Notstand - Daisy Hildyard - E-Book

Notstand E-Book

Daisy Hildyard

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Beschreibung

»Es ist für mich genau die richtige Art und Weise, über Umgebung, über das Gelände des Lebens zu schreiben.« Esther Kinsky

Eine Frau sitzt während des Lockdowns in ihrer Wohnung. Sie schaut auf den Ausschnitt vor ihrem Fenster und blickt zurück. In ihre Kindheit in einem Dorf in Yorkshire in den 1990er Jahren. Eine Zeit, in der sie alles erkundete. Eine Zeit, die sie lehrte, wie alles notwendigerweise Teil von etwas Größerem ist. Wie der örtliche Steinbruch, der zuvor Schauplatz einer Jagd zwischen einem Turmfalken und einer Wühlmaus war, nun von schweren Maschinen internationaler Konzerne zerstört wird. Wie das Nest einer unermüdlichen Kibitzin immer wieder von Traktoren zerquetscht wird und in der Blumenzucht nebenan Gastarbeiter ausgebeutet werden. Sie beginnt zu verstehen, wie belanglose Begebenheiten in ihrem Alltag in einem nordenglischen Dorf bis nach Nicaragua und China reichen und auf globale Warenketten und Klimaverschiebungen einwirken. Und wie sich in ihrem scheinbaren Idyll die Zeichen mehren, dass wir auf eine Katastrophe zusteuern.

Notstand, der vielgepriesene Roman der britischen Autorin Daisy Hildyard, zeigt uns den Reichtum der Welt – die betörenden Details ebenso wie ihre weitreichende und schicksalhafte Vernetztheit. Ein stilles und großartiges Buch, in dem Mensch und Natur eins sind und in dem eine geteilte Zerbrechlichkeit alle Spezies eint.

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Seitenzahl: 346

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Cover

Titel

SV

DaisyHildyard

Notstand

aus dem Englischen

von Esther Kinsky

Suhrkamp Verlag

Impressum

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Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel Emergency bei Fitzcarraldo Editions, London.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2024

© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2024© Fitzcarraldo Editions, 2022

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Umschlaggestaltung: Anzinger und Rasp, München

Umschlagabbildung: Maurizio Bongiovanni, Bird Rib, 2010, Öl auf Leinwand, 50 x 50 cm, Privatsammlung, Foto: Filippo Thiella

eISBN 978-3-518-77854-8

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

An einem Frühlingsabend

Als ich alt genug war

Informationen zum Buch

Notstand

An einem Frühlingsabend, als ich schon bis spät allein draußen sein durfte, saß ich oberhalb des Steinbruchs am Dorfrand und sah, wie sich ein flacher Lehmbrocken von dem gegenüberliegenden Abhang löste und unten in eine Wasserlache fiel. Wo er abgefallen war, kam das Innere eines Baus zum Vorschein, wie bei einem Haus, dem ein Bombeneinschlag eine Wand weggerissen hat. Statt Tapete oder herausgerissener Kabel sah man drinnen einen mit Flaum und feuchtem Laub ausgekleideten kugelförmigen Hohlraum und Gänge, die von diesem abzweigten und durch das Wurzelwerk des Grasbodens führten. Die einzige Ausnahme war ein langer Tunnel, der abwärts in die Erde ging, dann abknickte und zu einem langgezogenen V wieder aufstieg. In dem Gang befand sich ein kleines Tier, das sich nach oben bewegte, es war braun und pelzig, ich konnte nicht erkennen, ob es eine Wühlmaus, eine Spitzmaus oder eine Feldmaus war.

Parallel dazu schwebte ein Turmfalkenweibchen in der Luft, hoch über dem Wasser, das am Boden des Steinbruchs stand. Die beiden Tiere waren auf Augenhöhe miteinander. Die Turmfalkin legte sich schräg und ließ sich emporsteigen, sie war ein klein wenig schneller als das Tier im Bau. Dann verschwand das Tier aus meinem Blickfeld, während es sich durch die Erde hinausbewegte; die Turmfalkin indessen stieg immer weiter zu den Wolken auf, bis sie unvermittelt innehielt. Sie stand ganz still, als hätte jemand auf Pause gedrückt. Nur an dem leichten Schwanken, mit dem sich der Vogel mal in die eine Richtung, mal in die andere neigte, ließ sich erkennen, dass er sich gegen eine Luftströmung stemmte.

Ich behielt den Vogel im Auge, während ich mich langsam und so geschmeidig wie möglich erhob, und auch auf dem Pfad, der sich um den oberen Rand des Steinbruchs zog, versuchte ich ruckartige Bewegungen zu vermeiden und einen Bogen um den Vogel zu machen, damit er nicht davonschoss. Der Vogel musste mich sehen. Er regte sich nicht.

Vom Pfad aus sah ich das Tierchen wieder, eine große Feldmaus, ein Männchen, es hatte sich unter einem trockenen Grasbüschel versteckt, das über den Wegrand hing. Die Maus befand sich nicht im Visier der Turmfalkin. Alle drei warteten wir ab, wer sich zuerst bewegen würde. Es war früher Abend, das Licht klar und rötlich, ein kalter Wind ging. Die Grashalme funkelten. Dann machte die Feldmaus einen plötzlichen Vorstoß, sie schoss ins Freie und hielt in der Fahrrinne an, da, wo sie am wenigsten geschützt war. In der Mitte des Pfads lag eine Grasinsel, und überall ringsum auf dem Fels standen höhere Gräser, nur diese Stelle war nackt und bloß, der einzige Fleck, auf dem sich die Maus dunkel und gedrungen von dem helleren Staub abhob. Ich stand wie ein Baum am Wegrand. Mein Fuß stieß fast an die Maus.

Die Turmfalkin gab ihr schwebendes Gleichgewicht auf. Sie neigte den Körper seitwärts, schnitt durch die Luft und stand direkt über der Feldmaus in der Schwebe. Im Licht der tiefstehenden Sonne fiel der Schatten des Vogels so, dass er sich außerhalb des Blickfelds der Maus befand. Die Maus verharrte immer noch an derselben Stelle. Ich sah sie jetzt ganz deutlich, alle Züge winzig und scharf: die Ohren wie Eichelhütchen, fadendünne Schnurrbarthaare standen in alle Richtungen, die kleinen Füßchen waren wie Hände. Der ganze Körper zitterte heftig. Die Maus schien unfähig, sich zu bewegen. Der Vogel stand wieder still in der Luft, mein Blick bewegte sich auf und ab, wie ein Aufzug zwischen zwei Etagen, und zog eine Linie vom einen Tier zum anderen. Ich spürte so etwas wie Liebe in mir aufsteigen, so groß und vage, wie die Maus klein und konkret war, und mir kam der Gedanke, dass ich sie retten könnte.

