Nuestro Sol - Unter unserer Sonne - Melanie Buchelt - E-Book

Nuestro Sol - Unter unserer Sonne E-Book

Melanie Buchelt

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Beschreibung

Sie verabscheut die Tradition, für die er steht. Er zerbricht an den Erwartungen, die er erfüllen muss. Sie hält seine Zukunft in der Hand – und er ihr Herz. Aurelia wittert die große Chance für ihre Karriere und ihr Herzensthema Tierschutz, als sie für eine Enthüllungssendung über Stierkampf in ihre Heimatstadt Sevilla zurückkehrt. Doch der Torero, den sie interviewen soll, entpuppt sich ausgerechnet als ihre unerfüllte Jugendliebe Rubén, der ihr vor Jahren versprochen hat, nie eine Arena zu betreten. Als Aurelia hinter seine Fassade blickt, steht sie zwischen alten Gefühlen und neuen Zielen - doch für eine Wahl ist es bereits zu spät.

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Seitenzahl: 447

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Dunkelstern Verlag GbR

Lindenhof 1

76698 Ubstadt-Weiher

http://www.dunkelstern-verlag.de

E-Mail: [email protected]

Dieses Werk darf weder im Gesamten noch in Auszügen zum Training künstlicher Intelligenzen, Programmen oder Systemen genutzt werden.

Lektorat: Lektorat Mitternachtsfunke

Korrektorat: Kimberly Wehr

Cover: Bleeding Colours Coverdesign

Satz: Bleeding Colours Coverdesign

ISBN: 978-3-98947-065-1

Alle Rechte vorbehalten

Ungekürzte Taschenbuchausgabe

Wenn du mir nicht den Rücken gekehrt hättest,

hätte ich dieses Buch dir gewidmet.

Du wärst stolz gewesen.

Doch du bist es nicht.

Deshalb widme ich Nuestro Sol allen Menschen,

deren eigene Wurzeln nicht genügend Halt geben.

Und die sich jemanden wünschen,

der stolz auf sie ist.

Inhalt

Vorwort und Content Notes

Playlist

La oportunidad - Die Gelegenheit

Distracción - Ablenkung

El fantasma del pasado - Der Geist der Vergangenheit

Atrapado en la Plaza de Toros - Gefangen in der Arena

Espejo - Spiegel

Pelotas voladoras - Fliegende Fußbälle

Eres lo que eres - Du bist, was du bist

Patria - Heimat

Sevillanas - Sevillanas

No escondas tus lágrimas - Verstecke deine Tränen nicht

Cuidate - Pass auf dich auf

Víctima del arte - Opfer der Kunst

Con Dolor - Unter Schmerzen

Al otro lado - Auf der anderen Seite

Niño favorito - Lieblingskind

ProToro - ProToro

Ahora estás aquí - Jetzt bist du hier

Nuestro sol - Unsere Sonne

Perfecto - Perfekt

Encontrado - Gefunden

Tu secreto está a salvo conmigo - Dein Geheimnis ist bei mir sicher

El día después - Der Tag danach

Solo nosotros - Nur wir

La llamada - Der Anruf

Con todo mí corazón - Mit meinem ganzen Herzen

Despedida - Abschied

Mentiroso - Lügner

No hay vuelta atrás - Es gibt kein Zurück

Antitaurina vs. Torero - Stierkampfgegnerin vs. Torero

Pedazos de espejo - Spiegelscherben

¿Cómo séra mi futuro? - Wie wird meine Zukunft aussehen?

La última vez - Das letzte Mal

Volando como un fénix - Fliegen wie ein Phönix

Todo irá bien - Alles wird gut

Danksagung

Quellenverzeichnis

Content Notes

Vorwort und Content Notes

Liebe Lesende,

im Verlauf dieser Geschichte wird ein Stierkampf beschrieben. Da das für manche von euch verstörend ist oder triggern kann, haben wir die Markierung XXXXXX XXX am Anfang und am Ende der entsprechenden Stelle im Buch gesetzt, damit ihr die Szene, wenn nötig, überspringen könnt. Dem Plot könnt ihr trotzdem weiterhin folgen. Eine Liste mit weiteren Content Notes findet ihr am Ende des Buches, da sie Spoiler enthält.

Wir wünschen euch schöne Lesestunden mit Aurelia und Rubén.

Playlist

Abrazame – Julio Iglesias

Forget me – Lewis Capaldi

I almost do (Taylor’s Version) – Taylor Swift

One – Ed Sheeran

Until I found you – Stephen Sanchez

When you’re gone – Shawn Mendes

Overpass Graffiti – Ed Sheeran

Don’t forget me – Dermot Kennedy

Love in slow motion – Ed Sheeran

Keinen Zentimeter – Clueso

Page – Ed Sheeran

Wish you the best – Lewis Capaldi

Ich selbst zu sein – Nevio Passaro

La oportunidad

Die Gelegenheit

Aurelia

Du bist eine Inspiration, Aurelia.Seitdem ich deine Seite kenne, habe ich vieles überdacht, das für mich immer selbstverständlich war. Danke dafür.

Ich scrollte durch die Reaktionen unter meinem neuesten Instagram-Beitrag, in dem ich vegane Tapas-Rezepte geteilt hatte. Was würden die Follower denken, wenn sie wüssten, dass ich um halb sieben morgens grinsend im Bett lag und mir am liebsten jeden der Kommentare ausdrucken und an die Wand hängen würde? Zur Motivation, wenn ich mal wieder zweifelte, oder jemand meine Inhalte als panikmachende Schwarzmalerei und Weltverbesserer-Bullshit bezeichnete. Alles schon erlebt. Und dennoch kämpfte ich weiter für den Tierschutz. Es war das Herzensthema meines Lebens. Bereits mit vier Jahren hatte ich Regenwürmer gerettet und streunenden Katzen einen Unterschlupf in unserer Garage gebaut. Zum Leidwesen meiner Eltern, die damit leben mussten, dass der Stellplatz für ihr Auto regelmäßig in ein provisorisches Tierheim verwandelt wurde. Glücklicherweise waren sie genauso tierlieb wie ich. Ihre verständnisvollen Blicke von damals hatten mich über die Jahre hinweg begleitet und darin bestärkt, niemals etwas aufzugeben, das mir wichtig war. Dass mein Instagram-Account fast fünfzigtausend Follower erreicht hatte, zeigte mir, dass es da draußen Gleichgesinnte gab, und das tat mir gut. Es vertrieb den hartnäckigen Gegenwind, der mir von Zeit zu Zeit die Motivation nahm.

Nachdem ich geduscht hatte und mein dunkelbrauner Bob, der zwischen dem Kinn und der Schulter endete, wieder in leichten Wellen mein Gesicht umrahmte, saß ich mit einer Tasse Kaffee am Küchentisch, den ich nur zum Essen aus seiner Wandhalterung ausklappte. Mein Handy klingelte und unterbrach die Übertragung von Cope Sevilla. Obwohl ich schon seit zehn Jahren in Madrid wohnte, konnte ich mich nicht von meinem Lieblingsradiosender trennen und war dankbar für die Erfindung des Webradios. Das brachte wenigstens ein bisschen Sevilla-Feeling zu mir nach Hause. Gegen das Heimweh, das mich gelegentlich übermannte, richtete aber auch das nicht viel aus. Ein Blick auf das Display verriet, dass mein Arbeitskollege anrief.

»¡Hola, Felipe! Was ist los? Habe ich einen Termin vergessen?« Ein Anflug von Panik erfasste mich und ich ging gedanklich die Woche durch. Einen solchen Fehler durfte ich mir als junge Reporterin, die gerade beim Sender Fuß gefasst hatte, nicht leisten. Die Moderation kleiner, lokaler Sendungen beim Madrider Fernsehsender ¡Aquí! war zwar erst der Anfang meiner Karriere, aber ich fühlte mich dort wohl und wollte nichts riskieren.

»Guten Morgen, Aurelia. Nein, keine Sorge. Du bist nicht zu spät. Ich möchte dich nur vorwarnen, falls du deine Mails noch nicht abgerufen hast. Pérez will uns beide sehen. Um acht. Keine Ahnung, ob das gut oder schlecht ist.«

Ich schluckte. Die Produktionsleiterin bestellt uns in ihr Büro? Madre de Dios! »Was? Weißt du, wie die Einschaltquote von Chueca regional letzte Woche war? Haben wir etwas verbockt? War es nicht modern genug? Gab es Kritiken?«

Felipes Stimme nahm einen beruhigenden Tonfall an. Er war durch nichts aus der Fassung zu bringen. »Jetzt warte es doch erst einmal ab. Du warst großartig! Mach dir keine Sorgen, niemand ist bisher mit abgetrenntem Kopf aus Pérez‘Büro gekommen, oder? Auch wenn sie Haare auf den Zähnen hat.«

Ich erlaubte mir einen tiefen Atemzug. »Dein Wort in Gottes Ohr. Ich komme jetzt. Bis gleich. Und danke für die Warnung.«

»Für dich doch immer.« Er legte auf.

