Novel Haven - Levels of Love - Anabelle Stehl - E-Book

Novel Haven - Levels of Love E-Book

Anabelle Stehl

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Beschreibung

Sie dürfen nicht verlieren - schon gar nicht ihr Herz

Zwei Konkurrenten
Lara vs. Luca.
Unsicher vs. Selbstsicher.
Cosy Game gegen Horror Game.
Sie könnten nicht unterschiedlicher sein und verarbeiten doch beide ihre ganz eigenen Ängste in ihren Spielen.

Ein Wettbewerb
Die GameChanger-Convention ist ihre Chance auf Anerkennung, Sichtbarkeit - und das dringend benötigte Preisgeld.

Unzählige Gefühle
Hinter der Fassade aus Ehrgeiz und Konkurrenz sehnen sich Lara und Luca nach jemandem, der sie auch abseits der Bildschirme versteht. Sie könnten perfekt füreinander sein - doch am Ende kann nur einer gewinnen und seinen Traum verwirklichen ...

»Jede einzelne Seite hat mein Gaming-Herz höher schlagen lassen. Ganz große Liebe!« SIMFINITY

Band 1 der neuen Gaming-Reihe von SPIEGEL-Bestseller-Autorin Anabelle Stehl

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 527

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Playlists

Widmung

Leser:innenhinweis

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Danksagung

Die Autorin

Die Bücher von Anabelle Stehl bei LYX

Impressum

ANABELLE STEHL

Novel Haven

LEVELS OF LOVE

Roman

Zu diesem Buch

Seit Jahren verarbeitet Spieleentwicklerin Lara die traumatischen Ereignisse ihrer Vergangenheit in ihrem Cosy Game Novel Haven. Das Spiel bedeutet ihr alles, doch um es weiterentwickeln und auf den Markt bringen zu können, ist ihr Indie-Studio auf das Preisgeld einer renommierten Game-Convention angewiesen. Als Laras Chefin plötzlich krank wird, ist es mit einem Mal an ihr, an der GameChanger auf dem herrschaftlichen Anwesen bei Cambridge teilzunehmen und das Spiel dort zu präsentieren. Ihre Vergangenheit macht es Lara schwer, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen und vor Publikum zu sprechen. Zudem trägt ihr gut aussehender Konkurrent Luca nicht gerade dazu bei, dass sie sich besser auf ihre Aufgabe konzentrieren kann. Dabei versucht auch Luca, die Geschehnisse seiner Vergangenheit in seinem Horror Game zu verarbeiten, und er sieht Lara auf eine Weise wie noch niemand zuvor. Beide sehnen sich nach jemandem, der sie auch abseits der Bildschirme versteht. Sie könnten perfekt füreinander sein, wäre da nicht die Tatsache, dass nur einer gewinnen und seinen Traum verwirklichen kann …

Playlists

GameChanger

Laras LoFi

LucasHorrorMood

Für alle Frauen, die in (noch) männerdominierten Feldern ihren Platz einfordern.

Mit jedem Schritt ebnet ihr weitere Wege.

Euer Mut verändert die Welt.

Ihr seid meine Heldinnen.

Danke.

Liebe Leser:innen,

dieses Buch enthält Elemente, die triggern können.

Deshalb findet ihr hier einen Contenthinweis.

Achtung: Dieser enthält Spoiler für das gesamte Buch!

Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.

Eure Anabelle und euer LYX Verlag

1

Lara

Willkommen in Novel Haven.

Nutze WASD und die Maus, um dich in deinem neuen Zuhause umzusehen.

Wann immer die Last der Welt mich zu erdrücken droht, webe ich mir eine neue aus Fantasie und C#. So war es schon zu Teenagerzeiten, als ich mir mühsam Programmieren beibrachte, um den wirren Gedanken in meinem Kopf Ausdruck zu verleihen, und so ist es auch heute noch. Wobei ich fairerweise zugeben muss, dass mich mittlerweile nicht länger die Realität zu erdrücken droht, sondern der Berg an Arbeit, der einfach nicht kleiner wird, egal wie viele Überstunden ich schiebe. Erwachsensein. So großartig.

Ich trinke den Rest meines lauwarmen Kaffees und wünschte, ich könnte ihn mir direkt in die Venen spritzen, durch die ohnehin mehr Koffein als Blut fließt. Die vergangene Nacht habe ich mal wieder kaum geschlafen, doch das war es wert. Die Demo von Novel Haven steht: die Welt, in die ich mich seit etwa zwei Jahren tagtäglich flüchte und die mein Ein und Alles ist. Die Welt, die nach und nach den Druck von mir nimmt und die Wunde meiner Vergangenheit Code-Zeile für Code-Zeile wieder zusammenflickt.

Mit einem Lächeln sehe ich dabei zu, wie Nora – der Default-Name der Protagonistin unseres Games – durch das kleine Dorf bis zu dem Leuchtturm an der Klippe läuft, den sie nun ihr Eigen nennen darf. Die Sonne geht unter und taucht alles in warmes Licht, als sie angesprochen wird – vom Bürgermeister des Ortes. Er wird sie gleich auf die Idee bringen, dort eine Buchhandlung zu eröffnen, doch bevor er das tun kann, tippt mir jemand auf die Schulter, sodass ich zusammenzucke.

»Erde an Lara.«

Obwohl ich mich bereits umdrehe, piekt Nataly mir noch einmal mit einem ihrer perfekt manikürten Nägel in den Arm.

»Gott, deine Reaktionsfähigkeit ist komplett hinüber.« Nats blaue Augen funkeln amüsiert. Sie trägt die langen blonden Haare in einer kompliziert aussehenden Flechtfrisur, während meine schwarzblauen Strähnen mir mit Sicherheit vom Kopf abstehen, so oft wie ich sie in den letzten Stunden gerauft habe. »Sophia hat schon zweimal zum Meeting gerufen, aber du bist mal wieder im Sitzen eingepennt.«

»Bin ich gar nicht«, protestiere ich und räuspere mich direkt darauf, weil meine Stimme rau und kratzig ist. Ich scanne meinen Schreibtisch nach Wasser, doch dort stehen neben meinem Kaffee nur drei leere Energydrink-Dosen – mein ungesundes Laster. Nat folgt meinem Blick und pfeift leise.

»Dein Chaos macht meinem langsam Konkurrenz.«

Ich schnaube und pieke nun meinerseits ihren Arm. »Träum weiter.« Denn so chaotisch Nataly als Mitbewohnerin auch ist: Als Kollegin toppt sie das Ganze um Längen. Ihr Schreibtisch versinkt in einem Berg aus Zetteln, Handcremes und Post-its.

»Leute! Ich hab jetzt dreimal gerufen! Wenn ich gewollt hätte, dass man nicht auf mich hört, wär ich Mutter geworden, nicht eure Chefin.« Sophias roter Haarschopf taucht in meinem Augenwinkel auf, als sie um die Ecke lugt. Ihr beißender, lauter Tonfall steht in starkem Kontrast zu ihrer elfengleichen Statur. »Lara, Nataly, los jetzt!«

Mit einem Seufzen erhebe ich mich, und Nat drückt kurz meine Hand. »Heute Abend packen Aria und ich dich ins Bett, kochen veganes Mac’n’Cheese und machen dir einen Film an. Du brauchst dringend eine Pause!«

»Das klingt traumhaft«, erwidere ich und unterdrücke ein Gähnen. Nataly und ich betreten das Büro, wo außer Sophia auch Aria, Kamal und Ramon bereits am Tisch sitzen. Ramon prostet mir mit seiner Kaffeetasse zu, und obwohl er in den letzten Tagen ähnlich viel Stress hatte wie ich, sieht er wesentlich fitter aus. Er hat alles auf Herz und Nieren geprüft, mir jegliche Bugs reportet, mich damit mehr als einmal zur Verzweiflung getrieben, aber wir haben es endlich geschafft. Ich lasse mich neben ihm auf den freien Stuhl fallen, Nataly setzt sich mir gegenüber zwischen Aria und Kamal.

»Guten Morgen, schön, dass wir endlich komplett sind.« Sophias Blick findet meinen, und sie schafft es genau einen Atemzug lang, ernst und tadelnd dreinzuschauen, bevor ihre Mundwinkel zucken. Einer der vielen Gründe, warum ich unsere Chefin liebe? Sie ist entspannt und so vollkommen anders als alle Chefs, die ich während meiner Praktika kennengelernt habe. Ein weiterer wäre, dass sie mich eingestellt hat, obwohl ich abgesehen von besagten Praktika und einigen privaten Projekten keine Berufserfahrung vorzuweisen hatte. Getoppt wird dieser Grund noch davon, dass sie meine beiden besten Freundinnen, Nataly und Aria, gleich mit engagiert hat.

»Entschuldigung«, murmle ich, »war eine lange Nacht.«

»Wieder Ghibli-Filme geguckt?«, fragt Ramon nur und hebt eine dunkelbraune Braue.

»Nein, gearbeitet. Benimm dich, sonst ertränk ich dich in deinem Planschbecken. Oder dem Kaffee.«

Punkt Nummer vier für diesen Job: Er ist familiär. Nach zwei Jahren seit Gründung sind wir ein eingeschweißtes Team. Ich kenne Ramons Trainingsplan fürs Schwimmen genauso gut wie er meine liebsten Filme. Ich fühle mich wohl. Habe, vielleicht zum ersten Mal seit dem Danach, keine Angst, einfach draufloszuplappern.

»Wenn ihr euch jetzt nicht zusammenreißt, nehme ich euch die Kaffeemaschine weg«, droht Sophia.