Ich wusste, was das bedeuten würde, ich hatte es schon einmal gemacht. Als das große schwarze Kaninchen, das bei uns in einem Gehege im Garten lebte, ein Nest voller Junge hatte, hatten meine Eltern mir gesagt, ich dürfe die Kleinen nicht anrühren. Ich saß vor dem Gehege und wartete darauf, dass die Mutter sich zur Seite rollte und ich die Jungen sehen konnte – wimmelnde rosige Winzlinge, die sich mit jedem Tag mehr in zarte Versionen ihrer Eltern verwandelten. Als sie vielleicht eine Woche alt waren, man sah noch Haut unter dem glänzenden schwarzen Fell, erklärte meine Mutter mir, warum ich sie nicht anrühren sollte: Das Kaninchen würde ihre Jungen fressen, wenn sie einen fremden Geruch an sich hatten. Ich hielt meine Hände vors Gesicht, doch sie rochen nach gar nichts, höchstens leicht nach Seife. Meine Mutter ging, ich blieb noch eine Zeitlang sitzen und sah den Kaninchen zu. Dann steckte ich mir eins von ihnen in die Tasche, schloss die Klappe am Ausgang des Geheges und rannte die Einfahrt hinunter, die Straße entlang bis in Clares Garten. Clare war nicht zu Hause, aber Nic saß auf der Hintertreppe mit einem Becher Tee und einem Keks, neben ihr lag eine Zigarette auf den warmen Ziegelsteinen bereit. Sie saß immer so da und wartete, bis Clare aus der Schule kam. Ich schloss das Tor und ging zögernd über den Gartenpfad, bis ich vor ihr stand, ich wartete auf ein Zeichen, dass sie mich gesehen hatte, aber meine Anwesenheit interessierte sie nicht besonders, sie schaute einfach an mir vorbei. Ich sah mich um, aber da war nichts, nur die Sonne, die hinter den Feldern unterging, und der Steinbruch. Sie hatte eine kleine gelbe Narbe unter dem einen äußeren Augenwinkel, was die Form des Auges ganz leicht verzog und ihrem Aussehen immer etwas Außergewöhnliches verlieh, doch jetzt gerade schaute sie in die Sonne, und ihre braune Iris sah aus, als hätte sie Feuer gefangen, zerfließende Rhomben in Gold und Orange kreisten um den Rand, eine blinde, strahlende Ungezähmtheit ging von ihr aus, und ich bekam etwas Angst vor ihr. Das ging vorüber, und ich sagte: »Hallo, kann ich mit Clare spielen?«

Nic grüßte nicht und redete nicht in dem nachsichtig verlogenen Ton, den Erwachsene oft anschlugen, wenn sie damals mit mir redeten. Abwesend und den Blick immer noch mit verstörender Direktheit auf die Sonne gerichtet, sagte sie, Clare sei nicht zu Hause, sie sei nach der Schule zu ihrer Großmutter gegangen. Adam sei drinnen und schaue einen Zeichentrickfilm, wenn ich warten wollte.

Adam saß im Vorderzimmer auf dem Boden, dicht vor dem Fernseher, die Beine gekreuzt, umgeben von einer niedrigen Mauer aus Holzklötzchen. Ich kniete mich hinter ihm hin, und wir saßen still beieinander und schauten zu, wie ein Eichhörnchen mit einem Stromschlag getötet, dann geköpft wurde, den Kopf wieder angeklebt und die Augen ausgerissen bekam und von einem Lastwagen überfahren wurde, bis Nic die Vorhänge zurückzog, den Ton leiser stellte und fragte, ob ich zum Abendbrot bleiben wollte, ich sagte Ja. Sie fragte mich, ob meine Eltern einverstanden sein würden, und ich gab keine Antwort. Dann ertönte ein dumpfer Knall. Clares Schultasche war auf der Fußmatte gelandet, wo die Post immer lag, und dahinter ließ sich Clares Umriss in der Türöffnung ausmachen, »Warum steht da eine Leiter am Haus?«, rief sie.

Nic erklärte ihr, ihr Vater flicke gerade ein Loch in der Regenrinne.

»Adam, möchtest du auf die Leiter steigen«, sagte Clare.

Adam warf seine Mauer um und wackelte auf Clare zu. Sie nahm ihn an der Hand, sie gingen hinaus und ich hinterher.

Clare und ich standen am Fuß der Leiter und hielten sie fest, während Adam langsam hinaufkletterte. Die Leiter führte allem Anschein nach nirgendwohin, sie ging nicht bis ans Dach, und in der Wand befand sich nur ziemlich hoch oben ein einzelnes Milchglasfenster. Der Mörtel zwischen den roten Ziegeln war mit Moosen bedeckt, die ein regelmäßiges, kompliziertes Muster bildeten, ein dunkelgrünes Labyrinth. Bei uns unten, nahe am Boden waren die Moose plüschartig, und einzelne Fäden staken heraus wie kleine gelbe Spazierstöckchen. Während ich ihre reglose schattige Weichheit betrachtete, durchströmte mich ein Gefühl tiefer Ruhe. Auf dem Teil der Mauer oberhalb von mir, auf den die Sonne direkt schien, waren die Ziegel zu einer rissigen blassen Farbe vertrocknet, doch gegenüber, oberhalb von Clares Kopf, waren diese Leichen zu neuem Leben erwacht. Kein Wunder: die undichte Stelle der Regenrinne, die außerhalb meines Blickfelds lag, offenbarte sich in einem breiten Wasserflecken, der sich an der Seite des Hauses hinabzog. Das hatte die Moose sprießen lassen, sie waren über die Ziegelsteine vorwärts gerückt und schwollen nun durch die Feuchtigkeit an, wurden smaragdgrün und schwarz wie Algen. Ich war schon alt genug, um zu wissen, dass das der Mauer nicht besonders gut tat. Ich erkannte, dass die Ruhe, die der Anblick des Mooses in mir auslöste und die ich als Gefühl wahrnahm, in Wirklichkeit ein Tempo war – wir waren nicht im gleichen Takt. Ich bewegte mich durch Morgen und Wochenenden, Monate und Abendbrotzeiten, während die Moose irgendwo außerhalb meiner Zeitrechnung ihre mir fremden Phasen von Starre und Wachstum durchliefen.

