November - Gustave Flaubert - E-Book

November E-Book

Gustave Flaubert

0,0

Beschreibung

Die Novelle "November" (1842), die vage an Goethes "Werther" angelehnt ist, war Gustave Flauberts erstes vollendetes Werk. Ihr "Held" reiht sich ein in einen literarischen Stammbaum von tragischen Figuren, die allesamt scheitern, erwachsen zu werden. Getrieben von Liebessehnsucht und Fantasien über ein heldenhaftes Leben trifft der junge Ich-Erzähler auf die erfahrene Prostituierte Marie, in der er eine Seelenverwandte vermutet. Null Papier Verlag

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 154

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Gustave Flaubert

November

Erzählung

Gustave Flaubert

November

Erzählung

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2021Übersetzung: E. W. Fischer EV: Wolff, Leipzig, 1916 (191 S.) 1. Auflage, ISBN 978-3-962818-60-9

null-papier.de/716

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

No­vem­ber

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie sich für ein E-Book aus mei­nem Ver­lag ent­schie­den ha­ben.

Soll­ten Sie Hil­fe be­nö­ti­gen oder eine Fra­ge ha­ben, schrei­ben Sie mir.

Ihr

November

Pour niai­ser et fan­tas­ti­que.

Mon­taig­ne

Ich lie­be den Herbst; sei­ne Trau­rig­keit stimmt gut zu Erin­ne­run­gen. Wenn die Bäu­me ent­laubt sind, wenn der Abend­him­mel noch in den tiefro­ten Far­ben glüht, die einen gol­di­gen Schein über das Heu wer­fen, dann sieht man mit Ent­zücken al­les ver­lö­schen, was jüngst noch im Her­zen brann­te.

Eben kom­me ich von mei­nem Spa­zier­gang über öde Wie­sen zu­rück, an kal­ten Grä­ben vor­bei, in de­nen die Wei­den sich spie­geln. Ihre kah­len Zwei­ge pfif­fen im Win­de; zu­zei­ten schwieg er: dann setz­te er plötz­lich wie­der ein; und nun er­schau­er­ten die klei­nen Blät­ter, die noch am Ge­sträuch hän­gen, das Gras neig­te sich zit­ternd zur Erde, al­les be­kam ein blei­che­res und käl­te­res Aus­se­hen; am Ho­ri­zont ver­lor sich die Son­nen­schei­be im wei­ßen Him­mel und er­füll­te ihn rings­um­her mit ei­nem Rest er­lö­schen­den Le­bens. Mich fror, und fast hat­te ich Furcht.

Ich setz­te mich in den Schutz ei­nes klei­nen Gras­hü­gels; der Wind hat­te sich ge­legt; als ich so auf der Erde saß, nichts dach­te und in der Fer­ne den Rauch von Hüt­ten auf­stei­gen sah, da stand – ich weiß nicht warum – mein gan­zes Le­ben wie ein Phan­tom vor mir, und mit dem Duft des tro­ckenen Heu­es, dem Ge­ruch der to­ten Wäl­der kam mir der bit­te­re Ge­schmack längst ver­gan­ge­ner Tage zu­rück. Mei­ne trau­ri­gen Jah­re zo­gen an mir vor­über, als feg­te sie der Win­ter in gräss­li­chem Stur­me da­hin. Ir­gend­ei­ne schreck­li­che Macht jag­te sie durch mei­ne Erin­ne­rung, wü­ten­der als der Wind, der die Blät­ter über die stil­len Pfa­de tan­zen ließ. Eine son­der­ba­re Iro­nie schi­en sie zu strei­fen und für mein Auge um­zu­wen­den, dann flo­gen alle zu­gleich da­von und ver­schwan­den an ei­nem düs­te­ren Him­mel.