Ramon schnappt gespielt nach Luft. »Das würdest du nicht wagen.«

»Fordere mich gern heraus.« Sie presst die Lippen zusammen, vermutlich, damit sie nicht ebenfalls grinsen muss, dann richtet sie den Blick aus tiefgrünen Augen wieder auf mich. »Lara.«

»Anwesend!«, sage ich, dank des Schlagabtauschs endlich etwas wacher.

»Morgen ist der Vorentscheid der GameChanger.«

Ich nicke. Als ob ich das nicht wüsste. Seit Tagen, nein, Wochen schuften wir rund um die Uhr, um den Prototyp unseres Spiels Novel Haven rechtzeitig zum Wettbewerb präsentabel zu kriegen. Die GameChanger ist eine seit zwanzig Jahren stattfindende Videospiel-Convention, die auch deshalb berühmt geworden ist, weil sie in keiner Messehalle, sondern auf einem edlen Anwesen stattfindet. Vor vier Jahren sind mehrere Investoren zusammengekommen, um junge Studios oder kleine, frisch gegründete Teams größerer Studios zu fördern. Seitdem gibt es während der Convention einen Wettbewerb, der nicht nur großartige Werbung für alle Teilnehmenden ist, das Gewinner-Team erhält außerdem ein Preisgeld. Ein enorm hohes Preisgeld. Und wenn es eine Sache gibt, an der es kleinen Studios mangelt, dann ist es Geld.

Morgen findet die Juryrunde statt, bei der wir irgendwelche Minister Großbritanniens von Novel Haven überzeugen müssen. Wenn wir weiterkommen, nehmen wir zwei Wochen darauf an der Convention und somit an der zweiten Runde teil. Dort muss sich unser Spiel vor Publikum beweisen. Der Sieg würde es uns ermöglichen, Messen zu besuchen. Oder eine weitere Person einzustellen. Ich hätte endlich jemanden im Sound Design, der …

»Ist die Demo bereit?« Sophia schiebt sich eine Strähne ihres schulterlangen Haars hinters Ohr. »Hast du die letzten Änderungen noch umgesetzt?«

»Yep, daher die Augenringe bis zum Boden.«

»Sehr gut. Also Ersteres, nicht die Augenringe. Baut morgen gern die Überstunden ab, wenn ich nächste Woche mit dem Feedback der Juroren zurückkomme, haben wir wieder ordentlich zu tun.«

»Ach was, sie werden begeistert sein!«, meint Kamal, der Sechste und Älteste in unserem Team, auch wenn er regelmäßig betont, dass neununddreißig noch kein Alter ist. Wir ziehen ihn dennoch ständig damit auf, dass erste graue Strähnen sich in seinen schwarzen Haaren und dem Bart bemerkbar machen. Er ist ebenfalls Developer, fokussiert sich im Gegensatz zu mir aber auf unser User Interface sowie den Multiplayer, den wir hoffentlich parallel zum eigentlichen Spiel launchen können.

»Garantiert!«, stimmt Sophia zu. »Wir werden die anderen in Grund und Boden stampfen, den Pokal auf LinkedIn allen unter die Nase reiben, an Messen teilnehmen und ein ganzes Orchester für die Ingame-Musik einstellen können.«

»Und einen Bürohund kaufen«, fügt Aria leise hinzu. Passend zu ihrer Bitte setzt meine Mitbewohnerin ihren Welpenblick ein und sieht Sophia aus großen braunen Augen an.

»Definitiv Nein zum Bürohund.«

»War einen Versuch wert«, meint Ramon und tätschelt Aria die Schulter. Nataly neben mir seufzt, vermutlich weil sie genau wie ich ahnt, dass Aria dann uns beide weiter beschwatzen wird, ein Haustier in die WG zu holen – was mit unseren Arbeitszeiten einfach nur unvernünftig wäre.

»Hast du mittlerweile eigentlich die gesamte Liste der Teilnehmenden? Kennen wir die Konkurrenz?«, fragt Kamal neugierig.

Sophia schüttelt den Kopf. »Fast. Es sind zwanzig Studios, aber bei zweien steht immer noch, dass sie nachgereicht werden. Vermutlich haben sie irgendwas mit dem bürokratischen Kram versäumt. Angeblich kommt die finale Liste bis elf, also in …« Sie wirft einen Blick auf ihre Uhr. »… etwa einer Stunde. Bislang sieht aber alles gut aus, nicht konkurrenzlos, aber so, dass wir eine realistische Chance haben. Außerdem geht es in unserem Spiel um Bücher, das verkauf ich den Politikern dort als wichtigen Bildungsauftrag. Ich geb euch Bescheid, sobald ich mehr weiß.« Sophia teilt ein paar letzte Infos rund um den Wettbewerb mit uns, bevor wir alle reihum unsere Aufgaben für diese Woche besprechen. Da die Demo nun steht und wir während Sophias Abwesenheit Überstunden abbauen sollen, hat sich die Lage endlich ein wenig entspannt, zumindest für kurze Zeit. Denn wenn wir weiterkommen, wartet noch mehr Arbeit auf uns – und so müde ich auch sein mag, ich kann es kaum erwarten.

»Also dann …«, sagt Sophia, nachdem Nataly die aktuellen Zahlen unserer Social-Media-Accounts durchgegeben hat. »Let’s go, zurück an die Arbeit. Und, Ramon, trink auch mal ein Wasser zwischendurch.«

»Ja, Ma’am«, erwidert Ramon und erhebt sich.

»Und nenn mich nicht Ma’am, ich bin nur zwei Jahre älter als du.«

»Nichts kann man hier richtig machen.« Er seufzt, und jetzt ist es Aria, die ihm im Weggehen auf die Schulter klopft. Ihr Lächeln bringt die Grübchen auf ihren Wangen zum Vorschein. Sophia murmelt etwas, was verdammt nach chaotischem Haufen klingt, aber auch sie trägt ein Lächeln auf den Lippen.

»Wenn wir morgen frei haben …«, beginnt Nataly, und in ihre blauen Augen hat sich bereits ein Funkeln gelegt.

Ich schüttle den Kopf. »Ich geh nicht mit dir Rollschuh fahren. Ich werde schlafen.«

»Och, komm schon. Schlafen kannst du, wenn du tot bist.«

»Was sie wesentlich schneller sein wird, wenn sie ihren Schlafrhythmus nicht langsam in den Griff bekommt.« Aria schließt zu uns auf, und gemeinsam gehen wir in die kleine Küche, in der Ramon trotz Sophias Worten bereits einen weiteren Kaffee zieht. Ich stelle mich an und lasse den Blick durch den gemütlichen Raum schweifen, der an den Leuchtturm in Novel Haven angelehnt ist: warme Farben, maritime Dekoration und ein Bücherschrank, gesponsert vom Notting Hill Bookshop, über dem sich unser Büro befindet. Er strahlt all die Ruhe und Gemütlichkeit aus, die unser Spiel den Menschen da draußen vermitteln soll. Und das Spiel wiederum strahlt so vieles aus, was in mir drin wohnt und bislang nie hinauskonnte. Dieses Büro ist, genau wie Novel Haven, eine Art Heimat für mich geworden. Eine Zuflucht in der Welt, die mich häufiger ausgrenzt als akzeptiert. Und genau deshalb stören mich weder die Augenringe noch mein seltsamer Schlafrhythmus, denn wenn ich nur einem Menschen diese Art Zuflucht geben kann, die mir so sehr geholfen hat, dann hat es sich bereits gelohnt.

»Cheers.« Mit einem Zwinkern prostet Ramon mir zu und tritt dann zur Seite, damit ich mit meiner Prinzessin-Mononoke-Tasse zur Maschine kann. »Dein Konsum macht meinem langsam Konkurrenz.«

»Solang ich nicht wie du sogar um sechs Uhr abends an der Maschine stehe, ist alles cool«, erwidere ich und sehe gerade noch, wie Ramon mir die Zunge rausstreckt, bevor er aus der Küche verschwindet.

»In Marylebone hat eine Rollschuh-Disco aufgemacht«, beginnt Nataly noch einmal, laut genug, um das Surren der Maschine zu übertönen. Sie wischt ein paar Krümel von der Theke, schwingt sich darauf und lässt die Beine baumeln, die wie immer in eleganten Schuhen stecken, hellgelb diesmal, und farblich perfekt auf ihr Vintage-Kleid abgestimmt.

»Disco?« Aria schüttelt den Kopf. »Dann bin ich auch raus.«

»Leute, kommt schon! Nur weil wir nicht mehr studieren, können wir doch nicht in den Rentnerinnen-Lifestyle verfallen.«

»Ich war auch während des Studiums nicht feiern«, wirft Aria ein.

»Bitte, mir zuliebe.« Nat sieht uns mit großen Augen an, und ich kann beobachten, wie Aria schwach wird. Wie immer. Ich beiße mir auf die Lippe, um nicht aufzulachen. Nataly ist unser Marketing-Girl im Studio, und sie schafft es nicht nur, uns regelmäßig zum Rausgehen zu bewegen, letztens hat sie sogar Kamal zu einem TikTok-Tanz überredet. Ich hätte gern auch nur zwanzig Prozent ihrer Überzeugungskraft. Sie ist der Social Butterfly unserer WG, während Aria eher introvertiert ist. Doch selbst diese schafft es, trotz ihrer Schüchternheit, zu streamen. Nur ich – ich halte mich meist aus allem raus. Aus guten Gründen. In den vier Wänden unserer WG, des Büros und natürlich in Novel Haven kann ich ich selbst sein – doch da draußen? In der realen Welt will niemand mein wahres Ich, das musste ich auf die harte Tour lernen.