Als ich mich von der Mauer abwandte, war Clares Kopf so nah an meinem, dass sie sich fast berührten. Ihre Augen waren viel dunkler als die ihrer Mutter, fast schwarz. Ich musste wohl mit offenem Mund gestarrt haben, denn sie ließ zur Antwort den Unterkiefer hängen, als wollte sie Schwachsinn imitieren. Ich fühlte, wie sich in meiner Tasche etwas bewegte.

»Ach ja«, sagte ich, »schau mal.«

Ich trat von der Leiter zurück und holte das winzige Kaninchen aus der Tasche. Zu einer losen Faust geformt, bildeten meine Finger eine Art Tunnel um das Tier. Plötzlich sträubte sich etwas in mir, und ich wollte es nicht herzeigen. Sein seidiges Fell war feucht und kratziger als vorher, entweder vom Schweiß meiner Hand oder von seiner Pisse. Clare runzelte die Stirn, als ich zögerte, und daraufhin öffnete sich meine Hand wie eine Blume, wider meinen Willen. Das Kaninchen hatte die Ohren flach an den Kopf gelegt. Sie waren dünn und flaumig, wie frische junge Blätter, die gerade aus der Knospe gestoßen sind.

»Gib’s zurück, sonst stirbt es«, sagte Clare.

»Ich kann es versorgen«, sagte ich, Clare stöhnte und verdrehte die Augen, gab sich übertrieben vernünftig und erklärte, ich würde nur durch Schaden klug.

Über uns ertönte scharf eine Stimme: „Clare, hol deinen Bruder runter, er schlägt sich noch den Schädel kaputt.«

Ich blickte hoch. Das Badezimmerfenster stand schräg offen wie ein Briefkasten. Nic konnte ich nicht sehen.

Wir kümmerten uns nicht um sie. Clare legte einen Arm locker über den unteren Teil der Leiter, um so Adams Sturz aufhalten zu können, doch er war in Sicherheit, kletterte immer noch, mit greifenden Patschhänden und flachen Füßen. Er kletterte immer weiter, bis er sich direkt vor der Wand befand. Dann ging ich nach Hause und legte das Kaninchen zurück zu den anderen. Meine Mutter ließ mich nicht zum Abendbrot zu Clare gehen, sie hatte mein Essen schon fertig.

Am Tag danach ging ich zu den Kaninchen, die Mutter war allein im Gehege. Sie war wirklich riesig. Ich beobachtete sie eine Zeitlang. Sie wirkte ruhig, wie sie da an Löwenzahnblättern knabberte, und ich empfand eine Art von Verwandtschaft mit ihr, weil wir es zusammen getan hatten, wir hatten die Jungen mit unserer überwältigenden Fürsorge vernichtet. Bis heute erscheint mir die Karnickelin sehr menschlich in der Art und Weise, wie ihre Prinzipien sie zur Selbstzerstörung zwangen, und auch im Ausmaß ihres Appetits, der das, was sie zum Überleben brauchte – die Löwenzahnblätter etwa –, weit überstieg. Ich meine damit nicht, dass die Karnickelin wie eine Person war, sondern eher, dass Prinzipien und Wille ebenso wie die meisten anderen Eigenschaften (Gedächtnis, Liebe) sich keineswegs als ausschließlich menschliche Züge definieren lassen. Alle Geschöpfe haben ihre Eigenheiten.

Als ich in die Schule kam, musste ich den Schulbus nehmen und zu Fuß nach Hause gehen, was hieß, dass ich Grace’ und Matthews offenen Vorgarten und damit auch ihre Hündin namens Soldier passierte. Ich hatte Angst vor Soldier, sie kam bei jedem Passanten unter aufgeregtem Gebell herausgestürzt, und mir erschien sie riesig, sie hatte einen hellbraunen Überzieher, der hinter ihr herwehte, wenn sie den abschüssigen Garten hinuntergaloppiert kam. Sie war alt, ihre Lefzen runzlig, wenn sie sie hängen ließ, lagen die spitzen Eckzähne bloß. Was mir Angst machte, war ihre verletzlichste Stelle, ihr Unterbauch, der kahl war, mit braunen und lila Flecken und geschwollenen Zitzen. Grace und Matthew, die nett zu mir waren, sagten immer, es sei nur Spiel, und tatsächlich sprang sie nie auf den Gehsteig hinaus und kam auch nicht auf unsere Seite des Vorgartens, obwohl dort kein Zaun war und es für sie ein Leichtes gewesen wäre. Obwohl sie also diese Grenzen respektierte, quälte mich die Vorstellung, unter Soldiers Körper eingezwängt zu liegen, ihre kahle Stelle wäre in abstoßendem Kontakt mit meinem Bauch, mein Blick ginge direkt in ihr von Speichelfäden durchzogenes Maul, das sich in seiner ganzen Schlaffheit über mir öffnete. Deshalb machte ich es mir zur Gewohnheit, kurz vor unserer Straße nach rechts abzubiegen, gegen den Uhrzeigersinn um den Block zu gehen und von der anderen Seite nach Hause zu gelangen, ohne an Soldier vorbei zu müssen.

Stattdessen kam ich auf der Rückseite des Dorfes am Haus von Alice vorbei und an dem Baum, der dazugehörte und eine Höhle hatte, in der Clare und ich Dinge versteckten. Ich hatte von etwas Ähnlichem in einem Buch aus der Bibliothek gelesen, die Geschichte hatte sich in meine Wirklichkeit gefädelt, und mein wirkliches Leben wiederum hatte die Geschichte gefärbt. Ich hatte mir überlegt – ein Einfall, den ich einem Buch über Kinder, deren Eltern getrennt waren, entnommen hatte –, dass Clare und ich einander an einem geheimen Ort Botschaften oder Gegenstände hinterlassen könnten. Clare bestimmte dann den Baum dazu. Sie war älter als ich, und Entscheidungen waren ihre Stärke. Als sie mir entschlossen mitteilte, dass wir den Hexenbaum dazu nutzen würden, wusste ich gleich, dass sie die Esche meinte, die aus dem hintersten Winkel des Hauses von Alice Gray wuchs, und dass Clare ihr genau den richtigen Namen gegeben hatte. Auf jedem anderen Grundstück wäre die Esche gefällt worden, man konnte nicht daran vorbeigehen, ohne ihre bedrohliche Ausstrahlung zu spüren, der Baum hatte etwas Überbordendes, obwohl er so sehr tot war. Er wuchs aus der lockeren Steinmauer, die zu beiden Seiten des dicken Stamms eingesackt war und sich vorwölbte, und seine höchsten Reiser überragten die Häuser, die Spitzen der Zweige verrenkten sich in erstarrten Krämpfen dem Himmel entgegen, das Holz war schwärzlich und morsch. Das ganze Jahr über sah man kleine weiße Pilze und größere aprikosenfarbene Schwämme auf dem Baum, und die Sporen und Enzyme, die in einem langwierigen Prozess dabei waren, das Holz zu zersetzen, ließen den ganzen Baum feucht erscheinen, so dass seine Abgestorbenheit vor Vitalität strahlte.

