Nur ein kleines Geheimnis - Marcia Redecker - E-Book

Nur ein kleines Geheimnis E-Book

Marcia Redecker

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Beschreibung

Wenige Tage nach seinem Verschwinden wird der vierundzwanzigjährige Nicholas Höfer, Spross eines Polstermöbelfabrikanten, ermordet in einem abgelegenen Waldstück im bayerischen Jura aufgefunden. Die Kriminalkommissare Arthur Sommer und Sonja Greininger ermitteln und stoßen bei den Mitarbeitern des Unternehmens auf ziemliche Ablehnung gegenüber dem Opfer. Es hatte einige Entlassungen gegeben, und weitere Umstrukturierungen hätten angestanden, sobald er mit ins Unternehmen eingestiegen wäre. Zusätzlich hat sich der smarte Firmenerbe mit der Freundin eines entlassenen Mitarbeiters vergnügt. Doch auch Teamleiter Kai Zitzelsberger druckst bei den Befragungen herum. Hat er mehr gesehen, als er zugibt?

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Über die Autorin:

Marcia Redecker wurde in Gütersloh geboren. Schon in ihrer Jugend hat sie gerne Geschichten geschrieben, in denen es sich hauptsächlich um subkulturelle Jugendbewegungen handelte. Nach ihrer Ausbildung zur Modellmacherin arbeitete sie seit über zwanzig Jahren in der Modebranche, bevor sie eine Umschulung zur Immobilienkauffrau absolvierte. Heute lebt sie in Bünde in Westfalen.

Anmerkung der Autorin: Ähnlichkeiten mit lebenden Personen und mit tatsächlich existierenden Orten sind rein zufällig. Die Orte Berachingen, Schwarzenthann, Lahr sowie Wiesenbrunn sind frei erfunden. Auch der Lerchenhof sowie das Waldgebiet Am Mühlensteig sind fiktiv.

Inhaltsverzeichnis

Am Morgen zuvor

In Sorge

Beim Joggen

Am Fundort

In der Firma Höfer

Erste Befragungen

Die Ermittlungen beginnen

Erste Aufstellungen

Gerichtsmedizinische Ergebnisse

Arthur Sommer

Weitere Befragungen

Der Reitverein

Im Getränkemarkt

Bamm Bamm

Wut

Sonja Greininger

Im Kommissariat

Der devote Olaf

Sebastian Höfer

In der Firma Höfer

Nach einem langen Tag

Unter Verdacht

Aufschlussreich

Weitere Befragungen

Der ungeliebte Schwiegersohn

Die Nippelniete

Besuch beim Huber Olaf

Neben der Spur

Ein Unfall

Ein emotionaler Moment

Die Scheune

Im Kommissariat

Arthur Sommer

Die Hand, die einen füttert, beißt man nicht

Niemand zu Hause

Im Präsidium

Geburtstag

In der Firma Höfer

Im Verhör

Beerdigung

Ohne Ergebnisse

Abschied

Das Video

Die Zuschauerin

Auf dem Reitplatz

Anton Höfer

Kai Zitzelsberger

Matthias Stadler

Auf dem Flughafen

Im Kommissariat

Ein Hoffnungsschimmer

Sara Eichinger

Ein Paket

Die Rechnung

Gesicht erkannt?

In Erklärungsnot

Sperrmüll

Die Beweislage

Gedanken

Irritiert

Ein Geständnis

Skeptisch

Nur mal gucken

Unerwünschte Grüße

In der Nacht

Wo steckt die Greininger?

In der Firma Höfer

Befreiung

Der falsche Verdächtigte

In der Firma Höfer

Vor gut drei Wochen

Nachgedanken

Beim Kaffee

Ein Fahrrad auf der Straße

Neustart

„Was hast du getan!? Was hast du verdammt nochmal getan?!“ Verfolgte ihn die wütende, schon fast panische Stimme. Er rannte. Soweit es mit einem angebrochenen Fuß möglich war. Dann stolperte er und raffte sich wieder auf. Die linke Hand fest an seinen Bauch gepresst. Blut quoll zwischen seinen Fingern hindurch. Ein eisenhaltiger Geschmack hatte sich auf seine Zunge gelegt. Sein Gesicht schien ebenfalls verletzt. Oder waren es innere Blutungen, die sich hochdrückten? Die unter verrottenden Laub und Tannennadeln liegenden Äste und Wurzeln ließen den Weg zu einer gefährlichen Stolperfalle werden. Das blutdurchtränkte Shirt klebte an seinem Körper. Wie ein riesiges Lätzchen hatte sich ein dunkelroter Fleck unter dem Halsausschnitt ausgebreitet. Drückte er eine vergleichsweise harmlose Wunde zu? Die Wurzel, er hatte sie nicht gesehen. Hinter ihm hörte er kleine Äste zerknicken und das Rascheln von trockenem Laub. Die Schritte, die ihn verfolgten, kamen näher. Wo war er hier eigentlich? Sein Fluchtweg führte ihn immer tiefer in diesen Wald.

„Du hast alles kaputt gemacht! Wie konntest du nur?!“

Dann ein Stich, ein lautes Knacken, so als würde ein Dolch in seinen Gehörgang dringen und das Trommelfell zerbersten. Seine Beine knickten ein. Wie eine Schlange kroch er über den unebenen Waldboden. Panisch und mit der todsicheren Gewissheit, diesen Kampf zu verlieren, robbte er sich mit den Armen vorwärts. Ein vielleicht letzter verzweifelter Versuch sich aufzurappeln, um seinem Peiniger zu entkommen. Doch sein zerstörtes Gleichgewichtsorgan ließ keinen Halt zu, und er rollte einen kleinen Abhang hinunter.

Kampflos blieb er vor einer entwurzelten Fichte liegen und hechelte wie ein gehetztes Tier.

Oleee! Oleee! Olee-Olee-Oleee…! Wie ein aufgebrachter Bienenschwarm bebte die tosende Menge vor der großen Leinwand unter freiem Himmel, die an dem heutigen Abend das Vorrundenspiel Deutschland gegen Schweden der diesjährigen Fußballweltmeisterschaft zeigte. Ein Tor für Deutschland. Somit hatte die deutsche Mannschaft den Ausgleich geschafft. Die erhitzten Gemüter der Fußballfans schienen den kalten Frühsommertemperaturen zu trotzen. Der Geruch von aufgerautem Rasen mischte sich mit dem Geruch von Bratwürstchen, Pommes Frites und Bier. Das soeben gefallene Tor wurde mit dem Refrain eines Stimmungsmachers willkommen geheißen. Die Leinwand präsentierte ein immer größer werdendes Knäuel von Fußballspielern, die den Torschützen stürmisch belagerten. Dann zeigte die Kamera in die vor Begeisterung hüpfende Zuschauermenge im Stadion. Leidenschaftliche Fans, die ihre Trikots und Deutschlandfahnen durch die Luft wirbelten. Einige hatten sich ihre Nationalfarben wie eine Kriegsbemalung auf das ganze Gesicht aufgetragen. Andere wiederum bekannten sich nur durch eine dezente Deutschlandfahne auf der Wange zu ihrem Favoriten. Dann eine La-Ola-Welle mit mitfließendem Gegröle. Das Spiel ging weiter. Ungeduldig fieberte man dem nächsten Tor entgegen.

„Bist du dir darüber im Klaren, was du angerichtet hast?!“ Die Schreie dröhnten in sein unversehrtes Ohr. Sie hallten wieder. Immer wieder, bis sie sich immer weiter entfernten, so als würden die Worte von einem unsichtbaren Sog verschluckt werden. Er blinzelte durch die hohen Fichten hindurch in den dämmerigen Himmel. Die Wolkendecke riss auf und zeigte einen mehr als halb vollen Mond. Er spürte die Hände seines Verfolgers an seiner Schulter.

Kurz vor 22 Uhr: 2:1 für Deutschland in der letzten Minute der Nachspielzeit.

1. Am Morgen zuvor

Samstag, 23. Juni, Berachingen im bayerischen Jura

Stefan Fischer hielt den großen Umschlag in seinen Händen, wagte jedoch nicht, ihn zu öffnen. Der Absender war eine Firma, die Polstersitze für Auto herstellte. Ein großer Umschlag bedeutete fast ausnahmslos eine Absage und davon hatte er in den letzten zwölf Monaten so reichlich erhalten, dass er damit seine Wände tapezieren könnte - die Online Bewerbungen gar nicht mitgerechnet. Sein Anspruch auf Arbeitslosengeld war vor wenigen Wochen abgelaufen, und Stefan bezog nun Arbeitslosengeld ll. Allein das Ausfüllen der schwer verständlichen Formulare und das Zusammensuchen seiner gesamten Ersparnisse, die jetzt seiner misslichen Situation zum Opfer fielen, hatten ihm einen großen Teil seiner Würde geraubt, fand er. An den regelmäßigen Besuch beim Arbeitsamt hatte er sich bis heute nicht gewöhnt. Es war jedes Mal ein schwerer Gang, so als würde man zur Schlachtbank geführt. Das Verhalten seiner Arbeitsvermittlerin erlebte er als arrogant, erniedrigend und alles andere als unterstützend. Er müsse schließlich verstehen, dass sie seine Bemühungen um eine neue Arbeitsstelle in Frage stelle. Wie kann es sein, dass ein Mann Mitte dreißig, qualifiziert und ungebunden, keine passende Tätigkeit findet? Außerdem fühle sie sich dazu verpflichtet, ihn über eventuelle Umschulungsmaßnahmen in Kenntnis zu setzen. Eine Umschulung kam für ihn nicht in Frage. Er liebte seinen Beruf und hoffte noch immer auf eine zweite Chance.