»Na gut«, gibt Aria mit einem Seufzen nach, und Nat springt von der Theke, um ihr um den Hals zu fallen.

»Du bist die Beste!«

»Dafür räumst du deinen Klamottenberg im Bad endlich weg«, gibt Aria zurück, und Nat nickt wie wild.

»Schon erledigt.«

Aria und ich werfen einander einen skeptischen Blick zu, denn so penibel Nat auf ihr Äußeres achtet: Abgesehen davon ist sie das reinste Chaos.

»Na dann«, meine ich, nachdem ich einen Schuss Hafermilch in den Kaffee gegeben habe. »Jetzt, da ich zum vierundsiebzigsten Mal gecheckt habe, dass auch wirklich keine Bugs und Glitches in der Demo sind, kann ich endlich weiterarbeiten.« Ich winke den beiden zu und gehe zurück zu meinem Schreibtisch, welcher sich direkt neben Ramons befindet, der bereits wieder in Novel Haven vertieft ist. Ohne dass er mich bemerkt, sehe ich eine Weile dabei zu, wie er die Buchhandlung im Leuchtturm sortiert und die neu gefundenen Bücher zum Verkauf anbietet. Alles läuft fehlerfrei, und ich lasse mich zufrieden auf meinen Schreibtischstuhl sinken. Die nächsten Minuten verschwinden in einem Strudel aus Zahlen und Codes, während auf meinem linken Bildschirm die süßen Pixelgrafiken liegen, die Aria erstellt hat und die nun ihren Weg ins Spiel finden. Da Aria im echten Leben kein Haustier haben kann, hat sie uns überredet, eine größere Auswahl an Tieren ins Game einzubauen. Nun können die Spieler und Spielerinnen nicht nur zwischen Hund, Katze und Meerschweinchen wählen, sondern auch Schildkröten, Vögel oder …

»Was zur Hölle«, murmle ich, als mein Blick auf den Ordner voller Capybara-Grafiken fällt. Novel Haven ist zwar in keinem realen Land verortet, die Umgebung und Wetterverhältnisse lassen jedoch nicht gerade auf Südamerika schließen. Schmunzelnd öffne ich den Messenger und tippe eine Nachricht an meine Mitbewohnerin. Ihr Profilbild ist im Stil unseres Spiels gehalten: Eine Pixelgrafik zeigt Aria als niedlichen Charakter mit welligen dunkelbraunen Haaren, Pony und einem Buch in der Hand.

Lara: Capybaras, wirklich?

Aria: So. Süß.

Lara: Ich schwöre, wenn ich eine negative Rezension von wegen Tierquälerei erhalte …

Aria: Weil eine Katze in Einzelhaltung in einer Buchhandlung so viel besser ist? Oder ein frei herumlaufendes Meerschweinchen?

Lara: Touché.

Aria: Bau den Capybara ein, oder kauf mir einen Real-Life-Hund!

Ich will gerade eine Erwiderung tippen, als eine weitere Chat-Nachricht aufploppt. Von Sophia. Da sie neben mir die einzige Vollzeit-Programmiererin im Team ist, ist das keine Seltenheit, dass sie so knapp und ohne Emojis schreibt, hingegen schon.

Sophia: Kommst du bitte in mein Büro?

Mehr steht da nicht, und Sophia tippt auch nicht mehr. Kein lächelndes Gesicht, keine Herzchen, nichts. Sehr Millennial-untypisch und vor allem sehr Sophia-untypisch. Ein ungutes Gefühl beschleicht mich.

Bitte, bitte, bitte kein Bug in der Demo. Ich habe sie hundertmal gecheckt, Ramon, Kamal und ich haben uns die Nächte um die Ohren geschlagen.

Mit einem Seufzen schnappe ich mir meine Tasse und gehe in Sophias Büro – als Chefin hat sie das große Privileg, eine Tür zu besitzen, während wir anderen uns einen großen Raum teilen. Ich klopfe an, und der Klumpen in meinem Bauch wird schwerer, als ich ihr monotones »Komm rein« höre. Sie klingt, als hätte man ihr jegliches Leben ausgesaugt. Kaum dass ich eintrete, stutze ich kurz, denn sie sieht auch genauso aus. Ihre helle Haut ist noch blasser als sonst, und sie trommelt mit den Fingern nervös auf die Tischplatte.

»Alles in Ordnung? Muss ich mich noch mal irgendwo ransetzen? Das ist kein Thema, ich bekomm das bis morgen hin!«

»Nein, das ist es nicht, ich …« Sie räuspert sich, ihre Stimme ist so kratzig, dass sie meiner Konkurrenz macht, nur dass mein Kratzen von Dauer ist. »Ich kann morgen nicht zum Vorentscheid.«

»Was? Wieso, ist was passiert?« Offensichtlich etwas Schlimmes, wenn sie dafür die Reise sausen lässt. Das würde auch ihr fahles Gesicht erklären.

»Du musst für mich fahren«, sagt sie, ohne auf meine Frage einzugehen.

Ich schüttle heftig den Kopf. »Auf keinen Fall, nein. Was ist denn los? Ist was mit deiner Familie?«

»Nein, ich …« Sophia beißt sich auf die Lippe. Ihr Optimismus vom Meeting vorhin ist verflogen. »Lebensmittelvergiftung, schätze ich. Ich dachte, ich hab es im Griff, aber ich war gerade auf der Toilette, und nope. So kann ich nicht auf die Bühne. Geschweige denn Zug fahren.«

»Bis morgen geht das bestimmt wieder, ich …«

»Du musst die Präsentation halten.«

»Ramon kann doch fahren! Oder Nataly! Sie ist großartig im Präsentieren.«

»Sie hat das Spiel nicht programmiert. Du schon.«

»Aber eben ging es dir doch noch blendend! Bestimmt hast du gleich alles wieder im Griff und …«

»Lara.«

»Ich kann nicht vor anderen sprechen.« Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Auf einmal wünschte ich, es wäre nur etwas mit der Demo. Etwas, das sich mit ein paar Überstunden und Code-Zeilen fixen lässt. Auf gar keinen Fall kann ich auf eine Bühne gehen und vor anderen Menschen einen Vortrag halten. Vor einem Jahr habe ich es nicht einmal geschafft, in Teammeetings den Mund aufzukriegen. Zu groß war die Angst, wieder kritische Blicke oder gar Lachen zu ernten, so wie früher. Bei der bloßen Vorstellung, Novel Haven einer Gruppe Fremder zu präsentieren, beginnt mein Puls zu rasen, und die lachenden Gesichter meiner Klasse erscheinen vor meinem inneren Auge.

»Du kannst. Du tust es hier doch auch täglich.«

»Das ist etwas anderes, ihr seid … ihr.«

»Das sind auch alles Nerds, nur eben aus anderen Studios. Bitte, Lara. Wir brauchen diese Förderung.«

»Ich weiß, aber …« Meine Augen beginnen zu brennen, und ich blinzle eilig, bevor Sophia etwas bemerkt. Es fehlt gerade noch, dass ich vor ihr losheule. Sehr erwachsen. Dabei bin ich fünfundzwanzig, verdammt. Shit, shit, shit. Wie kann es ihr so plötzlich so schlecht gehen? Kündigt sich eine Magenverstimmung nicht früher an? »Was, wenn wir zum Arzt gehen? Der hat sicher was gegen Lebensmittelvergiftung, oder?«

»Lara …« Sophia seufzt, und ihre grünen Augen bekommen etwas Entschlossenes. Anscheinend habe ich genau das Falsche gesagt. »Ich glaube, das ist eine super Chance für dich. Konfrontationstherapie. Du wirst sehen, dass rein gar nichts Schlimmes passiert. Miley Cyrus hat auch eine tiefe, rauchige Stimme, und die Leute finden es sexy.«

»Die Leute machen Memes und witzige TikToks mit Mileys Stimme und vergleichen sie mit kläffenden Hunden.«

»Du bist definitiv auf der falschen Seite von TikTok«, erwidert Sophia.

»Ich kann das nicht«, sage ich zum dritten Mal. Mein Hals ist so eng, dass ich meinen Herzschlag darin spüre. Dabei hätte ich unter anderen Umständen wohl gelacht, denn ich könnte nicht weiter von Miley Cyrus entfernt sein. Sie ist berühmt, reich, und ihre Stimme wird von etlichen Menschen geliebt. Sie schafft es sogar regelmäßig in die Charts damit. Meine hingegen ist das Gegenteil von sexy, sie kratzt in meinem Hals und in den Ohren anderer, sie bricht, als wäre ich ein pubertierendes Kind im Stimmbruch, und weil das noch nicht genug ist, habe ich diesen nervösen Tick, bei dem ich mich ungefähr hundertmal die Minute vergewissere, dass meine Ärmel auch tief genug sitzen, um alle Brandnarben zu verdecken.

»Dann war es das wohl mit dem Preisgeld und somit auch mit unserem Sound Design, und von den Messeauftritten dieses Jahr müssen wir uns wohl auch verabschieden. Nat kriegt auf jeden Fall einen Teil des Social-Media-Budgets gestrichen. Schade.« Sophia klappt ihren Laptop zu. »Ich muss nach Hause. Gib mir bis drei Uhr nachmittags Bescheid, ob ich den Veranstaltern deinen Namen nennen und dir ein Zugticket kaufen soll. Ich glaube an dich, und ich weiß, dass du das großartig machen wirst, so wie du bisher alles rund um Novel Haven großartig gemacht hast.«

Der Klumpen in meinem Bauch ist mittlerweile zentnerschwer und sorgt dafür, dass mir übel wird. Doch die Vorstellung, dass Novel Haven, mein Herzenstraum, aufgrund meiner Feigheit weniger wird, als es sein könnte, ist noch schlimmer. Sophia hat so viel für mich getan, alle hier haben das. Ich schulde es ihnen genauso wie dem Spiel. Und mir.