Sie ist trau­rig, die Jah­res­zeit, in der wir ste­hen: man glaubt, das Le­ben will mit der Son­ne ver­schei­den. Ein Frös­teln zieht ins Herz, wie über den Leib. Alle Lau­te erster­ben. Der Ho­ri­zont wird blass; al­les will schla­fen, ver­ge­hen … Eben sah ich die Kühe heim­keh­ren, sie brüll­ten der un­ter­ge­hen­den Son­ne nach. Der klei­ne Jun­ge, der sie mit ei­ner Brom­beer­ran­ke vor sich her­trieb, zit­ter­te vor Käl­te in sei­nem Dril­lich-An­zu­ge. Beim Ab­stieg vom Hü­gel glit­ten sie im Schmutz aus und zer­tra­ten ein paar Kar­tof­feln, die zwi­schen Un­kraut ste­cken ge­blie­ben wa­ren. Hin­ter den ver­schwim­men­den Hü­geln her­vor sand­te die Son­ne letz­ten Ab­schied. Im Tal glüh­ten die Lich­ter der Häu­ser auf, und der Mond, das Gestirn des Tau­es, das Gestirn der Trä­nen, ent­schlei­er­te lang­sam zwi­schen Wol­ken sein blei­ches Ge­sicht.

Lan­ge habe ich mich lust­voll in mein ver­gan­ge­nes Le­ben ver­senkt. Mit Won­ne habe ich mir ge­sagt, dass mei­ne Ju­gend vor­über sei; denn es ist Won­ne, zu füh­len, wie die Käl­te ins Herz kriecht, und sa­gen zu kön­nen, wäh­rend man es mit der Hand an­fühlt wie einen noch rau­chen­den Herd: es brennt nicht mehr! Lang­sam habe ich mein gan­zes Le­ben an mir vor­über­zie­hen las­sen: sei­ne Ge­dan­ken und Lei­den­schaf­ten, sei­ne Tage stür­mi­scher Wal­lun­gen und sei­ne Tage der Trau­er, sein hoff­nungs­vol­les Frohlo­cken und sei­ne qual­vol­len Schmer­zen. Ich sah al­les wie­der, wie je­mand, der die Ka­ta­kom­ben be­sucht und lang­sam auf bei­den Sei­ten im­mer neue Rei­hen von To­ten er­blickt. Wenn ich die Jah­re zäh­le, so sehe ich wohl, dass ich noch nicht alt bin; aber ich habe zahl­lo­se Erin­ne­run­gen, de­ren Ge­wicht ich auf mir füh­le, wie die Grei­se die Last all der Tage füh­len, die sie ge­lebt ha­ben. Zu­wei­len scheint es mir, als sei ich seit Jahr­hun­der­ten da, und als schlös­se mein We­sen die Über­res­te von Tau­sen­den ver­gan­ge­ner Exis­ten­zen ein. Wo­her kommt das? Habe ich ge­liebt? Habe ich ge­hasst? Habe ich et­was er­strebt? Ich zweifle dar­an. Ich leb­te ab­seits von al­lem re­gen und tä­ti­gen Le­ben, still für mich, ohne Sinn für Ruhm, Ver­gnü­gen, Wis­sen und Geld.

Von al­lem, was ich hier er­zäh­len wer­de, hat nie­mand et­was ge­wusst; die­je­ni­gen, die mich alle Tage sa­hen, eben­so­we­nig wie an­de­re. Sie wa­ren für mich wie das Kis­sen, auf dem ich ruhe, und das nichts von mei­nen Träu­men weiß. Und ist das Herz des Men­schen nicht eine un­ge­heu­re Ein­sam­keit, in die nie­mand ein­zu­drin­gen ver­mag? Die Lei­den­schaf­ten, die hin­durch­zie­hen, sind wie die Rei­sen­den der Wüs­te Sa­ha­ra; sie er­sti­cken dar­in, und ihr Schrei dringt nicht dar­über hin­aus.

Schon in der Schu­le war ich trau­rig. Ich lang­weil­te mich da; ich koch­te vor Ver­lan­gen, hat­te ein hei­ßes Seh­nen nach ei­nem tol­len, wild­be­weg­ten Da­sein, ich ge­noss die Lei­den­schaf­ten im Traum und hät­te sie alle durch­kos­ten mö­gen. Jen­seits des zwan­zigs­ten Jah­res lag für mich eine gan­ze Welt von Licht und Duft. In der Fer­ne er­schi­en mir das Le­ben in sieg­haf­tem Glanz und Klin­gen. Wie im Mär­chen tat sich ein wei­ter Saal nach dem an­de­ren auf. Dia­man­ten fun­kel­ten im Licht gol­de­ner Kron­leuch­ter. Un­ter ei­nem Zau­ber­wort dreh­ten sich die ver­wun­sche­nen Tü­ren in ih­ren An­geln, und wenn man wei­ter­ging, tauch­te der Blick in pracht­vol­le Fer­nen, vor de­ren blen­den­dem Glän­ze sich die Au­gen lä­chelnd schlie­ßen.