Ich setzte die Tasse an und trank den Rest des heißen Kaffees in einem Zug aus, was mich dazu brachte, ein paar Mal schnell ein- und auszuatmen, um meinen Mund abzukühlen. Durch ein zu heißes Getränk im Krankenhaus gelandet, um einem Gespräch mit der Produktionsleiterin zu entgehen. Das wäre eine typische Aurelia-Fuentes-Aktion. Ich schüttelte über mich selbst den Kopf, zog im Flur vor dem Spiegel meinen roséfarbenen Lippenstift nach und verließ die Wohnung.

Unterwegs postete ich ein Selfie mit der Sonne im Rücken und wünschte meinen Followern einen guten Morgen, wie jeden Tag. Mein Blog und der Instagram-Account @au-real-ia waren ein Teil von mir. Ich achtete darauf, nicht zu viel aus dem Privatleben preiszugeben, aber dennoch nahbar zu bleiben, und nicht nur über Umwelt- und Tierschutz zu schreiben, sondern auch den Menschen hinter den Kulissen zu zeigen. Dass ich mir im Moment vor Nervosität fast in die Hose machte, brauchte allerdings niemand wissen. Über den Job bei ¡Aquí!schrieb ich im Internet nichts. Es reichte mir, dass die Follower mich in diversen regionalen Reportagen sahen und manchmal unter den Sendungen in der Mediathek kommentierten.

Ich betrat das Gebäude, in dem die Büros des Senders ansässig waren, durch den unscheinbaren Eingang. Vom Image der glitzernden TV-Branche war hinter den Kulissen nichts zu sehen. Es war regelrecht unspektakulär. Ein Großraumbüro mit zehn Arbeitsplätzen, ein paar Einzelbüros der Chefetage, eine Kaffeeküche, ein Cutting-Room und einige Räume, in denen das technische Equipment aufbewahrt wurde – mehr gab es hier nicht zu sehen.

Ich setzte mich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch und schloss die Augen, um mich zu fokussieren und mir Pro-Argumente im Kopf zurechtzulegen, falls Pérez etwas an meiner und Felipes Arbeit auszusetzen hatte. Die aktuelle Sendung war perfekt auf die Zielgruppe abgestimmt, abwechslungsreich und informativ, aber trotzdem unterhaltsam gewesen. Außerdem hatte das Team sie abgesegnet. Doch wer weiß, einem Branchen-Fossil wie Inés Pérez würde sicher jede Kleinigkeit auffallen, die bei der Kontrolle durchgerutscht sein könnte.

»Hi, Leidensgenossin!« Felipe setzte sich an den benachbarten Schreibtisch und reichte mir eine der beiden Kaffeetassen, die er mitgebracht hatte. »Du siehst aus, als würdest du die Sendung gedanklich auseinandernehmen. Zerbrich dir nicht den Kopf, das wird halb so schlimm. Wir fechten das gemeinsam aus, egal, was es ist.« Er fuhr sich durch die hellbraunen Haare, die er nach hinten gestylt hatte, doch durch das Gel blieb seine Frisur unversehrt.

Ich nickte zaghaft und öffnete das Mail-Programm, um zu checken, ob ich eine weitere wichtige Nachricht verpasst hatte. Aber bis auf den Rückblick der vergangenen Woche war nichts angekommen. »Ich kann mir absolut keinen Grund vorstellen, weshalb sie ausgerechnet uns sehen will.«

Eine schneidende Stimme unterbrach meine Überlegungen. »Hey, Aurealia, was macht deine Follower-Zahl? Hast du endlich die Fünfzigtausend geknackt? Du musst zum Boss, hab ich gehört? Vielleicht wirst du ja gefeuert und kannst Vollzeit-Weltverbesserin werden.«

Por Dios, der hat mir gerade noch gefehlt.

Pedro war einer der Redakteure des Senders, hatte viele kreative Ideen, aber ließ keine Gelegenheit aus, sich über andere lustig zu machen. In meinem Fall bedeutete das, mich wegen der Instagram-Sache aufzuziehen und meinen Namen jedes Mal wie den Accountnamen auszusprechen, mit dem englischen ›real‹in der Mitte. Felipe hing ebenfalls regelmäßig im Zentrum seiner Zielscheibe, auch wenn er bei ihm außer seiner Liebe für Marvel-Filme und Mangas weniger Angriffsfläche fand als bei mir.

Mittlerweile hatte ich gelernt, seine Kommentare zu ignorieren, aber heute war ich zu dünnhäutig dafür und feuerte zurück. »Du schenkst meinem Profil ja viel Beachtung, wenn du sogar die Anzahl der Abonnenten kennst. Ich hätte dir gar nicht zugetraut, dich für Tiere zu interessieren. Die haben ein feines Gespür für Charakter, weißt du?«

Felipe gab ein leises Prusten von sich, das nach einem unterdrückten Lachen klang und glücklicherweise von seiner Tasse gedämpft wurde.

Pedro drehte uns ohne ein weiteres Wort den Rücken zu.

Felipe hob anerkennend die Augenbrauen. »Das hat gesessen. Ich hatte keine Ahnung, dass du so schlagfertig sein kannst. Bin beeindruckt.«

»Besondere Situationen erfordern besonderen Einsatz.« Ich schielte auf meine Armbanduhr. Fünf vor acht. »Sollen wir los, in die Höhle der Löwin?«

Felipe nickte. Seine Kieferknochen mahlten, was mich auf absurde Art und Weise beruhigte. Er schien doch nervös zu sein. »Vamos. Je schneller wir es hinter uns bringen, desto besser.«

Inés Pérez saß hinter ihrem hellen Schreibtisch, der auf Hochglanz poliert war, und hatte die Hände gefaltet. Ihr Ruf als Arbeitstier und eiserne Lady von ¡Aquí!eilte ihr voraus, auch wenn ihr perfekt aufgeräumtes Büro vermuten ließ, dass sie keinen Finger krümmte. Eine weiße Mappe, eine ebenso weiße Kaffeetasse und eine Lesebrille mit cremefarbenem Gestell lagen sorgfältig drapiert neben der Tastatur ihres PCs, als wäre es Dekoration für das ästhetische Foto eines Arbeitsplatzes. Der Gegensatz zu dem kreativen Chaos aus bunten Notizbüchern und Kugelschreibern auf meinem Schreibtisch schnürte mir kurz die Luft ab. Sie spielte in einer anderen Liga – und das zeigte sie.

»Ah, Señora Fuentes, Señor Moreno, schön, dass Sie so kurzfristig kommen konnten.«

Als ob wir eine Wahl gehabt hätten.

Sie nickte uns zu, wobei sich ihre makellos gestylte dunkle Kurzhaarfrisur nicht einen Millimeter bewegte.

»Guten Morgen.« Felipes Stimme ließ einen Hauch Unsicherheit durchsickern, der mir nur auffiel, weil wir uns über ein Jahr lang kannten und täglich zusammenarbeiteten. Er nahm auf dem rechten Stuhl Platz.

Ich grüßte unsere Chefin ebenfalls und setzte mich neben Felipe. Ein unangenehmer Kloß wuchs in meinem Hals und ich war froh, dass ich erst einmal nichts sagen musste. Mein Puls hämmerte in den Ohren und ich konzentrierte mich darauf, ruhig zu atmen.

»Ich habe Sie heute hierhergebeten, weil ich Ihnen ein Angebot unterbreiten möchte.« In ihrem Gesicht zeichnete sich ein verhaltenes Lächeln ab.

Puh! Gott sei Dank keine Standpauke. Aber – ein Angebot? Meine Gedanken spielten in Sekundenschnelle die Möglichkeiten durch, die sich hinter Pérez‘ Satz versteckten, aber ich ermahnte mich, nicht zu viel zu erwarten.

»Ihre Reportage über das bunte Chueca ist durch die Decke gegangen, um es salopp auszudrücken. Wir hatten so gute Einschaltquoten wie schon lang nicht mehr, vor allem in der jüngeren Altersgruppe, die wir wieder vermehrt erreichen wollen. Die Aufzeichnung in der Mediathek hatte so viele Views wie keine andere Reportage der letzten zwei Jahre. Es sieht so aus, als hätten Sie den Nerv der Zeit genau getroffen, Señora Fuentes. Sogar auf unserem eingeschlafenen Instagram-Account war die Reichweite nach der Sendung größer. Die Insights auf den Social-Media-Plattformen sprechen klar für Sie als Team.«

Ich konnte nichts erwidern. Nur nicken und meine Mundwinkel davon abhalten, mich in ein grinsendes Honigkuchenpferd zu verwandeln.