»Erste Klasse.« Meine Stimme ist kaum ein Flüstern, doch die Worte sind ausgesprochen.

»Was?«

»Ich will ein Erste-Klasse-Ticket.«

Sophia lächelt. »Kriegst du. Ich schick dir die vollständige Liste der teilnehmenden Studios gleich zu. Du wirst das meistern, wart’s ab.«

Ich erwidere ihr Lächeln, doch meine Mundwinkel zittern, und die Übelkeit ist mittlerweile so stark, als wäre ich diejenige mit der Lebensmittelvergiftung. Ich verabschiede mich, vergesse meinen Kaffee und eile ins Badezimmer, Arias und Natalys fragende Blicke ignorierend. Ich schließe die Tür, bevor sie mir hinterhereilen können, und stütze mich am Waschbecken ab. Das kalte Wasser rinnt über meine Handgelenke, beruhigt den rasenden Puls darunter jedoch kein bisschen. Meine hellbraunen Augen starren mir ängstlich im Spiegel entgegen, und ich bin sogar noch blasser, als Sophia es war. Meine Haut hebt sich aschfahl von meinen dunklen Haaren ab. Neben der Angst liegt Gewissheit in meinem Blick.

Ich werde scheitern.

2

Luca

Wenn du in Desolate Dread mal nicht weiterweißt, drücke Q, um eine Übersicht über alle aktuellen Quests zu erhalten.

»Fuck!«

»Dir auch einen wunderschönen guten Morgen, Sonnenschein.«

»Morgen«, grummle ich zur Antwort, als Maleek sich neben mir an seinen Schreibtisch fallen lässt. Seine schwarzen Locken sind vom Wind zerzaust, und er gibt den Versuch, sie in der Spiegelung der Fensterscheibe notdürftig zu richten, schon nach wenigen Sekunden mit einem Seufzen auf. Er ist früh dran, im Gebäude ist es noch still, nur ganz hinten, aus der anderen Ecke des Großraumbüros, ertönen Geräusche, die ähnlich verzweifelt klingen wie meine. Kein Wunder, das Entwicklerteam rund um Lawless, das neue Goldstück unseres Studios, hat seit Wochen keinen richtigen Schlaf mehr bekommen. Sie müssen durchpowern, wenn der heiß ersehnte zweite Teil nicht schon wieder verschoben werden soll. Crunch ist angesagt – die in der Branche allseits bekannte und verhasste Bezeichnung für unbezahlte Mehrarbeit und Achtzig-Stunden-Wochen. Ihre Augenringe sind noch tiefer als meine, dennoch bin ich neidisch, denn immerhin ist ihr Spiel bald fertig. Meines entwickelt sich dagegen gerade allem Anschein nach rückläufig.

»Hast du überhaupt geschlafen? Oder geduscht? Bitte sag mir, dass du das Büro verlassen hast …« Maleek sieht mich abschätzend an, dabei kennt er die Antwort bereits. Als ich sie ihm genau aus diesem Grund verweigere, seufzt er lautstark. »Luca, Mann, du brauchst Schlaf.«

Ich hatte gar nicht vor, schon wieder eine Nachtschicht zu schieben, ich habe die Zeit einfach vergessen. Wie lange ich auf den Bildschirm gestarrt habe, ist mir erst bewusst geworden, als die ersten Sonnenstrahlen es bis in unser Büro im dreizehnten Stock geschafft haben. Doch gerade gibt es wichtigere Dinge als Schlaf.

»Andere Leute in unserem Alter gehen feiern. Leute, die aussehen wie du, beenden diese Partys in den unterschiedlichsten Betten Londons. Du brauchst wirklich dringend eine Pause.«

»Ich brauche eine funktionierende Demo bis morgen früh, aber ich krieg diesen Scheiß-Bug nicht weg.«

Frustriert werfe ich die Maus auf den Tisch, und sie rutscht nur dank des Kabels nicht zu Boden. Es wäre die zweite diesen Monat, die meiner vom Schlafmangel befeuerten Wut zum Opfer gefallen wäre – und somit ein weiterer Einkauf, der definitiv nicht in unserem Budget vorgesehen ist. Noch etwas, um das ich das andere Team beneide: Budget.

»Was geht denn nicht?«

Ich rolle mit dem Stuhl zurück und deute auf die drei Bildschirme vor mir, damit Maleek sich das Ganze selbst ansehen kann. Er schiebt seinen Stuhl ein Stück nach vorn und stützt die Ellbogen auf dem dunkelbraunen höhenverstellbaren Tisch ab, dessen Funktionen ich viel zu selten nutze.

»Set Actor Location«, murmelt er beinahe tonlos den Code mit, während er Zachary, unsere Hauptfigur, mit den Tasten des Keyboards bewegt. Dieser schwebt fröhlich die Treppen nach oben. Was großartig wäre, würde es sich bei ihm um einen Geist oder einen Vogel handeln. Tut es aber nicht. Zachary hat Beine. Und eigentlich sollte er sie verdammt noch mal nutzen, um die Stufen hochzulaufen.

»Hmmm«, macht Maleek und schiebt sich noch näher an den Bildschirm, die beinahe schwarzen Augen konzentriert auf den Code gerichtet. Ich lehne mich zurück und lasse meinen Blick von ihm zu meinem chaotischen Arbeitsplatz schweifen, auf dem drei bereits leere Kaffeetassen stehen, mit denen ich mich diese Nacht über irgendwie wach gehalten habe. Ich unterdrücke ein Gähnen und fahre mir durch die dunkelbraunen Haare, die einen Friseurbesuch vertragen könnten. Als ich die Hände über meine Wangen gleiten lasse, erklingt ein kratzendes Geräusch. Ich habe keine Ahnung, wann ich mich zum letzten Mal rasiert habe, aber auch das wird offensichtlich mal wieder Zeit. Mein Leben ist ein einziges Chaos, und wenn ich das Preisgeld nicht gewinne, dann war alles umsonst.

»Ich wünschte, es wäre wenigstens ein Game-crashing Bug«, sage ich, als Maleek einige Minuten später mit tiefen Falten auf der Stirn immer noch den Code kontrolliert. »Irgendwas Gravierendes. Das hier? Das ist peinlich. Das ist ein Anfängerfehler, der mir gar nicht mehr passieren sollte.«

»Quatsch, so was passiert allen mal. Geh gern rüber und frag unsere Freunde von Lawless. Ihnen sind gestern irgendwelche NPCs durch die Gegend geglitcht. Amanda hat so laut geflucht, dass ich es bis hierher gehört habe. Durch das Headset.«

»Vielleicht bin ich auch einfach zu schlecht. Vielleicht war es eine Schnapsidee, dieses Spiel zu pitchen. Vielleicht sollten wir Hanks Angebot annehmen, bevor wir noch mehr Geld in den Sand setzen, und ins Lawless-Team wechseln. Drüben brauchen sie gerade jeden und …«

»Halt die Klappe.«

»Das ist nicht die Art Pep-Talk, auf die ich gehofft habe.«

»Nein, halt die Klappe wie in: Ich hab’s, glaub ich.« Maleeks Worten folgt wildes Tippen, und ich beuge mich über seine Schulter, während er den Code bearbeitet und kurz darauf ein triumphierendes »Ha!« ausstößt. Zachary läuft. Und ich lasse mich erleichtert nach hinten fallen und schließe die Augen.

»Fuck«, sage ich erneut, dieses Mal jedoch aus Dankbarkeit.

»So, und jetzt, da unser Freund Zach gefixt ist, zu dir.« Sanftes Rollen auf Teppichboden erklingt, und als ich die Augen wieder öffne, sitzt Maleek neben mir und starrt mich ernst an. »Du brauchst Schlaf. Wie viele Stunden bist du jetzt schon wach? Kein Wunder, dass du nicht mehr klar denken kannst. Das Spiel ist der Hammer, und das weißt du auch. Du wirst jetzt die Demo fertigstellen, dann gehst du heim, schläfst dich aus, und morgen fährst du zu dieser Konferenz und wirst alle dort so dermaßen überzeugen, dass sie dir das Preisgeld direkt in die Hand drücken.«

»Der Pep-Talk war schon besser.«

»Danke, ich lerne eben schnell.«

Ich lächle müde. »Stimmt. Aber ich glaube, so läuft das dort nicht.«

»Mir egal. Das hast du vor der Bewerbung bei Bytes & Bits auch gesagt, eigentlich fördern sie keine halb entwickelten Games und kleinen Teams – und wir sitzen jetzt trotzdem hier.«

Nun heben sich meine Mundwinkel tatsächlich. Zumindest für einen Augenblick, dann wird mir die Tragweite all dessen wieder bewusst. Ja, Bytes & Bits, eines der renommiertesten Londoner Gaming-Studios, hat uns aufgenommen, als unser altes Studio geschlossen wurde, uns einen Startschuss und eine Möglichkeit gegeben – aber Hank wird auch nicht müde zu betonen, dass er langsam Ergebnisse sehen muss, wenn das Ganze profitabel werden soll. Das Budget ist ausgeschöpft, das Projekt jedoch noch lang nicht fertig. Die Vorrunde der GameChanger morgen ist meine einzige Chance, Desolate Dread genau so zu entwickeln, wie ich es möchte. Wie es das Game verdient hat. Und es hängt so viel mehr daran als ein bloßes Spielerlebnis … Ich schulde es ihnen.