Ich hat­te ein un­be­stimm­tes Ver­lan­gen nach et­was Strah­len­dem, das ich we­der in Wor­ten noch in Ge­dan­ken deut­lich zu fas­sen ver­moch­te, und doch fühl­te ich ein star­kes, un­abläs­si­ges Seh­nen da­nach. Ich habe im­mer das Glän­zen­de ge­liebt. Als Kna­be dräng­te ich mich un­ter die Men­ge an der Tür der Schar­la­ta­ne, um die ro­ten Tres­sen ih­rer Die­ner und die Half­ter ih­rer Pfer­de zu se­hen. Lan­ge stand ich vor dem Zelt der Gauk­ler, um ihre Pumpho­sen und ge­stick­ten Kra­gen zu be­trach­ten. Ach, und wie habe ich die Seil­tän­ze­rin ge­liebt, mit ih­ren lan­gen Ohr­ge­hän­gen, die um ih­ren Kopf bau­mel­ten, mit ih­rer Ket­te aus di­cken Stei­nen, die auf ihre Brust schlug. Mit welch un­ru­hi­ger Gier schau­te ich sie an, wenn sie bis an die zwi­schen Bäu­men hän­gen­den La­ter­nen sprang, wenn ihr mit Gold­flit­tern be­setz­tes Kleid beim Sprun­ge klatsch­te und sich in der Luft bausch­te. Das wa­ren die ers­ten Frau­en, die ich ge­liebt habe. Mein Sinn quäl­te sich mit dem Ge­dan­ken an die­se merk­wür­dig ge­form­ten Schen­kel, die so prall in ih­ren ro­sa­far­be­nen Tri­kots sa­ßen, an die­se ge­schmei­di­gen Arme, von Span­gen um­schlos­sen, die beim Rück­wärts­beu­gen auf dem Rücken klin­gel­ten, wenn sie mit den Fe­dern ih­res Kopf­put­zes den Bo­den be­rühr­te. Das Weib, das ich mir schon vor­zu­stel­len such­te – (denn es gibt kein Le­bensal­ter, wo man nicht dar­an denkt: als Kind be­tas­ten wir mit nai­ver Sinn­lich­keit den Bu­sen der großen Mäg­de, die uns küs­sen und die uns auf ih­rem Arme hal­ten; mit zehn Jah­ren träumt man von Lie­be; mit fünf­zehn kommt sie zu uns; mit sech­zig ist sie noch nicht er­lo­schen, und wenn die To­ten un­ter der Erde et­was den­ken, so ist es: wie sie in der Tie­fe das nächs­te Grab er­rei­chen kön­nen, um das Lei­chen­tuch der Ab­ge­schie­de­nen fort­zu­zie­hen und sich ih­rem Schlum­mer zu gat­ten) – das Weib war also für mich ein lo­cken­des Ge­heim­nis, das mein ar­mes Kinder­hirn ver­wirr­te. An dem, was ich emp­fand, wenn eine von ih­nen mich an­schau­te, fühl­te ich schon, et­was Ver­häng­nis­vol­les in die­sem er­re­gen­den Blick lag, der den mensch­li­chen Wil­len schmel­zen lässt, und ich war zu­gleich ent­zückt und er­schro­cken.