»Lange Rede, kurzer Sinn: Wir haben beschlossen, dass es für Sie an der Zeit ist, nicht mehr nur regional zu berichten. Wir finden, dass Sie mit Ihrer direkten und offenen Art und Señor Moreno mit seiner modernen Kameraführung frischen Wind in eins unserer angestaubten Prime-Time-Formate bringen könnten.«

Was hat sie gerade gesagt? Wir beide im Abendprogramm? Mein Herz stolperte und meine Wangen glühten.

Felipe neben mir schluckte sichtbar und krallte seine Finger in die Lehne des Stuhls.

»Ist Ihnen La Verdad ein Begriff?«

»Die Enthüllungssendung, meinen Sie?« Seine Stimme bebte vor unausgesprochener Aufregung.

»Richtig. Jede Woche wird ein Thema beleuchtet, über das sonst keiner spricht. Es werden unangenehme Wahrheiten aufgedeckt, bezüglich der Lebensmittelindustrie, Zuständen an Arbeitsplätzen oder anderen kontroversen Themen, die Spanien bewegen. Leider ließen die Quoten in letzter Zeit zu wünschen übrig und wir sehen uns gezwungen, etwas zu tun. La Verdad braucht eine Sensation, um endlich im Jahr 2024 anzukommen.« Sie löste ihre verschränkten Finger und breitete die Hände aus. »Und da kommen Sie ins Spiel. Wir sind uns sicher, dass das nächste Thema bei Ihnen beiden gut aufgehoben wäre. Señor Moreno, Sie haben ein Gespür für Ästhetik, Details und die richtigen Momente. Und Señora Fuentes ist exakt das Gesicht, das wir suchen. Jung, temperamentvoll, schlagfertig.«

Ich blinzelte einige Male, bis ich antworten konnte. »Ich … soll … eine Prime-Time-Sendung übernehmen?« Meine Stimme klang, als würde ich ehrfürchtig eine Zauberformel sprechen – und genauso fühlte es sich an.

»Ja. Wir müssen natürlich noch die Einzelheiten besprechen, aber ich weiß aus sicherer Quelle, dass Sie an dem Thema der Sendung sehr interessiert sein werden.«

Ich überlegte, ob die Wendung, die das Gespräch gerade nahm, spannend oder beängstigend war. »Und worum geht es?«

Felipe biss sich auf die Unterlippe.

Inés Pérez lächelte schmal. »Sie werden nach Sevilla reisen. Ihre alte Heimat, wie ich mir habe sagen lassen, Señora Fuentes. Und außerdem befindet sich dort die größte und wichtigste Stierkampfarena Spaniens.«

Nein! Das kann nicht ihr Ernst sein! Bitte nicht! Wieso ausgerechnet dieses Thema? Unter allen Themen dieser Welt, warum das? Ich schloss für eine Sekunde die Augen und wünschte mich in meine kleine Regionalsendung zurück. Zu den Restaurant-Eröffnungen, Jubiläen und Vereinsveranstaltungen, weit weg von Kontroversität. Mit Kopfsprung hinein in die kuschelige Komfortzone und nie wieder herauskommen.

Felipe räusperte sich. »Darum soll es gehen? Stierkampf?« Er warf mir einen skeptischen Seitenblick zu. »Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, Señora Pérez, aber das ist nichts, womit man Leute in unserem Alter ins Boot holt. Eher im Gegenteil.«

Ich sog die Luft ein. So konnte er unmöglich mit der Produktionsleiterin reden. Auch wenn er exakt meine Gedanken aussprach.

Pérez entfuhr ein kurzes Lachen. Dann wurden ihre Gesichtszüge weicher. »Sie verstehen mich falsch, genau das ist der Punkt. Wir glorifizieren die Stierkampf-Tradition nicht, wie es viele andere Reportagen in diesem Land schon getan haben. Wir zeigen die grausame Wahrheit. Das, was alle wissen, aber jeder verdrängt. Skrupellose Toreros, ein lächerlich sensationsgeiles Publikum und das unsinnige Festhalten an dieser Tradition, die schon längst nicht mehr zeitgemäß ist. Führen Sie das den Zuschauern vor Augen. Unzensiert. Tier- und Umweltschutz ist präsenter denn je in der Öffentlichkeit. Die Sendung soll eine Diskussionswelle auslösen, am besten in den sozialen Medien – dort warten die Menschen nur darauf, dass jemand einen Skandal zur Sprache bringt, auf den sie sich stürzen können. Wir wissen, dass die Mehrheit der Spanier mittlerweile gegen die Tauromaquia ist – vielleicht fehlt nur ein letzter Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt, um auch in Andalusien ein Stierkampfverbot durchzusetzen. Wäre das nicht Ihre große Chance als aktive Tierschützerin? Stellen Sie sich diese Sensation vor.«

Mein Herz schlug einige aufgeregte Schläge. Mir war klar, dass Pérez in erster Linie ihre Sendung promotete, aber dass sie ein solches Plädoyer für Tierschutz halten konnte, hätte ich nicht erwartet. Diese Reportage würde die größte Herausforderung meiner bisherigen Karriere werden – vielleicht meines Lebens. Und gleichzeitig die beste Gelegenheit, etwas zu bewegen. Nicht nur im kleinen Kreis meiner Follower, sondern in einer ganzen Stadt. Mit einem Mal wurde mir das Gewicht dieser Aufgabe klar und ich sackte darunter ein Stück zusammen. Es war nicht nur meine Abneigung gegen den Stierkampf, die dieses Thema schwierig machte. Das Ganze war viel persönlicher. Doch das ließ ich jetzt nicht an mich heran. »Was, wenn wir es nicht schaffen? Wenn die Sendung kein Interesse weckt und eine Diskussion ausbleibt?«

Unser Gegenüber zog die Augenbrauen hoch, als wäre diese Überlegung nicht der Rede wert. »Sprechen wir nicht über das Was-wäre-wenn, Señora Fuentes, sondern über das Wie.« Sie räusperte sich verheißungsvoll. »Bisher waren Reportagen über Stierkampf viel zu allgemein gehalten. Was die Leute wollen, sind Einzelschicksale. Identifikationsfiguren – oder solche, die polarisieren. Sie werden einem der vielversprechendsten jungen Matadoren Sevillas auf den Zahn fühlen. Treiben Sie ihn in die Enge, stellen Sie ihm die unangenehmen Fragen. Und Sie, Señor Moreno, filmen gnadenlos. Lassen Sie ihn glänzen und scheitern. Zeigen sie den Torero so, dass den Zuschauern am Ende der Sendung die Augen geöffnet wurden.«

Felipes Hände umklammerten immer noch die Stuhllehnen. »Wann soll das Projekt stattfinden?«

Pérez tippte etwas in Ihren PC ein. »Wir werden Sie natürlich zur Feria de Abril nach Sevilla schicken. Nirgendwo sonst ist der Stierkampf so präsent wie auf diesem Festival. Die Feria startet in einer Woche. So haben Sie genug Zeit, sich gemeinsam eine Strategie zu erarbeiten. Im Handout, das ich Ihnen gerade geschickt habe, finden Sie die wichtigsten Eckpunkte und Veranstaltungen während Ihres Aufenthaltes. Die Folge wird dann zeitnah gesendet, damit die Menschen die Feria noch im Gedächtnis haben. Lesen Sie sich gern alles in Ruhe durch und sagen Sie mir bis morgen Bescheid, ob Sie sich dem gewachsen fühlen.«

Felipe ließ seinen Blick über den Schreibtisch wandern, dann sah er Pérez an. »In Ordnung, wir melden uns so schnell wie möglich.«

Sie nickte langsam und in ihrem Blick lag ein Hauch von Siegessicherheit. »Ich danke Ihnen für Ihre Zeit. Einen schönen Tag noch.«

»Ihnen auch, Señora Pérez«, sagte ich und reichte ihr die Hand.

Felipe tat es mir gleich, bevor wir das Büro verließen. Er drehte sich zu mir um, als die Tür geschlossen war, und grinste vielsagend. »Aurelia Fuentes López … du hast sie umgehauen!«

Meine Mundwinkel schossen nach oben und ich konnte nicht anders, als ihm in die Arme zu fallen, aus Erleichterung und Überforderung gleichermaßen. Mir war völlig egal, ob uns jemand sah. »Du auch, Herr Kollege! Por Dios, ich habe so Angst, dass wir das nicht schaffen.«

Er löste sich von mir und schüttelte den Kopf. »Keine Sorge, das kriegen wir hin. Du hast früher in Sevilla gewohnt? Das wusste ich gar nicht.«

Mein Lächeln bröckelte. Die Vergangenheit dort war wie ein Karton im Keller, den man jahrelang aufbewahrt, weil man es nicht übers Herz bringt, ihn wegzuwerfen, auch wenn man ihn nie öffnet. Der Inhalt schmerzt zu sehr.