Stefan ließ sich in dem einzigen freien Sessel nieder, den der Raum ihm anbot, und betrachtete die aufeinander gestapelten Umzugskartons, die mittlerweile den größten Teil des Wohnraumes in Anspruch nahmen und einen eigenwilligen Geruch von Pappe und Aufbruch verströmten. In zwei Tagen gehörte das Leben in dieser geräumigen Altbauwohnung, die in einem denkmalgeschützten Haus mitten im idyllischen Ortskern von Berachingen lag, der Vergangenheit an. Denn Sara hatte nicht bloß eine hübsche neue Wohnung für sich gefunden, in die sie heute schon einziehen wollte, sondern auch einen neuen Mann an ihrer Seite. Und mit einem Hartz lV-Satz wäre diese Wohnung alleine niemals zu berappen. Zumal die Zuständigkeitsbehörde für sozialen Wohnraum einer derart großen Wohnung für eine Person niemals zugestimmt hätte. Höchste Zeit, endgültig einen Schlussstrich unter die gescheiterte Beziehung zu ziehen. Noch belastender als seine Arbeitslosigkeit empfand er die Tatsache, mit einer Frau unter einem Dach zu leben, mit der er nicht einmal mehr das Bett teilen durfte, obwohl er sie noch immer liebte. Dies teilte sie nun mit einem anderen. Stefan konnte es zwar nicht beschwören, aber ein fremder Geruch im ehemals gemeinsamen Schlafzimmer hatte ihn kürzlich misstrauisch werden lassen. Diesen besagten Bettbezug hatte er dann zweimal hintereinander gewaschen, um jede noch so kleine Bazille des unwillkommenen Gastes gründlich zu vernichten. Eine stille Wut, die sich tief in seine Seele fraß, aber nach außen hin nahezu unsichtbar schien. Die täglichen Streitereien gehörten bald ebenfalls der Vergangenheit an, und er hoffte, mit Sara schneller abschließen zu können, wenn sie erst aus seinem Blickfeld verschwand.

Stefan formte den DIN A4-Umschlag zu einer Rolle.

„Willst du nicht reinschauen?“ Sara war soeben mit einer Tasse Kaffee aus der Küche ins Wohnzimmer geschlurft. Sie lehnte sich an den Türrahmen und hielt mit beiden Händen ihre Tasse, so als müsste sie ihre Hände wärmen. Der dunkelrote Nagellack auf ihren Fingernägeln blätterte bereits an den Rändern ab. Seit wenigen Monaten lackierte sie ihr Finger- und Fußnägel wieder regelmäßig, was ihm noch immer sehr gut an ihr gefiel. Doch tat sie es nicht für ihn. Mitleidig sah sie ihn an. Ihre dunkelbraunen Haare hatte sie unordentlich zu einem Knoten gebunden, und die Säume ihrer Jogginghose streiften über den alten Parkettfußboden. Wortlos blickte Stefan zu ihr hoch. Obwohl sie so aussah, als wäre sie erst eben aus dem Bett gekrochen, fand er sie unheimlich anziehend. Am liebsten würde er sie zu sich bitten, sie in den Arm nehmen und den Duft ihrer Haare spüren. Letzte Nacht war sie erst sehr spät nach Hause gekommen. Stefan war kurz aufgewacht, als er die Wohnungstür ins Schloss fallen gehört hatte. Ob sie bei ihm gewesen war, ihrem neuen Lover? Hätte Stefan nicht im Gästezimmer übernachtet, sondern im gemeinsamen Bett, wäre ihm womöglich wieder dieser fremde Geruch in die Nase gestiegen, der sich nach und nach wie eine unsichtbare atomare Strahlung im Schlafzimmer ausgebreitet und den Raum verseucht hätte. Eigentlich wollte er es gar nicht wissen, wo sie sich in der Nacht herumgetrieben hatte.

„Ich weiß sowieso, was drin steht“, erwiderte Stefan knapp und stierte auf den Umschlag, in der Hoffnung, dieser würde sich dadurch in Luft auflösen.

„Stefan!“ Sara seufzte und ging einen Schritt auf ihn zu. „Du musst dich dem stellen, auch wenn es weh tut.“ Ihre Augen wurden groß, und sie legte den Kopf schräg, wie eine hingebungsvolle Mutter, die sich um ihr Kind sorgte.

Ihr aufgesetztes Mitgefühl nervte ihn. „Ach ja? Na du scheinst dich ja auszukennen!“

Sara verdrehte die Augen und war gerade dabei, sich zum Gehen umzudrehen, als sie kurz innehielt und ihn mit ihren Abendplänen konfrontierte: „Unseren geplanten Absacker heute nach dem Umzug müssen wir leider verschieben. Ich bin heute Abend ab acht Uhr weg, nur zur Info.“

„Lass dich nicht aufhalten“, maulte Stefan, der sich tief im Inneren darauf gefreut hatte, wenigstens den Abschluss des gemeinsamen Wohnens mit einer kleinen gemeinsamen Abschlusszeremonie zu beenden. „Du bist mir keine Rechenschaft schuldig! Du musst dich nicht bei mir abmelden! Dieser Absacker… fühl dich nicht dazu verpflichtet! Und dein Scheiß Mitgefühl…“ Stefan schleuderte den Umschlag zu Boden. „… kannst du dir auch sparen!“

„Lade dir doch ein paar Freunde ein, dann könnt ihr vielleicht das Spiel hier gemeinsam gucken.“

Ein vermeintlich gut gemeinter Ratschlag, der mit einer gesalzenen Portion Hohn und Spott untermalt war, fand Stefan, worauf er schlichtweg mit Ignoranz reagierte. Dann richtete er sich auf, strich sich kurz über seinen mittelblonden Kinnbart und fragte entschlossen: „Sara?“

„Ja?“ Sie drehte sich kurz zu ihm um und sah ihn mit ihrem Schlafzimmerblick an, so als würde sie ihn mit einem ‚Was willst du denn noch‘ schnell wieder abwimmeln wollen. „Seit wann stehst du eigentlich auf Jüngere?“

2. In Sorge

Sonntag, 24. Juni

„Hat Nicki sich inzwischen gemeldet?“ Josefine Höfer knibbelte an ihrem Deutschlandarmband und sah ihre Mutter mit ihren großen Augen an. Die Sorge um ihren drei Jahre älteren Bruder hatte die Euphorie über den Fußball- Sieg gegen Schweden von gestern Abend getrübt. Seit Mittag war die Familie bemüht, ihn zu erreichen. Selbst Nachbarn der Familie und Freunde von Nicholas, von denen sie Kontaktdaten besaßen, wurden gefragt. Aber niemand hatte etwas von ihm gehört, geschweige denn ihn gesehen. Inzwischen war es Abend und die Dämmerung brach herein.

„Papa ist nochmal zum Weiher gefahren.“ Hermine Höfer bedachte ihre Tochter mit einem Blick, der ein ‚alles wird gut‘ vermitteln sollte. Aber ihre Augen verrieten Angst und Ungewissheit. Sie lehnte an der geöffneten Terrassentür und starrte erwartungsvoll über den großen Garten hinweg auf eine schmale Auffahrt. Von hier aus hatte sie den perfekten Blick, um den nächsten Besucher zu erspähen. Für einen kleinen Augenblick musste sie an eine Situation am Frühstückstisch von gestern Morgen denken. Der Reitunfall, von dem Nicholas gesprochen hatte, der vermutlich keiner war. Ob ihre Tochter nähere Einzelheiten zu seinen Schmerzen in der Seite wusste?

„Sag mal, Josie“, begann sie mit leiser Stimme. Im selben Moment entdeckte sie den Land Rover ihres Mannes. Sie reckte den Hals, um zu sehen, ob eine weitere Person im Wagen saß. „Der Papa.“

„Ist Nicki bei ihm?“ Josie eilte sofort zur Haustür und hoffte, ihr Vater hätte ihren Bruder dabei. Ihre Mutter folgte ihr.

Anton Höfer parkte den Wagen und stieg aus. Sein graubraun meliertes Haar war vom Wind leicht zerzaust. Mit hilflosem, schon fast düsterem Gesichtsausdruck drückte er die Fernbedienung seines Autoschlüssels und trottete Richtung Haustür. „Am Weiher ist niemand gewesen. Alles tipp topp sauber und aufgeräumt.“ Dann lachte er etwas hilflos auf. „Ihr kennt doch Nicholas! So gründlich verwischt er seine Spuren nicht.“

„Aber…“ Josefine schüttelte den Kopf und suchte nach Worten. „Er kann doch auch ganz woanders sein! Wir müssen weitersuchen!“

Hermine Höfer blieb wie angewachsen vor der Haustür stehen und rieb sich mit der rechten Hand über ihren linken Arm. Sie nickte, und ihre roten Lippen bewegten sich leicht, so als schickte sie ein Stoßgebet gen Himmel. „Nicholas treibt sich ja öfters mal herum. Ja, sicher hat er bloß vergessen, uns Bescheid zu geben“, versuchte sie dann, sich zu beruhigen. Dann wanderte ihre Hand zu dem kleinen Kreuzanhänger ihrer goldenen Halskette, und eine lähmende Angst legte sich auf ihr Gesicht.

„Josie“, sagte ihr Vater leise. „Wer ist die Frau, mit der Nicholas sich trifft? Er hat doch seit kurzem wieder eine Freundin. Hat er dir von ihr erzählt? Wie sie heißt, wer sie ist, wo sie wohnt?“

„Die hat er schon länger.“ Josie seufzte und knetete ihre Finger. „Ich weiß nur, dass sie Sara heißt und mit einem von euren entlassenen Mitarbeiten zusammen war.“

„Ein Mitarbeiter?“ Anton Höfer straffte die Schultern. Sein Gesichtsausdruck versprühte für einen Augenblick eine geschäftliche Unnahbarkeit. Er vermied das Wort ‚entlassener‘. „Welcher Mitarbeiter genau?“

„Das hat er nicht gesagt. Er sagte bloß, dass ihr Ex sich gehen lässt und inzwischen auf Hartz lV ist.“

3. Beim Joggen

Freitag, 29. Juni, frühmorgens am Mühlensteig

Marathonläufer Olaf Huber nutze in den warmen Monaten die frühen Morgenstunden für sein Training. Morgenstund hat Gold im Mund, lautete seine Devise, die er als Frühaufsteher aktiv praktizierte.