»Wenn ich’s morgen vermassle, war’s das.«

»Erstens wirst du das nicht, zweitens: Selbst wenn du nicht weiterkommst, dann nicht, weil du es vermasselst, sondern weil sie das Spiel nicht verstehen. Drittens war’s das dann nicht, wir können das Spiel auch ohne das Geld fertigstellen.«

»Aber nicht so, wie es sein soll«, sage ich mit einem Seufzen und fahre mir über die Stirn, hinter der es leicht pocht. Die Kopfschmerzen sind seit Tagen mein stetiger Begleiter. Maleek hat recht, wie meistens eigentlich: Ich brauche Schlaf.

»Komm mit.« Mein bester Freund springt auf und klopft mir auf die Schulter.

»Wohin?«

»Die Frühlingsluft genießen. Und Frühstück holen. Eines, das aus Nährstoffen besteht, nicht nur aus Koffein.«

»Na gut«, erwidere ich, weil mein Bauch tatsächlich schon zu grummeln begonnen hat. Ich stehe auf und strecke mich. Meine Beine ziepen, und in meinem Rücken knackt es so laut, dass Maleek die Brauen hebt. »Ich war zu lang nicht mehr bouldern«, schiebe ich hinterher, bevor er mir eine weitere Lektion erteilen kann.

»Offensichtlich. Sobald du von deinem Trip zurück bist, gehen wir mal wieder. Wo genau findet das morgen eigentlich statt?«

»Crow’s Manor, da, wo auch die GameChanger-Convention immer ist. In irgendeinem Kaff in der Nähe von Cambridge, mitten im Nirgendwo. So beginnen Horror Games.«

»Du solltest weniger davon konsumieren«, murmelt Maleek. Er greift den Flyer der GameChanger von meinem Schreibtisch und betrachtet das Anwesen darauf. »Sieht schick aus, die haben sicher ’nen Pool!«

»Möglich, aber vermutlich ertränkt mich darin nur die Konkurrenz.«

Maleek legt den Zettel weg und verschränkt die Arme vor der Brust. »Definitiv weniger Horrorspiele für dich, so morbide, wie du drauf bist. Und jetzt los, Nährstoffe, frische Luft und ein paar Sonnenstrahlen. Du hast’s nötig.«

Ich schalte den PC auf Standby und folge Maleek dann in Richtung Fahrstuhl. »Du bist der Beste, weißt du das?«

»Jap. Deshalb bezahlst du gleich auch mein Grilled Cheese Toastie bei Pret A Manger.«

»Deal«, erwidere ich, und Maleeks selbstzufriedener Gesichtsausdruck entlockt mir das erste Lachen des Tages.

Hanks Büro sieht aus, als wäre es einem schicken Einrichtungskatalog entsprungen. Irgendwelche Bilder, die sicherlich Kunst sind, zieren die Wände, und auf den Regalen stehen Pokale der Computerspielpreise, die er abgestaubt hat. Keine Familienfotos, keine Pflanzen, nicht einmal ein fehlplatzierter Notizzettel.

Die gute Laune, die sich dank meines gefüllten Magens und Maleeks Vortrag über irgendeinen neuen Teil der Warhammer-Lore in meinem Körper ausgebreitet hat, verfliegt in dem Moment, in dem sich Hanks Blick aus graublauen Augen auf mich richtet. Sein Gesicht weist mehr Stirn- als Lachfalten auf, sodass er immer leicht tadelnd wirkt, doch heute haben wir es wohl verdient. Mein schlechtes Gewissen zumindest meldet sich sofort, weil ich mal wieder keine nennenswerten Fortschritte vorzuweisen habe – klar, insgesamt kommen wir voran, aber mit jedem erledigten To-do entstehen zwei neue.

»Ihr liegt zurück.« Wie immer kommt Hank direkt zum Punkt, Small Talk war noch nie sein Ding. Meist weiß ich seine direkte Art zu schätzen – denn so kompromisslos er in seiner Kritik ist, so geradeheraus ist er auch, wenn ihn etwas begeistert. Als ich ihm Desolate Dread gepitcht habe, hat er mir unverblümt gesagt, dass es sich bei der Idee um eine der besten handelt, die er seit Langem gehört hat. Nicht, um mir zu schmeicheln oder mich für sein Team zu gewinnen, sondern weil er wirklich an die Idee glaubt – und das werde ich ihm nie vergessen.

»Minimal«, werfe ich ein, was eine leichte Untertreibung ist, denn tatsächlich liegen wir enorm zurück, da ich jegliche Stunden diese Woche in das Fertigstellen der Demo gesteckt habe, anstatt weiter zu programmieren.

Hank muss bewusst sein, dass ich das Ganze schönrede, denn er hebt schmunzelnd eine Augenbraue. »Minimal? Seid ihr seit unserem letzten Meeting überhaupt vorangekommen?«

»Wir haben uns auf diverse Feinheiten konzentriert, Bugs gefixt …«

»Aber seid bei den großen Baustellen kein Stück weiter«, schlussfolgert Hank korrekt und seufzt. »Wir haben einen Erscheinungstermin, den wir nicht schieben können. Kleinere Bugs können wir auch im Nachhinein noch beheben, ein unfertiges Spiel hingegen können wir nicht rausbringen.«

Ich beiße mir auf die Zunge, um nicht damit rauszuplatzen, dass ich definitiv kein Spiel launchen werde, das Bugs enthält, von denen ich weiß und die ich hätte fixen können.

»Wenn wir mehr Budget hätten …«, beginnt Maleek, und ich kann dabei zusehen, wie Hanks Augenbraue noch weiter in die Höhe wandert. »Zumindest, um jemanden in Teilzeit einzustellen. Oder einen Werkstudenten«, lenkt Maleek ein.

Noch ein kleines Stück, und Hanks Braue verlässt unsere Umlaufbahn und schafft es bis in den Orbit.

»Ihr habt mir das Projekt mit einem Budgetplan vorgelegt, ich habe dem Budget zugestimmt. Vor einigen Monaten habe ich es sogar erhöht. Aber jetzt liegt es an euch, abzuliefern«, sagt er bestimmt, und mein Herz rutscht mir in die Hose, weil ich weiß, dass er recht hat. Ich habe einen Vertrag unterschrieben. Hank hat an uns und unser Game geglaubt, als es niemand sonst getan hat. Ich muss abliefern. »Mehr Geld kann und werde ich nicht lockermachen.« Er sieht uns beide abwechselnd an. »Schafft ihr das?«

Ich nicke und unterdrücke ein Seufzen. Es ist nicht Hanks Schuld, das weiß ich. Wenn er nicht wäre, hätte ich das Geld, um das Spiel überhaupt zu entwickeln, noch lange nicht zusammen. Ohne ihn wären Maleek und ich völlig allein, wir hätten niemanden, der uns im Marketing unterstützt, müssten uns im Alleingang um das QA kümmern. Dann stünden mir nun Crowdfundings und Klinkenputzen bevor. Leider war ich nur viel zu naiv in der Budgetplanung – ein Fehler, den, wie ich bei Stammtischen erfahren habe, wohl jeder am Anfang macht. Denn wenn ich eins gelernt habe: Alles ist teurer, und alles dauert länger als geplant.

»Gut«, sagt Hank, als auch Maleek nickt. »Und Kopf hoch. Morgen ist die Vorrunde der GameChanger, richtig? Ihr werdet die Jury begeistern und das Preisgeld gewinnen.« Hank schenkt uns eines seiner selten gesehenen Lächeln.

»Hoffentlich«, erwidere ich. »Die Konkurrenz ist stark.«

»Nicht so stark wie ihr«, erwidert er, und dass er es wie einen unumstößlichen Fakt klingen lässt, gibt mir etwas Hoffnung. »Rodrick Crow erkennt Potenzial, wenn er es sieht. Macht euch nicht so viele Gedanken.«

Ich bin nicht überrascht, dass Rodrick Crow, Veranstalter der GameChanger und Besitzer des Anwesens, ihm ein Begriff ist. So populär, wie Hank in der Szene ist, kennen die beiden sich vermutlich seit Jahren.

»Ich hab die Mail mit der Teilnehmerliste bekommen.« Hank trommelt mit den Fingern auf dem Schreibtisch herum, das einzige Geräusch in dem komplett stillen Büro. »PixelPulse wird da sein.«

Ich nicke ein weiteres Mal. »Ja, ich hab mich ein bisschen auf ihren Social-Media-Kanälen umgesehen. Sie machen eine Art Farming-Simulator im Pixel-Design, aber man baut keine Farm oder Ähnliches auf, sondern eine Buchhandlung in einem kleinen Ort.«

»Richtig. Die Developerin, Sophia Richards …« Er zögert, und eine Falte bildet sich zwischen seinen Brauen. »Sie ist niemand, mit dem man sich anlegen möchte, niemand, dem du vertrauen solltest.«

»Okay …«, mache ich gedehnt, verwirrt über den Themenwechsel. »Ihr kennt euch woher?«

»Sie hat mal hier gearbeitet. Für mich. Lange her, aber sie ist nicht freiwillig gegangen, und als sie gegangen ist … Sagen wir einfach, sie war bemüht, uns mit in den Abgrund zu ziehen. Es würde mich nicht wundern, wenn sie das auch in den nächsten Tagen bei dir versucht: alles tun, um deine Schwächen herauszufinden und sie ohne Skrupel gegen dich zu verwenden. Sie wirkt niedlich, wenn man sie das erste Mal trifft, aber unterschätze sie nicht. Sie ist auf der ganzen Liste mit Sicherheit die stärkste Konkurrenz.«

»Notiert«, erwidere ich und mache mir einen gedanklichen Vermerk, weitere Informationen zu ihr herauszufinden, denn bisher habe ich mich eher auf die Spiele konzentriert und weniger auf die Menschen, die hinter ihnen stehen.