»Ja. Meine Eltern haben ein Jobangebot hier angenommen, als ich fünfzehn war. Mitten in der Pubertät umzuziehen, war rückblickend nicht die beste Idee. Madrid hat sich zwar mit der Zeit auch einen Platz in meinem Herzen gesichert, aber die Heimat bleibt eben immer mit vielen Erinnerungen verbunden.« Meine Stimme nahm einen melancholischen Ton an, den ich gar nicht zulassen wollte. Rückblicke aus Sevilla schlichen sich in meinen Kopf, als wäre es gestern gewesen, dass ich die alte Schule und meine Freunde verlassen musste. Vor allem den Menschen, der mir damals am meisten bedeutet und mich im Nachhinein am stärksten enttäuscht hatte. Er verdiente es nicht, dass ich überhaupt an ihn dachte.

»Erde an Aurelia«, sagte Felipe und wedelte mit seiner Hand vor meinem Gesicht herum wie ein Scheibenwischer.

»Was? Entschuldige, ich war in Gedanken.«

»Ich habe nur gesagt, dass wir uns an die Arbeit machen sollten, damit wir morgen vor Pérez nicht mit leeren Händen dastehen.« Er zwinkerte und wir kehrten zurück zu unserem Arbeitsplatz.

»Guter Plan. Los geht‘s«, sagte ich, mehr zu mir selbst und schlug den Kellerkarton in meinen Gedanken zu. Zum Teufel mit dem Inhalt, der sowieso nur wehtut!

Den Rest des Tages verbrachten wir an meinem Schreibtisch, wo wir die Köpfe über dem Handout zusammengesteckt hatten. Felipe machte sich Anmerkungen auf seinem Tablet und ich kritzelte in ein zerfleddertes Notizbuch. Wenn mein Gehirn vor Ideen übersprudelte, half es mir, alles handschriftlich festzuhalten. Mit einem Stift schreiben, gab mir das Gefühl, mehr geschafft zu haben als digital.

Wir waren zufrieden mit unserem ersten Brainstorming und entschlossen, der Produktionsleiterin morgen zuzusagen.

Ich würde nach Sevilla zurückkehren.

In die Stadt, in der ich vor zehn Jahren mein Herz verloren hatte.

Distracción

Ablenkung

Rubén

Ich warf das Handy achtlos auf mein Bett, nachdem ich aufgelegt hatte, und fuhr mir über das Gesicht. Dass mein Manager Adriano früh morgens anrief, war nichts Neues, aber die heutige ›frohe Botschaft‹ musste ich erst einmal verdauen. Eine Fernsehsendung! Über mich. Als ob Toreros nicht schon genug im Fadenkreuz der Öffentlichkeit stehen. Und als ob ausgerechnet ich ein Vorzeigeexemplar dieses Berufes bin.

Aber dass es keine der üblichen beweihräuchernden Dauerwerbesendungen für Stierkampf werden sollte, klang zumindest halbwegs interessant. Sollten sie berichten, was sie wollten. Im Endeffekt war es nur das Geld, das mich gelockt hatte. Wie immer. Und ich hasste es. Ich hob das Handy doch wieder auf, weil es vibrierte, checkte die E-Mails und öffnete die Nachricht von Adriano, die den Ablauf der Drehtage skizzierte und den Vertrag zur digitalen Unterzeichnung enthielt. Am Mittwoch gab es ein kurzes Meeting, um das Team kennenzulernen. Am Donnerstag fand das Interview statt und am Samstag würden sie bei einem Kampf dabei sein, um dort ein paar Aufnahmen zu machen. Ich schluckte. Der Gedanke daran, dass mein Gesicht bald in ganz Spanien im Fernsehen und weltweit im Internet zu sehen sein würde, wo ich es selbst so gut wie möglich vermied, mich anzusehen, war mir unangenehm. Aber vielleicht war diese Reportage auch ein Weg, um wieder mit mir ins Reine zu kommen. Ich war ein verdammt guter Torero für mein Alter von fünfundzwanzig. Das musste ich mir zugestehen. Schnell, elegant und erfolgreich. Eine Persönlichkeit in der Arena – auch wenn ich außerhalb verloren war. Es gab viele Menschen dort draußen, die ehrfürchtig zu mir aufsahen, und für die das, was ich in den letzten Jahren erreicht hatte, ein Traum war. Vor allem die Jüngeren, die in der Ausbildung steckten – und denen ich es am liebsten ausreden würde. Ob die Reportage mir helfen wird, das Leben besser zu akzeptieren, das ich mir nicht selbst ausgesucht habe? Oder mich zu reflektieren? Auf jeden Fall hatte ich kein Problem damit, meinen Beruf auch kritisch zu hinterfragen. Das konnten die meisten Toreros nicht. Für sie war die Tauromaquia eine Kunstform – und sie die Künstler. Beim Gedanken daran, wie selbstgefällig und grausam manche von ihnen waren, lief es mir eiskalt den Rücken hinunter.

Bevor ich die Beine aus dem Bett schwang, streckte ich mich noch einmal aus und wandte mein Gesicht der Sonne zu, die sich durch die halbtransparenten Vorhänge der bodentiefen Fenster meines Schlafzimmers kämpfte.

Ich würde gern einmal einen ganzen Tag liegen bleiben und alle Verpflichtungen vergessen, die mir im Nacken sitzen. Doch das war nicht drin. Zehn Minuten später stand ich frisch geduscht, in Jogginghose und T-Shirt am Waschbecken. Bereit, mich den Herausforderungen des Tages zu stellen. Ich verteilte einen Klecks Gel in den Handflächen und fuhr mir durch die kurzen Haare, ohne in den Spiegel zu schauen. Das musste reichen.

Nachdem ich im Supermarkt den Einkauf für die nächsten Tage erledigt hatte, rief ich Silvio an. Einer der wenigen Menschen, die mich nicht auf den Beruf reduzierten.

»Hey, Rubén, ¿estás bien?«

Das Rauschen im Hintergrund verriet, dass er im Auto saß.

»Sí. Ich wollte dich fragen, ob du Lust auf eine Runde Joggen hast?« Unwillkürlich schloss ich die Augen und hoffte, dass er zusagen würde.

Mit meinem besten Freund gemeinsam Sport zu treiben war wie eine Auszeit aus dem Leben. Er hatte mit Stierkämpfen nichts am Hut, sondern wollte sich einfach nur fit halten. Mit ihm sprach ich über Dinge, die ich sonst nirgendwo loswerden konnte, weil alle mich nur als El Rápido sahen. Nicht als den Mann, der in mir steckte, sobald ich das Torerokostüm, die Traje de Luces, in den Schrank hängte. Ohne die schillernde Uniform war ich einfach nur Rubén. Der, der gern jede Woche frische Blumen auf seinen Esstisch stellte und gestern seinen Schinken-Bocadillo mit einem streunenden Hund geteilt hatte. Der Rubén, der ich am liebsten immer wäre.

»Claro que sí. Wann und wo? Ich wollte heute sowieso an die frische Luft und muss erst um drei zur Arbeit«, riss Silvio mich aus meinen Gedanken.

»Wie wäre es in einer halben Stunde am Guadalquivir? Sollen wir uns an dem Souvenirladen an der Brücke treffen, wie letztes Mal?«

Die Strecke entlang des Flusses war genau das Richtige für einen Tag wie heute. Ich liebte es, wenn mir dort der Wind um die Nase wehte und ich mich in der Lebendigkeit Sevillas verlieren und wiederfinden konnte.