Erst vor zwei Wochen hatte er einen Trimm-Dich-Pfad in einem nahegelegenen Waldstück für sich entdeckt. Normalerweise lief er stets seine gewohnte Runde in dem westlichen Waldgebiet. Eine Strecke, auf der er fast jeden Baum und jede Unebenheit des Bodens in- und auswendig kannte. Der östlich gelegene Teilabschnitt war ihm bis dahin fremd gewesen. Der Boden wäre uneben, und es gäbe wenig befestigte Wege, hatte er immer geglaubt, bis er einmal versehentlich in die östliche Richtung abgebogen und auf eine verblichene Tafel nahe des Waldrands gestoßen war, die auf einen Trimm-Dich-Pfad hingewiesen hatte. Und obwohl es ein Fitnesstrend aus den Siebzigern war: die Stationen des Pfades waren exzellent ausgeschildert, und die robusten, teils aus Holzbalken gefertigten Turngeräte gut in Schuss. Alle paar Hundert Meter wartete eine neue Turneinheit auf ihn. Gleich müsste er den Baum mit dem blauen Schild erreichen, auf dem ihm zwei unterschiedliche Dehnübungen erklärt wurden. Aber der Weg, auf dem er sich befand, war ihm fremd. War er wieder einmal falsch abgebogen? Die aufeinander gestapelten Baumstämme mit neonpinkfarbenen Markierungen waren ihm auf seiner neu entdeckten Laufstrecke noch nie aufgefallen. Ebenso wenig die vor ihm liegende weißrote Schranke und das daneben angebrachte Schild mit dem Hinweis, dass der Weg nur für den forstwirtschaftlichen Verkehr zugelassen war. Olaf stoppte und sah sich in alle Richtungen um. Irgendwie eine unheilvolle Stille, die sich über ihm ausbreitete wie ein dichter Wolkenteppich und ihn wissen ließ, dass er sich verlaufen hatte. Das monotone Rauschen einer ihm bekannten Straße war nur noch leise aus der Ferne zu hören.

Kam der Verkehr nicht immer aus der anderen Richtung? Und wo war der Steinbruch, dessen Abgrund ihn so oft wie ein unsichtbarer Sog in seinen Bann zog - an dem er dann kurz stehenblieb, um sich von dem Blick in ein mindestens zehn Meter abschüssiges Gewässer vereinnahmen zu lassen? Ein paar Vögel schreckten von einer kleinen Erhöhung vom Boden auf, und beim genauen Hinsehen erkannte Olaf einen verwesenden Tierkadaver. Erschrocken wich er einen Schritt zur Seite, setzte seinen Weg dennoch weiter fort in das ihm unbekannte Terrain. Es ging bergauf, wenngleich die Steigung gering war. Rechts und links nur meterhohe Fichten, schmale hochgewachsene Laubbäume und heranwachsendes Gestrüpp. Eine entwurzelte Fichte hatte sich in das Geäst eines angrenzenden Baumes fallen lassen, wo sie mehr und mehr auszutrocknen schien. Braune Nadeln hingen bloß noch von den Ästen und Zweigen herab, und es war eine Frage der Zeit, bis das leblose Gerippe vom Forstwirt entfernt werden würde. Das grelle Morgenlicht warf seine Strahlen durch die Lichtungen der dicht nebeneinander stehenden Bäume. Olaf konnte nicht abschätzen, wie lange er bis zum nächsten richtungsweisenden Pfad brauchte. Kurz: er hatte die Orientierung verloren.

Als er an einem kleinen Abhang angekommen war, beschloss er, nach ein paar Dehnübungen wieder umzukehren, um sich nicht noch mehr in den unbekannten Tiefen des Waldes zu verirren. Hier wunderte er sich über das vermehrte Auftreten von Fliegen, und für einen kurzen Augenblick glaubte er, sein Deodorant hätte ihn im Stich gelassen, als ihn ein merkwürdiger Geruch streifte. Der Tierkadaver von eben? Olaf wischte sich mit dem Handrücken Schweiß von der Stirn. Sein Blick folgte dem Summen einiger Insekten, das aus dem Unteren einer entwurzelten Fichte drang, die wie eine Höhle irgendetwas zu verbergen schien. Verunsichert schlich er ein paar Schritte den Abhang hinunter, und als er genauer hinsah, schlug er sich die Hand vor den Mund. Entsetzt und angewidert zugleich strauchelte er zurück. Er glaubte, seine Augen würden ihm einen Streich spielen, und für einen Bruchteil von Sekunden hoffte er, nicht das gesehen zu haben, was er tatsächlich gesehen hatte.

Der leblose Körper lag auf dem Rücken, den Kopf in die Richtung der ausgerissenen Wurzel gedreht. Durch das zerrissene, rostbraun gefärbte Shirt zeigte sich fahle Haut gespickt mit Fleischwunden, die bereits von Maden, nicht größer als Reiskörner, besiedelt waren. Das Gesicht und der obere Teil des Körpers war mit Zweigen abgedeckt, unter denen der linke Unterarm hervorlugte, ebenfalls von Maden und Krabbeltieren besetzt. Anhand der Hose und der Schuhe schätzte Olaf das Opfer nicht älter als dreißig Jahre. Der süßliche Geruch von Verwesung und das, was auf der Leiche herumkrabbelte, erzeugte einen unaufhaltsamen Würgereiz. In Windeseile hastete er den kleinen Abhang hinauf und übergab sich vor einem Baumstamm. Dann schloss er die Augen und lauschte dem gleichmäßigen Gurren einiger Tauben und dem fröhlichen Zwitschern kleiner Vögel, die mit ihren Stimmen den neuen Morgen begrüßten. Ein Tagesbeginn im Einklang mit der Natur. Da war nichts, was diesen Frieden hätte stören können. Fast nichts. Aus der Ferne vernahm er den Ruf eines Kuckucks. Olaf überlegte, wie er vorgehen sollte. Sein Handy trug er stets bei sich als Kilometerzähler in einer Armbinde, und gerade in dem Moment erinnerte er sich an den ursprünglichen Sinn eines mobilen Telefons. Mit zitternder Hand holte er es aus der Hülle seiner Armbinde und wählte die 110.

4. Am Fundort

„Sie haben alles richtig gemacht“, Marc-Oliver Bauer, Dienststelleneiter der Berachinger Polizeidienststelle, lobte Olafs Handeln, der pflichtbewusst der Aufforderung der Polizei gefolgt war, bis zu deren Eintreffen an Ort und Stelle zu warten, um sich für spätere Fragen zur Verfügung zu stellen. Also hatte er einige Meter abseits und dem Toten den Rücken zugewandt ausgeharrt und sich darum bemüht, seine Füße nicht vom Fleck zu bewegen, um nicht noch unnötige Fußabdrücke am Tatort zu hinterlassen. Seiner Freundin hatte er eine Nachricht geschickt, dass sie mit dem Frühstück nicht auf ihn warten brauchte. Wahrscheinlich war sie noch nicht einmal wach, denn bis jetzt hatte er noch keine Antwort bekommen. Was soll’s? Der Appetit war ihm ohnehin vergangen. Denn das, was sich soeben in seinem Gedächtnis verankert hatte, würde ihm für den Rest des Tages den Appetit verderben und ihn bis in die Nacht verfolgen.

Eine knappe Stunde später hatte sich an dem Waldstück die gesamte Belegschaft der hier ansässigen Polizei versammelt, glaubte Olaf. Mitarbeiter der Spurensicherung sicherten den Fundort mit weißrotem Plastikband ab, bevor sie das Terrain akribisch auf hinterlassene Gegenstände, Fußabdrücke oder Reifenspuren absuchten. In ihren weißen Schutzanzügen und den Latexhandschuhen erinnerten sie an Astronauten. Jedes noch so kleine Detail könnte ein Hinweis auf einen potenziellen Täter geben, oder einen Einblick über das verschaffen, was sich hier vor einigen Tagen abgespielt haben musste. Ein ebenfalls in einen Schutzanzug gehüllter Fotograf ging in die Hocke und schoss Fotos aus allen Perspektiven von dem Toten und dem umliegenden Gebiet. Ein Arzt prüfte neben der routinemäßigen Feststellung des Todes, ob und schließlich wie das Opfer unter Gewalteinwirkung gestorben war. Olaf, der mit bleichem Gesicht noch immer abseits stand, griff Wortfetzen wie Stichverletzungen und Hämatome auf, während er ohne es zu beabsichtigen immer wieder zu der Leiche schielte, die wenig später von dem Arzt mit einer weißen Plane abgedeckt wurde.

Etwa eine weitere halbe Stunde später hielt ein schwarzer BMW direkt hinter den bereits geparkten Fahrzeugen vor der weißroten Schranke. Ein smart gekleideter Mann um die vierzig stieg zusammen mit einer etwas stämmigen Frau mit einem streng nach hinten gebundenen rotblonden Pferdeschwanz aus. Im Gleichschritt eilten sie zielstrebig zum Fundort der Leiche, während sie den Anwesenden kurz zunickten, wobei Olaf flüchtige Begrüßungen wie ‚Morgen‘ oder ‚Servus‘ aufschnappte. Er bedachte die beiden mit einem argwöhnischen Blick, als der Smarte sich einem der Anwesenden als Kriminalkommissar Arthur Sommer und seine Kollegin als Kriminalkommissarin Sonja Greininger von der Mordkommission Regensburg vorstellte.

Wenig später traf ein untersetzter Mittfünfziger mit schütterem Haar am Tatort ein. Mit einem unüberhörbaren Gruß, so als müsste er sicherstellen, dass alle Anwesenden ihn zur Kenntnis genommen hatten, ging er strammen Schrittes auf den Arzt zu und murmelte schließlich etwas, was Olaf nicht verstand. Die zwei kannten sich offensichtlich, und aus der fortlaufenden Unterhaltung schloss Olaf, dass es sich hierbei um einen Gerichtsmediziner handelte.

