Nur Gras ist auch keine Lösung - Timo Franz - E-Book

Nur Gras ist auch keine Lösung E-Book

Timo Franz

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Beschreibung

Das Semester ist zu Ende, die letzten Prüfungen vor dem Sommer bestanden und Daniel spring mit seinen Freunden ins Chaosmobil und geht auf Tour. Die Reise ist genau so spontan wie der Rest des Lebens, Pläne sind für später und die Welt ist gut zu ihnen. Die zukünftige Elite Deutschlands stolpert amüsiert und verkatert durch den Urlaub. Bis schließlich im beschaulichen Ostfriesland der zwielichte Mathis mit einem Abenteuer winkt, dass die fünf Freunde nicht ablehnen können. Zwischen Wattwürmern und Schnaps, zwischen Strandhafer und Marihuana wird die Gruppe brutal von der Wirklichkeit eingeholt wird. Die freundlich–ferne Welt ist auf Kollisionskurs mit den Leben der Studenten gegangen und scheint auf Ausgleich bedacht. Zufall, Schicksal oder falsche Entscheidungen? Die Einschläge kommen näher und reißen tiefe, unheilbare Wunden in die kleine Gruppe,

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Seitenzahl: 267

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Ähnliche


Timo Franz

Nur Gras ist auch keine Lösung

© 2019 Timo Franz

Titelbild: Oscar Keys über www.unsplash.com

Inhalt

Auf dem Weg ins Paradies

Ausländer unter sich

Style over substance

Jetzt geht es los

So viel Leben?

Einer von den Guten

Eine großartige Geschichte

Des Wahnsinns fette Beute

Nur Gras ist auch keine Lösung

Auf dem Weg ins Paradies

„Warum zur Hölle muss das so früh losgehen? Es sind Ferien, Herr Gott noch mal“, brummte Markus zum hundertsten Mal. Er lehnte mit dem Kopf an der Scheibe, sein Gesicht verbarg sich hinter strähnigen Haaren. Markus gehörte zu den Leuten, die den Tod von Kurt Cobain nie wirklich verkraftet und das Ende des Grunch nie akzeptiert hatten. Auch im Jahr drei nach Kurts Freitod blieb er seinen ausgebeulten Jeans, seinem karierten Flanell-Hemd und den langen zerzausten Haaren treu.

Ich saß mit Mia auf der Rückbank, während Bianca den Bus an seine Grenzen trieb. Der schwarze Ford flog über die Autobahn. Es machte Spaß, diesen Bus zu fahren, im Gegensatz zu alten Bullis. Zu schwach auf der Brust. Zuverlässig. Aber langweilig. Für Hippies und Spießer.

Unser Transit hatte Charakter. Das hieß auch, dass er manchmal unentschuldigt den Dienst verweigerte, in den monatelangen Urlaub ging oder sich laut über Misshandlungen und ungenügende Pflege beschwerte. Aber wir konnten das meistens klären. Wir waren alte Freunde, da war man nachsichtig, auch wenn einer mal ein bisschen schrullig war.

„Schlaf weiter.“„Das heißt vorlesungsfreie Zeit. Das ist kein Urlaub.“

„Ja, bei dir vielleicht nicht.“„Muss denn hier noch irgendwer was für die Uni machen, in dieser vorlesungsfreien Zeit?“„Auf keinen Fall.“„Nein. Nur arbeiten, wenn wir zurück sind.“„Wann sind wir in Holland?“, fragte Mia.„Nicht mehr lange“, antwortete Bianca. „Ziemlich viel Aufwand für den kurzen Abstecher, oder?“, fragte Mia.„Jede Stunde wird es wert sein. Ihr werdet mir dankbar sein“, sagte ich.„… Auffüllen der Vorräte …“, murmelte Markus.

„Und dann an die Nordsee zu den Vögeln?“

„Was vögeln?“

„Nein, was für Vögel heißt das …“

„Macht beides Sinn für mich“, flüsterte Mia, während sie meine Hand nahm. Ich schaute ihr in die blitzenden braunen Augen. Mir wurde heiß. Vielleicht hätten wir doch zwei Zelte mitnehmen sollen.

„Was?“, rief Bianca und grinste in den Rückspiegel. „Kann ich bei irgendwas mitmachen?“

„Wie war das mit deiner letzten Klausur?“, wechselte Mia genauso grinsend das Thema.

Es riss uns plötzlich nach vorne, Bianca bremste hart und Markus wurde unvorbereitet aus Morpheus Armen gerissen. Stau.

„Scheiße! Was soll das denn!“, kommentierte er den rüden Weckruf.

„Na ja, das ging ja auch zu glatt. Irgendwo muss es sich ja stauen.“

Wir hörten die schrillen Sirenen von Krankenwagen und Polizei, als wir uns im Schneckentempo dem Geschehen näherten. Blaulichter blitzten. Auf der Gegenspur hatte es einen schweren Unfall gegeben. Der Verkehr kam dort gänzlich zum Erliegen.

„Oh Mann!“, hörte ich Mia flüstern.