Es gab Leute, die sagten, Alice sei eine Hexe, obwohl sie gar nicht so alt war. Die eine Seite ihres Körpers war nicht im Takt mit der anderen, ein Mundwinkel hing herunter, und auf derselben Seite zog sie das Bein nach. Alle Kinder waren davon überzeugt, dass sie eine Grimasse geschnitten hatte, während sich der Wind drehte. Ihr Haar war kurz, und sie trug eine runde Brille und sah aus wie ein kleiner Mann, bekleidet mit einer langen Stoffweste und Militärhosen. Ihre Haustür hatte eine besondere Anziehungskraft, wenn wir Klingelmännchen spielten. Es war eine Miniaturversion von Schikane, wie Kinder sie gern praktizieren, weil sie ein Gespür für die Abweichungen von einer Norm haben, die Menschen zum Opfer prädestinieren. Ein weiterer Grund war allerdings der, dass wir uns einer Reaktion sicher sein konnten. Alice ging nie aus. Sie war immer in der Küche, gleich neben der Hintertür, deshalb stand sie immer zur Verfügung.

Die Baumhöhle war perfekt. Wenn ich die Hand durch die kleine Öffnung dicht am Ansatz des Stamms steckte, ertastete ich einen trockenen, fußballgroßen Hohlraum mit krümeligem Boden. Ich ging jeden Tag nach der Schule daran vorbei, und manchmal hatte Clare für mich etwas dort abgelegt, Dinge, die heute ganz wertlos erscheinen, Lippenbalsam oder eine Postkarte. Eines Tages dann sah ich ein Stück Kuchen auf der niedrigen Mauer an der Rückseite des Hofs, direkt unter den Zweigen unseres toten Baums. Ich hob das Kuchenstück hoch, es war leicht, eine Art Schokoladenkuchen ohne richtige Schokolade, und noch warm, der Zuckerguss zerfloss unter meinen Fingerspitzen. Er roch gut. Ich gab ihn vorsichtig zurück an dieselbe Stelle. Am nächsten Tag war der Kuchen weg. Ich fragte mich, ob ich ihn mir eingebildet hatte, aber oberhalb unserer Höhle lagen Krümel. Vielleicht hatte Clare ihn für mich dorthin gelegt.

Als wir später bei ihr im Garten spielten, fragte ich sie danach, doch sie machte große Augen und stritt es ab.

»Ich war das nicht«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Ich frag mich, wer das bloß gewesen sein kann!« Dann rannte sie weg. »Komm her!«, rief sie. Sie stand neben dem Klettergerüst. »Steig rauf.«

Gehorsam kletterte ich hoch und brachte die Streben gut hinter mich, bis ich zur letzten Sprosse kam, die sich unter meiner Hand löste, und ich fiel zwei Meter tief auf die Erde. Ich stand auf, bewegte versuchsweise meine Finger, während Clare ausgelassen lachte. Sie hatte ein männliches, meckerndes Lachen, das ihren ganzen Oberkörper erfasste, das brachte mich dann auch zum Lachen, mit ihr und über sie, und darüber mussten wir beide dann noch mehr lachen.

Mir kam die Idee, dass die Esche den Kuchen selbst gemacht oder ihn verzehrt haben könnte. Der Baum und all das, was seinen toten Körper verwüstete, war genauso wie Soldier, wie die Kaninchen, wie das Moos an der Wand von Clares Haus, wie der Turmfalke und die Feldmaus Teil meiner Gemeinde, wie ich es damals sah, mindestens ebenso sehr Teil davon wie ich selbst oder Nic oder Alice. Unser Dorf befand sich zwar innerhalb dieser Gemeinde, doch erstreckte sich die Gemeinde über die Grenzen des Dorfes hinaus. Ich betrachtete die ganze Gegend, die meilenweit ringsum lag, als einen Teil des Waldes: das Dorf, der Fluss, die Bauernhöfe, die wilden Tiere, der Steinbruch, der Landsitz, die Sozialwohnungssiedlung, die Speckfabrik, die Klosterruine – das alles war umgeben und überwuchert von Wald, in dem das Forstamt in unregelmäßigen Abständen fällen ließ, so dass man kaum sagen konnte, wo er anfing und wo er aufhörte, er durchzog all diese Dinge, und diese Dinge durchzogen, jedes einzelne auf seine Art, den Wald. Birkenforst hieß er, aber das war ein alter Name, und als ich dort wohnte, gab es keine Birken in diesem Wald. Wir hatten eine Silberbirke im Garten, deshalb konnte ich mir den Wald ausmalen, der früher hier gestanden hatte, bleich leuchtende Geisterbäume bis zum Horizont, doch als ich dort wohnte, waren es größtenteils Eschen und Kirschen und ein paar abgezirkelte Streifen Nadelwaldschonung, die bis an den Rand des Steinbruchs reichten, wo der Hang abfiel.

Ich saß oft und lange an diesem Abhang, weil mir der Blick gefiel, der Steinbruch hatte alle möglichen Farben, alle waren sie weich, Schichten aus Hellbraun und Kreiden. Die Erde war so ausgehoben worden, dass ich auf ein Stück Himmel hinabschauen konnte, das sich im Negativ zeigte: eine Senke mit Vögeln, die dort, tief unter meinen Füßen in den Himmel stiegen. Uferschwalben bauten in den Wänden ihre Nester und flogen auf Insektenfang hinaus in den Steinbruch, Falken kamen und jagten die Uferschwalben, und ich kam, um all das zu betrachten, weil ich nichts Besseres zu tun hatte. Deshalb war ich dort und sah, wie die Turmfalkin die Feldmaus jagte, und deshalb wusste ich von dem Wasser im Steinbruch, bevor die anderen es wussten.

