgrau fixierte sie.

«Du bist bald weg», flüsterte sie traurig. «Machst deinen Abschluss, beginnst ein aufregendes Leben. Demnächst werden dir meine Probleme als lächerlich klein erscheinen und du wirst keine Zeit mehr haben.»

«Es gefällt mir überhaupt nicht, wie du denkst. Wie kommst du darauf, dass ich dich im Stich lassen werde?»

«Haben wir denn die Basis, dass ich es nicht anzunehmen brauche?», stocherte sie. Skylar mochte Casper wahnsinnig gern. Etwas Seltenes verband sie, in seiner Nähe war sie sicher. Aber sie konnten beide nicht leugnen, dass sie recht hatte.

Casper war drei Jahre älter, begehrenswerte neunzehn. Für ihn startete in naher Zukunft eine Ausbildung oder ein Studium, je nachdem, wofür er sich entschied. Vielleicht auch eine steile Karriere.

Sie würde vorerst auf dieser verkorksten Schule bleiben müssen, wenn sie ihr Leben nicht gegen die Wand fahren wollte. Skylar war umgeben von gescheiterten Existenzen und sie hatte nicht das Ziel, eine ebensolche zu werden.

Casper schwieg nachdenklich, schaute angestrengt zu den Schülern, die zurück ins Schulgebäude liefen. Sie wussten beide, dass sich ihre Wege trennten, nicht nur, weil es zum Pausenende geklingelt hatte.

«Ich weiß es nicht», gab er zu, seine Worte vom Wind getragen, so leise, dass sie sie kaum verstand. Den Schatten in seinem Blick konnte er nicht verbergen. Skylar sah ihm lange hinterher.

Casper – Beziehung

 

Ist das dein Ernst?»

Er hielt das Handy weg von seinem Ohr. Ohne direkt an dem Lautsprecher zu sein, verstand er jedes Wort klar und deutlich.

«Ich weiß überhaupt nicht, warum du so ein Fass aufmachst!», meinte er bemüht ruhig. «Du würdest spontan keinen Urlaub bekommen. Ich bin außerdem allein. Kein Grund, gleich auszurasten.»

«Ob ich ausraste, entscheide immer noch ich! Du bist berühmt! Natürlich mache ich mir meine Gedanken.»

«Ja, aber es gibt so etwas wie Vertrauen, auf das man bauen sollte», entgegnete er genervt. Casper war keiner dieser Musiker, die ständig irgendwelche Groupies hatten. Schon immer war er ein Freund von ehrlichen, echten Beziehungen. Das verstand Melanie nicht.

«Das ist trotzdem kein Grund, wortlos abzuhauen. Wo bist du überhaupt?»

«Sag ich dir nicht.»

«Jetzt sei nicht kindisch!»

«Nein, ich werde es dir nicht verraten. Ich brauche eine Pause und möchte meine Ruhe haben. Das habe ich dir mehrfach erklärt.»

«Etwa auch von mir?» Melanie klang weinerlich. Casper legte zwei Finger an seine Nasenwurzel und atmete hörbar ein. Diese Stimmungswechsel kratzten beharrlich an seinen Nerven.

«Ja, auch von dir», gab er zu. «Ich möchte zu mir kommen.»

«Wie kannst du so grausam sein und mich als Hindernis ansehen? Dann mach deine blöde Pause, aber komm danach bloß nicht angekrochen!» Dramatisch schniefend beendete sie das Telefonat. Für dieses Theater besaß Casper keine Energie. Vielleicht hätte Melanies Drama irgendetwas in ihm auslösen müssen, doch alles was er empfand, war Erleichterung darüber, dass das Gespräch vorbei war.

Er hatte die Beziehung nicht beendet. Er brauchte Zeit für sich. Doch seit einer Weile war seine einstig umsichtige, fürsorgliche Freundin selbstbezogen und egoistisch.

---ENDE DER LESEPROBE---