Ein alter Golf war einem blauen Opel in die Seite gefahren und hatte ihn quer über die Fahrbahn geschossen. Da hatte jemand wohl die Kontrolle über seinen Wagen verloren. Das allein war aber nicht das Erschreckende an der Sache. Ein Tanklaster war in die beiden quer stehenden Wagen gerast und hatte sie zu einem blau-roten Blechknäuel zusammengewickelt. Helfer bemühten sich, den Blechknoten mit schwerem Gerät aufzuschneiden. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass in dem eingekeilten Golf – oder was von ihm noch übrig war – irgendjemand am Leben sein konnte. Durch die Windschutzscheibe des Opels zogen Feuerwehrleute bereits einen blutüberströmten Körper.

Gleichzeitig zog ein Helfer den zerschmetterten Körper eines Jungen oder Mädchens aus einer der hinteren Türen. Entstellt. Blutüberströmt. Genaues war nicht zu erkennen, hier hatte der Tod sein Handwerk mit Wut im Bauch verrichtet.

Die anderen schauten weg. Mein Blick hing an der Szenerie. Ich wollte dem Geschehen noch hinterhersehen, während wir langsam daran vorbeituckerten. Ich tat es nicht. Die anderen hätten das nicht verstanden. Sie sprachen bereits darüber, hüllten es in Floskeln, fluchten über Gaffer, redeten sich den Horror von der Seele. Ich beteiligte mich nicht.

Mein Seelenmüll gehörte mir, schließlich hat jeder genug zu tragen. Außerdem fand ich den Anblick des toten Jungen nicht grauenvoll. Traurig, ja. Na klar, normal. Aber abstoßend? Eher faszinierend. Der Junge hatte sicher nicht im Traum daran gedacht, dass sein Leben heute enden würde. Ich war mir ganz sicher, dass es ein Junge war. Komisch, wie man manchmal etwas zu wissen glaubte. Und dann? Irgendein dämlicher Trottel schläft hinter dem Steuer ein, verliert die Kontrolle, schießt dir in die Seite und schickt deine Karre auf eine Achterbahnfahrt.

War er da schon tot? Dann raste ein 40 Tonnen schwerer Lkw mit Tausenden Litern Benzin hinein und lischt den letzten Funken Hoffnung. Alles vorbei. Dabei ist nicht einmal etwas in Flammen ausgebrochen.

Ich zündete mir eine Zigarette an, obwohl wir eigentlich das Rauchen im Bus vermieden. Es beschwerte sich niemand. Vielleicht hat der Junge das Unglück sogar kommen sehen? Wollte er seine Mutter warnen? Wollte er vielleicht gar nicht mitfahren? Hätte er lieber zu Hause gespielt?

Spielte jetzt keine Rolle mehr. So kann es gehen.

„Daniel? Alles in Ordnung?“, fragte Mia.

Die anderen sahen mich ein wenig besorgt an.

Ich hatte wohl zu lange geschwiegen.

„Was? Ja. Alles klar“, stotterte ich, leicht genervt von der überflüssigen Sorge und den dazugehörigen Konventionen. Das war jetzt die Einladung, mich am gemeinsamen Aufarbeiten des Unfalls doch noch zu beteiligen. Ich seufzte.

Mias berühmte Sorgenfalte war auf der Stirn erschienen.

„Wirklich. Ich habe nur über den Unfall nachgedacht. Und wie kurz das Leben ist. Alles in Ordnung. War bloß ein irrer Anblick.“

Ich zog tief an der Zigarette und lächelte gequält.

Mia lächelte zurück. Wohl den richtigen Ton getroffen.

„Mach die Musik lauter“, rief ich mit künstlicher Fröhlichkeit.

Ich war der Meinung, künstliche Fröhlichkeit wäre angebracht. Die anderen stimmten ein. Fröhlich war ich nicht. Aber auf bizarre Art ruhig. Geerdet. Markus drehte die Musik lauter und übertönte mit ,Reckless Life‘ die immer noch hörbaren Sirenen.

Der Stau löste sich wenig später auf und der Verkehr lief ungerührt von menschlichen Dramen weiter. In der Nähe von Gronau verließen wir die Autobahn und hielten an einer Tankstelle. Wir konsultierten die Karte und suchten einen Zeltplatz auf der holländischen Seite heraus.

„Also fahren wir wirklich nicht nach Amsterdam?“, fragte Bianca. Sie hatte den Versuch schon mehrfach unternommen, konnte aber keine Verbündeten finden.

„Zu teuer. Lassen wir lieber“, kam von Markus. Das Pärchen Grunge Markus und Gothic Bianca sahen nicht nur wie Feuer und Wasser aus, sondern hatten auch völlig unterschiedliche Interessen. Und Museen gehörten so gar nicht zu den seinen.

Ich stimmte zu: „Ich halte es für unnötig. Wenn wir ehrlich sind, wollen wir doch nur Gras kaufen, uns eine Nacht die Glocke zudröhnen und dann weiter, oder?“

„Banausen“, grinste Bianca, die sich für Kunst interessierte und gerne ein oder zwei der Amsterdamer Museen besucht hätte. Aber da war sie hier auf verlorenem Posten. Das konnte für sie auch keine Überraschung sein. Mia mischte sich gar nicht ein. Sie hatte wohl den Eindruck, nicht mitreden zu dürfen, weil sie schon die Vogelschutzgebiete an der Nordsee als Ziel zu verantworten hatte.