Wo­von träum­te ich wäh­rend der lan­gen Ar­beits­stun­den, wenn ich, den Arm auf mein Pult ge­stützt, den Docht der Lam­pe in der Flam­me län­ger wer­den und je­den Trop­fen Öl in das Näpf­chen fal­len sah, wäh­rend die Fe­dern mei­ner Nach­barn auf dem Pa­pier knirsch­ten, und man von Zeit zu Zeit hör­te, wie ein Buch um­ge­blät­tert oder zu­ge­klappt wur­de? Ich be­en­dig­te has­tig mei­ne Auf­ga­ben, um mich un­ge­hin­dert die­sen sü­ßen Ge­dan­ken hin­ge­ben zu kön­nen. Ich freu­te mich dar­auf, wie auf et­was, das den Reiz ei­nes wirk­li­chen Ver­gnü­gens für mich hat­te; ich rich­te­te mei­ne Ge­dan­ken so an­ge­strengt dar­auf, wie ein Dich­ter, der schaf­fen und die In­spi­ra­ti­on her­vor­ru­fen will. Ich ver­senk­te mich so tief als mög­lich in mei­nen Ge­dan­ken, ich wen­de­te ihn nach al­len Sei­ten, ging bis auf sei­nen Grund, kehr­te zum Aus­gangs­punkt zu­rück und fing von Neu­em an. Bald war es ein tol­les Da­hin­stür­men der Fan­ta­sie, ein wun­der­ba­rer Flug aus al­ler Wirk­lich­keit her­aus. Ich er­dich­te­te mir Aben­teu­er, er­sann Ge­schich­ten, bau­te Pa­läs­te, wohn­te dar­in wie ein Kai­ser. Ich höhlte alle Dia­man­ten­mi­nen aus und warf Ei­mer voll Stei­ne auf den Weg, der vor mir lag.

Und wenn der Abend ge­kom­men war, wenn wir alle in un­se­ren sau­be­ren Bet­ten mit den wei­ßen Vor­hän­gen la­gen, und wenn der Stu­dien­meis­ter im Schlaf­saal auf- und ab­ging, wie ver­kroch ich mich dann noch mehr in mich selbst, und mit wel­cher Won­ne barg ich in mei­nem In­nern den Vo­gel, der mit den Flü­geln schlug und des­sen Wär­me ich fühl­te! Ich brauch­te im­mer lan­ge Zeit zum Ein­schla­fen, ich hör­te die Stun­den schla­gen, und je län­ger sie sich dehn­ten, de­sto glück­li­cher war ich. Es schi­en mir, als ob sie mich sin­gend in die Welt führ­ten, als ob sie mir in je­dem Au­gen­bli­cke mei­nes Le­bens grü­ßend zu­rie­fen: »Wei­ter! Wei­ter! Der Zu­kunft ent­ge­gen! Ade! Ade!« Und wenn das letz­te Zit­tern ver­k­lun­gen war, wenn mein Ohr von ih­rem Klan­ge nicht mehr summ­te, sag­te ich mir: »Bis mor­gen, die­sel­be Stun­de wird wie­der­keh­ren; aber mor­gen ist es ein Tag we­ni­ger; einen Tag nä­her wer­de ich dem Zie­le sein, das leuch­tend vor mir liegt; nä­her mei­ner Zu­kunft, die­ser Son­ne, de­ren Strah­len mich über­flu­ten und die ich dann mit Hän­den grei­fen wer­de.« Und ich sag­te mir, dass das Glück recht lan­ge auf sich war­ten las­se, und fast wei­nend schlief ich ein.

Ge­wis­se Wor­te setz­ten mich in Ver­wir­rung, wie zum Bei­spiel »Weib« und »Ge­lieb­te«. Ich such­te die Er­klä­rung des ers­te­ren in Bü­chern, auf Sti­chen und Bil­dern. Ich hät­te die Ge­wän­der dar­auf her­un­ter­rei­ßen mö­gen, um et­was zu ent­de­cken. Als ich schließ­lich al­les ahn­te, war ich zu­erst won­ne­voll be­nom­men, wie von ei­ner höchs­ten Har­mo­nie; doch bald wur­de ich ru­hig und leb­te von da an mit mehr Le­bens­freu­de. Ich war stolz dar­auf, ein Mann zu sein, ein We­sen, das be­stimmt ist, ein Weib für sich zu be­sit­zen. Das Wort »Le­ben« war mir be­kannt. Es be­deu­te­te fast: Ein­tre­ten und et­was da­von kos­ten; mein Wunsch ging nicht wei­ter, und ich war be­frie­digt, zu wis­sen, was ich wuss­te. Eine Ge­lieb­te war für mich ein dia­bo­li­sches We­sen; un­ter dem Zau­ber des blo­ßen Wor­tes ge­riet ich in lan­gan­hal­ten­de Ver­zückun­gen. Für ihre Ge­lieb­ten rui­nier­ten sich die Kö­ni­ge, für sie er­ober­ten sie Pro­vin­zen, für sie wur­den in­di­sche Tep­pi­che ge­wirkt, wur­de Gold ge­häm­mert, Mar­mor be­hau­en, die Welt in Be­we­gung ge­setzt. Eine Ge­lieb­te hat Skla­ven, die ihr mit We­deln die Mücken weh­ren, wenn sie auf sei­den­ge­pols­ter­tem Di­van ruht. Ele­fan­ten, mit Ge­schen­ken be­la­den, er­war­ten sie beim Er­wa­chen, Palan­ki­ne tra­gen sie sanft an den Rand der Fon­tä­nen; sie sitzt auf Thro­nen in glanz­er­füll­ter, duft­ge­schwän­ger­ter Luft, weit ab von der Men­ge, die sie ver­wünscht und an­be­tet.