Ich stand da und wartete darauf, dass der Turmfalke oder die Feldmaus sich bewegten, und etwas klickte. Es war körperlich und visuell, wie das Scharfstellen des Suchers in der Kamera.

Der V-förmige Gang, der nach unten führte und dann zurück an die Oberfläche ausscherte, ließ mich mit einem Schlag begreifen, dass die Feldmaus auf Wasser gestoßen war – dass Wasser durch die Erde aufstieg, hoch hinauf in den Wänden des Steinbruchs. Ich hatte beobachtet, wie der Lehmplacken in dem Wassertümpel am Boden des Steinbruchs landete. Doch dieses Bild hüpfte bedeutungslos zwischen den anderen Bruchstücken herum, allesamt Teil der Flutwelle willkürlicher Informationen, die ich über mich hinwegbranden fühlte. Ich bilde mir gern ein, dass ich den Verstand verlieren würde, wenn ich mich unentwegt auf alles einlassen würde, den Herzschlag des Eichhörnchens oder das Tosen des wachsenden Grases, doch das ist wahrscheinlich nicht richtig – realistisch betrachtet liegt das Verrückte eher darin, dass man die Einzelheiten der umgebenden Welt unablässig in Rangordnungen einstuft und löscht. Am Boden des Steinbruchs hätte kein Wasser stehen dürfen.

Jahre zuvor hatte es im Steinbruch eine wenn auch kleine Überschwemmung gegeben, doch danach war er drainiert worden, weil das Wasser Probleme verursacht hatte. Die Tiere, die sich in dem Steinbruch und ringsherum angesiedelt hatten, brachten Bewegung, und das setzte das Gelände unter Druck. Menschen waren da keine Ausnahme. Die meisten Erwachsenen in der Gegend waren im Steinbruch oder in der Speckfabrik angestellt, und die Gärten an meiner Straße reichten bis an diesen gestrüppigen Randstreifen, auf dem ich stand.

In unserem Steinbruch wurde Kies gefördert, der in die ganze Welt verschickt wurde. Das, was für den Bau von Autobahnen in Norwegen und für neue Städte in China gebraucht wurde, bestimmte die Form des Steinbruchs und das Ausmaß des Hohlraums, der entstand, obwohl die Abhängigkeit in beide Richtungen ging, ja in alle Richtungen. Steine, einzelne Haare, Hautschuppen von den Körpern der Arbeiter und Gummiabrieb von den alten Reifen der beiden Fahrzeuge im Steinbruch reisten um den Globus. Der Ort wurde in Stücke gesprengt und in verschwindend kleinen Splittern und Partikeln über die ganze Welt verschickt. Als Kind sah ich, wie das Material weggebracht wurde, aber ich sah nicht, wohin es gelangte. Als Erwachsene habe ich eine detailliertere, aber immer noch lückenhafte Vorstellung davon, wie Rohstoffe in Gestalt von Konsumgütern zu mir gelangen, oder wie sich die Fäden meines Lebens bis in die Dämme, Rodungen, Verarbeitungszentralen, improvisierten Bergbaustädte, Ölfelder oder Lagerungseinrichtungen erstrecken, von denen mein tägliches Leben abhängt. Diese Rohstoffe werden, wie der Kies aus meinem Steinbruch, an Orten gefördert, die nicht nur billig sind, sondern den Blicken weitgehend verborgen bleiben.

In die Schweineställe ging ich nie, aber sie ließen sich nicht übersehen, sie standen am Horizont, und nie gingen die Lichter aus, die Schweine lebten im immerwährenden Tageslicht der Neonröhren. Anns Mutter sagte, sie seien deshalb eher bereit zu sterben. Einmal saß sie auf einem Plastikstuhl in ihrem Hintergarten, den Kopf in den Nacken gelegt, um die letzten UV-Strahlen abzubekommen, und sie erzählte Ann, ihren Schwestern und mir von ihrem Arbeitstag, wie sie jeweils fünf Stunden lang mit Gummistiefeln an den Füßen in einem fensterlosen Raum stand, der hohe Wände und ein Loch im Boden hatte. Gesäuberte Schweineleichen, die über ihrem Kopf an einer Drahtschiene hingen, wurden in die Mitte des Raums gezogen. Die Bauchhöhlen wurden längs einer Markierung aufgeschlitzt, und die Innereien landeten zu ihren Füßen. Sie hatte einen Besen, durch dessen Stiel ein Schlauch führte, damit schrubbte sie Blut und Innereien in einen Schacht, der zu dem Teil der Fabrik führte, wo die Wurstfülle hergestellt wurde.

Mir gefiel diese Geschichte, weniger wegen ihrer Blutigkeit als wegen Anns Mutter, die gelassen mit den Schultern zuckte, wenn wir Kinder unser Entsetzen bekundeten, und uns sagte, das Schlimmste sei die Langeweile. Sie war eine ganz zarte Frau, verblasste Rosentätowierungen zogen sich über ihren einen Arm und die Schulter, sie hatte hennarotes Haar, drei kleine Töchter, einen neunzehnjährigen Liebsten und eine Begabung zum friedlichen Genießen des Lebens, mit der sie Haus und Garten erfüllte – ich bin versucht zu sagen, sie lebte ihr bestmögliches Leben, aber das wäre arrogant. Wenn sie uns von ihrer Arbeit erzählte, nahmen in meinem Kopf erste Einblicke in die Landschaft menschlicher Leben Gestalt an. Zwischen den Tätigkeiten meiner Eltern (mein Vater hatte kurzfristige Lehrverträge an verschiedenen Hochschulen und jobbte zwischendurch als Anstreicher, meine Mutter war Vertretungslehrerin) und dem, was Anns Mutter auf ihrer Arbeit machte, gab es einen Unterschied in der Wertigkeit. Einen ähnlichen Unterschied gab es zwischen den unregelmäßigen Anstellungen meiner Eltern und den richtigen Lehrern oder Ärzten, die Autos hatten und in Urlaub fuhren. Bauernarbeit, wie meine Großmutter sie nicht weit von uns ausübte, stand wieder auf einem ganz anderen Blatt. Ich hätte es schwierig gefunden, den Zusammenhang, in dem diese Dinge standen, logisch einleuchtend zu erklären.