„Und stolz darauf.“

Wir stiegen wieder ein. Ich setzte mich hinters Steuer. Bianca machte es sich mit der Straßenkarte auf dem Beifahrersitz bequem. Das mit den Kunstbanausen stimmte nur bedingt. Es gab durchaus Kunst, die mich interessierte, aber dieser Trip sollte nicht zu seriös anfangen. Das war schlecht für die Moral der Truppe.

Als ich auf dem Fahrersitz saß, setzte ich meine blau getönte Sonnenbrille auf und wurde zum Piloten. In diesem Bus war leider zu wenig Elektronik. Zu einer guten Kulisse gehörten blinkende Lichter, heulende Sirenen und nutzlose Schalter. Die müssten nichts weiter tun, als zu blinken und klack zu machen. Aber irgendwie war ich nie dazu gekommen, so etwas einzubauen. Ein perfekter Vorsatz für das nächste Jahr.

Eine Stunde später erreichten wir Gronau. Pünktlich bei unserer Einfahrt in den Grenzort legte ich eine neue Kassette ein und es dröhnte „Take me down to the paradise city, where the grass is green and the girls are pretty …“ aus den Lautsprechern. Das hatte Tradition.

Gronau ist eine lustige Stadt. Sie liegt genau an der deutsch-niederländischen Grenze, auf der niederländischen Seite liegt angrenzend Enschede. In Enschede war Kiffen legal, in Gronau wurde man zum Kriminellen. Es gab hier zwar keine Grenzposten, aber auf der deutschen Seite war dennoch eine Station von Zollbullen, die in Zivil auf Streife gingen. Besonderes Augenmerk schenkten die tapferen deutschen Grenzpolizisten einem bestimmten Gebäude auf niederländischem Boden. Nur 50 Meter von der Grenze entfernt stellte dieses unscheinbare Haus den Gegenpart zur deutschen Zollstation dar: ein Coffeeshop. Direkt in Sichtweite der deutschen Staatsmacht konnten Deutsche Gras und Haschisch in feinster Qualität erwerben. Nur mit nach Deutschland bringen, das durfte man nicht. Markus und ich hatten das experimentell erfahren.

„Weißt du noch, Markus? Damals …“

„Sicher. Müssen wir darüber schon wieder reden …“, fragte er.

Mia fragte, worum es ging. Bianca kannte die Geschichte schon.„Die waren so blöd, sich mit Gras erwischen zu lassen. Hinter der deutschen Grenze.“

„Erzähl“, Mia war begeistert. Das Fehlschlagen illegaler Aktivitäten war anscheinend doch interessant.

„Nun“, fing Markus gequält an.

„Pass auf. Die Geschichte ist ganz einfach. Eines wunderbaren Abends vor einigen Jahren hatten wir gerade Drogenflaute. Kein Schiff fuhr mehr, kein Flugzeug segelte mehr, kein Mensch hatte Flügel. Mein kluger Partner und ich sind kurz entschlossen ins Auto gestiegen und haben die paar Stunden Fahrt auf uns genommen, um einige Gramm zu besorgen.“

Ich fuhr fort: „Das lief auch wunderbar. Die Sonne schien, eine leichte Brise wehte durch das Haar, keine Staus, keine Probleme. Wir kamen hier in Gronau an, kauften hier“, wir bogen gerade auf den Parkplatz des Coffeeshops ein, „zehn oder fünfzehn Gramm Gras und Hasch, sprangen ins Auto und fuhren wieder zurück.“

Markus erzählte: „Wir hatten uns auf der Fahrt genau ausgemalt, wie wir das Zeug am besten verstecken würden. Aber als wir das Dope hatten, haben wir uns gedacht: Hier ist nirgendwo Polizei zu sehn. Wird schon nix passieren. Alles zu viel Umstand.“

„Wir steckten das Gras nur in den Hohlraum unter dem Schaltknüppel.“

„Leider stand dort drüben“, Markus zeigte auf einen Parkplatz auf der anderen Straßenseite, „dort, wo jetzt der blaue BMW mit deutschem Kennzeichen und den zwei Typen …“

„Zehn zu eins, dass das Bullen sind“, unterbrach ich ihn.

„Genau. Jedenfalls hatten uns die Bullen wohl von da beobachtet. Ein altes deutsches Auto mit zwei jungen Leuten, die in den Coffeeshop reinlaufen und dann wieder ins Auto springen und zurückfahren. Das ist schon nicht mehr verdächtig, das ist kristallklar.“

„Und dann?“

„Na ja. Die fuhren hinter uns her und direkt hinter der Grenze winkten sie uns raus. Sie fragten nach Drogen. Wir leugneten. Sie durchsuchten das Auto und sie brauchten höchstens eine Minute, um unser Zeug zu finden.“

„Und?“

„Sie haben es beschlagnahmt.“

„Und weißt du, was am ätzendsten war?“

„Sie waren enttäuscht, dass es nur so wenig war. Das lohnt den Papierkram nicht, meinten sie.“

„Sie haben es trotzdem behalten?“

„Na klar. Und jeder von uns hat noch 500 Mark Strafe zahlen müssen.“

„Mit Benzin und den Drogen hat der Trip locker 1.500 DM gekostet. Super Sache.“

Markus und ich hatten keinen Grund, auf diese Episode stolz zu sein, aber irgendwie waren wir es doch. Ich meine, wie viele Leute kannte man schon, die beim Schmuggeln von Drogen erwischt wurden? Die Aktion war dämlich. Man hätte alles Mögliche klüger machen können. Es gibt tausend Methoden, wie man eine so kleine Menge Dope verstecken oder transportieren kann, ohne dass man erwischt wird. C’est la vie.