»Was hat sie denn gemacht?«, hakt Maleek nach, der mal wieder kein Gefühl für Privatsphäre hat, doch zu meiner Überraschung antwortet Hank.

»Ich bin mir mittlerweile sicher, dass es von Anfang an ihr Plan war, ein eigenes Studio zu eröffnen. Sie hat die Kontakte hier abgestaubt und für sich genutzt. Keine Seltenheit, so etwas passiert leider. Aber was viel schlimmer ist: Sie hat eine unserer Ideen geklaut. Novel Haven, das Spiel, mit dem sie sich nun bewirbt.«

Ich stoße einen Schwall Luft aus. »Wie bitte?«

»Und du lässt zu, dass sie trotzdem teilnimmt?« Maleek klingt ebenfalls irritiert. Denn sosehr Hank uns und seine Teams unterstützen mag – er ist nicht gerade dafür bekannt, klein beizugeben oder sich auf der Nase herumtanzen zu lassen. »Das ist das erste Game von PixelPulse, sie entwickeln es seit zwei Jahren. Du kannst das doch sicher nachweisen?«

»Wir haben das Projekt eingestampft, bevor wir wirklich damit losgelegt haben.« Hank winkt ab. »Es hat schon Gründe, dass wir das Spiel nicht gemacht haben, 2D ist nicht unser Ding. Dennoch: Sie darf und wird nicht gewinnen.«

3

Lara

Es lohnt sich, unentdeckte Gebiete freizuschalten. Hier verbergen sich Rohstoffe und Sammelobjekte, die du für den Ausbau deiner Bücherei nutzen kannst.

»Könnt ihr nicht mit?«, frage ich wehleidig mit vorgeschobener Unterlippe. Mein Zug in Richtung GameChanger-Vorentscheid geht in drei Stunden, und mit jeder verstreichenden Sekunde steigt meine Nervosität.

»Nö, wir müssen Rollschuh fahren, also spar dir den Dackelblick«, erwidert Nat mit einem breiten Grinsen. »Außerdem habe ich noch nie in meinem Leben etwas programmiert und es auch nicht vor, ich könnte keine einzige Frage beantworten.«

Den Vormittag haben wir mit einem Spaziergang durch das für März erstaunlich sonnige Notting Hill verbracht, und Nataly hat die freie Zeit genutzt, um uns im Anschluss auf einen Flohmarkt zu zerren. Doch so langsam rückt meine Abreise näher. Sie und Aria stehen in meinem kleinen Zimmer mit den zahlreichen Kunstpflanzen – echte haben bei mir keine Chance –, die mit Neonlampen in Form von Kirby bis hin zum Stardew-Valley-Huhn meine Wand zieren. Ich hingegen liege auf meinem Bett und stöhne. Während Nataly ein weiteres Shirt fein säuberlich in meinen kleinen Rollkoffer legt, setzt Aria sich neben mir auf die Bettdecke und tätschelt meinen Oberschenkel.

»Du machst das schon. Du kannst so viel mehr, als du denkst! Und wir sind in Gedanken bei dir.«

»Erinnerst du dich noch an meinen Vortrag in barrierefreiem Spieldesign?«

Ich hebe den Kopf gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Aria sich auf die Lippe beißt. »So schlimm war der gar nicht.«

»Du lügst, und du weißt es«, protestiere ich grummelnd.

»Selbst ich hab davon gehört, und ich hatte ganz andere Kurse und kannte dich zu dem Zeitpunkt noch gar nicht«, wirft Nataly wenig taktvoll ein und klappt meinen Koffer zu. »Aber das ist Jahre her. Jetzt redest du über dein eigenes Spiel. Du musst nichts lernen, nicht einmal was vorbereiten – die Demo spricht für sich. Erzähl den Leuten da einfach, was du uns jeden Morgen beim Frühstück erzählst. Was du alles mit dem Spiel planst, dass es gleichzeitig gemütlich und entspannend sein soll, aber auch fordernd, und Stereotypen in Frage stellt. Dass du Mental Health und unterschiedliche Körper thematisieren willst, dass das Ganze Taylor Swifts Folklore im Videospielformat ist …«

»Das hab ich nie gesagt, das warst du.«

»Darfst du aber gern verwenden.«

»Ich weiß nicht, ob diese Minister und Stiftungsmenschen was mit Taylor anfangen können.«

Nataly sieht mich entrüstet an, und Aria seufzt. »Was sie sagen will: Du schaffst das, und wir glauben an dich.«

»Was, wenn ich mich vor der ganzen Branche blamiere?«

»Wirst du nicht«, sagt Aria bestimmt.

»Du hättest eben doch früher anreisen sollen«, meint Nataly mit erhobenen Brauen. »Dann hättest du alle schon mal in Ruhe vorab kennenlernen können.«

»Wofür? Weil mich Gespräche mit Fremden so sehr beruhigen?« Ich schüttele vehement den Kopf. »Nope. Ich komm kurz vor knapp, checke ein, halte morgen meine Rede, und dann fahr ich heim, verkriech mich unter der Bettdecke und spiele den ganzen Tag lang Animal Crossing.«

»Ich verstehe deine Aufregung, ich wäre genauso nervös«, entgegnet Aria. »Aber überleg mal: Die Programmierer und Programmiererinnen stellen die Spiele bei dem Event vor, nicht die PR-Leute. Die Chancen sind also hoch, dass die anderen öffentliche Reden genauso wenig mögen wie du. Es wird sicher kaum Fragen von den anderen Teilnehmenden geben. Stell dir einfach vor, wie du gemeinsam mit Sophia und uns über das Spiel redest, dann wird das schon.«

Ich seufze erneut, doch dieses Mal richte ich mich entschlossen auf. »Ich hab ja eh keine andere Wahl.«

»Das ist die richtige Einstellung«, meint Nataly und reicht mir die Hand, um mir aufzuhelfen. Ich lasse mich von ihr in den Stand ziehen, und sie drückt mich fest an sich. »Du bist so viel stärker, als du denkst«, sagt sie etwas leiser und ungewöhnlich ernst für ihre Verhältnisse. »Zeig es ihnen!«

»Wenn wir jetzt losgehen, bleibt noch Zeit für Kaffee und Donuts«, meint Aria. Ich blicke auf die Uhr, es ist gerade einmal halb drei. Eine halbe Stunde brauchen wir bis nach St Pancras, wo mein Zug um fünf Uhr startet. Die Fahrt dauert etwas über eine Stunde, und dann werde ich mich einfach in meinem Zimmer in Crow’s Manor verkriechen – dem edlen Herrenhaus, in dem die Vorrunde der GameChanger stattfindet. Sophia hat mir zwar eine E-Mail bezüglich eines Get-togethers heute Abend weitergeleitet, aber nur über meine Leiche.

»Na gut, hierbleiben und Däumchen drehen macht mich eh nur noch nervöser.« Ich werfe mein Handy in den kleinen Rucksack aus veganem Leder, ziehe meine Ladekabel aus der Steckerleiste am Schreibtisch und sehe mich ein letztes Mal im Raum um. Nataly hat mir beim Packen der Kleider geholfen, damit ich halbwegs Business-tauglich aussehe. Mein Laptop mitsamt der Präsentation befindet sich im Koffer, ansonsten benötige ich für den kurzen Trip kaum etwas. »Wir sehen uns auf der anderen Seite«, flüstere ich in die Stille des Zimmers, woraufhin selbst Aria kurz auflacht.

Einen Donut und einen Kaffee später, von dem sich mein rasendes Herz wünscht, ich hätte ihn nicht getrunken, drücke ich meine beiden Mitbewohnerinnen ein letztes Mal fest an mich. Mein Zug ist bereits eingefahren, und eine automatisierte Frauenstimme hallt über den Bahnsteig und kündigt mögliche Anschlussverbindungen an. »Ich werde euch vermissen.«

»Es sind nur zwei Nächte«, meint Aria.

»Trotzdem.«

»Schreib uns alle Updates! Alle!«, sagt Nat im Befehlston. »Sophia meinte, das Gebäude wurde schon im siebzehnten Jahrhundert erbaut und dann regelmäßig erweitert. Ich will Fotos: von der Inneneinrichtung, vom Frühstück und vom Spa!«

Ich hebe die Brauen und blicke bedeutungsvoll an mir hinab. Meine langen Ärmel und die hohen Kniestrümpfe, die ich zu dem kurzen schwarzen Rock trage, verdecken zwar die Gründe, weshalb ich definitiv nicht den Spa-Bereich betreten werde, aber sie weiß, was unter den Schichten an Kleidung verborgen liegt.

»Es ist ein Herrenhaus«, erwidert sie. »Online stand, dass es sogar Führungen gibt. Vermutlich hast du einen eigenen Spa mit Whirlpool auf dem Zimmer.«

»Wenn du mitkommst, könntest du …«

»Auf keinen Fall, ich muss mein neues Kleid in der Rollschuh-Disco ausführen.«

Nat drückt meine Hand ein letztes Mal, dann schubst sie mich förmlich in Richtung Zug, sodass ich beinahe mit einem dunkelhaarigen Kerl zusammenstoße.

»Sorry!«, beeile ich mich, zu sagen, und er lächelt mich belustigt an.