Als die erste Überschwemmung des Steinbruchs bekannt wurde, berief der Gemeinderat eine Versammlung im Gemeindezentrum ein. Wenige kamen. Niemand hatte den Eindruck besonderer Dringlichkeit, im Steinbruch gingen die Arbeiten vor sich wie immer, nur dass jetzt auf einer Seite eine große Pfütze stand. Bei der Versammlung verlegte sich die Diskussion dann auf das Fuchsproblem. Es war Paarungszeit, in unserem Garten kopulierten die Füchse und trugen ihre Revierkämpfe aus. Ihre Schreie hörten sich gequält an, als machten sie ein seelisches Grauen durch, das schlimmer war als jeder körperliche Schmerz. Manchmal lösten sie den Bewegungsmelder aus, den Matthew und Grace über ihrer Hintertür angebracht hatten, und mein Zimmer war dann in den Widerschein des grellen weißen Lichts getaucht. Ich kniete mich im Bett auf und schaute hinaus, gerade rechtzeitig, um noch Hinterläufe und Schweife zu erkennen, die aus dem Lichtkegel in den ausgefransten Schatten flüchteten. Der Deckel des Blechmülleimers fiel zu Boden, schepperte und beschrieb dann unter dumpfem Dröhnen rollend einen langen Bogen. Es hörte sich fröhlich an, als wäre die ganze Situation ein Scherz.

Die Füchse selbst sah ich nur einmal in unserem Garten. Es war verstörend. Sie tanzten. Auf meinem Bett kniend sah ich zwei Füchse dicht an der Rückwand unseres Hauses in dem offenen Teil des betonierten Hofs. Der eine Fuchs war sehr klein. Sie presste sich flach an den Boden, die Hüftknochen bildeten kleine Hügel in ihren Flanken. Der andere Fuchs war riesig und stand ihr gegenüber. Sein Gesicht war breit, der Nacken gedrungen und flauschig, und der Schwanz war breit mit weißer Markierung. Während die kleine Füchsin mit dem Boden verschmolz, richtete sich der große Fuchs auf, bis er auf den Hinterbeinen stand, dann trat er hin und her, von einem Hinterlauf auf den anderen, dabei hingen seine Vorderpfoten in der Luft, sein langer Körper schwankte, er rollte aufgerichtet nach rechts und links und fing sich knapp am äußersten Punkt. Das ging so minutenlang. Die kleine Füchsin sah zu. Ich sah zu. Und dann bemerkte ich einen weiteren Fuchs, ein Stück entfernt, hinter einem dicht mit Efeu bewachsenen Zaun starrte sein Gesicht unverwandt auf das Paar. Ich sah, wie der schmale Kopf des dritten Fuchses sich mal dem Tänzer, mal der Betanzten zudrehte. Anscheinend beobachtete er die beiden nicht, sondern drehte den Kopf, um ihre Witterung aufzunehmen.

Ich stieg aus dem Bett und ging hinunter, um meinen Eltern davon zu berichten, doch es war später, als ich gedacht hatte. Keiner war wach, und alle Lichter waren aus. Als ich auf Zehenspitzen ins Wohnzimmer schlich, bewegte sich etwas auf dem Sofa. Meine Mutter setzte sich auf und schob Decken zurück. Ich blieb vor ihr stehen. Es hatte Streit gegeben, sagte sie. »Morgen früh ist alles wie immer.«

Am Morgen fiel mir nichts auf, und ich dachte nicht weiter daran. Als ich mit meinem Vater zu der Gemeindeversammlung wegen des Steinbruchs ging, wunderte ich mich nicht darüber, dass die Anwesenden diskutierten, was man gegen die Füchse tun sollte. Die Pendler waren dafür, ihnen Lebensraum zu geben, und die Bauern wollten sie abschießen. Ein Bauer sagte, er habe mehrere wertvolle Weihnachtsgänse an einen riesigen Fuchshund verloren, auf den er am vorherigen Wochenende geschossen hatte, die Kugel war in den Pelz des Fuchses gedrungen.

Am Ende der Versammlung stand die Direktorin meiner Schule auf und schlug vor, den Steinbruchbetrieb einzustellen und das Gelände der Natur zurückzugeben. Das mache man auch mit den Schlackehalden im Bergbau so, wenn Schächte geschlossen und den örtlichen Naturschutzverbänden überantwortet wurden. Sie hörte sich an, als sei der Steinbruch ein Gegenstand, den unsere Gemeinde gekauft hatte, obwohl er für uns nicht taugte. Aus der schütter im ganzen Raum verteilten Gruppe der Versammelten gab es ausweichende Reaktionen. Kleine, unverfängliche Laute tief aus der Kehle. Ein Ansatz von Nicken, nur um anzudeuten, dass man sie akustisch vernommen hatte. Heute würde ich sagen, dass ihr Vorschlag gut war.

In meiner Schule waren zwei Klassen. In der unteren Klasse (meiner) waren drei Jahrgänge, in der oberen Klasse vier. Ms Carr unterrichtete die Oberklasse, deshalb hatte sie für uns in der unteren Klasse eine besondere Aura. Sie leitete die morgendliche Versammlung, machte Durchsagen und kam nur zu ganz besonderen Anlässen in unsere Klasse, wie an dem Frühlingstag, als unsere normale Lehrerin, Mrs Hepton, am Mittag verschwand. Neben dem Lehrerpult, an der Stelle, die vorher unser Naturkundetisch eingenommen hatte, befand sich jetzt ein Rolltisch, und Ms Carr stand davor. Sie trug uns Rechtschreibübungen auf, die wir still ausführen sollten. Sie ging hinaus und schloss die Tür hinter sich.

Köpfe fuhren in die Höhe, Blicke wurden gewechselt. Im Klassenzimmer spiegelte sich die Stimmung der damaligen Zeit. Den Jungen hingen die Haare lang ins Gesicht, oder sie hatten die Schädel rasiert, die Mädchen hatten das Haar zu hoch angesetzten Pferdeschwänzen gebunden, die aussahen wie Springbrunnen, dazu zwei lose Strähnen vorne, und die kleinen Plastiktrolle auf ihren Pulten waren genauso zurechtgemacht und winzige Haargummis hielten die neonfarbenen Haare zusammen. Diese stillen, gleichförmigen Köpfe, Mädchen, Jungen, Trolle, schienen alle darauf zu lauschen, wie Ms Carrs Schuhsohlen sich vom Linoleum lösten, während sie über den Korridor ging, die Tür zu ihrem Klassenzimmer öffnete, die Stille darin begutachtete und dann die Tür schloss. Als sie wieder bei uns auftauchte, schwand unser Interesse, und wir blickten auf die Pulte hinab.