»Hört sich gut an. Bis gleich dann.«

»Hasta luego.«

Silvio und ich ließen die Brücke Puente de Triana hinter uns und joggten in einem moderaten Tempo den Paseo de Cristóbal Cólon entlang, vorbei an diversen Cafés und Souvenirläden. Die Palmen und Bäume warfen ihre Schatten auf den Weg vor uns und sorgten zwischendurch für ein wenig Abkühlung. Ich wandte meinen Blick von dem riesigen Gebäude auf der anderen Seite der Straße ab, in dem sich die Stierkampfarena La Maestranza befand. Die weiße Fassade mit den charakteristischen gelben Türrahmen und den roten Türen übte auf viele der passierenden Touristen eine stille Faszination aus. Doch ich fühlte nur Leere, wenn ich sie ansah. Die Schuld am Tod unzähliger Stiere, denen ich dort das Leben genommen hatte, schnürte mir die Brust zusammen. Die Statue des Toreros Manolo Vasquez, an der wir gerade vorbeiliefen, wirkte wie eine Warnung auf mich, nicht von meinem vorgezeichneten Weg abzukommen, doch ich würde nichts lieber tun. Um nicht in die negative Gedankenspirale zu fallen, die dieser Ort in mir hervorrief, lenkte ich meine Aufmerksamkeit auf die strahlende Frühlingssonne und den frischen Wind, der mir um die Nase wehte und den leichten Duft von Orangenblüten trug. Im Moment wollte ich nur laufen – ohne Gedanken an die kommende Woche voller Termine … und Tod. An den Souvenirbuden hingen blassgelbe Plakate der Feria, die uns in roten Großbuchstaben die Daten der Corridas und die Namen der Toreros förmlich entgegenschrien. José Díaz, Miguel ›El Vasco‹ Goméz, Tomás Domingo, Alberto Flores und in der Mitte in den größten Lettern El Rápido. Ich hatte schon immer darauf bestanden, dass auf den Plakaten nicht mein vollständiger Name zu sehen war. Den Spitznamen verdankte ich der Schnelligkeit, wenn es darum ging, den Tieren auszuweichen, und meiner präzisen Art, den Degen im letzten Drittel des Kampfes an der richtigen Stelle zu platzieren. Mit der Zeit und der wachsenden Bekanntheit wurde der Name ein Schutzschild für mich. Natürlich wussten die Einheimischen, dass ich der Sohn des berühmten José Espinosa Cortés war, einem der besten Toreros seiner Generation, doch die meisten Stierkampfanhänger nannten mich trotzdem El Rápido. Und das war gut so. Ein kleines Schlupfloch für mich, um meine Persönlichkeit als Privatperson von der des gefeierten Matadors abzugrenzen. Dass das nötig war, hatten mir diverse Begegnungen mit Fans oder Gegnern des Stierkampfes gezeigt. Beide Seiten konnten gleichermaßen gefährlich sein. Die eine, weil sie keine Grenzen bewahrte, und die andere, weil sie einem wünschte, man würde beim nächsten Kampf endlich das Zeitliche segnen.

»Was gibt es Neues bei dir?«, wollte Silvio aus heiterem Himmel wissen. In seiner Stimme schwang ein neugieriger Tonfall mit. »Irgendeine Frau am Start?«

Ich prustete. Bitte nicht dieses Thema. »Nein. Es ist immer das Gleiche. Da gibt es die Fangirls, die mich als Trophäe ansehen oder die Angewiderten, die abhauen, sobald sie erfahren, was ich tue. Nichts dazwischen«, gab ich in einem gleichgültigen Ton zurück.

Silvio schüttelte den Kopf und eine hellbraune Strähne löste sich aus dem Stirnband, mit dem er die Haare beim Joggen zurückhielt. »Ach, komm schon. Reduzier dich doch nicht immer auf deinen Beruf. Ich laufe auch nicht rum und erzähle jedem, dass ich als Postbote arbeite.«

Ich verdrehte die Augen. »Als ob man das vergleichen kann. Aber es ist mir egal. Ich habe sowieso keine Zeit für eine Beziehung.«

Lügner! Du weißt, was das Problem ist. Ich sehnte mich genauso nach Liebe wie viele andere Menschen, doch ich fand sie nicht. Ab und zu ließ ich mich für eine Nacht auf eine ›Trophäensammlerin‹ ein, um den Kopf freizukriegen. Aber mehr wurde nie daraus. Ein Herz, das in der Vergangenheit zurückgeblieben ist, kann in der Gegenwart keine Wurzeln schlagen.

El fantasma del pasado

Der Geist der Vergangenheit

Aurelia

Felipe und ich saßen seit zwei Stunden im Zug nach Sevilla und mit jedem Kilometer, den wir unserem Ziel näher kamen, wurde ich unruhiger. In meine alte Heimatstadt zurückzukehren, hatte ich mir in den vergangenen Jahren immer wieder vorgenommen, aber nie verwirklicht. Aus verschiedenen Gründen, von denen ich mir den schwerwiegendsten nicht eingestand.

Das Vibrieren meines Handys durchbrach die Stille im Zugabteil. Das Foto von Elena, die ich zuletzt gesehen hatte, als sie mich im Sommer in Madrid besucht hatte, strahlte mir auf dem Display entgegen.

»Hola, Elena, ich hoffe, du hast ein angemessenes Empfangsmenü auf die Beine gestellt. Ich habe tierischen Hunger.«

»Mit einem Menü kann ich zwar nicht dienen, aber es gibt vegane Paella. Und wehe, du sagst jetzt nicht, dass ich die beste Freundin der Welt bin.«

Ich lächelte. Beim Gedanken an etwas Essbares – und an Elena – wurde mir warm ums Herz. »Du bist die beste Freundin des Universums. Ich kann es kaum erwarten, dich zu sehen und den neuesten Klatsch und Tratsch aus dem Viertel zu hören.«

»Es ist ja kaum was passiert, seitdem wir vorgestern telefoniert haben. Ich bin viel neugieriger, was es mit diesem streng geheimen Auftrag auf sich hat, über den du nichts sagen darfst.«

Ich schnalzte mit der Zunge. »Du wirst es früh genug erfahren. Wenn es so läuft, wie wir uns das vorstellen, werden es … ziemlich viele Menschen in Sevilla sehen.«

»Mega! Du wirst das rocken. Sag mal, hast du Lust, am Freitagabend mit in unsere Caseta zu kommen? Mein Papá hat gemeinsam mit einer anderen Familie eine gemietet. Wir haben schon so lange keine Feria mehr zusammen verbracht. Ich will mit dir Sevillanas tanzen, bis uns die Füße wehtun. Und trinken, bis uns der Kopf schwirrt.«

Mein Blick schwenkte zu Felipe. Wenn ich die Einladung in Elenas Festzelt annehme, muss ich ihn mitnehmen, sonst wäre es unhöflich. »Klar, das klingt gut. Aber ich habe kein Kleid zum Tanzen mitgenommen, das hätte nicht in den Koffer gepasst. Wenn du mir eins leihst, bin ich dabei. Eine Caseta betrete ich nur in einem angemessenen Outfit. Und ich bringe meinen Kollegen mit, wenn das okay ist.«

»Claro, ich freue mich. Ach, und schick mir doch eure Ankunftszeit, dann hole ich euch nachher vom Bahnhof ab.«

Ich atmete auf. Darauf hatte ich gehofft. Die Reise im Zug war zwar nicht so anstrengend, wie es mit dem Auto gewesen wäre, aber dennoch war ich froh über ihr Angebot. »Gracias. Du bist ein Engel.«

»Endlich erkennt das mal jemand«, erwiderte sie und lachte. »Bis gleich, Süße, ich freue mich!« Elena legte auf.

Felipe warf mir einen Seitenblick zu und zog die Augenbrauen nach oben. »Okay, jetzt bitte einmal für Nicht-Sevillaner: Was ist eine Caseta, wieso brauchst du ein Kleid und … ich soll mitkommen?« Er kratzte sich an seinem stoppeligen Kinn.

Ich räusperte mich feierlich. »Kleiner Sevilla-Crashkurs für dich: Eine Caseta ist ein Zelt auf der Feria. Meist werden sie von Privatpersonen oder Vereinen gemietet und man kommt nur mit einer persönlichen Einladung rein. Es gibt auch öffentliche, aber die sind dementsprechend voll und die Atmosphäre in den privaten ist unschlagbar. Wenn du die Feria pur erleben willst, ist das die Gelegenheit.«

Er nickte. »Und dafür gibt es einen Dresscode?«

Ich legte den Kopf schief. »Irgendwie schon. Ohne die Kleider und die Anzüge macht Sevillanas Tanzen nur halb so viel Spaß.«

»Okay. Ich lasse es auf mich zukommen und hoffe, du nimmst mich auch mit, wenn ich eine dunkle Hose und ein Polohemd trage. Einen Anzug habe ich nicht dabei. Aber da ich sowieso nicht tanzen werde, geht das hoffentlich klar.«

Ich stupste ihn freundschaftlich in die Seite. »Das wollen wir erst mal sehen. Der Wille dazu steigt mit dem Alkoholpegel.«

Felipe schüttelte den Kopf. »So viel kann ich nicht trinken, dass da ein Wille entstehen könnte.«

»Lass dich einfach mitreißen von der Atmosphäre dort. Ich bin sicher, du wirst es lieben.«

»Darf ich dich was fragen?« Seine Stimme nahm einen ernsten Unterton an.