Wir haben nie darüber gesprochen, aber als uns die Grenzer damals angehalten hatten, hatte ich einen Adrenalinkick, der mit nichts vergleichbar war, was ich bis dahin erlebt hatte. Illegalität war durch nichts zu schlagen. Ich fand, es hatte was, wenn man als Verbrecher galt.

Wir sprangen aus dem Wagen und streckten die Beine aus. Markus winkte den Leuten in dem BMW auf der anderen Straßenseite zu. Die zwei Herren winkten nicht zurück. Sie lächelten nicht einmal.

Wir gingen die kleine, morsche Treppe hinauf zu der unscheinbaren Tür, an der nur ein kleines Schild mit der Aufschrift ,Jans Coffeeshop’ stand. Keine Leuchtreklame, keine richtigen Schilder, Werbung wohl nicht nötig. Drinnen schlug uns der süßliche Duft von Rauchwerk entgegen. Eine dreistufige Treppe führte noch ein Stück höher in einen Raum, in dem zwei Tische mit Stühlen und eine Sofaecke standen. Der Raum wurde durch zwei kleine Fenster ein wenig erhellt. Am Ende befand sich eine Theke vor Regalen. Eine große Kerze in Form eines riesigen Joints kokelte vor sich hin. Eine handgeschriebene Preisliste auf einem Pappschild gab Auskunft über das Sortiment an Marihuana und Haschisch. Man las dort ,Orange Bud’, ,Schwarzer Afghane’, ,SuperSkunk’ und anderes. Inklusive deutscher Übersetzung. An der Theke saß ein junges Paar, das sich einen Joint teilte. Der Mann hinter der Theke war mittleren Alters und schlicht mit blauer Jeans und schwarzem T-Shirt bekleidet. Er lächelte uns an und fragte in perfektem Deutsch: „Was kann ich für euch tun?“

Markus kaufte ,Schwarzen Afghanen’ und ,Orange Bud’. Wenn ich die Wahl hatte, kaufte ich nur Gras. ,Orange Bud’ kannte ich gut und blieb dabei. Bianca kaufte etwas weniger, während Mia sich enthielt. Sie rauchte nur selten. Insgesamt wechselten mehrere Hunderter den Besitzer. Das ist der Haken an den Coffeeshops. Sie sind teuer. Wenn man zu Hause einen guten Dealer hätte, wäre der Preis bei der Menge deutlich geringer ausgefallen. Qualität, Sicherheit und Legalität hatten eben einen Preis.

Großartig war, dass man hier im Grenzgebiet immer mit D-Mark zahlen konnte. Das ersparte das lästige Wechseln. Aber wenn erst der Euro käme, dann wäre das sowieso kein Problem mehr.

Wir ließen uns in die Sofaecke fallen und begannen mit dem Drehen von Tüten. Das Sofa war alt und von undefinierbarer Farbe, irgendwie grünlich-bläulich-gräulich. Aber es war bequem. Gut zum Durchhängen, schlecht für Leute mit Rückenbeschwerden.

Markus baute mit dem ,Schwarzen Afghanen’, einem schwarzen, harzigen Zeug, das so klebrig war, dass man es kaum verarbeiten konnte.

„Man, seht euch diesen Stoff an. Du brauchst hier nicht mal ein Feuerzeug zum Bröseln“, freute er sich.

Ich verarbeitete mein Gras. Die anderen unterhielten sich leise. Irgendwie hatte diese schäbige Bude etwas Sakrales. Auch wenn kaum jemand hier war, wollte man die entspannte Atmosphäre nicht stören. Mir war das recht. Die Musik aus der kleinen Stereoanlage unter dem Tresen war leise und ließ unaufdringliche Rock- und Popsongs in den Raum plätschern. Jan saß entspannt hinter der Theke, wiegte sich im Takt der Musik und blätterte in irgendeinem Magazin herum.

Ich hielt Kiffen immer für viel weniger gefährlich als Alkohol. Das Problem lag wohl eher in der fortschreitenden Nikotinabhängigkeit. Man könnte das Gras ja auch US-Style pur rauchen, aber dann gingen die Dinger immerzu aus.

„Das ist echte Handarbeit“, flüsterte ich zufrieden.

„Na denn, gib Stoff“, forderte Bianca.

Ich zündete das vergängliche Werk an. Markus tat es mir gleich: die verschiedenen Stoffe im direkten Vergleich.

Ich nahm einen tiefen Zug. Sofort spürte ich, wie mein Hirn zu reagieren begann. Ich liebte diesen Moment. Ich schloss die Augen und lehnte mich zurück. Dann nahm ich einen zweiten Zug. Ich behielt den Rauch in der Lunge. Ich öffnete die Augen und gab den Joint an Mia weiter. Ich schloss die Augen wieder und genoss die Entspannung. Keiner sagte etwas. Mir gefiel das. Es gibt Momente, in denen man einen Joint genießen muss. Ich hörte nur die leise Musik und mein Gehirn wurde zu einer weichen, formbaren Masse. Absolute Freiheit.