Die­ses Ge­heim­nis des Wei­bes, das au­ßer­halb der Ehe steht und ge­ra­de des­halb umso viel mehr Weib ist, reiz­te mich und nahm mich durch den dop­pel­ten Zau­ber der Lie­be und des Reich­tums ge­fan­gen. Ich lieb­te nichts so sehr als das Thea­ter, ich lieb­te es bis zum Stim­men­ge­schwirr in den Pau­sen, bis zu den Zu­gän­gen, die ich er­reg­ten Her­zens durch­eil­te, um mei­nen Platz auf­zu­su­chen. Hat­te die Vor­stel­lung schon be­gon­nen, so stieg ich eilends die Trep­pen em­por. Ich ver­nahm den Klang der In­stru­men­te, Stim­men, Bra­vo­ru­fe. Und wenn ich ein­trat, wenn ich mich setz­te, lag rings­um­her in der Luft der war­me Hauch schön­ge­klei­de­ter Frau­en, et­was, das nach Veil­chen­bu­ketts, wei­ßen Hand­schu­hen und ge­stick­ten Ta­schen­tü­chern duf­te­te. Gleich Krän­zen von Blü­ten und Dia­man­ten schie­nen die men­schen­über­füll­ten Ga­le­ri­en dort oben zu schwe­ben, um dem Ge­sang zu lau­schen. Im Vor­der­grun­de der Büh­ne stand nur die Sän­ge­rin, und ihre Brust, aus der die Töne her­vor­perl­ten, hob und senk­te sich wo­gend. Der Rhyth­mus trieb ihre Stim­me im Flug da­hin und riss sie im me­lo­di­schen Wir­bel mit. Die Ko­lo­ra­tu­ren well­ten ih­ren an­ge­spann­ten Hals wie den ei­nes Schwa­nes, un­ter der Last der Küs­se der Luft. Sie rang die Arme, schrie, wein­te, sand­te zün­den­de Bli­cke, rief je­mand mit un­sag­ba­rer Lie­be her­bei, und wenn sie das Mo­tiv wie­der auf­nahm, schi­en es mir, als rei­ße sie mit dem Klang ih­rer Stim­me mein Herz aus der Brust, um es sich in lie­ben­dem Er­schau­ern zu ver­mäh­len. Man spen­de­te ihr Bei­fall und warf ihr Blu­men zu, und in mei­ner Be­geis­te­rung ge­noss ich in ihr den Weih­rauch der Men­ge, die Lie­be al­ler die­ser Men­schen und den Wunsch ei­nes je­den von ih­nen. Von ihr hät­te ich ge­liebt wer­den mö­gen, ge­liebt mit ver­zeh­ren­der, furcht­ba­rer Lei­den­schaft, der Lei­den­schaft ei­ner Fürs­tin oder Schau­spie­le­rin, die uns stolz macht, uns so­fort den Rei­chen und Mäch­ti­gen gleich­stellt! Wie schön ist die Frau, der alle hul­di­gen und die alle er­seh­nen, die der Men­ge den fie­ber­haf­ten Wunsch für die Träu­me ei­ner je­den Nacht ein­gibt; sie, die im­mer nur im Glan­ze der Ker­zen er­scheint, strah­lend und sin­gend, die Ge­dan­ken­welt ei­nes Dich­ters er­fül­lend, als das Le­ben, das ihr zu­kommt! Und für ih­ren Ge­lieb­ten muss sie noch eine an­de­re Lie­be ha­ben, viel schö­ner als die, wel­che sie frei­ge­big den hung­ri­gen Her­zen spen­det, die sich an ihr la­ben, sü­ße­re Lie­der, tiefe­re, lei­den­schaft­li­che­re, le­ben­di­ge­re Töne! Ach, hät­te ich in der Nähe ih­rer Lip­pen sein kön­nen, de­nen sie so rein ent­ström­ten, hät­te ich die­se schim­mern­den Haa­re be­rüh­ren dür­fen, die un­ter Per­len glänz­ten! Doch die Ram­pe des Thea­ters war für mich die Schran­ke der Il­lu­si­on. Das Reich der Lie­be und Poe­sie lag jen­seits; die Lei­den­schaf­ten wa­ren dort schö­ner und hat­ten einen tiefe­ren Klang, Wäl­der und Pa­läs­te zer­sto­ben wie Rauch, Syl­phi­den schweb­ten aus den Him­meln her­ab, al­les sang, al­les lieb­te.