Ich nickte und wandte mich ihm zu.

»Du klingst so begeistert, wenn du von Sevilla redest. Warum bist du nicht zurückgegangen, als du mit dem Studium fertig warst?«

Ein Kloß bildete sich in meinem Hals. Ich mochte Felipe und arbeitete gern mit ihm zusammen, aber über etwas so Persönliches hatten wir noch nie gesprochen. Ich war nicht sicher, ob ich das ändern wollte. »Madrid ist toll. Ich wohne dort mittlerweile ja schon seit zehn Jahren. Und als der Sender mich als frischgebackene Journalistin auf Anhieb eingestellt hat, war das ein Wink des Schicksals, dass Sevilla meine Vergangenheit ist und Madrid eben die Zukunft. Ganz abgesehen davon, dass ich nicht zu weit weg von meinen Eltern wohnen wollte. Ich bin ein Familienmensch, weißt du?« Ich seufzte. Herzlichen Glückwunsch zu dieser grandiosen Vorstellung. Hier ist Ihr Oscar, Señora Fuentes.

Natürlich war das die Wahrheit … irgendwie. Zumindest der berufliche Teil. In Sevilla war ich damals aber auch verliebt gewesen, inklusive Kribbeln im Bauch und weicher Knie – in meinen langjährigen besten Freund. Doch mehr als ein Beinahe-Kuss-Moment bei unserem Abschied war nie daraus geworden. Ich hatte diesen verdammten Augenblick verstreichen lassen, ohne dass etwas passiert war. Schon unzählige Male hatte ich meine damalige Schüchternheit und unseren fehlenden Mut verflucht. Seitdem verfolgte dieser Kerl mich als eine Art Phantom aus der Vergangenheit. Im Inneren hatte ich ein Denkmal errichtet, das ihn in den schillerndsten Farben abbildete, und dem keine meiner bisherigen Beziehungen das Wasser reichen konnte – obwohl ich nach dem Abschied nie wieder etwas von ihm gehört hatte. Wieso kann ich ihn nicht einfach vergessen? Er erinnert sich wahrscheinlich nicht einmal mehr an meinen Namen, und ich poliere jeden Tag das Podest, auf dem er immer noch steht. Ich bin so verkorkst.

»Das klingt vernünftig«, gab Felipe zu und ich war einen Moment irritiert, weil meine Gedanken eine Abzweigung genommen hatten, die völlig von unserer Unterhaltung weggeführt hatte. »Ähm. Ja … finde ich auch. Aber ich freue mich trotzdem auf Sevilla.« Und das wird der Geist der Vergangenheit mir nicht kaputtmachen, egal, wie imposant sein Denkmal alles überschattet.

***

Nach dem Essen lehnte ich mich in dem gepolsterten Küchenstuhl bei Elena zurück und faltete zufrieden die Hände über den Bauch. »Die Paella war perfekt! Du musst mir bitte das Rezept geben, ja? Dann stelle ich es auf meinem Account vor.«

»Oh, ich fühle mich geehrt. Ich hoffe, es war okay, dass es keine klassische Paella war, Felipe?«, wandte meine beste Freundin sich an ihren Gast.

Er wischte sich mit der Serviette über den Mund und nickte energisch. »Sicher. Ich habe nichts vermisst, um ehrlich zu sein.«

Elena strahlte. »Das freut mich zu hören.« Sie lehnte sich ein wenig nach vorn, als hätte sie Angst, in ihrer eigenen Wohnung abgehört zu werden. »Sagt mal, dürft ihr wirklich nicht verraten, wen ihr interviewt? Das ist ja richtig geheimnisvoll und professionell.«

Ich prustete. »Na hör mal, ›professionell‹ ist mein zweiter Vorname. Nein, wir dürfen nichts sagen. Wir kennen bisher selbst nur seinen albernen Decknamen. Vertraglich ist bis zur Ausstrahlung Stillschweigen vorgeschrieben.«

Elena ließ die Schultern hängen und einige ihrer dunkelbraunen Locken fielen nach vorne. »Qué pena, ich habe mich so auf Insider-Infos gefreut.«

»Tut uns leid. Dafür darfst du am Freitag mit deinem Sevilla-Wissen vor Felipe glänzen.« Ich blickte sie verschwörerisch an. »Er ist zum ersten Mal hier.«

Sie rückte ihre schwarz umrandete Brille zurecht, die sie manchmal trug, wenn sie keine Lust auf Kontaktlinsen hatte. »Du wirst die Feria lieben. Häng dich einfach an meine Fersen, wenn du überfordert bist.«

»Dann kennst du hinterher das halbe Viertel«, ergänzte ich und wir lachten.

Wir tranken noch einen Absacker, der aus einem alkoholfreien Cocktail bestand, dessen Rezept Elena bei TikTok entdeckt hatte, danach setzte sie uns am Hotel ab. Endlich ein Bett!

***

Felipe und ich genossen ein ausgiebiges Frühstück, bevor wir uns auf den Weg zum ersten Treffen mit dem Interviewpartner machten. Nachdem wir gestern zu müde gewesen waren, um abends Zeit in der Stadt zu verbringen, war es jetzt umso schöner, den Weg zur Bar zu Fuß zu gehen. Unser Hotel befand sich in meinem alten Viertel Triana, einen Kilometer entfernt von dem Platz El Real, auf dem die Feria stattfinden würde. Wir ließen den Kreisverkehr hinter uns und schlenderten die Avenida Juan Pablo entlang, in Richtung der kleinen Bar Félix, in der wir uns per Mail verabredet hatten – natürlich standesgemäß nur über seinen Manager. Toreros sind solche Wichtigtuer. Ein aufgeregtes Kribbeln tanzte hinter meiner Stirn, als ich daran dachte, was für eine Chance wir bekommen hatten. Ich war nervös bis in die Knochen und gespannt darauf, den Kerl zu treffen, von dem ein Großteil unseres Erfolges abhing. Ich hoffte, dass er uns wenigstens ein bisschen hinter die Torero-Fassade blicken lassen würde, die diese Typen alle trugen. Der Deckmantel der ›Kunst‹. Ich unterdrückte ein Augenrollen.

»Such uns schon mal einen Platz. Ich gehe noch kurz auf die Toilette.« Felipe eilte voraus in die Bar. Von wegen ›auf die Toilette‹. Er hat kalte Füße. Garantiert.

Ich sah mich um. Der rustikal eingerichtete Raum war schmal und lang. An der Wand hingen alte Plakate von vergangenen Stierkämpfen und ein ausgestopfter Kopf eines Stieres. Wie passend! Ich drehte der makabren Dekoration den Rücken zu und steuerte einen Tisch links an der Fensterfront an, der so weit weg von der Trophäe war wie möglich. Ich zog den grün angestrichenen Holzstuhl zurück und hängte meine Handtasche über die Lehne. Ein Geräusch hinter mir erregte meine Aufmerksamkeit. Es klang, als würde jemand scharf die Luft einziehen.

»Auri? … Bist du das?«

Mein Herz setzte einen Schlag aus. Auri.Nur ein Mensch auf der Welt hat mich je so genannt. Allen anderen hatte ich es verboten, weil es alte Wunden aufriss. Die Erinnerung weckte, an den Jungen, der mir einmal viel zu viel bedeutet hatte. Bis er mich vergessen hatte. Nicht ein einziges Mal hatte er sich bei mir gemeldet, nachdem ich nach Madrid gezogen war. Aus den Augen, aus dem Sinn, als hätte alles zwischen uns niemals existiert.

Ich drehte mich um und sah langsam auf. Mein Gesicht glich einer erstarrten Maske, ganz im Gegenteil zu seinem, das so sehr strahlte, dass mir die Luft wegblieb.

Er war der Mann geworden, den man damals schon erahnen konnte. Sein Lächeln war immer noch so einnehmend wie früher und verlieh ihm den gleichen jungenhaften Ausdruck. Doch seine Augen sahen älter aus, als er war, und wirkten traurig. Als läge darin die geheime Last der ganzen Welt. Er erwiderte meinen Blick und sein Lächeln verschwand. Richtig so. Die Wut und Enttäuschung, die in mir brodelte, sollte er ruhig spüren.

»Dios mío, du bist es wirklich«, flüsterte er und trat zögerlich einen Schritt näher, während ich unfähig war, mich zu bewegen oder etwas zu erwidern.