„Irgendwelche Hinweise, um wen es sich handelt?“ Arthur näherte sich dem abgedeckten Körper, bückte sich und hob die Plane ein kleines Stück an. Dann zog er die Nase kraus und ließ die Plane wieder sinken. „Der Vermisste, hab‘ ich recht?“

„Höfer, Nicholas“, bestätigte Marc-Oliver Bauer Arthurs Verdacht und reichte dem Kommissar einen Personalausweis. „Haben wir im Geldbeutel seiner Hosentasche gefunden.“

„Verdammt jung“, murmelte Arthur, nachdem er sich Latexhandschuhe übergestreift und den Ausweis entgegengenommen hatte. „Geboren am neunten August dreiundneunzig“, sagte er leise und mehr zu sich selbst als zu dem Berachinger Dienststellenleiter. „Die traurige Gewissheit für die Familie.“ Dann durchforstete er flüchtig den restlichen Inhalt des Portemonnaies, zog einmal kritisch die Augenbrauen hoch, als er mehrere hundert Euro-Scheine halb herauszog und sie sogleich wieder zurückschob. „Ein Raubmord war das hier jedenfalls nicht.“

„Der vermisste Höfer-Spross?“ Gerichtsmediziner Georg Ammann bückte sich, zog die Plane von dem Toten, um sich ein erstes Bild von dessen Zustand zu machen. „Wo steckt denn Ihr Chef?“, wollte er vorher noch von den beiden Kommissaren wissen.

„Herr Mühlbauer kommt erst gegen Mittag, der hat noch einen Termin in Regensburg“, klärte Sonja ihn auf, und ihr Tonfall ließ darauf schließen, dass sie nicht ganz unglücklich darüber war, alleine mit ihrem Kollegen zum Fundort geschickt worden zu sein.

„Können Sie uns schon sagen, wann in etwa das Opfer gestorben ist?“, fragte Arthur den Gerichtsmediziner. Dieser wiegte den Kopf, ohne den Blick von der Leiche zu heben.

„Todeszeitpunkt ersten Schätzungen zufolge vor vier bis fünf Tagen, wenn man nach dem Stadium des Insektenbefalls geht“, mutmaßte er. „Getötet wahrscheinlich noch am selben Tag seines Verschwindens. Mehrere Stichverletzungen im Bauch - eine davon scheint eine reine Fleischwunde zu sein, die andere sitzt jedoch tiefer und hat womöglich Organe verletzt - mehrere am linken Arm und sogar eine im Ohr. Der Täter muss mit einer ziemlichen Wut zugestochen haben.“ Er drehte den Kopf des Toten vorsichtig in seine Richtung. „Hier am Hals ein mittelmäßig tiefer Schnitt, womöglich der Tödliche. Und der Stapel blutdurchtränkter Taschentücher“, Doktor Ammann deutete auf einige rostbraune getrocknete Papiertücher, die sich neben der Leiche zwischen Geäst und Tannenzapfen verfangen hatten. „Wie es aussieht hat er noch versucht, die Blutung abzudrücken.“

Ammann beugte sich in seiner hockenden Haltung zurück, rupfte ein kariertes Stofftaschentuch aus seiner Hosentasche und wischte sich damit den Schweiß von der flächigen Stirn. Dann drehte er sich um zu Arthur Sommer und Sonja Greininger, die hinter ihm standen und Ammanns Diagnosen in Stichpunkten auf einem kleinen Block notierten.

„Bitte Details nicht zu sehr vor der Familie ausbreiten“, ermahnte er die beiden Kommissare. Diese nahmen den Hinweis stumm nickend zur Kenntnis. Mit Daumen und Zeigefinger zog er dem Toten das Shirt höher, beugte sich vor und inspizierte den rechten seitlichen Oberkörper etwas genauer. „Das hier sieht mir nach einem ziemlich großen Hämatom aus. Vermutlich wurden dem Opfer zuvor ein oder mehrere Rippen gebrochen. Kann ihm aber auch schon länger vor seinem Tod zugefügt worden sein.“ Dann rümpfte er die Nase und stellte aus einer Mischung von Ekel und Faszination fest: „Und hier, links über dem Nabel, könnte sich eine weitere Stichverletzung befinden. Auf den ersten Blick schwer zu erkennen.“

Arthur sah ihn erwartungsvoll an, als Ammann dessen still gestellte Frage sogleich beantwortete: „Wildfraß, in erster Linie am Rumpf und Arm. Bitte auch nicht vor der Familie erwähnen.“

„Noch etwas, was wir nicht vor der Familie erwähnen sollten?“, fragte der Kommissar genervt, der gleich zusammen mit seiner Kollegin die undankbare Aufgabe hatte, die Höfers über den Tod ihres Sohnes zu informieren.

„Vor der Schranke, also vom Fundort aus gesehen hinter der Schranke, sind deutlich Reifenspuren zu erkennen“, stellte ein nicht allzu groß gewachsener Mann um die vierzig mit vielen Muskeln und Stoppelfrisur fest, der mit gebeugtem Oberkörper das Terrain rund um die weißrote Schranke absuchte, so als würde er nach kleinen Ostereiern suchen.

„Udo, wie wär’s, wenn du dir erst einmal deinen Schutzanzug überziehst? Sonst sind es nachher deine Spuren, denen wir nachgehen!“, wies Sonja den Kollegen zurecht. Dieser richtete sich auf und setzte eine wichtige Miene auf. Ohne auf Sonjas Worte einzugehen gab er seinen Befund kund: „Mit dem bloßen Auge erkennt man nicht viel, aber ein Gipsabdruck könnte Klarheit über das Profil schaffen.“ Sonja näherte sich ihm und fragte: „Wenn es nicht ein Forstfahrzeug gewesen ist, das vor der Schranke abgestellt worden ist. Von dieser Richtung hier“, sie deutete mit dem Arm den Weg abwärts von der Schranke hinein in die Tiefe des Waldes. „Dort unten scheint der Weg sehr schwierig und unzugänglich zu sein. Auch für ein Forstfahrzeug.“ Muskelprotz kniete sich wieder vor die Schranke und schob seinen Kopf vor wie eine Schildkröte, die auf Futtersuche war, um den Pfeiler der Schranke genauer zu inspizieren: „Und hier sind deutlich Blutspuren zu sehen. Die verteilen sich bis über den vorderen Teil der Schranke.“

„Was ist mit der Tatwaffe?“

„Haben wir noch nicht.“ Muskelprotz erhob sich aus der Hocke, streifte sich einen kleinen Rucksack von der Schulter, öffnete den Reißverschluss und holte eine Butterbrotdose heraus, die er auf der Motorhaube eines der geparkten Autos abstellte. Dann zog er endlich einen Schutzanzug über, den er bereits die ganze Zeit unter dem Arm geklemmt hatte. Mit einer gierigen Handbewegung holte er ein zusammengeklapptes Butterbrot aus seiner Dose, ließ diese offen auf der Motorhaube stehen und schlenderte zu Ammann, um noch einmal einen schaulustigen Blick auf die Leiche zu werfen. Dabei biss er von seinem Butterbrot ab, dessen Wurstscheibe fast so dick war wie eine einzelne Brotscheibe. „Unschöne Angelegenheit“, kaute er fast unverständlich. „Dem stand die Welt offen. Die Eltern haben Kohle ohne Ende. Diese Uhr sagt schon alles aus.“ Udo beugte sich vor, um das Prachtexemplar genauer zu betrachten. „Die ist bestimmt gut zehntausend Euro wert. Mindestens! Das hier war jedenfalls kein Raubmord.“ Dann setzte er ein paar Schritte zurück und biss noch einmal genüsslich in sein Butterbrot. „Ne, das glaube ich jetzt nicht…“ Arthur weitete entsetzt die Augen.

„Udo“, Sonja klopfte dem Muskelprotz auf die Schulter. „Findest du es nicht etwas pietätlos, vor einer Leiche die Frühstücksbrote auszupacken?“ Dann streifte ihr Blick den immer noch bleichgesichtigen Olaf, der den Anschein machte, erneut gegen den Brechreiz anzukämpfen.

„Was genau war die Todesursache?“, lenkte Arthur das Gespräch in eine andere Richtung und sah den Gerichtsmediziner erwartungsvoll an. „Können Sie da schon was sagen? Verbluten?“

„Sieht erstmal danach aus“, Ammann stand auf, holte wieder das karierte Taschentuch aus seiner Hosentasche und schnäuzte sich kräftig die Nase, womit er ein Echo erzeugte, das durch den gesamten Wald hallte, so als wäre eine Horde Elefanten im Anmarsch. Sogar der fröhliche Austausch der Vögel wurde durch sein Schnäuzen übertönt.

„Die Halsschlagader scheint getroffen. In so einem Fall verblutet das Opfer innerhalb weniger Minuten. Und der Messerstich im Ohr könnte den Gehörgang komplett zerstört haben, was einen massiven Gleichgewichtsverlust für das Opfer bedeutet hätte. Man kann für ihn nur hoffen, dass er zu dem Zeitpunkt schon nicht mehr gelebt hat.“ Schließlich sah er dem Kommissar eindringlich in die Augen: „Es wäre nicht klug, die Eltern über jedes einzelne Detail hier zu informieren.“

„Sagten Sie bereits. Vielleicht sollten Sie lieber mit der Familie sprechen, Herr Doktor Ammann“, gab Arthur genervt wieder.

„Äh, entschuldigen Sie“, unterbrach Olaf den eher holprigen Dialog zwischen dem Kommissar und dem Gerichtsmediziner. Arthur drehte sich erstaunt zu ihm um. Seinem perfekt gestylten Äußeren zu urteilen wäre der Kommissar eher in den Bereich Architektur oder Marketing einzuordnen. Ein Beruf, in dem man sich mit den ansehnlichen, ästhetischen Dingen des Lebens befasst, nicht etwa mit halb verwesten Leichen.

„Könnten Sie mich… äh… vielleicht ein Stück mitnehmen? Wissen Sie, normalerweise laufe ich gar nicht hier lang, wenn ich Joggen gehe. Ich muss irgendwo falsch abgebogen sein und… Aber nur, wenn es keine Mühe macht.“ Um Arthurs irritierten Gesichtsausdruck auszuweichen, lenkte Olaf seinen Blick zu den angesammelten Fahrzeugen, die in etwas chaotischer Reihenfolge hinter der weißroten Schranke parkten. Es würde nicht mehr lange dauern, bis der Leichenwagen eintraf.