»Kein Ding. Nach dir, du scheinst es ja eilig zu haben.«

Ich werfe Nat einen giftigen Blick zu. Ihre Mundwinkel zucken, dann öffnet sie den Mund und formt tonlos, aber wenig subtil ein »Er ist heiß«, bevor sie sich Aria schnappt und sich mit einem Winken umdreht. Fassungslos sehe ich ihrem federnden Gang und Arias hüftlangen, schwingenden Haaren hinterher, bis sie beinahe das Ende des Gleises erreicht haben.

Ein Räuspern erklingt in meinem Rücken. »Okay, anscheinend hast du es doch nicht so eilig, ich aber schon.«

Ich verliere mich in einem Paar funkelnder dunkelbrauner Augen – mit Sicherheit hat er Nats stumme Worte mitbekommen. Röte kriecht meinen Hals hinauf. Unter seinen Augen liegen leichte Schatten, als hätte er schlecht geschlafen, etwas, das ich nur zu gut nachvollziehen kann. Nichtsdestotrotz ist er heiß, da hat Nataly nicht unrecht. Nicht dass mich das interessieren sollte, denn im Gegensatz zu Nat ist mein letztes Date über ein Jahr her und war eine Vollkatastrophe. Ich führe eine innige Beziehung mit Novel Haven, für mehr bleibt keine Zeit.

»Entschuldigung. Zum zweiten Mal«, sage ich verlegen und nehme eilig die Stufen ins Innere des Waggons, wobei ich meinen Koffer so unachtsam nach oben hieve, dass er ein Poltern von sich gibt. Bei meinem Glück zerstöre ich meinen Laptop noch vor der Präsentation. Ich krame mein Handy aus der Lederjacke und überprüfe, wo sich mein Sitzplatz befindet. Es signalisiert den Eingang einer neuen Nachricht.

Nat: Setz dich neben Mr Hot! Das ist ein Befehl!

Ich rolle mit den Augen und laufe langsam den engen Gang entlang. Mr Hot folgt mir, bis ich endlich meinen Sitz gefunden habe, dann lässt er sich eine Reihe vor mir in entgegengesetzter Fahrtrichtung nieder, wo er seine AirPods aus der weißen Hülle befreit und wenige Minuten später die Augen schließt.

Ich stöpsle ebenfalls meine Kopfhörer in die Ohren – am Kabel, für AirPods fehlt mir bei den Londoner Mietpreisen definitiv noch eine Beförderung –, und kurz darauf erklingt The Protomen, eine Indie-Rockband aus den USA, die mich seit bestimmt zehn Jahren durch schwere Zeiten begleitet. Ich konzentriere mich auf ihre Stimmen und Texte und versuche, Kraft daraus zu schöpfen, so wie sonst, doch die Nervosität hat mich fest im Griff. Selbst mein Bein wippt unruhig und wie von selbst auf und ab.

Genervt schalte ich von der Musik zu meinen Sprachaufnahmen. An Entspannung ist jetzt ohnehin nicht zu denken. Ich spiele eines der Memos ab, die ich heute Nacht aufgenommen habe, und rümpfe die Nase, als ich meine eigene kratzige Stimme höre, wie sie die Präsentation durchgeht. Zu schnell. Nicht dass das schnelle Reden mein größtes Problem wäre. Ich will meine alte Stimme zurück. Die von den Videoaufnahmen aus meiner Jugend, die von davor. Bevor der Brand und der Ruß meine Stimmbänder und meinen Kehlkopf geschädigt haben. Ich schaffe es kaum, mich auf das zu konzentrieren, was ich sage, so sehr achte ich auf jeden holprigen Ton, jedes zu heiser gesprochene Wort. Wenn ich es schon nicht schaffe, mir selbst zuzuhören, wie wird es dann morgen den anderen ergehen, wie …

»Ihr Ticket, bitte«, erklingt es plötzlich durch meine Sprachaufnahme. Eine brünette Frau um die fünfzig mit freundlichem Lächeln sieht mich auffordernd an, und ich drücke schnell auf Pause. Beinahe atme ich erleichtert auf, als meine Stimme verstummt. Ich halte ihr mein Ticket entgegen, sie scannt es und nickt dann zufrieden. Ihr Lächeln verrutscht, als ihr Blick auf meinen Arm fällt. Durch die gestreckte Haltung ist mein Oberteil verrutscht und offenbart ein Stück Haut, das zu rosa und zu vernarbt ist, um wirklich zu mir zu gehören – und doch tut es das. Ich lasse den Arm sinken, ziehe den Ärmel eilig wieder bis zu meinem Handgelenk. Das Lächeln der Kontrolleurin ist zurück an Ort und Stelle, fest zementiert. Es erinnert mich so sehr an das meiner Eltern, das sie bei jedem meiner Besuche zum Besten geben: ein Stückchen zu breit, ein wenig zu aufmunternd. Mit diesem Lächeln haben sie mich in den OP-Saal verabschiedet und dann wieder begrüßt, als ich nach der Narkose aufgewacht bin. Jedes einzelne Mal. Mit diesem Lächeln haben sie mich nach den ersten Logopädie-Stunden aufzumuntern versucht, als wäre mir nicht klar, dass meine Stimme ohnehin nie wieder die alte werden würde. Ich weiß, dass weder meine Eltern noch die Kontrolleurin das tun, weil sie sich ekeln, zumindest glaube ich das nicht. Vermutlich will die Frau damit nur demonstrieren, dass sie nicht starrt, dass es nicht schlimm ist, dass ich mich entspannen kann – doch das Gegenteil ist der Fall. Ich verspanne noch mehr. Ich merke noch mehr, dass etwas mit mir nicht stimmt. Dabei hat sie nicht einmal das ganze Ausmaß erfasst.

»Schöne Weiterfahrt«, flötet sie eine Spur zu fröhlich. Ist sie generell so überschwänglich, weil das hier die erste Klasse ist? Oder hat es doch viel eher mit dem Mitleid zu tun, das sie mir gegenüber empfindet?

»Danke«, sage ich. Kaum ein Flüstern. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob sie es gehört hat. Ich schüttle den Kopf über mich selbst, die Finger so fest um mein Handy gekrallt, dass es wehtut. So werde ich das morgen niemals schaffen. Ich werde nicht nur Novel Haven blamieren, sondern das gesamte Studio. Sophia.

Frustriert lasse ich den Kopf nach hinten sinken – und begegne erneut dem braunen Augenpaar. Der Mann reicht der Kontrolleurin ebenfalls sein Handy, hält meinen Blick jedoch weiterhin gefangen. Ich lasse mich tiefer in meinen weichen Sitz sinken, sodass er maximal meinen Haarschopf zu sehen bekommt, doch das aufgeregte Flattern in meinem Bauch bleibt.

4

Lara

Schließe dich den Feierlichkeiten von Novel Haven an, um deinen Status in der Dorfgemeinschaft zu verbessern.

Das Erste, was ich irritiert feststelle, ist, wie sauber Cambridge im Vergleich zu London ist. Noch dazu sind die Straßen so viel ruhiger, der Verkehr ist überschaubar, und ich entdecke keine Hochhäuser weit und breit. Wenn es hier schon so ruhig ist, wie idyllisch mag Crow’s Manor dann erst sein? Letzte Sonnenstrahlen tauchen den Bahnhofsvorplatz in goldgelbes Licht, und ich ziehe den Reißverschluss meiner Lederjacke nach oben, weil es sehr viel frischer ist als vorhin in London. Dann lasse ich den Blick wandern, kann außer einigen Fahrrädern und zwei Taxen jedoch nichts erkennen, was auf Transportmittel hindeutet. Vermutlich ist das Shuttle, das der Veranstalter stellt, noch nicht da. Es ist mir etwas unangenehm, eines für mich allein geordert zu haben, doch die Dame am Telefon hat mehrmals versichert, dass es gar kein Problem sei. Ihr freundlicher Tonfall hat es geschafft, mir ein kleines bisschen der Nervosität zu nehmen.

»Du machst das regelmäßig, oder?«

Die dunkle Stimme kommt mir bekannt vor, und als ich mich umdrehe, weiß ich auch, wieso. Mr Hot kommt mir mit einem amüsierten Lächeln entgegen, den Rucksack lässig über die Schulter geworfen.

»Was?«

»AFK gehen.« Er stutzt kurz und räuspert sich. »Also abwesend sein, gedanklich, meine ich.«

»Ich weiß, was AFK bedeutet.« Ich schmunzle, weniger wegen seines Erklärungsversuchs, sondern weil er Away from Keyboard im echten Leben verwendet. »Bist du auch für den Vorentscheid der GameChanger hier?«

Seine Augen weiten sich überrascht, und er nickt. »Ja. Ich hab gar nicht damit gerechnet, dass noch jemand so spät anreist. Hast du noch bis zur letzten Sekunde geprobt?«

»Nein, ich hatte …« Kurz überlege ich, ob ich mir eine Ausrede einfallen lassen soll. Dann wiederum bin ich nicht hier, um Freunde zu gewinnen, also was soll’s. »Ich hatte einfach keine Lust, früh anzureisen.«

Zu meiner Überraschung lacht er auf. »Erfrischend ehrlich. Ich bin übrigens Luca.«

»Lara«, erwidere ich. Immerhin muss ich ihm jetzt in meinen Gedanken nicht länger Natalys Spitznamen verpassen. »Wieso bist du so spät? Auch keine Lust auf Small Talk?«

Er schüttelt den Kopf. »Keine Lust auf Menschenmassen. Ich dachte, um die Zeit und in der ersten Klasse ist der Zug leerer.«

»Dann hast du dir mit London ja die perfekte Stadt ausgesucht, um Massen zu meiden«, gebe ich zurück und hebe die Brauen.