Als ich die Augen öffnete und mein Blick ziellos durch den vernebelten Raum wanderte, musste ich mich abrupt aufsetzen. Im Regal, hinter der Theke! Eine Schildkröte. Sie war eben noch nicht da gewesen. Jetzt sah ich sie klar und deutlich. Sie bewegte sich. Ich kniff die Augen zusammen. Sie war immer noch da. Jetzt lächelte sie. Ja, genau. Sie lächelte. Ich meine, dass man im Rausch weiße Elefanten sieht, das habe ich schon gehört. Obwohl ich das Vergnügen noch nicht hatte. Aber Geister-Schildkröten?

Die anderen schienen das Tier nicht wahrzunehmen. Ich wollte es ihnen zeigen, brachte aber keinen Ton heraus. Ich konnte den Blick nicht von ihr wenden. Irgendwie kam sie mir bekannt vor. Da war mal was gewesen. Vor langer Zeit. Erinnere dich. Das war wichtig. Ich fing an zu schwitzen. Die Schildkröte drehte sich von mir weg. Und ging durch die Wand. Sie verschwand wie ein Geist. In der Wand. Ich schüttelte den Kopf.

„Habt ihr das gesehen?“

„Was gesehen?“

Ich schüttelte den Kopf und kniff die Augen zu.

„Was denn? Alles klar?“

Ich traute mich nicht, etwas zu sagen. Geistige Gesundheit. Drogen. Schildkröten. Geister. Kindheitserinnerungen. Irgendetwas daran machte mir Sorgen.

Markus brach in lautes Gelächter aus. Irgendwer hatte was Witziges gesagt. Vielleicht hatte ich doch was von Schildkröten laut ausgesprochen?

Keine Ahnung. Ich setzte mich auf. Inzwischen war der zweite Joint bei mir angekommen und ich rauchte weiter. Merkwürdig.

Aber wieder vorbei.

Wieder gut?

Keine Ahnung.

Nach den Joints waren wir angemessen benebelt. Der Stoff war erstklassig und keiner von uns wollte sich hinters Steuer setzen. Wir gingen auf den Parkplatz, um frische Luft zu schnappen und spazieren zu gehen. Der blaue BMW stand noch da. Die zwei Männer saßen immer noch drin und warteten immer noch auf irgendwas.

„Hey Leute. Die Bullen warten noch.“

„Wollen wir ihnen nicht sagen, dass wir nicht wieder zurückfahren?“

„Ach komm, lass die doch in Ruhe.“

„Kommt jemand mit?“

Das war Markus. Er überquerte schwungvollen Schrittes die Straße und ging auf den BMW zu. Wir blieben zurück und beobachteten, was passieren würde.

„Hoffentlich gibt das keinen Ärger“, sagte Bianca mit zusammengekniffenen Augen.

Wir sahen, wie er zu den Polizisten wankte. Er sah sich noch einmal um und winkte uns zu. Wir winkten zurück. Bianca schüttelte langsam den Kopf. Ob sie damit versuchte, Markus von seinem Vorhaben abzuhalten, ob sie sich nur wunderte (sollte sie nicht) oder in einen katatonischen Zustand verfallen war? Blieb unklar.

Markus baute sich neben der Fahrertür auf, beugte sich zum Fenster hinunter und klopfte an die Scheibe. Die Scheibe ging herunter und Markus sprach mit den Insassen. Das Fenster ging zu und Markus kam zurück. Respekt. Damit war die Sache jetzt schon weit besser ausgegangen, als ich gedacht hatte. Er sah enttäuscht aus. Aber seine Augen funkelten schelmisch.

„Also, das sind deutsche Polizisten. Sie meinten, wir sollten uns benehmen und keinen Mist bauen.“

„Und nach Hause fahren wollten sie nicht?“

„Nö. Die meinten, sie würden da ganz gut stehen.“

Er schwieg kurz. Dann fügte er hinzu:

„Ach so. Sie sagten, sie werden ein Auge auf mich haben.“

Pause.

„Oh, wie furchtbar.“

Er lachte und machte keinen geläuterten Eindruck. Wir hätten hier durchaus dankbar sein sollen, dass das nicht eskaliert war. Aber ehrlich gesagt, waren wir enttäuscht.

Nach dieser Episode spazierten wir durch Enschede und wurden langsam klarer im Kopf. Enschede. Gronau. Spießige Orte. Es gab ein paar alte Wohnhäuser und eine alte Kirche. Dazu ein paar Supermärkte und zwei Coffeeshops. Ein Neubaugebiet mit Gartenzäunen, Plastikrutschen und Sandkisten mit heulenden Kindern. Ohne die Grenze und das Gras wäre ich nie darauf gekommen, hierherzufahren. Entsprechend ereignislos war unser Spaziergang. Aber er erfüllte seinen Zweck und räumte unsere Köpfe auf. Gras wucherte manchmal im Schädel. Mit guten Ideen, mit schlechten Ideen und vor allem mit jeder Menge Leere.

Der BMW auf dem Parkplatz war verschwunden. Wir stiegen in den Bus und verließen den Ort. Bianca saß am Steuer. Fahren unter Drogeneinfluss? Keine gute Idee. Erkenntnis in Taten umsetzen? Nicht auf diesem Trip. Diese Sorte Weisheit war zu viel verlangt. Wir kamen trotzdem an dem zwischen Feldern und Wäldern gelegenen Campingplatz auf holländischer Seite an. Wie war das noch mit den Schutzengeln für Kinder und Betrunkene?