5. In der Firma Höfer

„Meine Frau hat den Proto getestet und beanstandet, dass der dunkelblaue Bezug auf hellen Hosen abfärbt“, ein spannungsgeladener Ton des Missfallens drang durch Anton Höfers Worte. Er bedachte den Produktmanager der jungen „My first settee“- Linie mit einem vorwurfsvollen Blick und signalisierte ihm damit, dass er keine fadenscheinige Ausrede gelten ließ. Die Lippen waren zu einem Strich zusammengekniffen, und Schweiß bildete sich an den graubraun melierten Schläfen. Kai Zitzelsberger rang nach passenden Worten. Es musste ihm irgendwie gelingen, ihn zu besänftigen, doch der Firmeninhaber glich momentan eher einer tickenden Zeitbombe. Vor fünf Minuten hatte er Kai Zitzelsberger in sein Büro zitiert, weil es Probleme mit einem Oberstoffartikel gab, den er bereits für die Produktion bestellt hatte. Jetzt saß er seinem Chef gegenüber und musste die Auswahl für den abfärbenden Stoffartikel glaubwürdig begründen. Vor seinem inneren Auge erschien die schlanke Silhouette einer Mittfünfzigerin, die sich mit einer ihrer überteuerten weißen Sommerhosen wie die Prinzessin auf der Erbse in den Sessel sinken ließ, um nach Dingen zu suchen, die es zu beanstanden gäbe. Ein flatterhaftes Gefühl aus Angst und Wut stieg in ihm auf, und am liebsten würde er sich über den Gattinnen-Status, den Hermine Höfer nun einmal besaß, lautstark beschweren. Aber derartige Gefühlsausbrüche könnten ganz schnell eine Abmahnung zur Folge haben, wenn nicht gleich sogar sein Aus in dieser Firma bedeuten.

„Ich versteh’ es nicht!“ Anton Höfer fuhr aus seinem Stuhl hoch und schüttelte den Kopf. Dabei rempelte er versehentlich seinen Schreibtisch an, und das eingerahmte Bild neben seinem Bildschirm, welches vermutlich die eitle Gattin abbildete, begann gefährlich zu wackeln. Das Telefon klingelte, aber Anton Höfer ignorierte es. „Herr Zitzelsberger, sind Sie sich überhaupt darüber im Klaren, was es für uns bedeutet, eine komplette Produktionsreihe als Retoure zurück zu bekommen? Das sind Kunden, die werden nie wieder ein Sofa von uns kaufen! Die gehen dann woanders hin. Womöglich zu einem billigeren Anbieter, der noch dazu bessere Qualität liefert!“

„Ich habe mit dem Weber des Herstellers gesprochen, und der hat mir versichert, uns eine einwandfreie Ware zu liefern. Ich habe den Stoff hier im Haus testen lassen, und da kamen keine Einwände.“ Kai Zitzelsberger machte eine hilflose Geste. Jede Mühe, die er in jedes einzelne Produkt steckte, für das er oft bis in die Abendstunden über dem Schreibtisch im Büro brütete, um sich anschließend von seiner Frau vorwurfsvolle Beschuldigungen anhören zu müssen, war letztendlich doch nichts anderes als ein Haschen nach dem Winde. Den Chef mit zufriedenstellenden Ergebnissen gütig zu stimmen war fast so aussichtslos wie ein Treffer mit dem Luftgewehr in den Mond. Und sollte ihm so ein glorreicher Schuss doch einmal gelingen, würde er nicht ohne neue Herausforderungen das Büro wieder verlassen. Hitze breitete sich in ihm aus. Ob er der Nächste war, der das Feld räumen musste? Inoffiziell wusste er von einem adäquaten Ersatz für ihn. Ein noch etwas knabenhafter Mitarbeiter, der bei der Höfer GmbH bereits seine Ausbildung absolviert hatte und nun ein Fachstudium im Bereich Produktdesign absolvierte. Ein aufstrebender junger Mann, der im nächsten Frühjahr mit großen Ziele und gewinnbringenden Ideen im Gepäck zurück in der Firma erwartet werden sollte. Von anderen Kollegen hatte Kai das ein oder andere Wort über diesen Superhelden aufgeschnappt. Ein dezenter Hinweis darauf, dass seine Tätigkeit als Produktmanager in dieser Firma auf wackligen Beinen stand?

„Sie stornieren SOFORT alle Bestellungen für die neue Kollektion. SOFORT!“, stampfte Anton Höfer in einem viel zu übertrieben respektlosen Ton, fand Kai Zitzelsberger. Und dass der Chef wie ein hungriger Löwe hinter Gittern immer auf und ab ging, ließ ihn auf seinem Büßerstuhl erst recht zusammensinken. Wieder klingelte das Telefon.

„Ja, aber…“

„Nichts aber! Habe ich mich undeutlich ausgedrückt?“ Anton Höfer gestikulierte wild mit den Armen. Ein Hauch seines Aftershaves streifte Kai Zitzelsbergers Nase. „Und jeden Artikel, den Sie in Zukunft einzusetzen gedenken, testen Sie bitte gründlichst und sprechen vorher mit mir ab, ob er überhaupt in Frage kommt. Eigentlich Ihre Aufgabe…“

„Es IST meine Aufgabe, Herr Höfer!“ Kai Zitzelsberger konnte seinen Unmut nicht länger für sich behalten. In ihm brodelte es wie in einem Wasserkessel mit kochendem Wasser. Er fühlte sich wie ein zu Unrecht verhörter Sträfling, dem niemand glaubte und der nun seinen Standpunkt überzeugend zu vertreten versuchte: „Dafür bin ich hier. Und nur, weil ein einziger Artikel angeblich abfärbt…“

„Nicht angeblich, Herr Zitzelsberger!“ Anton Höfer schlug wie ein autoritärer Lehrmeister mit der flachen Hand auf den Tisch. „Wollen Sie etwa die Aussage meiner Frau in Frage stellen?“ Er holte tief Luft und ließ sich hilflos in seinen Schreibtisch-Ledersessel sinken. Kai Zitzelsberger bemerkte, dass seinem Chef die Tränen in die Augen schossen und dass er hektisch Luft holte. Schuld daran war mit Sicherheit nicht der falsch ausgesuchte Polsterbezug. Diese Ungewissheit über den vermissten Sohn schien den sonst so beherrscht agierenden Firmeninhaber in einen jähzornigen Choleriker verwandelt zu haben.

„Bitte“, Anton Höfer mied den Blick zu seinem Angestellten und deutete mit einer Geste Richtung Tür. Kai Zitzelsberger wollte gerade aufstehen und gehen, als es an der Tür klopfte, und Höfers Sekretärin ohne auf eine Reaktion zu warten das Büro betrat:

„Herr Höfer, ich konnte Sie telefonisch nicht erreichen. Da war ein Herr von der Polizei am Telefon. Sie möchten bitte umgehend nach Hause kommen.“

Niedergeschlagen schlenderte Kai Zitzelsberger zurück in seine Abteilung. Zwei Fenster standen sperrangelweit offen. Kein Lüftchen Durchzug, das lose herumliegende Blätter vom Tisch durch den Raum pustete. Allgemein machte der Raum einen eher verlassenen Eindruck, denn die anderen Kollegen genossen wohl noch ihre Frühstückspause. Die Tür zu seinem abgesonderten Büro war angelehnt. An Stefan Fischers ehemaligem Arbeitsplatz blieb er stehen. Ein Flachbildschirm fristete schwarz und verlassen am hintersten Rand des Schreibtisches sein Dasein. Zuletzt hatte dort ein junges Mädchen gesessen, die hier ein Schülerpraktikum absolviert hatte. Heute besetzte eine dicke Mappe mit voluminösen Stoffproben den Platz. Staubflocken und Fussel hatten sich rundherum ausgebreitet. Kai ließ die Zeit Revue passieren bis zu jenem Tag im Januar letzten Jahres, als er Stefan mit der Aufforderung ‚Hast du mal ´ne Minute?‘ in sein Büro zitieren musste, wo er von dem Personalchef und Prokurist der Firma, einem langen Schlacks mit rotblonden Haaren, bereits erwartet worden war. Kai Zitzelsberger erinnerte sich an jedes einzelne Wort, mit dem er versucht hatte sein Mitgefühl auszusprechen. Worte, die ihm bis heute unaufrichtig, wenn nicht gar geheuchelt erschienen. Er hatte seinen Mitarbeiter angelogen. Im Grunde war er froh darüber, sich nicht länger mit ihm auseinandersetzen zu müssen. Genau dies hatte Stefan ihm noch in Gegenwart des dogmatischen Prokuristen lauthals vorgehalten. Mit einer sofortigen Freistellung hatte Stefan von diesem Tag an die Firma nie wieder betreten.

6. Erste Befragungen

„Irgendwie ein komischer Kauz, dieser Huber Olaf, findest du nicht auch?“, fragte Sonja ihren Kollegen, nachdem sie den Marathonläufer vor dessen Haustür abgesetzt hatten und nun auf dem Weg zu den Höfers waren.

„Findest du? Weshalb?“ Arthur teilte zwar ihre Meinung, dennoch interessierte ihn ihre Ansicht zu dem drahtigen Mann unabhängig von seinen eigenen Gedanken.

„Er wirkte so übertrieben hilfsbereit. Und dass er den Bruder des Opfers kennt und ihn nicht sonderlich sympathisch findet, ist doch irgendwie ein seltsamer Zufall.“

„Beide sind am Nürnberger Flughafen beschäftigt.“ Arthur zuckte bedeutungslos die Schulter. „Der Bruder des Opfers ist dort Pilot, der Huber Fluglotse. Der Flughafen ist ein riesiger Arbeitgeber. Ich deute das Ganze eher als einen Zufall.“ Dann drückte er die Taste für den Regler der Klimaautomatik im Wagen, um die Innentemperatur zu drosseln. Es war Vormittag. Die Sonne stand bald senkrecht am Himmel, und ihre Strahlen hatten sich über den gesamten Bayerischen Jura ausgebreitet, ohne auch nur von einer einzigen Wolke unterbrochen zu werden. Für heute hatte der Wetterbericht eine Temperatur von knapp dreißig Grad vorausgesagt.