»Glaub mir, das verfluche ich oft genug.«

Schon wieder lacht er, und wie von selbst heben sich auch meine Mundwinkel ein kleines bisschen. Er hat ein ansteckendes, tiefes Lachen. Eines, das seine kantigen Gesichtszüge weicher werden lässt und seine dunklen Augen zum Funkeln bringt. Generell sehen seine Augen viel wacher aus, die Stunde Schlaf im Zug scheint ihm gut bekommen zu sein. Wie Nataly ihn wohl jetzt nennen würde? Denn wenn er eben hot war, dann ist er jetzt … was auch immer die Steigerung dessen ist. Die Art, wie er mich ansieht, sorgt für ein heißes Ziehen in meinem Bauch. Im Gegensatz zu meiner unsicheren Haltung strotzt seine nur so vor Selbstbewusstsein. Seine breiten Schultern sind gerade, und er ist einen guten Kopf größer als ich. Automatisch richte auch ich mich ein wenig auf und strecke den Rücken durch. Ich werde es brauchen. Dadurch, dass bei PixelPulse so viele Frauen arbeiten, vergesse ich manchmal, dass meine Branche nach wie vor männerdominiert ist. Der bloße Gedanke bringt die Nervosität schlagartig zurück. Ich werde mich nicht nur vor anderen Menschen behaupten müssen, sondern vor Männern. Höchstwahrscheinlich weiß, straight und deutlich älter als ich. Und seit Jahren in der Branche.

Mein Blick gleitet an mir hinab. Hoffentlich hat Nat auch ein paar Jeans in den Koffer geworfen, sonst hat sich das Bild von mir schon verfestigt, bevor ich die Bühne überhaupt betreten habe.

»Auch so nervös?« Lucas Frage durchbricht die aufkommende Stille.

Mein Blick schnellt nach oben, zu diesen braunen Augen, die schon wieder etwas in meinem Bauch aufscheuchen, das sich verdächtig nach Schmetterlingen anfühlt. »Ja, du etwa auch?«

»Und wie.«

Ungläubig mustere ich ihn. Er wirkt kein Stück nervös, doch er klingt nicht, als würde er sich einen Scherz erlauben. »Dann schaffst du es besser als ich, es zu verbergen.«

»Danke? Schätze ich?«

Ein weißer Wagen kommt vor uns zum Stehen, die Fahrertür wird geöffnet, und heraus steigt ein Mann mit sorgfältig zurückgegeltem dunklen Haar und schwarzem Anzug. Jap, ich hab definitiv das Memo mit dem Dresscode verpasst.

»Das ist wohl unser Shuttle. Brauchst du Hilfe mit dem Koffer?«

Ich schüttle den Kopf, doch das hätte ich mir sparen können, denn der Fahrer nimmt mir mein Gepäck ohnehin ab. Luca hat nur einen Rucksack, den er ebenfalls im Kofferraum verstaut.

»Mr Brown, Ms Anderson, herzlich willkommen!« Der Schnurrbart des Mannes kräuselt sich leicht, als er lächelt. »Ich bin Andrew Hastings, aber Andrew genügt vollkommen. Die Fahrt dauert etwa eine halbe Stunde, möchten Sie sich noch einen Kaffee oder etwas anderes zu trinken holen?«

Luca verneint, und aus Angst, dass meine Stimme jetzt, da meine Nervosität wieder steigt, kratzt, belasse ich es bei einem Kopfschütteln. Andrew öffnet erst mir die Tür, dann Luca, und es hilft meiner Aufregung nicht gerade, dass wir einander nun so nah sind. So nah, dass ich sein Aftershave oder das, was auch immer für diesen frischen Geruch verantwortlich ist, riechen kann. Jetzt hat Nataly, was sie wollte, und wir sitzen doch nebeneinander. Meine Finger sind fahrig, und ich schaffe es erst beim zweiten Anlauf, mich anzuschnallen. Ich benehme mich wie ein Teenager, nicht wie die fünfundzwanzigjährige Frau auf dem Businesstrip, die ich eigentlich sein sollte.

Die schwarze lederne Rückbank des Wagens ist geräumig und das Auto vermutlich größer und gemütlicher als so manche Londoner Wohnung, dennoch spannt sich jeder einzelne Muskel an, als Andrew den Motor startet. Ich bin eine Niete im Small Talk. Ich bin eine Niete in allen Dingen, die mit Sprechen zu tun haben – deshalb bin ich ja so spät angereist. Die halbe Stunde wird sich ziehen wie Kaugummi, und ich habe keine Ahnung, wie ich die nächsten zwei Tage überstehen soll, wenn ich schon an dieser Fahrt scheitere.

»Ich hatte so eine fette Beule.« Luca zieht die Hände übertrieben weit auseinander, und ich lache noch lauter. Meine Stimmbänder schmerzen, doch ich kann trotzdem nicht aufhören. »Erfreu dich nur an meinem Leid«, meint Luca trocken, doch dann beginnt er ebenfalls, wieder zu lachen. »Maleek hat mich fortan an der Uni als der Sneezer vorgestellt.«

»Dir ist klar, dass du in meinem Kopf ab jetzt auch so gespeichert bist?«

Luca grummelt etwas Unverständliches, und ich fahre mir unter den Augen entlang, um die Lachtränen zu erwischen, darauf bedacht, meine Wimperntusche nicht zu verschmieren. Luca hat beschlossen, dass wir einander unsere peinlichsten Momente beichten, um uns somit die Nervosität zu nehmen – ganz nach dem Motto: Wenn wir das überlebt haben, dann auch alles, was die nächsten Tage passiert.

»Jetzt bist du wieder dran«, meint Luca, dabei habe ich mich immer noch nicht von seiner Geschichte erholt, in der er so hart hat niesen müssen, dass sein Kopf nach vorn auf das Pult im Hörsaal geflogen ist – so fest, dass nicht nur seine ganze Reihe es mitbekommen hat, sondern auch der Dozent.

Ich beginne gerade, meine Erinnerungen zu durchforsten, als der Wagen langsamer wird und vor zwei geschwungenen, eisernen Torflügeln zum Halt kommt. Die oberen Stangen formen ein verschlungenes C und M.

»Sind wir schon da?«, fragt Luca, und auch ich sehe überrascht nach vorn. Andrew blickt über die Schulter und nickt.

»Ja. Zum Glück. Ich habe dank euch Muskelkater vom Lachen.«

»Sorry, Mann«, erwidert Luca mit einem schiefen Grinsen. Mein Magen schlägt einen Salto, und ich rede mir ein, dass er es nicht wegen Luca tut, sondern weil die beiden Torflügel aufgleiten und den Blick auf eine gepflasterte Auffahrt freigeben. Auf eine sehr lange, gewundene Auffahrt, vorbei an einem schmalen, künstlich angelegten Fluss und gestutzten Büschen, die von zahlreichen Laternen am Wegesrand beleuchtet werden.

Luca stößt ein leises Pfeifen aus, während mir jegliche Spucke wegbleibt, als kurz darauf Crow’s Manor vor uns auftaucht. Das Gebäude könnte genauso gut einer Bridgerton-Folge entsprungen sein. Den runden, plätschernden Brunnen davor zieren graue Statuen, die durch die Strahler, die sie beleuchten, ein wenig gespenstisch wirken. Der gepflasterte Weg windet sich einmal um den Brunnen herum bis hin zu Treppen, die hinauf zum Haupteingang führen. Efeu setzt sich von der hellen Fassade ab und bahnt sich einen Weg bis zum Dach, in dessen Mitte ein kleiner Turm in die Höhe ragt. Nun wünschte ich doch, früher angekommen zu sein, denn die meisten Details des Hauses verschwinden in der Abenddämmerung. Die Sonne ist beinahe vollständig untergegangen, was dem Anwesen etwas Mystisches verleiht. Ich nehme wie im Nebel wahr, dass Andrew mir die Tür öffnet. Ohne den Blick von Crow’s Manor abzuwenden, steige ich aus dem Auto.

Wäre die Königsfamilie im nächsten Moment auf den prunkvollen, von Säulen gesäumten Balkon getreten, es hätte mich nicht weiter überrascht. Ich muss Nat und Aria sofort anrufen. Durch ihre etlichen »Der reiche Lord hat mich entführt«-Romane weiß Aria sicher, wie man sich in so einem Umfeld benimmt.

»Cool, jetzt bin ich wieder nervös«, kommentiert Luca trocken und nimmt dann dankend seinen Rucksack von Andrew entgegen.

Ein Mann im Anzug und eine hübsche blonde Frau mit schicker Hochsteckfrisur und knielangem Kleid kommen aus dem Gebäude – vermutlich hat Andrew ihnen Bescheid gegeben, dass wir hier sind, oder aber sie haben den Wagen vorfahren hören. Mit dem Blau in meinen Haaren und dem kurzen Rock fühle ich mich vollkommen fehl am Platz. Ich wirke wie der Fehler in einem Suchbild. All die Ruhe und Gelassenheit, die Luca mir auf der Fahrt geschenkt hat, sind verflogen. Ich atme einmal tief durch, den Blick auf das Anwesen gerichtet. Ich passe nicht hierher, aber das muss ich auch gar nicht. Theoretisch passt dieses gesamte Event nicht hierher, es geht um Videospiele, keinen Tee-Empfang von Kate Middleton. Ich muss niemanden beeindrucken, nicht mit meinem Äußeren zumindest. Alles, was zählt, ist das Spiel.

»Na dann«, murmelt Luca und wirft mir einen Blick von der Seite zu. »Sollen wir rein in die Höhle des Löwen?«