Na also. Geht doch.

Der Campingplatz war eine große Wiese am Waldrand. An der Einfahrt stand ein kleines Häuschen mit Waschräumen, Toiletten und einem kleinen Laden.

Markus und Bianca blieben im Wagen, während Mia und ich in den Laden gingen. Es gab dort alles, was der Camper zum Leben brauchte. Die Regale gingen bis zur Decke und ächzten unter der offensichtlichen Überlast. Hinter der Theke stand eine lächelnde junge Frau. Nicht zu freundlich, damit sie nicht von jedem betrunkenen Camper angebaggert wurde, aber doch so freundlich, dass man sich willkommen fühlte. Schwierige Gratwanderung.

„Guten Tag“, begrüßte ich sie auf Deutsch.

„Guten Tag. Was kann ich für Sie tun?“, antwortete sie akzentfrei. Sie erledigt die Anmeldung höchst effizient.

„Ihr sucht euch selbst einen Platz? Es ist noch genügend Auswahl vorhanden.“

Wir trugen uns in das Register ein und bezahlten für die Nacht. Schließlich mussten wir versichern, nicht zu viel Lärm zu machen.

„Hier sind schon einige Leute, die ein bisschen viel feiern. Die musste ich schon verwarnen.“

Sie schaute uns bedeutungsvoll an. Offenbar eine strenge Maßnahme. Ich meine, vielleicht konnte sie gar nicht so gut Deutsch wie wir dachten. Vielleicht wollte sie nicht „verwarnen“ sagen, sondern „erschießen“. Aber sei es drum, auch mit Calamity Jane würden wir ein Arrangement finden.

„Oh, wir sind friedlich“, versicherte ich ihr.

Fröhlich grinsend gingen wir zum Wagen. Die Schatten wurden länger und die Sonne beendete ihre Schicht, klatschte ab und überließ Mond und Sternen die Nacht.

Bianca und Markus betrachteten eine Schautafel, die einen Überblick über den Platz und die Umgebung gab. Bei einem Teil der Plätze gab es Strom- und Wasseranschlüsse. Um den einzelnen Besuchern ein wenig Privatsphäre zu ermöglichen, wurde das Gelände von Hecken durchzogen. Zusätzlich verliehen Bäume und Sträucher dem Platz eine Note von Natur. Das Areal grenzte an ein Wäldchen mit einem kleinen See. Wir studierten die Karte und entschlossen uns, einen Platz in der Nähe des Waldes zu suchen. Wir fuhren auf dem Kiesweg langsam auf das Gelände des Zeltplatzes.

Etwa die Hälfte des Platzes war belegt. Ein paar Wohnwagen und Wohnmobile standen auf den De-luxe-Plätzen und man sah vorwiegend ältere Menschen vor ihren Unterkünften essen. Ein paar junge Familien und Paare waren auch zu sehen. Die meisten zogen es vor, in der Nähe der Nasszelle am Eingang des Platzes zu bleiben. Wir fuhren weiter zum Waldrand und fanden dort Platz. Ganz in der Nähe erkannten wir die Quelle des Lärms, den man uns beim Einchecken beschrieben hatte. Vier Autos, vier Iglus und ein großes Zelt dienten hier einer größeren Gruppe junger Männer als Partyplatz. Die Zelte waren zu einer kreisförmigen Burg aufgebaut. Ein qualmender Grill, alte Klappstühle und diverse Luftmatratzen lagen mit Bergen an leeren Flaschen und Bierkästen im Inneren der Burg. Rockmusik war aus einem der Autos zu hören.

„Na, die sehen doch ganz lustig aus“, freute sich Markus über die Gesellschaft, während Mia die Skepsis ins Gesicht geschrieben stand. Einige der Gestalten schwankten wie Bäume im Sturm, andere sahen so aus, als würden sie länger gar nicht mehr aufstehen.

„Kommt, es wird bald dunkel“, versuchte ich zum Zeltaufbau zu motivieren. Auch wenn wir dieses Zelt schon auf etlichen Ausflügen dabeigehabt hatten, war es immer eine Herausforderung, die Rohre, Stangen und Seile auseinanderzufrickeln und so zusammenzubauen, dass am Ende ein Zelt entstand. Wir ignorierten vorerst unsere Nachbarschaft und machten uns unter den neugierigen Blicken der anderen Camper daran, unser Zelt aufzubauen. Irgendwie wird man als Neuankömmling auf einem Campingplatz gemustert, als ob man als Fremder in ein Kuhkaff ziehen würde. Ob man will oder nicht, man erweckt Aufmerksamkeit und die Nachbarn versuchen, einen richtig einzuschätzen. Im Grunde ist Campen etwas für Spießer. Und für Leute, denen das egal ist.

Ich konnte mir die Gedanken der Nachbarn vorstellen:

Die Dauercamper, die sich sowieso für die Besitzer des Platzes hielten, würden uns nicht mögen. Wir waren zu jung. Jung bedeutete Lärm. War ja nicht falsch. Aus demselben Grund würden die meisten Familien davon Abstand nehmen, uns ihre Sprösslinge anzuvertrauen. Junge Paare oder kleine Gruppen würden uns nach einiger Zeit Vertrauen entgegenbringen, je nachdem, wie wir uns verhalten würden. Und wir waren ja durchaus nette Menschen.