Ich nahm jetzt den leicht zitronigen Geruch seines Eau de Toilettes wahr, der direkt in mein Herz schoss. CK one. Immer noch.Hat dieser Kerl einen Zehn-Jahres-Vorrat davon angelegt? Der Duft war so sehr mit ihm verknüpft, dass ich mich sofort wieder wie die Teenagerin fühlte, die am liebsten darin gebadet hätte. Kein Wunder, ich hatte ihn damals ausgesucht. Wir hatten bereits Kopfschmerzen vom vielen Ausprobieren der Düfte in der Parfümabteilung gehabt, bis ich zu dem transparenten Tester gegriffen und meinen ratlosen Freund zum Kauf überredet hatte. Verdammtes Vergangenheitsgehirn! Hör auf!

»Rubén«, sagte ich atemlos, nicht nur, weil der Kloß in meinem Hals mir beinahe die Luft abschnürte, sondern weil sein Name auf meiner Zunge das Gleiche tat. Rubén. Wie oft hatte ich diese zwei Silben schon gesagt, gerufen, und am Ende unter Tränen geflüstert. Mierda! Mein Körper ist nicht bereit, ihn zu sehen, zu riechen und seine Stimme zu hören, die ich auch nach hundert Jahren wiedererkannt hätte. Ich schluckte vorsorglich, bevor ich fortfuhr: »Ich bin … geschäftlich hier.« Nicht um den Geist der Vergangenheit heraufzubeschwören. »Mein Termin müsste jeden Moment da sein, also …« Ich gestikulierte unbeholfen in der Luft herum, um ihn zum Gehen zu bewegen.

Rubén trat wieder einen Schritt zurück und ein Schatten huschte über sein Gesicht, als wäre ihm ernsthaft jetzt erst klargeworden, warum ich ihn nicht mit offenen Armen empfing. »Perdón, ich wollte dich nicht stören. Hör zu, ich …« Er blinzelte mehrmals, was meine Aufmerksamkeit kurz auf seine Augen lenkte. Ich hatte ihre blaugrüne Farbe immer geliebt, weil sie einen faszinierenden Kontrast zu seinen schwarzen Haaren und seiner gebräunten Haut bildete. Er wollte gerade weitersprechen, als Felipe uns entgegenkam.

»Oh, ihr habt euch schon kennengelernt?«

Das Blut gefror mir in den Adern und machte mich erneut bewegungsunfähig. Nein! Ich umschloss die Stuhllehne vor mir mit meinen Fingern und stand wie angewurzelt zwischen den beiden Männern. Das kann unmöglich das bedeuten, was ich denke. Bitte nicht. Felipe muss sich irren.

»Was?«, sagten Rubén und ich gleichzeitig.

Felipe zog irritiert die Augenbrauen zusammen. »Na, ich meinte, dass du unseren Interviewpartner schon gefunden hast.« Er reichte Rubén strahlend die Hand. »Ich bin Felipe Moreno Vidal. Da sonst niemand hier ist, musst du El Rápido sein?«

Nein! Nein! Nein! Eine grausame Gewissheit ergriff von mir Besitz. Jetzt wurde mir klar, warum Rubén sich nie gemeldet hatte.

Nur ich erkannte den Schock in seinen Augen, der für eine Sekunde aufflammte, als sich das Puzzle auch für ihn zusammensetzte. »Ach … Ihr seid das Fernsehteam?«, antwortete mein ehemaliger bester Freund stockend und dennoch behielt er seinen freundlichen Gesichtsausdruck. Die Maske saß also. »Rubén Espinosa Rivas, sehr erfreut.«

Jeder Buchstabe seines Namens traf mich wie eine Nadel mitten ins Herz. Die Bilder unseres Abschieds breiteten sich in meinem Kopf aus, so lebendig wie schon lange nicht mehr.

Es war ein trüber Tag und jeder Regentropfen, der meine Haut berührte, goss Öl ins Feuer unserer Traurigkeit. Wie schon viele Male zuvor sprachen wir auch heute über Rubéns Zukunft. Ich bestärkte ihn darin, sich nicht von seinem Vater unterdrücken zu lassen.

»Mach dir keine Sorgen um mich, Auri«, flüsterte er und sein vertrauter Ton jagte mir eine Gänsehaut über den Rücken. »Ich werde kein Mörder wie mein Vater. Das verspreche ich dir. Ich werde nie eine Arena betreten. Sobald ich mit der Schule fertig bin, gehe ich hier weg.« Er nickte, um seine Worte zu bekräftigen.

Es schnürte mir die Luft ab, wann immer er von der Zukunft sprach, die wir nicht gemeinsam verbringen würden. »Wirst du mir mal schreiben? Oder vergisst du mich, wenn ich weggezogen bin? Das würde ich nicht aushalten.«

»Natürlich schreibe ich dir. Du bist doch meine beste Freundin.« Er räusperte sich heiser und legte seine Hand an meine Wange. »Nein, viel mehr als das.«

Ich schloss die Augen. Sein Atem kam näher, streichelte meine Haut verheißungsvoll, doch als ich die Lider wieder hob, ließ Rubén seine Hand sinken.

Ich schob die Erinnerung zur Seite und richtete die Fassade einer seriösen Moderatorin halbwegs wieder auf. »Ich bin Aurelia Fuentes López … Ähm … Ich werde … das Interview führen.« Ich hielt ihm meine Hand hin und hoffte, er bemerkte nicht, wie seine Anwesenheit und vor allem die Tatsache, dass er El Rápido war, mich aus der Bahn warf. Beim Gedanken daran, dass unsere Hände sich gleich berühren würden, stolperte mein fünfzehnjähriges Herz und mein fünfundzwanzigjähriges ging vor Wut in Flammen auf. Er hatte seine Versprechen gebrochen – alle beide.

»Freut mich.« Rubén schluckte sichtbar, als würde auch er Erinnerungen beiseiteschieben.

Ja, ich mache die Reportage über dich! Ich weiß jetzt, was aus dir geworden ist, du herzloser Mörder. Kein Wunder, dass du dich nie gemeldet hast.

Er umfasste meine Hand für einen scheinbar endlosen Moment voller alter Gefühle. Dann zog ich sie weg, als hätte ich mich verbrannt.

»Wollen wir uns setzen?«, unterbrach Felipe die Situation, ohne zu wissen, was in uns vorging.

»Klar.« Rubén zog den Stuhl neben mir zurück, an dessen Lehne meine Tasche hing, damit ich mich setzen konnte. Hör auf, das zu tun, cabrón. Du weißt, dass ich das liebe.

»Danke.« Ich kramte das Notizbuch hervor und sah hilfesuchend zu Felipe. Mein Gehirn war wie leergefegt.

»Okay … Rubén, ist es in Ordnung, wenn wir dich beim Vornamen nennen?«, fragte er.

»Auf jeden Fall. Bitte nicht Señor Espinosa.« Rubén grinste und sah mich für den Bruchteil einer Sekunde an.

Ich schlug die Augen nieder, um sein jungenhaftes Lächeln nicht sehen zu müssen. Mein Blick huschte ziellos auf dem Blatt hin und her. »Wir haben gedacht, dass es gut wäre, wenn wir … uns heute schon kennenlernen, damit das Interview morgen lockerer wird. Wir möchten ein authentisches und junges Porträt drehen. Ich hoffe, das ist in deinem Sinne?«

Aus dem Augenwinkel sah ich, dass er die Finger ineinander verschränkt hatte. Wahrscheinlich verlangte es ihm auch einiges an Schauspieltalent ab, so zu tun, als hätten wir uns noch nie gesehen. Und spätestens jetzt musste ihm klar sein, dass die Sendung mit mir als Verantwortliche nicht gerade positiv für den Stierkampf ausfallen würde. Auch in meiner Jugend war ich schon überzeugte Anti-Taurina gewesen und hatte vor den Arenen regelmäßig an Demonstrationen teilgenommen. Es war mir egal, dass Rubéns Vater unter den Toreros war. Einmal hatte Juan mich dort gesehen und seitdem nie wieder ein Wort mit mir gesprochen.

»Ja, das klingt perfekt. Ich hoffe, es wird gut. Das Letzte, was ich nach der Feria gebrauchen kann, ist schlechte Publicity.« Rubéns Tonfall war von Professionalität getränkt, was seine eben noch vertraute Stimme wie die eines Fremden klingen ließ. Da war er: El Rápido durch und durch. Jetzt hieß es: die Nerven behalten und nicht wieder fünfzehn werden.