Die Pulte stammten aus einem anderen Zeitalter: abgenutzt und aus Holz, mit Klappdeckeln und eingebauten Tintenfässern und einem offenen Fach im Innern, das regelmäßig inspiziert wurde, um sicherzustellen, dass alle Bücher vorschriftsmäßig nach Größe geordnet waren, und vielleicht auch, um jedem Kind klarzumachen, dass es keine Privatsphäre gab. Ich muss insgesamt viele Wochen damit verbracht haben, in mein Fach zu starren, und vor mir ein anderes Kind, und davor wieder ein anderes, und wir alle, jedes für sich, hatten das Gesicht so nah an der Pultfläche, dass unser Atem das Holz wärmte, welches wiederum seinen eigenen trockenen Geruch ausströmte, so bedrängend nah, dass wir Unregelmäßigkeiten und Verziehungen in den Mustern erkennen konnten, wo ein Baum in einem nassen Frühjahr irgendwann im neunzehnten Jahrhundert rapide angeschwollen war, und die Stelle, wo der Schreiner einige Jahre darauf den Hobel in einem anderen Winkel neu angesetzt hatte, und die Stelle unter dem losen Scharnier, wo jemand in jüngerer Vergangenheit ein winziges Paar Brüste gezeichnet hatte.

Wenige Minuten nachdem Ms Carr zurückgekommen war, verlagerte sich kaum merklich die Aufmerksamkeit der Schüler, die dem Fenster am nächsten saßen. Draußen war Mrs Hepton dabei, das Tor zur Straße zu öffnen. Sie trat auf den Grasstreifen, damit ein Lieferwagen in den Schulhof zurücksetzen konnte. Ein Mann stieg aus und öffnete die rückwärtigen Türen des Lieferwagens, so dass sie die Flügel des Schulhoftors spiegelten: zwei ausgebreitete Flügelpaare.

In dem Lieferwagen befand sich ein sehr großer Karton. Unsere Lehrerin und der Mann hoben ihn heraus und stellten ihn auf dem Boden hinter dem Lieferwagen ab. Dahinter befanden sich noch zwei kleinere Kartons. Ich schloss die Augen und horchte. Ein Auto fuhr durchs Dorf. Spatzen kabbelten sich auf dem Beton. Clare, die in der Bank vor mir saß, fuhr mit dem Stift hin und her, um etwas unleserlich zu machen, was sie geschrieben hatte. Im Korridor ertönte ein dumpfer Aufprall, jemand fluchte, entschuldigte sich dann. Ich öffnete die Augen, um Clare einen Blick zuzuwerfen, Clare drehte sich um und sah mich mit weit aufgerissenen Augen an. Niemand wagte zu lachen. Dann schließlich flog die Tür auf, und die Schachteln wurden nacheinander hereingebracht und vor unserem Rolltisch abgestellt. Jeder Karton war höher als ein Kind. An der Art, wie sie getragen wurden, erkannte ich, dass sie schwer und wertvoll waren.

Der Mann verschwand, und Ms Carr und Mrs Hepton standen zusammen vorne im Klassenzimmer zwischen den Schülern und den Kartons. Ms Carr groß, kühl und gelassen, Mrs Hepton klein. Beide trugen sie riesige Brillen mit Kunststofffassungen und hatten starr gelocktes Dauerwellenhaar, doch unten am Boden hätte der Unterschied zwischen den beiden nicht größer sein können. Mrs Heptons Gesundheitssandalen ließen große Zehen sehen, die eine Nylonstrumpfhose wie Schwimmhaut umspannte. Ms Carr trug weiße flache Schuhe, die zu ihrem Kunstseidenrock und T-Shirt passten, triumphierend schwebte sie hoch über ihrer Kollegin, sie sah aus wie eine Calla-Lilie, eine weiße Flamme, eine Siegerin. Ihre Finger zwirbelten in nervöser Aufgeregtheit, wobei das Schmiergold an ihren Ringen aufblitzte, während sie verkündete, dass unsere Plakate und Benefizfeiern erfolgreich gewesen waren. Sie hatte einen Computer für die Schule gekauft. In der Zukunft, erklärte sie mit leicht bebender Stimme, würden wir alle an Computern arbeiten. Jedes Wort, das wir schrieben, würde textverarbeitet sein.

Während sie redete, schaute sie uns allen einzeln und nacheinander in die Augen, das fühlte sich unangenehm an. Ich merkte, dass sie diese Wirkung beabsichtigte. Mrs Hepton hob unterdessen den Blick und richtete ihn mit düsterer Miene auf die Uhr, die an der hinteren Wand des Klassenzimmers hing. Mrs Hepton war es gewesen, die uns geduldig und allen Widrigkeiten zum Trotz das Lesen beigebracht hatte und das Schreiben mit einem gespitzten HB-Bleistift, alles in Kleinbuchstaben. Kaum hatten wir das bewältigt, fingen wir wieder beim »a« an und lernten, die Buchstaben zu verbinden, bis wir schließlich, einzeln oder zu zweit, einen Füller überreicht bekamen, sobald – und keinesfalls früher – die Schreibschrift gut genug für Tinte war. Einige Kinder bekamen nie einen Füller, und Mrs Hepton unternahm nichts, um ihre Beschämung zu mildern, Beschämung gehörte wesentlich zu ihrer Lehrmethode, ebenso wie Sprechen im Chor, Ordentlichkeit, Gehorsam und Schweigen.

Wir packten den Computer aus, und Mrs Hepton bemerkte, wie viel Raum das Gerät einnahm und dass er den gesamten Platz des Naturkundetischs besetzte. Sie überlegte laut, warum er nicht im Klassenzimmer von Fräulein Carr untergebracht wurde. Ms Carr erwiderte, der Naturkundetisch könne in die hintere Ecke des Raumes geschoben werden, und dass ihre Klasse bereits mehr Schüler in einem kleineren Raum habe. Das »Fräulein« korrigierte sie nicht.