Größere Gruppen von jungen Leuten – wie unsere jetzigen Nachbarn – würden uns entweder prinzipiell ablehnen, da wir zu viele waren, um uns einschüchtern zu lassen und ihnen den Rang als die Partykönige abnehmen könnten. Oder sie würden mit uns feiern. Das klang im ersten Moment positiv, konnte aber anstrengend werden.

Man könnte so was vermeiden, indem man sich nicht in die Nähe der anderen Gruppe begibt. Revierverhalten würde dafür sorgen, dass sie uns in Ruhe ließen. Letztere Möglichkeit verspielten wir gerade. Ehrlich gesagt, fand ich die das auch inakzeptabel. Sich vorausschauend zurückziehen war mir zu viel Unterwerfung. Ich war nicht gerne der Unterlegene. Schon gar nicht, wenn der Kampf noch gar nicht stattgefunden hatte.

Wir waren verblüfft, wie gut der Zeltaufbau klappte. Es sah tatsächlich sicher, wind- und wetterfest aus. Riesig, grün und sogar mit Fenster. Es waren keine entscheidend aussehenden Teile übrig geblieben. Vielleicht lag es daran, dass sich alle besonders anstrengten, um sich vor den Augen der Nachbarn nicht zu blamieren. Oder es lag daran, dass Bianca darauf bestand, dass Bier und andere Drogen erst konsumiert werden dürften, wenn das Zelt stehen würde.

Während Markus und ich noch die letzten Heringe in die Erde hämmerten, begannen Bianca und Mia damit, den Grill anzufeuern und das Grillgut aus der kleinen Kühlbox zu holen. Jetzt holte ich ein paar Biere aus dem Wagen, packte Nachschub in die Kühlbox und setzte mich mit Markus in die Schiebetür des Wagens.

„Das ist ein Leben“, seufzte Markus, während wir die untergehende Sonne betrachteten.

„Prost!“

Ich stellte meine Dose ab und kramte mein Rauchzeug hervor.

„Gute Idee“, meinte Bianca. „Ist ja auch schon so lange her.“

Mittlerweile hatten auch die anderen Bierdosen in der Hand. Während ich baute, brutzelte Markus ein paar dicke Stücke toten Tieres. Bianca fing an, den Bus weiter zu entladen.

„Lass mal“, meinte ich zu ihr, während ich die Tüte baute. Sie schaute mich fragend an.

„Ich würde sagen, wir lassen das Zeug im Bus und gehen den Wald erkunden.“

Ich schaute zu unseren stetig betrunkeneren Nachbarn. Sie folgte meinem Blick und überlegte kurz. „Du hast recht, die Sachen müssen hier nicht offen rumliegen.“

Die anderen zuckten mit den Schultern und freuten sich über die Pause. Ich zündete meine Tüte an, rauchte ein paar Züge und gab sie an Markus weiter. Es begann sich wie ein Urlaub anzufühlen. Der Joint machte seine Runde und ich suchte meine Sachen für später zusammen. Ich warf alles auf einen Haufen auf den Fahrersitz und krabbelte nach draußen. Mittlerweile war das Fleisch fertig. Beim Grillen wurde mir bewusst, wie wenig wir auf der Fahrt gegessen hatten. Den anderen musste es ähnlich gehen. Wir stopften uns mit Fleisch, Weißbrot und Bier voll, bis unsere Mägen sich aus Ärger über die Fettbrocken beklagten. Das war Urlaub. Das war richtig so. Manche Körperteile brauchten da nur ein bisschen länger, um das zu kapieren.

Wir lagen mit vollem Wanst, alkoholisiert und bekifft auf unseren Matten. Die Musik und das Gegröle der Nachbarn wurden stetig lauter.

„Wollten wir nicht wirklich zum See gehen?“, fragte Mia.

„Klar, nach dem Essen ist Bewegung gut“, freute sich Bianca.

„Hervorragend. Machen wir!“, schloss ich mich an.

„Mal langsam hier!“, protestierte Markus. „Wir sind hier im Urlaub, da ist Entspannung angesagt.“

„Komm, beweg deinen Arsch. Lange ist es nicht mehr hell“, zog ihm Mia die Matte unter dem Hintern weg.

„Faschisten!“, klagte Markus mit trauriger Miene.

Er wurde ignoriert und nach wenigen Momenten waren wir zum Aufbruch bereit. Eine Expedition ins Dunkel des unbekannten Waldes. Ich baute noch eine Tüte für unterwegs, während Bianca eine Taschenlampe aus dem Wagen kramte und Markus sich noch ein Bier schnappte. Er wurde zunehmend betrunkener und fing schon an zu nölen, dass ich noch zu nüchtern sei. Ich nahm mir auch eine Dose mit, obwohl ich mir, entgegen allen Bekundungen im Vorfeld der Reise, vorgenommen hatte, nicht zu betrunken zu werden. Jedenfalls nicht, solange Mia nüchtern war. Ich wollte mir nicht durch, wie soll ich sagen, möglicherweise inakzeptables Verhalten irgendwas vermasseln. Wie dem auch sei, ich nahm das Bier mit. So ist das halt: Wenn man solche Freunde hat, braucht man keine Feinde mehr.