„Und außerdem“, fing Arthur wieder an. „Der Huber hat immer wieder betont, sich für eventuelle Fragen zur Verfügung zu stellen. Ich denke nicht, dass der irgendetwas mit einem Mord zu tun hat.“

„Hm…“ Sonja sah aus dem Fenster der Beifahrerseite und ließ die Landschaft an sich vorbeiziehen. Den Berachinger Dorfkern hatten sie bereits hinter sich gelassen, und im Seitenspiegel erkannte sie die Burgruine, die auf ihrer Anhöhe noch immer stolz und erhaben in den wolkenlosen Himmel ragte.

Für eine Zeit lang sagte niemand etwas. Sonja legte sich in Gedanken ein paar Worte zurecht. Worte, mit denen sie gleich die Eltern des Opfers konfrontieren musste. Gab es für solch eine Situation überhaupt die richtige Wortwahl? Womöglich waren die Eltern durch den Anruf der Polizei schon darauf vorbereitet.

Nach knapp zehn Minuten bogen sie von der Landstraße ab in eine kurvige Nebenstraße, bevor Arthur beinahe die Einfahrt in eine schmale, aufsteigende Gasse aus Kopfsteinpflaster verpasste, die von dicht bewachsenen Laubbäumen gesäumt war.

„Aber du weißt genauso wie ich, dass manche Täter sich ganz bis zum Schluss sehr hilfsbereit zeigen, bevor sie den Spieß umdrehen.“ Sonja lenkte das Gespräch wieder auf den Huber Olaf und bedachte ihren Kollegen mit einem kritischen Blick. „Ist mir durchaus bekannt, wie du weißt. Aber das sollte uns nicht davon abhalten, hilfsbereiten Bürgern zu vertrauen.“

„Auch wieder wahr.“

„Außerdem ist der Huber kein klassischer Mörder“, zwinkerte Arthur seiner Kollegin zu. „Viel zu anständig.“

„Echt mega, das Haus“, stellte Sonja beeindruckt fest, als sie die Einfahrt zum Hof erblickte, hinter dem sich das weiß verputzte Haus mit seinen braunen Sprossenfenstern und dem Dach aus roten Bieberschwanzziegeln in seiner Pracht präsentierte. „Ein so altes Haus so toll hergerichtet – das habe ich mir auch immer gewünscht…“ Sonja hing kurz ihren Träumen nach.

„Kannst du aber auch viel Ärger damit haben. Mit dem Renovieren und so.“

„Da kennt sich jemand aus!“, wusste sie und fragte schließlich: „Hast du dir schon mal ein Höfer-Sofa oder Sessel geleistet?“

Arthur grinste und zog nebenbei die Schultern hoch: „Ich nicht, aber meine Eltern schwören auf die Qualität der Höfer-Polster.“

Arthur parkte den Dienstwagen vor einer kleinen Scheune, die zu einer Mehrfach-Garage umgebaut worden war. Die halbrunden Holztore standen nach innen hin offen. In der ersten von den fünf Unterstellplätzen parkte ein schwarzer Land Rover. In der angrenzenden Bucht war ein anthrazitfarbener Porsche Boxster untergebracht. Die mittlere stand abgesehen von zwei Fahrrädern, die mit einem dicken Kettenschloss miteinander verbunden waren, leer, und in der danebenliegenden Bucht stand ein Pferdeanhänger. Bei der letzten Bucht war das Holztor geschlossen.

Sonja und Arthur stiegen aus, passierten den Hof, vorbei an einer großen Linde und steuerten direkt auf den beidseitigen Treppenaufstieg zum Hauseingang zu. Vor der Tür blieben sie stehen, warfen sich noch einmal Mut zusprechende Blicke zu, als Sonja entschlossen den Klingelknopf drückte. Ein kraftvoller Gong, der dem würdevollen Anwesen den verdienten Respekt verlieh.

Es dauerte nicht lange, bis sich die Haustür öffnete und eine schlanke Mittfünfzigerin mit schulterlangen blonden Haaren die beiden skeptisch begutachtete. In einer selbstbewussten, jedoch auch mit Angst untermalten Tonlage begrüßte sie Sonja und Arthur mit einem „Grüß Gott“.

„Grüß Gott, Kommissar Sommer, Kripo Regensburg, und dies ist meine Kollegin Kommissarin Greininger“, stellte Arthur sich und seine Kollegin vor, während er pflichtbewusst seinen Dienstausweis zeigte.

„Sie sind die Mutter von Nicholas Höfer?“, vergewisserte Sonja sich, während sie sich ebenfalls mit ihrem Dienstausweis auswies. Und ehe Frau Höfer weitere Fragen stellen konnte, bat Sonja sie: „Dürften wir kurz zu Ihnen ins Haus kommen?“

„Um was genau geht es? Haben Sie ihn endlich gefunden? Wo ist Nicholas?“ Hermine Höfer reckte den Kopf an den beiden vorbei, in der Hoffnung, Nicholas würde reumütig aber unversehrt hinterher getrottet kommen. Ihr Blick war mit Angst untermalt. Ein Ausdruck, der aus Sonja und Arthur hoffnungsvolle und aufbauende Worte herauslocken sollte.

„Das möchten wir mit Ihnen und Ihrem Mann gerne im Haus besprechen.“

„Mein Mann müsste jeden Augenblick hier sein.“ Fast wie in Trance ließ Hermine Höfer die Tür weiter aufgehen und bat die beiden schließlich wortlos hinein.

Sonja zögerte kurz, folgte ihrem Kollegen und setzte schließlich ihren ersten Schritt auf den mit Natursteinplatten gefliesten Fußboden. Unbewusst ließ sie ihren Blick durch den Eingangsbereich wandern, der durch seine gewölbeartige Bauweise und den strahlend weiß verputzen Wänden einen Vorgeschmack zu dem historischen Stil des Hauses bot. Hinter einer abgerundeten Holztür mit Eisenscharnieren führte vermutlich eine Treppe hinunter zum Keller. Sonja drehte sich um und zuckte erschrocken zusammen, als ein großer Wandspiegel mit rustikalem Rahmen ihr das eigene Spiegelbild präsentierte. Ebenso zeigte sich ihr der Treppenaufstieg einer Holztreppe, die sich links um die Ecke wand, um dann ins erste Obergeschoss zu führen. Sie drehte sich wieder um zu Arthur und Frau Höfer, die irgendetwas Unverständliches von ‚Verschwinden’ und ‚unser Sohn’ murmelte. Es war angenehm kühl in dem alten Haus. Um angestaute Hitze in den dicken Außenwänden zu speichern, müsste es wochenlang Temperaturen bis zu über dreißig Grad Celsius geben. Und dies kam in Deutschland äußerst selten vor. Dieser Sommer allerdings machte eine Ausnahme.

Sonja und Arthur folgten der en Vogue gekleideten Mutter ins Wohnzimmer, das sich durch eine Wand mit eingebauter Flügeltür vom Esszimmer abgrenzte. Die Flügeltür war geschlossen, aber Glaseinsätze mit seitlichem Schliff gewährten vom Wohnzimmer aus einen Einblick in den separaten Raum. Der rustikale Esstisch war mit dazugehörenden Stühlen umsäumt. Ein weißer Tischläufer erstreckte sich über der massiven Tischplatte. Hier wurde vermutlich zu Festtagen, Geburtstagsfeiern oder zu anderen Feierlichkeiten gespeist. Die dicken Außenwände fassten braune Sprossenfenster aus Holz, und die flächigen Fensterbänke waren mit zierlichen Zimmerpflanzen in schmalen Blumentöpfen oder mit kleinen Stehlampen dekoriert. Die hauchdünnen Vorhänge dienten sicherlich bloß der Zierde, denn um den Raum abzudunkeln oder ihn vor Sonneneinstrahlung zu schützen eigneten sie sich keineswegs. Eine im gleichen Stil eingefasste Terrassentür führte nach draußen auf eine große Terrasse, von der man wiederum über ein paar Treppenstufen aus Naturstein hinab in den parkähnlichen Garten kam. Die Polstersitzgruppe im Wohnbereich, die zur großen Wahrscheinlichkeit aus dem eigenen Unternehmen stammte, umrahmte einen Couchtisch aus Holz, auf dem wiederum eine bauchige Porzellanvase mit weißen Lilien stand. Ein hellgrau melierter Wollteppich brachte eine gewisse Leichtigkeit in die mondäne Einrichtung. An der inneren Wand des Zimmers fand ein Kaminofen Platz, durch dessen Glasscheibe man die Asche des letzten Kaminfeuers erkennen konnte. An der Wand neben dem Kamin hing ein eingerahmtes Familienbild der Familie Höfer, das wiederum von kleineren Bildern umgeben war, die einzelne Familienmitglieder zeigten, auch aus längst vergangenen Zeiten, wie manch vergilbtes Schwarzweiß-Bild verriet.

Sonja spürte die leicht knarrenden Dielen unter ihren Füßen. Der Holzfußboden unterschied sich farblich unwesentlich von den Fensterrahmen. Sie schaute aus einem der Fenster, aus dem man eine herrliche Aussicht auf den etwas abschüssigen Garten hatte, dessen Grenze durch ein kleines Waldstück gesetzt wurde. Im selben Augenblick hörte sie, wie jemand die Haustür aufschloss. Nun standen sie und Arthur vor dem womöglich unangenehmsten Schritt ihrer Ermittlungen.

„Das muss eine Verwechselung sein“, behauptete Hermine Höfer kühl, wobei sie nicht annähernd so überzeugend wirkte, wie sie vielleicht hoffte. Sie hielt die Arme ineinander verschränkt und stand kerzengerade neben ihrem Mann, der mit ausdrucksloser Miene irgendeinen Punkt im Raum fixierte. Offensichtlich hatte ihn die grausame Nachricht erreicht wie ein auf die Erde krachender Satellit, auch wenn sich seine Gedanken noch gegen das Ausgesprochene wehrten.