An all das dach­te ich, wenn ich abends al­lein saß und den Wind durch die Gän­ge pfei­fen hör­te, oder in den Pau­sen, wäh­rend die an­de­ren sich fin­gen oder Ball spiel­ten, und ich an der Mau­er ent­lang ging über die ab­ge­fal­le­nen Lin­den­blät­ter; es freu­te mich, wenn mei­ne Schrit­te sie ra­schelnd auf­wühl­ten und vor sich her­trie­ben.

Bald fass­te mich die Lust zu lie­ben. Ich wünsch­te die Lie­be mit gren­zen­lo­ser Be­gehr­lich­keit her­bei. Ich träum­te von ih­ren Qua­len, war­te­te je­den Au­gen­blick auf einen tie­fen Schmerz, der mich mit Won­ne er­füllt hät­te. Meh­re­re Male glaub­te ich der Er­fül­lung nahe zu sein. In Ge­dan­ken nahm ich die ers­te bes­te Frau, die mir schön er­schi­en, und sag­te: »Die lie­be ich!« Doch die Erin­ne­rung, die ich hät­te von ihr mit­neh­men mö­gen, ver­blich und er­losch, an­statt sich zu ver­tie­fen. Auch fühl­te ich, dass ich mich zu Lie­be zwang, dass ich mit mei­nem Her­zen Ko­mö­die spiel­te, wo­durch es sich nicht täu­schen ließ. Und dies Fias­ko mach­te mich lan­ge Zeit trau­rig; fast trau­er­te ich um die Lie­be, die ich nicht emp­fun­den hat­te, und dann träum­te ich von ei­ner an­de­ren, die mei­ne See­le er­fül­len soll­te.

Be­son­ders am Mor­gen nach ei­nem Ball oder ei­nem Thea­ter­abend, oder wenn ich aus zwei, drei Fe­ri­en­ta­gen zu­rück­kam, er­träum­te ich mir eine Lei­den­schaft. Ich stell­te mir die Frau mei­ner Wahl vor, so wie ich sie ge­se­hen hat­te: im wei­ßen Kleid, in den Ar­men ei­nes Ka­va­liers, der sie stützt und ihr zu­lä­chelt, im Wal­zer da­hin­schwe­bend, oder auf die samt­be­zo­ge­ne Brüs­tung ei­ner Loge ge­lehnt und ihr kö­nig­li­ches Pro­fil zei­gend. Die Wei­sen der Kon­ter­tän­ze, der Glanz der Lich­ter ver­folg­ten und blen­de­ten mich noch eine Zeit lang; dann schmolz zu­letzt al­les in der Ein­tö­nig­keit ei­ner schmerz­li­chen Träu­me­rei zu­sam­men. So habe ich tau­send klei­ne Ge­füh­le ge­habt, die acht Tage oder einen Mo­nat an­hiel­ten und de­nen ich die Dau­er von Jahr­hun­der­ten hät­te ge­ben mö­gen. Ich weiß nicht, wel­ches ihr In­halt war, noch worin alle die­se un­be­stimm­ten Wün­sche zu­sam­men­flos­sen. Ich glau­be, es war das Be­dürf­nis nach ei­nem neu­en Ge­fühl und eine Sehn­sucht nach et­was Ho­hem, des­sen Gip­fel ich nicht sah.