Wir schlossen den Bus ab und folgten dem Pfad. Laut Karte war der Wald klein, aber dafür schien er umso dichter zu sein. Über unseren Köpfen bildeten die Kronen der Bäume einen rauschenden Baldachin. Vögel zwitscherten, es roch nach Bäumen, nach Erde, nach Gräsern. Keine Ahnung nach was, irgendwie nach Natur. Als wir zwischen die Bäume traten, meinte Bianca: „Hier ist es ja fast wie in der Nacht!“

Es war sehr dunkel unter dem Geäst. Ein wenig Dschungel in der holländischen Tiefebene. Wer hätte das gedacht? Wir folgten dem Weg, wobei Mia gelegentlich bewundernde Äußerungen über die Flora und Fauna machte:

„Shhh!“

Mit vehementen Gesten brachte sie uns dazu, ruhig zu sein und stehen zu bleiben. Man wollte fast salutieren, so scharf kam der Befehl. „Seht! Da! Ein Wachtelkönig. Der ist vom Aussterben bedroht!“

Sie zeigte auf einen unscheinbaren Vogel mit braun-schwarzem Gefieder. Er war nur fünf oder sechs Meter von uns entfernt und saß auf einem niedrigen Ast. Er war ungefähr 20 cm groß. Man konnte ihn gut hören. Er machte ein seltsam schnarrendes Geräusch. Kein lustiges Zwitschern. Eher das Geräusch, das eine Knarre beim Schrauben macht. Mit etwas Fantasie konnte man aber in der Musik seinen lateinischen Namen Crex crex verstehen.

Wenn das sein Sound war, dann würde er damit sicher nicht berühmt werden. Als Musiker hatte er keine Chance gegen das Mainstream-Gezwitscher von Amsel, Drossel, Fink und Star. Mir gefiel es. Und wenn er es bei Trent Razor aufnehmen würde, könnte noch etwas daraus werden. Er schaute plötzlich in unsere Richtung, stieß einen kurzen Pfiff aus und flog los. Mia war noch tagelang begeistert von dieser Entdeckung. Sie beharrte darauf, dass der Wald ein Naturschutzgebiet sein sollte und kein Platz für Camper. Ich verzichtete auf den Kommentar, dass sie ihn ohne Campingplatz nicht zu Gesicht bekommen hätte, sondern gab ihr natürlich recht.

Der Pfad machte eine letzte Biegung und wir stießen auf den See. Man konnte auf einem Steg etwa 50 Meter auf das Wasser hinauslaufen. Es war keine Menschenseele zu sehen. Der Wald war hier so dicht, dass er den See wie ein Wall umschloss. Der Verkehr der Landstraßen drang nur als leises Rauschen bis hierher. All das war ein ziemlicher Kontrast zu dem hektischen Treiben auf der Autobahn und dem Getöse unserer Nachbarn auf dem Campingplatz. Ich konnte mir vorstellen, dass ein fast ausgestorbener alternativer Musiker mit Flügeln sich hier wohlfühlen könnte. Möglicherweise lebte auch Bob Dylan hier irgendwo.

„Na, das nenne ich ein lauschiges Plätzchen“, meinte Bianca zufrieden. Sie und Markus gingen schnurstracks auf den Steg hinaus. Mia und ich folgten ihnen. Einen besonders stabilen Eindruck machte die Holzkonstruktion nicht. Sie war alt und ich erwartete jeden Moment einzubrechen. Aber der knarrende Steg hielt trotz lautstarken Protestes. Wir setzten uns am Ende an den Rand und ließen die Füße baumeln.

„Schönes Fleckchen hier“, meinte Markus.

„Können wir nicht noch ein paar Tage bleiben?“, fragte Mia in die Runde.

„Klar“, antwortete Bianca.

„Warum nicht. Das ist schließlich das Land des Grases“, freute sich Markus und legte sich hin. Liegend riss er seine Bierdose auf.

„Damit haben wir wohl die Mehrheit“, schloss sich Bianca den anderen an. „Oder hast du was dagegen, Daniel?“

Ich hatte nicht.

Dabei riss ich auch mein Bier auf. Wir reichten die Dosen reihum. Mias Toast galt dem Wachtelkönig. Ich weiß nicht, ob es der Gedanke an den seltenen Vogel, die märchenhafte Landschaft, die ermüdende Fahrt oder meine Einbildung war, aber ich hatte den Eindruck, ihre Augen leuchteten, als ob ein Feuer in ihnen brannte. Ich lächelte und reichte ihr die vorgebaute Tüte und das Feuerzeug.

„Auf die Natur“, flüsterte ich leise. Ich war nicht sicher, ob es überhaupt jemand gehört hatte, bis Markus laut rief: „Jawoll! Besonders auf Bier und Gras.“

„Dabei wächst Bier gar nicht an Bäumen“, murmelte Bianca.

Mia startete die Tüte und schloss beim ersten langen Zug die Augen. Sie schien glücklich zu sein. Mir ging es genauso.

Ausländer unter sich

Es wurde rasch dunkel, Mond und Sterne zeigten sich hell leuchtend am Nachthimmel. Dann hörten wir leider eine laute Geräuschkulisse aus Richtung Campingplatz durch den Wald näherkommen.

„Oh nein.“

„Unsere Nachbarn.“

Das Dröhnen von Musik mischte sich mit Gegröle von lauten Stimmen. Bianca und Mia standen auf. Sie sahen sich besorgt an. Schauten sich um.

„Lasst uns gehen. Kommt.“