„Dieser Wald liegt kilometerweit weg!“ Hermine Höfer machte eine wegwerfende Geste. „Wie sollte Nicholas dort hingelangt sein? Er war noch nie dort. Er geht nicht in so große Wälder, und wenn… dann müsste doch sein Auto dort stehen!“

„Frau Höfer, es tut mir sehr leid.“ Sonja hatte Schwierigkeiten, die Mutter des Opfers anzuschauen. Egal, wie sensibel sie ihre Worte formulierte, wie mild und bemüht sie sich ausdrückte - die Botschaft ließ sich nicht herausfiltern. Es war wieder mal einer dieser Momente, in denen sie ihren Job ernsthaft in Frage stellte, wenn nicht sogar hasste.

„Wir müssen Ihnen ein paar Fragen stellen.“ Ihr Tonfall nahm Klarheit an.

„Die Polizei hat ein Bewegungsprofil von seinem Handy gemacht. Zuletzt war es in der Nähe unserer Firma eingeloggt“, erklärte Hermine Höfer mit zittriger Stimme. „Das wurde uns so mitgeteilt! Sicherlich liegt es dort noch, und ihre Kollegen haben es bloß nicht gefunden! Und Nicholas… Suchen Sie das alles noch einmal ab!“ Sie straffte die Schultern und schüttelte kurz ihr perfekt geföhntes Haar. „Außerdem wäre unser Verdacht, dass er entführt worden sei, wohl auch nicht ganz unberechtigt! Was ist mit der Liste der Anrufe, die Sie vom Telefonanbieter bekommen haben? Sind Sie jeder Nummer nachgegangen? Sie haben doch eine Liste mit den ganzen Anrufen erhalten, oder?“

„Frau Höfer, Herr Höfer“, sprach Arthur die aufgewühlten Eltern in einem ruhigen Ton an. Er spürte, wie die innere Anspannung seine Handflächen feucht werden ließ. „Ich weiß, dass Sie diese Fragen in den letzten Tagen mehr als einmal beantworten mussten. Aber mit wem hatte ihr Sohn in den letzten Tagen oder Wochen Kontakt gehabt? Gab es irgendwelche Auffälligkeiten? Hat er sich irgendwie anders verhalten als sonst?“ Jede Frage, die er stellte, fühlte sich an wie ein intimer Angriff auf die Eltern, die sich aus ihrer Starre noch nicht gelöst hatten. Aber seine langjährige Erfahrung bei der Mordkommission hatte gezeigt, dass die Angehörigen direkt nach dem Überbringen der Todesnachricht wertvolle Details verrieten. Es musste der Schockzustand sein, der unsichere Zurückhaltung brechen ließ. Aber hier blieb es bei bereits bekannten Details.

„Diese Freundin“, gab Anton Höfer monoton bei. „Sie heißt Sara Eichinger. Nicholas wollte sich am vergangenen Samstagabend mit ihr an unserem Haus am See treffen. Da haben sie sich öfters getroffen. Er hat hier noch zu Abend gegessen. Danach war er schon auf dem Sprung. Er ist so gegen halb neun hier weggefahren. Das alles haben wir Ihren Kollegen schon x-mal gesagt. Und die Freundin wurde auch schon befragt.“

„Hatten Sie Kontakt zu Frau Eichinger?“, wollte Sonja wissen.

„Sie ist die Ex-Freundin einer unserer ehemaligen Mitarbeiter.“

„Die hat doch nichts mit der Entführung zu tun!“, fiel Hermine Höfer ihrem Mann barsch ins Wort, noch immer der festen Überzeugung, Nicholas würde bald wieder lebendig vor ihr stehen. „Was erzählst du da bloß von wegen Freundin und so? Das ist doch nun unwichtig! Wir müssen diesen Entführern auf die Schliche kommen! Sonst kommt er nie zurück!“

„Hermine“, sagte ihr Mann mit belegter Stimme. „Du hast es noch immer nicht begriffen. Nicholas wurde nicht entführt. Er wurde… Er ist tot.“ Dann begann er laut zu Schluchzen, knickte ein und ließ sich auf das Sofa fallen, während er sich kopfschüttelnd die Hände vors Gesicht hielt.

„Was wollen Sie eigentlich von uns? Sie bringen meinen Mann und mich ganz durcheinander!“, Hermine Höfer verschränkte wieder die Arme und kniff die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. Ihre blauen Augen funkelten, und ihr Blick glich dem einer Schlange, die jeden Augenblick ihr Opfer anfallen wollte. „Sorgen Sie lieber dafür, dass Nicholas zurückkommt! Haben Sie überhaupt einen Funken Ahnung, wie sich eine Mutter fühlt, die ihr Kind vermisst, das vermutlich in irgendeinem schäbigen Loch gefangen gehalten wird, noch dazu ohne Nahrung? Haben Sie Kinder?“

„Zwei“, flüsterte Sonja und blickte betroffen zu Boden. Arthur zog hilflos die Schultern hoch. Die bedrückende Tatsache, dass seine Ex keine Kinder haben wollte und er nun mit Anfang vierzig wieder völlig alleine dastand, wiegte natürlich niemals das Leid der Höfers auf, aber es saß trotzdem tief in seiner Seele wie ein giftiger Stachel.

„Hermine, hör endlich auf!“ Anton Höfer sah durch einen von Tränen verschleierten Blick erst zu seiner Frau auf, die noch immer mit verschränkte Armen am selben Fleck stand. Dann wischte er sich über das Gesicht und wechselte den Blick zu den beiden Kommissaren. „Befragen Sie einen Mann namens Stefan Fischer. Der hat bei uns gearbeitet, und Nicholas ist mit seiner Ex zusammen. Das dürfte als Motiv reichen!“

„Er HAT bei Ihnen in der Firma gearbeitet?“, hakte Arthur nach.

„Warum arbeitet er nicht mehr für ihr Unternehmen?“

„Wir mussten uns im letzten Jahr von ein paar Mitarbeitern trennen.“

„Warum?“ Sonja kniff die Augenbrauen zusammen und legte den Kopf schräg. „Eigentlich lese ich in der Zeitung immer nur was von Gewinnen und schwarzen Zahlen!“ Noch während sie das behauptete, wurde ihr klar, sich mit solch einer provokanten Bemerkung etwas zu weit aus dem Fenster gelehnt zu haben. Mit derartigen Behauptungen könnte sie genau das Gegenteil von dem erreichen, was sie unbedingt erlangen musste: Das Vertrauen der Höfers zu gewinnen.

„Warum… warum… Davon verstehen Sie nichts!“, fuhr Anton Höfer Arthur an, obwohl Sonja die Frage gestellt hatte. Doch der ließ sich nicht einschüchtern: „Wenn wir den Mord aufklären wollen, müssen Sie diesbezüglich vielleicht noch sehr kooperativ werden, Herr Höfer.“

„Ich muss mich…“ Hermine Höfer taumelte Richtung Sofa und brach schließlich weinend neben ihrem Mann zusammen. Die aufgestaute Angst der letzten Tage, die Schlaflosigkeit und nun die Gewissheit - es gab keine Hoffnung mehr; all das fiel plötzlich über sie wie eine herabstürzende Decke, und sie wurde von einem Weinkrampf geschüttelt.

„Ich werde Ihnen einen Arzt rufen“, Sonja beugte sich zu ihr und legte eine Hand auf ihre Schulter. „Wenn Sie mir sagen, wer ihr Hausarzt ist…“

„Er hat sich in den letzten Tagen tatsächlich merkwürdig verhalten.“ Hermine Höfer rückte auf die vordere Kante des Sofas und wischte sich Tränen aus dem Gesicht. Schließlich begann sie unter Schluchzen zu erzählen: „Neulich beim Abendessen - das muss am Mittwoch vergangene Woche gewesen sein. Sein Gesicht war blass. Blasser als sonst. Und Hunger hatte er auch nicht. Unter der Nase klebte eine Blutkruste. Nicht viel, wahrscheinlich hat er alles darangesetzt, es zu verbergen. Aber ich habe es gesehen und ihn gefragt, was er da gemacht hat.“

„Ich hab‘ mich geprügelt“, zitierte Anton Höfer Nicholas’ Antwort auf die Frage. „Das sagte er mit solch einem Sarkasmus, dass keiner von uns weiter nachgehakt hat.“

„So wie er das sagte, habe ich auch nicht ernsthaft an eine Prügelei geglaubt. Wären mein Mann und ich der Sache nachgegangen, hätte es nur wieder fruchtlose Diskussionen gegeben.“

„Und ich riet ihm noch: er soll sich bloß zusammenreißen! Solche Eskapaden kann er sich in Zukunft nicht mehr leisten!“

„Aha.“ Arthur nickte schnell, als hätte er eine nebensächliche Information aufgeschnappt, jedoch speicherte er das Erzählte unter ‚bitte dringend nachgehen‘ in seinen Gedanken ab.

„Eine Frage noch, Frau Höfer“, Sonja kniete sich neben die weinende Mutter und sah sie mitfühlend an. Diese schüttelte langsam den Kopf, ohne die Kommissarin anzusehen.

„Sie sagten eben, Ihr Sohn ginge nicht in Wälder. Warum nicht?“

„Zu viel Ungeziefer und Tiere, die er nicht mag.“

Ist das alles? Wegen Ungeziefer??? Sonja stutzte, beschloss aber, die Aussage von Frau Höfer so stehen zu lassen.

Während Arthur auf dem Telefon-Display der Höfers nach der Telefonnummer des Hausarztes suchte, hörte Sonja die Haustür ins Schloss fallen, begleitet von dem Klimpern eines Schlüsselbundes.

„Mama… Papa…“, folgte die Stimme eines jungen Mannes, dessen Schritte näherkamen. „Das Bodenpersonal streikt, und deshalb fallen ein paar Flüge aus! Unter anderem…“

Arthur schreckte mit dem Telefon am Ohr sofort herum, Sonja dagegen spürte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss. Langsam, so als würde sie etwas Unheilvolles erwarten, drehte sie ihren Kopf Richtung Wohnzimmertür und blickte ebenso wie Arthur in das glatt rasierte Gesicht eines Endzwanzigers, der dem Mordopfer recht ähnlich sah und der mit weit aufgerissenen Augen zu seinen Eltern starrte, während ihm die Schlüssel aus den Händen glitten.