Die Rei­fe des Her­zens geht der des Kör­pers vor­aus. Noch lag mir Emp­fin­den nä­her als Ge­nie­ßen, mein Sinn stand mehr nach Lie­be als nach Wol­lust. Heu­te ver­mag ich mir die Lie­be des ers­ten Jüng­lings­al­ters nicht ein­mal mehr vor­zu­stel­len. Die Sin­ne spie­len in ihr kei­ne Rol­le, und das Unend­li­che al­lein gibt ihr den In­halt: als ein Über­gang zwi­schen Kind­heit und Ju­gend lie­gend, ent­schwin­det sie so schnell, dass man sie ver­gisst.

Bei den Dich­tern hat­te ich so viel von Lie­be ge­le­sen und mir das Wort so oft wie­der­holt, um mich an sei­nem süßem Klang zu be­rau­schen, dass ich bei je­dem Stern, der in mil­der Nacht am blau­en Him­mel glänz­te, bei je­dem Wel­len­mur­meln am Ufer, bei je­dem Son­nen­strahl im Tau­trop­fen sag­te: »Ich lie­be, ach, ich lie­be!« Und das mach­te mich glück­lich und stolz. Ich war be­reit zu den höchs­ten Op­fern, und be­son­ders, wenn eine Frau mich im Vor­über­ge­hen streif­te oder mir ins Ge­sicht sah, hät­te ich sie noch tau­send­mal mehr lie­ben, noch mehr für sie er­dul­den mö­gen und ge­wünscht, dass mein biss­chen Herz­klop­fen mir die Brust spreng­te.

Erin­ne­re dich, Le­ser, der Le­bens­zeit, wo man un­be­stimmt lä­chelt, als ob die Luft vol­ler Küs­se wäre: das Herz ist ganz ge­schwellt von duf­ten­dem Hauch, das Blut pulst heiß in den Adern, es wallt wie schäu­men­der Wein in ei­ner Scha­le von Kris­tall. Beim Er­wa­chen ist man glück­li­cher und rei­cher, als man am Abend vor­her war, zit­tern­der von Le­ben und Er­re­gung. Süße Strö­me stei­gen und fal­len und durch­trän­ken uns himm­lisch mit be­rau­schen­der Wär­me. Sanft nei­gen die Bäu­me ihre Wip­fel un­ter dem Win­de, die Blät­ter er­schau­ern an­ein­an­der, als wenn sie flüs­ter­ten, Wol­ken zie­hen und ge­ben den Him­mel frei, von dem der Mond her­ablä­chelt und sein Spie­gel­bild in den Fluss wirft. Wenn man auf abend­li­chem Spa­zier­gan­ge den Duft des fri­schen Heu­es ein­at­met, den Kuckuck in den Wäl­dern hört und die Stern­schnup­pen fal­len sieht, dann ist ge­wiss das Herz rei­ner, von Luft, Licht und Azur tiefer durch­tränkt als der fried­li­che Ho­ri­zont, wo Erde und Him­mel sich in sanf­tem Kus­se zu ver­mäh­len schei­nen. Ach, wie das Haar der Frau­en duf­tet! Wie zart die Haut ih­rer Hän­de ist, wie ihre Bli­cke ins Herz drin­gen!

Doch schon war es nicht mehr der ers­te blen­den­de Glanz der Kind­heit, wa­ren es nicht mehr die auf­re­gen­den Erin­ne­run­gen der ver­gan­ge­nen Nacht; ich trat im Ge­gen­teil in das wirk­li­che Le­ben ein, wo ich mei­nen Platz hat­te, in eine wei­te Har­mo­nie, wo mein Herz einen Hym­nus sang und in präch­ti­ger Schwin­gung vi­brier­te. Ich ge­noss voll Won­ne die­ses ent­zücken­de Er­blü­hen, und das Er­wa­chen mei­ner Sin­ne hob mei­nen Stolz. Wie der ers­te Mensch der Schöp­fung hob ich mich von lan­gem Schlum­mer, und an mei­ner Sei­te sah ich ein mir ähn­li­ches, doch ab­wei­chend ge­stal­te­tes We­sen. Das rief zwi­schen uns eine tau­mel­er­re­gen­de An­zie­hung her­vor, und zu­gleich hat­te ich für die­se neue Ge­stalt ein neu­es Ge­fühl, das mich stolz mach­te, wäh­rend die Son­ne hel­ler schi­en, die Bäu­me sü­ßer als je duf­te­ten und die Schat­ten woh­li­ger und lo­cken­der wa­ren.