Felipe schien erleichtert zu sein, dass unser Interviewpartner kooperativ war. »Das kriegen wir hin. Hast du Vorschläge, was wir auf jeden Fall filmen sollten? Was ist das Spannendste an deinem Alltag?«

Rubén zuckte die Achseln. »In der Zeit der Feria kämpfe ich drei Corridas in der Arena. Dazwischen trainiere ich oder gebe Interviews. Freitagnachmittag muss ich zur Schneiderin, meine neue Traje de Luces anprobieren und abends bin ich in eine Caseta eingeladen. Falls ihr die Feria pur erleben wollt, könnt ihr gern mitkommen.«

»Wir sind schon verabredet«, warf ich ein, bevor Felipe etwas Falsches sagte. Nie im Leben würde ich mit El Rápido gemeinsam in einer Caseta sitzen, umringt von seinen Fans, die es kaum erwarten konnten, dass er den nächsten Stier abschlachtete. Ich schluckte die Magensäure herunter, die sich mit einem Brennen in meinem Hals ankündigte. Aber ich war insgeheim stolz auf mich. Das war die richtige Art, ihm gegenüberzutreten. Angewidert. Nur dann gelang diese Reportage. Gefühle aus – Abscheu an. Vor mir saß El Rápido, nicht Rubén. Professionell sein konnte ich genau so gut wie er. Und doch ging es mir durch Mark und Bein, die Traurigkeit in seinen Augen zu sehen, die nicht zu seinen Worten passte.

Atrapado en la Plaza de Toros

Gefangen in der Arena

Rubén

Abends lag ich auf der Couch und hing meinen Gedanken nach. ¡Maldita mierda! Wie soll ich da unbeschadet rauskommen? Ausgerechnet Aurelia, die größte Anti-Taurina unter der Sonne Spaniens, sollte eine Reportage über mich drehen. Und sie sah noch genauso umwerfend aus wie früher. Nein, das ist eindeutig untertrieben. Als ich heute vor ihr stand, hätte ich sie am liebsten in die Arme geschlossen und nie wieder losgelassen. Die Erinnerungen an frühere Umarmungen, bei denen ihre weichen Haare meine Wange gekitzelt hatten und ich ihre Kurven vage erahnt hatte, raubten mir den Atem. Das kann nur in einer Katastrophe enden. Für meine Karriere und mein Herz.

Ich war schließlich eine Enttäuschung für sie. Ich hatte mein Versprechen gebrochen, war das geworden, was sie am meisten verabscheute – und hatte nicht einmal die Eier gehabt, dazu zu stehen. Aber wie hätte ich mit ihr in Kontakt bleiben sollen, ohne zu verraten, dass ich schon kurz nach ihrem Umzug von meinen Eltern gezwungen worden war, die Stierkampfschule zu besuchen? »Es ist Tradition in unserer Familie. In unserem Land. Du wirst uns keine Schande bereiten wie dein Bruder.«

Ich seufzte. Miguel, der zwei Jahre älter war als ich, hatte Sevilla vor langer Zeit den Rücken gekehrt, kurz nachdem Aurelia weggezogen war. Er hatte sich geweigert, in Papás Fußstapfen zu treten, im Gegensatz zu mir. Ich war nicht stark genug gewesen.

Solange ich Auri an meiner Seite gehabt hatte, war es leicht gewesen, von einem anderen Leben zu träumen und mich zumindest gedanklich gegen die vorgezeichnete Zukunft zu wehren. Doch mir wurde mein Rückgrat gebrochen. Ich hatte mich nur vor ihr getraut, zu sagen, was ich wirklich über Stierkampf dachte. Aus Angst, als Weichei, Feigling oder Versager bezeichnet zu werden. Keiner meiner anderen Freunde aus der Schule wusste es. Alle waren neidisch, weil ich diese Chance bekam und sie nicht einmal wertschätzte.

Als Auri aus Sevilla fortgegangen war, hatte sie jeden rebellischen Funken in mir mitgenommen. Ich war seitdem nur noch eine Marionette, die von eisernen Fäden, gesponnen aus alten Traditionen und hohen Erwartungen, gesteuert wurde. An einem Abend vor fünf Jahren war ein weiterer Faden dazugekommen, der die vorhandenen noch strammer gezogen hatte. Es war ein Brief gewesen, der mein Leben verändert und mir einen unausweichlichen Grund gegeben hatte, ein Torero zu sein. Ich hatte keine andere Wahl gehabt. An diesem Tag wurde ich endgültig ein Gefangener der Arena.

Wie von einer unsichtbaren Hand geführt, ergriff ich mein Handy und schrieb Aurelia. Wir hatten aus geschäftlichen Gründen Nummern getauscht. Falls ich krank werden würde oder sich etwas am Drehplan ändern sollte … so ginge es im Notfall schneller als über Adriano. Die Falte zwischen ihren Augenbrauen, die mir verraten hatte, wie sehr ihr das gegen den Strich ging, war mir nicht entgangen, und ich verstand sie. Trotzdem sah ich keine andere Möglichkeit, mit ihr in Kontakt zu treten, ohne dass Felipe dabei war.

Auri, es tut mir alles so leid. Können wir bitte reden?

Die Worte klangen erbärmlich für das, was ich ihr angetan hatte. Ich schloss die Augen und schickte die Nachricht trotzdem ab. Es gab nichts zu beschönigen. Unzählige Sekunden vergingen, bis das Handy vibrierte, begleitet von dem Stolpern meines Herzens. Sie wird mir eine Abfuhr erteilen. Ich weiß es.

Was gibt es zu reden, El Rápido? Willst du mir deine Taktik verraten, wie man einen Stier am qualvollsten tötet? Oder lieber, wie es am spektakulärsten aussieht? Ich glaube, ich muss brechen. Bitte halte dich daran, meine Nummer nur im Notfall zu verwenden.

Das war Auri, wie sie leibte und lebte. Emotional und schlagfertig, nicht wie diese kühle Journalistin von heute Vormittag mit dem makellosen Madrider Akzent, den sie sich angewöhnt hatte. Das passte nicht zu ihr. Anscheinend trugen wir beide eine Maske für die Öffentlichkeit. Die Abscheu, die in ihren Worten mitschwang, verletzte mich nicht. Im Gegenteil, meine Freundin so zu erleben, wie sie wirklich war, ließ eine schmerzliche Vertrautheit durch meine Adern fließen, auch wenn ihre Wut auf die Tauromaquia diesmal mich traf.

Ich will mich nicht rechtfertigen. Ich weiß, dass ich dich enttäuscht habe. Aber gib mir bitte trotzdem eine Chance, mit dir unter vier Augen zu sprechen.

Ich atmete tief durch, während ich das Papierflieger-Symbol anklickte und auf Aurelias Antwort wartete. Die drei Punkte, die signalisierten, dass sie schrieb, tanzten ein paar Mal hin und her, verschwanden dann kurz und tauchten wieder auf.

Sie überlegt, was sie schreiben soll. Immerhin.

NEIN.

Mir entfuhr ein unfreiwilliges Lachen. Etwas anderes hatte ich nicht von ihr erwartet. Vielleicht war ich zu schnell vorgeprescht und sie brauchte noch Zeit. Als ich das Handy weglegen wollte, erschien am oberen Rand des Displays eine Push-Nachricht, die eine Antwort auf einen meiner Instagram-Beiträge ankündigte. Ich schnaubte. Es gab nur zwei Kategorien: Hate- oder Fan-Kommentare. In meinem Kopf warf ich eine Münze und fragte mich, welche Seite heute dran war. Ich öffnete das letzte Bild, das ich gepostet hatte. Ein Foto, das mich bei der ersten Anprobe meiner neuen Traje de Luces zeigte. Eigentlich war es mir mehr als unangenehm, solche eher privaten Einblicke zu teilen, aber Adriano wollte, dass ich nahbar für das Publikum wurde. Sie sollten hier nicht nur die künstliche Figur des Toreros finden, sondern auch mich kennenlernen. Was genau das Foto einer Anprobe damit zu tun hatte, konnte er mir nicht erklären. Wenigstens war ich nicht halbnackt. Ich scrollte durch eine Handvoll Kommentare, die ich bereits kannte, bis ich beim neuesten angekommen war:

@tauromaquia_es_arte:

Ich kann es kaum erwarten, dich auf der Feria kämpfen zu sehen. Du bist mein Vorbild.

Ich seufzte. Wie kann ich ein Vorbild sein? Solche Sätze lösten widersprüchliche Gefühle in mir aus. Einerseits tat es gut, in Momenten, in denen ich mich wertlos fühlte. Andererseits dachte ich ständig daran, ob sich jemand einen schlechten Scherz erlaubte. Beim Hochscrollen blieb ich an Kommentaren wie ›Dass du dich nicht schämst!‹, ›Mörder, ich hoffe, der nächste Stier durchbohrt dich!‹ oder ›Wie kannst du nachts ruhig schlafen?‹ hängen. Das war an der Tagesordnung und prallte mittlerweile an mir ab.

Plötzlich schoss mir eine Idee durch den Kopf. Ob Auri auch bei Instagram aktiv ist?