Als der Computer auf dem Rolltisch aufgebaut war, überragte er das Lehrerpult. Das Gerät war bräunlich weiß, das war die Farbe des Steins im hiesigen Steinbruch, und ich frage mich heute, warum man für das Plastikgehäuse genau diesen Farbton gewählt hatte, als ob die Gestalter gewollt hätten, dass ihre Maschine Assoziationen mit Geologie weckte – mit dem Bergwerk oder dem Steinbruch, aus dem die Mineralien in ihrem Innern entnommen worden waren, bevor sie verarbeitet und, mit neuen Formen von Intelligenz ausgestattet, in dem Plastikgehäuse wieder eingeschlossen wurden. Wir öffneten die Schachtel vorsichtig und voll Neugier, als wäre ein lebendiges Tier darin, und wurden kühner, je weiter der Computer aus seinem Pappbau, seinen Plastikhüllen und Styroporblöcken geschält wurde. Ein Kind fuhr mit einem Fingernagel über die körnige Oberfläche des Monitorgehäuses, und ein dunkles, raues Geräusch entstand dabei. Ms Carr zuckte zusammen.

Schließlich waren die Festplatte, der Monitor, die Diskettenlaufwerke und die Tastatur alle an ihrem Platz, und vor uns lag ein Schlangennest aus Drähten und Kabeln, die in verschiedenartigen Steckern ausliefen. John Green, der zu denen gehörte, die noch keines Füllers würdig waren, und der die Schule schwänzte, wenn sein Vater auf dem Bauernhof etwas Interessantes zu tun hatte, ließ sich hinter dem Rolltisch auf den Boden nieder, und mit einem Ausdruck konzentrierter Seligkeit verband er die Maschine mit Kabeln und Kabel mit der Maschine. Schließlich stand er auf und nickte, es konnte losgehen. Ms Carr steckte den größten Stecker in die Wand und drückte den Steckdosenschalter, nichts passierte.

»Er funktioniert nicht«, sagte Mrs Hepton.

Ms Carr blickte düster.

»Hier macht man ihn an«, sagte John mit dem Anflug eines Lächelns. Er drückte auf den Knopf.

Mit dem ersten Hauch der Ventilatoren in der Maschine schien etwas aufzubrausen, als fahre ein Schwall heißer Luft in den Raum. Kurz darauf erschien der Cursor mit einem kurzen Pfeifton und blinkte.

Der Schulcomputer hatte keine Internetverbindung, und ich war noch nie in einem Haus gewesen, wo ein Monitor stand, aber viele von uns hatten Megadrives und Gameboys. Die Tage, an denen Pflanzenschutzmittel gesprüht wurden, verbrachte ich mit Clare bei ihr zu Hause mit Computerspielen. Clare und ich freuten uns auf diese Tage, weil unsere Mütter uns dann drinnen hielten, wir bekamen Knabberzeug und durften fernsehen und uns mit Computerspielen die Zeit vertreiben, wenn wir still waren. Wir spielten Sonic, und Clare war auf einem Level, das für mich unfassbar war wie der Himmel, und sie gab sich nicht mal mehr mit Tetris ab, aber bei einem Spiel, in dem wir Flugzeuge abschießen mussten, grobe Umrisse mit Flügeln aus eckig gestuften Pixeln, da waren meine Reflexe schneller als ihre, und ich holte ein Flugzeug nach dem anderen runter. Clare gackerte belustigt über meine unheimliche Fähigkeit. »Das passt nicht zu dir.« Gewinnen tat gut.

Gespritzt wurde meistens im späten Frühling, wenn das Unkraut hochschoss und Regen niederging. Schimmel und Milben blühten auf den Feldern. Unsere Straße bestand aus einer Zeile von Doppelhäusern aus der Zwischenkriegszeit. Die vier Häuser am Rande des Dorfs, zu denen auch das von Clares Familie gehörte, blickten auf den Steinbruch. Sie waren Eigentum der Gemeinde. Die anderen vier, zu denen auch unseres gehörte, waren näher am Zentrum des Dorfes und waren Eigentum der Bewohner. Clares Haus ging auf den Steinbruch hinaus, und meines auf große bewirtschaftete Äcker, kahle Hänge, aller Hecken beraubt, auf denen im Wechsel Weizen Gerste und Saubohnen angebaut wurden. Die Äcker bekamen zwar Sonne, doch der Boden war schwer und hielt die Feuchtigkeit, deshalb brauchten sie Pestizide, um überhaupt Ertrag zu geben. Sie brauchten sie eben. Das war eine Tatsache, die sich aus der Welt ergab, in der wir lebten: Es war notwendig, und darum musste es wahr sein.

Ich spielte mitten in den Feldern und kannte deshalb auch das andere Ungeziefer gut. Kleine Insekten mit glänzenden Panzern drängten sich am Ansatz der Haare auf den Gerstenähren, jede einzelne solche Ansammlung wölbte sich zur Größe einer Brombeerperle. Graues haariges Zeug, das nach Baumwollfasern oder Gänsedaunen aussah, spross zwischen den Halmen und speicherte Feuchtigkeit nach dem Regen. Dieses Material trug zu einem weiteren Problem bei, nämlich einem dritten Schädling in Gestalt von schwarzen Punkten, groß wie Nadelstiche, die ihre Muster über die diagonal verschränkten Körner in den Weizenähren zogen.

Sogar bei trockenem Wetter war es tief drinnen im Feld feucht. Nach dem Spielen dort waren meine Arme nass und überzogen mit einem weißpockigen Ausschlag. Nasse Gerste roch wie Wäsche, die zu lang in der Waschmaschine gelegen hat, und an stillen heißen Tagen nach Regenwetter stieg dieser Geruch aus den Feldern auf und stand übelkeitserregend in der Luft. Doch das Spritzen war schön, und es gefiel mir – mir gefiel, dass ich dann stundenlang bei Clare zu Hause sein konnte, und ich bewunderte das mit dem Spritzen verbundene Geschick: Thomas Gray raste auf seinem Traktor auf und ab und flog mit überhöhter Geschwindigkeit über die Unebenheiten, während er geblähte Ballerinaröcke aus Dampf hinter sich herzog, die auch dann noch in schwindenden asthmatischen Stößen zuckten, wenn er bereits wieder über die Straße nach Hause fuhr. Meine Mutter gab eine bruchstückhafte Erklärung der Art und Weise, wie dieser Dunst in die Lungen kroch und wie diese kleinen Pünktchen sich in schwebende Umrisse verwandelten, um dann durch das Blut zu kreiseln. Ich stellte mir Partikel vor, die chaotisch wie Tetris-Bausteine purzelten und die rasch und entschlossen angegangen werden mussten, um sich richtig in den Körper einzupassen.