7. Die Ermittlungen beginnen

Argwöhnisch ließ Stefan Fischer die beiden Ermittler ins Haus und bot ihnen einen Platz auf dem Sofa im elterlichen Wohnzimmer an, bevor er sich in einen Sessel sinken ließ. Seine Eltern waren noch unterwegs, was ihm recht war. Nichts war ihm unangenehmer, als vor den eigenen Eltern von der Polizei zu einem Verbrechen befragt zu werden. Erst vor wenigen Tagen hatte er Besuch von zwei Polizeibeamten gehabt, die ihn mit zu vielen Fragen über den Verbleib des Höfer-Sprosses vor seinen Eltern wie einen Verbrecher hatten dastehen lassen. Und diese anschließende Fragerei seines Vaters: ‚Was weißt über diese Sache? Du hast allen Grund, ihn zu hassen’ - und so weiter. Gleich würde sich alles wieder um Nicholas Höfer drehen, und er machte kein Geheimnis daraus, dass er keineswegs Lust dazu hatte, sich über den verhassten Nebenbuhler zu äußern. Er hätte nichts mit dessen Verschwinden zu tun, rechtfertigte er sich sogleich, obwohl weder Sonja noch Arthur ihm irgendeine Frage gestellt hatten.

„Herr Fischer, wir sprechen hier nicht mehr über das Verschwinden des jungen Höfer“, Arthur lenkte das Gespräch ohne Umschweife in die richtige Bahn. „Ein Läufer hat heute Morgen seine Leiche gefunden.“

Ein flüchtiger Ausdruck des Entsetzens huschte über Stefans Gesicht, bevor er sich wieder in die Rolle des zu Unrecht verurteilten Opfer begab.

„Tot?“, vergewisserte er sich vorsichtig. „Der Bubi-Höfer ist…?“

„Tot durch Fremdeinwirkung“, klärte Sonja ihn sofort auf.

„Er wurde… ermordet?“ Mit Daumen und Zeigefinger strich Stefan sich über seinen Kinnbart. Seine Mundwinkel zuckten. Dann sagte er schnell: „Und jetzt glauben Sie, dass ich etwas damit zu tun habe? Was glauben Sie, was ich ihm angetan habe?“

„Wir glauben gar nichts, wir ermitteln.“ Arthur ließ sich von Stefans Emotionen nicht beeindrucken. „Wie gut kannten Sie den jungen Höfer?“

„Pfff“, Stefan überlegte kurz und sah währenddessen zur Decke. „Kennen ist zu viel gesagt. Er ist… t’schuldigung… er war der Sohn vom Chef. In der Firma hatten wir wenig bis gar keinen Kontakt zu ihm. Zu der Zeit, als ich damals in der Firma angefangen habe, war er noch in der Schule. Später hat er ja studiert. Ich meine, sogar in der Schweiz, wo die Elite von morgen ausgebildet wird.“ Er zog bei dem letzten Satz spöttisch die Oberlippe hoch.

„Warum sind Sie nicht mehr für das Unternehmen tätig?“, Sonja ging auf Stefans abfällige Bemerkung nicht ein.

„Betriebsbedingte Kündigung.“ Zynismus gemischt mit tiefer Kränkung drang durch die beiden Worte. „Letztes Jahr Ende Januar. Angeblich wegen Sparmaßnahmen. Ich war nicht der einzige, das können Sie mir glauben. In dieser Zeit haben am Monatsende immer alle gezittert, wen es wohl als nächstes treffen könnte. Ich hätte niemals gedacht, dass die Wahl auf mich fällt. Schließlich war ich schon seit zehn Jahren dort angestellt und habe einen guten Job gemacht… dachte ich zumindest.“

„Ziemlich langer Zeitraum“, stellte Arthur fest. „Da haben Sie hoffentlich eine gute Abfindung bekommen?“

„Ein Anwalt konnte zum Glück eine entsprechende Summe für mich rausschlagen. Ich hätte auch auf Wiedereinstellung klagen können. Aber wer geht schon als gefeuerter Mitarbeiter wieder zurück an die Front? Die Abfindung war für mich die bessere Wahl. Den Höfers, den tut das nicht weh!“

„Nun, wenn das Unternehmen in den roten Zahlen steckt, kann so eine Abfindung enorme Konsequenzen mit sich ziehen.“

„Dann hätten sie ihrem Sohn nicht im selben Jahr so ein schweineteures Auto zum Geburtstag schenken dürfen! Etwas mehr Bescheidenheit hätte sie glaubwürdiger dastehen lassen.“ Stefan wedelte mit dem Zeigefinger: „Die steckten nicht in den roten Zahlen! Ganz sicher nicht!“

Arthur und Sonja tauschten kurz die Blicke, als Arthur wissen wollte: „Was genau haben Sie in der Firma gemacht?“

„Produktentwicklung.“ Stefan erhob sich aus seinem Sessel. Er hatte Durst und wollte nicht unhöflich sein. „Kann ich Ihnen etwas anbieten? Einen Kaffee oder ein Glas Wasser?“

Die beiden Kommissare verneinten, ließen Stefan aber eine kurze Pause, damit er sich ein Glas Wasser besorgen konnte.

„Ich habe eng mit dem Produktmanager zusammengearbeitet.“ Er kam kurz darauf aus der Küche zurück und setzte sich wieder in seinen Sessel. „In der technischen Musterentwicklung. Stoffbezüge für Sofa, Sessel und Armlehnen. Alles, was irgendwie bezogen wird, muss natürlich auch bemaßt werden. Der Verbrauch des Oberstoffes mussten haargenau auf die Befüllung der Polster abgestimmt werden. Dazu müssen unter anderem Schnittlagenbilder erstellt werden, um den korrekten Stoffverbrauch kalkulieren zu können.“

„Verstehe.“ Arthur verstand zwar überwiegend Bahnhof, aber dass Stefan Fischer im kreativen Bereich tätig war, schloss er nicht bloß aus dessen modernen Kleidungsstil. Sonja zog die Augenbrauen hoch, so als würde sie gerne mehr über den Beruf erfahren. Eine Ausbildung bei der Firma Höfer wäre sicherlich nicht der schlechteste Einstieg ins Berufsleben für ihre beiden Töchter. Doch die besuchten gerade mal die Grundschule und interessierten sich für Pferde und für Schwimmengehen mit Papa. Außerdem schien es in diesem Unternehmen nicht annähernd so harmonisch zuzugehen, wie nach außen hin immer dargestellt wurde. Gute PR-Arbeit der Mitarbeiter.

„Und aus welchem Grund wurden ausgerechnet Sie entlassen?“, fragte Sonja. „Sie waren doch schon so lange dort.“

„Ich war das, was man den sozialen Ausfall nennt.“ Stefan setzte zum Trinken an und stellte das Glas wieder ab, so als hätte er es sich anders überlegt.

„Sie meinen: Nicht verheiratet, keine Kinder, ungebunden“, schlussfolgerte Sonja.

„Bingo!“ Stefan gab mit Zeigefinger und Daumen einen imaginären Luftschuss ab. „Mein Teamleiter hat sicher nachgeholfen. Er konnte mich eh nicht ausstehen.“

„Wieso nicht?“, hakte Arthur nach.

„Wir haben uns von Anfang an nicht verstanden. Er hat vor ein paar Jahren ebenfalls als Produktentwickler angefangen, wurde aber schon kurz darauf zum Produktmanager befördert. Das ist zwei Jahre her, und da war er gerade mal dreißig Jahre alt.“

„Haben Sie ein Problem mit einem jüngeren Vorgesetzten?“

„Pfff, mit dem hatte ich ein Problem, ja! Das hat aber nichts mit seinem Alter zu tun. Kompetenz ist eigentlich keine Frage des Alters. Aber der…“ Stefan rollte genervt mit den Augen. „Absoluter Vollpfosten, wenn Sie mich fragen.“

„Wer hat ihn befördert?“

„Der Chef.“

„Herr Höfer? Der Vater von dem Opfer?“

„Genau der.“

„Warum hat er nicht Sie befördert?“

„Hm“, Stefan fiel keine plausible Antwort dazu ein. Er strich sich wieder über seinen Kinnbart und erwiderte: „Ehrlich gesagt stand es für mich nie zur Debatte, in so eine Position zu wechseln. Ich war lange Assistent, verstehen Sie? Ich bin gar nicht gefragt worden.“ Er pustete sich eine Haarsträhne aus der Stirn.

„Sie meinen, Herr Höfer hat Sie gar nicht in Betracht gezogen.“

„So wird es gewesen sein. Aber das war für mich kein Problem. Ich war zufrieden mit meinem Job. So viel Verantwortung wie der Kollege, das wollte ich gar nicht. Außerdem steht seine Position auf wackligen Beinen.“ Ein leichter Hauch Schadenfreude schwang in seiner Stimme mit, was Arthur und Sonja aufhorchen ließ.

„Wie genau meinen Sie das?“, fragten beide gleichzeitig.

„Sobald der junge Höfer ins Unternehmen einsteigt, soll meiner Ex-Abteilung eine Mitarbeiterin aus der Geschäftsführung als Alphatier vor die Nase gesetzt werden, heißt es. Eine ehemalige Vertriebsleiterin. Keine Ahnung, was ausgerechnet die im technischen Bereich zu suchen hat. Sie hat den Höfer gut im Griff, das ist ihr Vorteil. Außerdem zieht sich die Firma geraden einen Ex-Azubi heran, der nach seinem Studium mit einem Haufen neuer Ideen den jetzigen Produktmanager vom Thron stoßen soll!“ Stolz darauf, derartige Informationen an die Ermittler weiterzugeben, schraubte Stefan sich in seiner sitzenden Haltung ein paar Zentimeter weiter nach oben, aber Arthur verpasste ihm sogleich einen Dämpfer: