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Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. »Manchmal denke ich, es wäre besser, man würde keine Zeitung mehr aufschlagen«, sagte Frau Rennert aufseufzend zu Denise von Schoenecker. »Da ist schon wieder so ein gräßlicher Unfall passiert. Eltern, Kinder und Großmutter sind beim Zusammenstoß ihres Wagens mit einem Lastzug ums Leben gekommen. Erschauernd schlug die Heimleiterin die Zeitung zu. »Außer dem Fahrer des Lastwagens ist nur noch der Hund der Familie am Leben geblieben.« Es war noch früh am Morgen. Mit einem freundlichen Nicken dankte Denise dem Hausmädchen Ulla, das eine Tasse Kaffee auf ihren Schreibtisch stellte. Gewöhnlich kam sie erst gegen zehn Uhr in das Kinderheim, doch an diesem Tag sollte noch vor neun Uhr ein kleiner Junge von seinem Vater nach Sophienlust gebracht werden. »Ein PKW-Fahrer«, las Frau Rennert weiter vor. »Er hatte die Vorfahrt nicht beachtet. Trotzdem, der Lastwagenfahrer wird sich wohl sein Leben lang Vorwürfe machen. Auch wenn er nichts dafür kann, hat er das Leben von fünf Menschen auf dem Gewissen.« Denise nickte bekümmert. »Die meisten Menschen kommen wohl niemals über eine solche Sache hinweg. Vielleicht sagte sich der Fahrer, wär ich etwas langsamer gefahren, hätte ich schneller reagiert… Alice Kaiser hat den Tod ihrer Kinder auch noch nicht überwunden. Ich sprach neulich mit Frau Dr. Frey über sie. Obwohl Frau Kaiser nichts für den Unfall, in den sie verwickelt wurde, konnte, fühlte sie sich schuldig.«
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Seitenzahl: 148
Veröffentlichungsjahr: 2020
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»Manchmal denke ich, es wäre besser, man würde keine Zeitung mehr aufschlagen«, sagte Frau Rennert aufseufzend zu Denise von Schoenecker. »Da ist schon wieder so ein gräßlicher Unfall passiert. Eltern, Kinder und Großmutter sind beim Zusammenstoß ihres Wagens mit einem Lastzug ums Leben gekommen. Erschauernd schlug die Heimleiterin die Zeitung zu. »Außer dem Fahrer des Lastwagens ist nur noch der Hund der Familie am Leben geblieben.«
Es war noch früh am Morgen. Mit einem freundlichen Nicken dankte Denise dem Hausmädchen Ulla, das eine Tasse Kaffee auf ihren Schreibtisch stellte. Gewöhnlich kam sie erst gegen zehn Uhr in das Kinderheim, doch an diesem Tag sollte noch vor neun Uhr ein kleiner Junge von seinem Vater nach Sophienlust gebracht werden.
»Ein PKW-Fahrer«, las Frau Rennert weiter vor. »Er hatte die Vorfahrt nicht beachtet. Trotzdem, der Lastwagenfahrer wird sich wohl sein Leben lang Vorwürfe machen. Auch wenn er nichts dafür kann, hat er das Leben von fünf Menschen auf dem Gewissen.«
Denise nickte bekümmert. »Die meisten Menschen kommen wohl niemals über eine solche Sache hinweg. Vielleicht sagte sich der Fahrer, wär ich etwas langsamer gefahren, hätte ich schneller reagiert… Alice Kaiser hat den Tod ihrer Kinder auch noch nicht überwunden. Ich sprach neulich mit Frau Dr. Frey über sie. Obwohl Frau Kaiser nichts für den Unfall, in den sie verwickelt wurde, konnte, fühlte sie sich schuldig.«
»Das muß doch jetzt rund ein halbes Jahr her sein«, meinte Frau Rennert. »Eine schreckliche Sache!«
»Sie hat Frau Dr. Frey anvertraut, daß ihr Mann sie noch jetzt mit Vorwürfen überhäuft. Wir wissen ja alle, wie vernarrt Armin Kaiser in seine Kinder war. Es muß ein furchtbarer Schlag für ihn gewesen sein, Sonja und Klaus zu verlieren. Durch seinen eigenen Kummer hat er aber vergessen, daß seine Frau unter dem Tod der Kinder genauso leidet wie er.«
»Es heißt, die beiden hätten sich völlig auseinandergelebt«, bemerkte Frau Rennert. »Ich gebe ja nichts auf den Klatsch der Leute, doch in diesem Fall glaube ich sogar das, was man sich erzählt. Wildmoos ist schließlich nicht aus der Welt, und wir bekommen viel von dem mit, was sich im Ort abspielt. Armin Kaiser soll sich völlig in seine Arbeit vergraben haben.«
»Ich habe mir schon überlegt, ob ich nicht einmal mit Alice Kaiser sprechen soll. Unter Umständen kann ich ihr helfen.« Denise zuckte mit den Schultern. »Ich kann ihr zwar nicht die Kinder zurückgeben, aber vielleicht hilft es ihr etwas, wenn sie weiß, daß sie nicht von aller Welt verlassen ist. Sie…«
Denise wurde durch das stürmische Aufreißen der Tür unterbrochen. Ihr neunjähriger Sohn Henrik steckte den Kopf ins Empfangszimmer. Wie gewöhnlich sahen seine braunen Haare aus, als habe er sich seit Tagen nicht gekämmt.
»Ist der neue Junge schon da?« fragte Henrik eifrig.
»Ich glaube, man sagt erst einmal guten Morgen, Henrik«, mahnte Denise. »Was soll denn Frau Rennert von dir denken?«
»’tschuldigung!« Henrik trat ins Zimmer. »Guten Morgen, Frau Rennert! Ist der neue Junge schon da?« Seine Augen blitzten unternehmungslustig. »Fabian und ich wollen zum Waldsee radeln. Da könnten wir den Neuen doch mitnehmen.«
»So schnell geht es nicht, Henrik, so löblich euer Vorsatz auch ist.« Frau Rennert lächelte dem Buben zu. Wie jeder in Sophienlust mochte sie Henrik, der alles andere als ein Musterknabe war. Wann immer die Kinder einen Streich ausheckten, man konnte sicher sein, Henrik war mitten unter ihnen. Doch wenn es darauf ankam, war auf ihn genauso Verlaß, wie auf seinen sechzehnjährigen Bruder Nick.
»Wenn Ralf kommt, müssen wir zuerst die Aufnahmeformalitäten erledigen, dann müssen wir ihm Sophienlust zeigen, und bestimmt will sein Vater ihn auch erst noch ein Weilchen für sich haben«, sagte Denise. »Aber wie wäre es, wenn ihr euren Ausflug auf heute nachmittag verschieben würdet?«
Henrik zögerte nur Sekunden, dann nickte er. »Klar, machen wir, Mutti! Ich geh und sag’s Fabian. Tschüs!« Schon war er wieder zur Tür hinaus.
»Wirbelwind«, murmelte Frau Rennert. »Manchmal frage ich mich, was wir ohne Henrik tun sollten. Und nicht nur ohne Henrik, auch ohne Nick, Pünktchen und Irmela. Sie machen es den Kindern leicht, sich bei uns einzugewöhnen.«
»Lassen Sie das die Rasselbande nicht hören, sonst bildet sie sich noch etwas darauf ein«, erwiderte Denise. Sie griff nach einem Stoß Karteikarten, den Frau Rennert schon am Vorabend für sie bereitgelegt hatte.
Wieder wurde die Tür aufgerissen. »Sie kommen!« schrie Henrik ins Empfangszimmer. »Sie kommen!«
»Welch eine Sensation!« Frau Rennert lachte und erhob sich. »Man könnte fast meinen, die Ankunft eines neuen Kindes sei etwas völlig Unerwartetes.«
Als Frau Rennert und Denise aus dem Haus traten, um Herrn Neubert und dessen Sohn Ralf entgegenzugehen, sahen sie, daß nur Herr Neubert ausgestiegen war. Ralf saß noch immer im Fond des roten Wagens.
»Ralf weigerte sich auszusteigen«, sagte Alex Neubert, nachdem er Frau Rennert und Denise begrüßt hatte. »Er will nicht hierbleiben. Ich habe ihn schon nur mit Gewalt in den Wagen hineinbekommen. Als wir abfahren wollten, hatte er sich in der Toilette eingeschlossen.
»Haben Sie ihm erklärt, warum er für einige Wochen bei uns bleiben muß?« fragte Frau Rennert.
»Mehr als einmal, aber er will nicht einsehen, daß ich ihn nicht nach Südafrika mitnehmen kann. Er denkt, ich würde ihn für immer im Kinderheim lassen.«
Denise ging zum Wagen und öffnete die Fondtür. »Hallo, Ralf!« sagte sie freundlich. »Darf ich mich etwas zu dir setzen?«
Der Junge gab keine Antwort. Mit zusammengekniffenen Lippen starrte er Denise an. Er war erst sechs, aber in seinen dunklen Augen lag etwas, was ihn viel älter erscheinen ließ.
Ralfs Eltern hatten sich vor drei Jahren scheiden lassen. Bis vor sechs Monaten hatte der Junge bei seiner Mutter gelebt. Dann hatte diese erneut geheiratet und ihn einfach zu ihrer Schwester abgeschoben. Von dort war er zu einer weiteren Tante gebracht worden, und jetzt hatte er die letzten Wochen bei seinem Vater gewohnt.
»Ich steige nicht aus«, sagte Ralf nach einigen Sekunden und drückte sich fest in die Ecke. »Ich fahre mit meinem Papa mit, auch wenn er es nicht will.«
»Wenn dein Papa in zwei Monaten aus Südfarika zurückkommt, darfst du immer bei ihm wohnen.«
»Das glaube ich nicht«, erwiderte Ralf. »Tante Susanne hat auch gesagt, daß ich wieder zu ihr kommen würde, aber es war nicht wahr. Und meine Mama will mich auch nicht. Sie hat jetzt einen neuen Mann.«
»Du weißt doch, daß dein Papa dich sehr lieb hat, Ralf«, meinte Denise. »Wenn er dir verspricht, daß er dich nach seiner Rückkehr aus Südafrika abholen wird, dann kannst du es ihm glauben. Dein Papa hat sich bis jetzt nur deshalb so wenig um dich gekümmert, weil sein Beruf ihn immer wieder gezwungen hat, ins Ausland zu reisen. Aber wenn er aus Südafrika zurück ist, wird er bei dir bleiben, ganz bestimmt. Er hat doch extra deinetwegen seine Arbeitsstelle gewechselt.«
»Er geht wieder fort. Sie werden es sehen«, flüsterte Ralf, den Tränen nah. Er wischte sich über die Augen. »Er hat nur so gesagt, daß er mich abholen wird.«
»Du darfst Tante Isi zu mir sagen, wie alle Kinder in Sophienlust«, bot Denise dem Kleinen an. »Weißt du was? Wir basteln zusammen einen großen Kalender. Und an jedem Abend reißen wir ein Blatt von dem Kalender. Wenn kein Blatt mehr dran ist, wird dein Papa wieder dasein.«
»Mit Bildern?« fragte Ralf interessiert. »Mit Ponys und Katzen und Hunden?« Seine Augen glänzten. »Ich habe Tiere sehr lieb.«
Denise fühlte, daß sie gewonnen hatte. »Mit allen Bildern, die du möchtest«, versprach sie. »Wir haben hier jede Menge Tiere. Wenn du willst, dann kannst du auch auf einem Pony reiten. Und einen Papagei haben wir, der richtig sprechen kann. Er heißt Habakuk.«
Ralf kicherte. »Das ist aber ein komischer Name. Kann ich den Habakuk einmal sehen?«
»Dazu mußt du aber aussteigen!« Denise reichte dem Jungen ihre Hand. Vertrauensvoll ergriff er sie.
*
»Kommst du heute abend wieder so spät nach Hause?« fragte Alice Kaiser ihren Mann, als dieser schweigend vom Mittagstisch aufstand und das Eßzimmer verlassen wollte. Beinahe ängstlich sah sie ihn an. Seit Monaten hatte er kaum noch einen Abend zu Hause verbracht. Sie sprachen nur noch das Nötigste miteinander. Lange konnte es so nicht mehr weitergehen. Sie war am Ende ihrer Nervenkraft.
»Wahrscheinlich«, erwiderte Armin Kaiser. »Du weißt, daß wir zur Zeit mehr als genug Aufträge haben. Fräulein Riesterer ist auch krank. Einen großen Teil ihrer Arbeit muß ich mit übernehmen.«
»Wenn du willst, helfe ich aus, bis Fräulein Riesterer wieder gesund ist«, bot Alice eifrig an. Ihre blauen Augen bekamen etwas Glanz.
»Du?« Armin hob die Augenbrauen.
»Warum nicht?« fragte Alice. »Bis zu unserer Hochzeit habe ich schließlich in einem Büro gearbeitet. Und weißt du nicht mehr, wer für dich in den Jahren, in denen du das Geschäft aufgebaut hast, den Bürokram erledigt hat? Damals hatte ich sogar noch zwei kleine…« Sie schwieg abrupt. Sie hatte die Kinder nicht erwähnen wollen, aber es war schwer, nicht von ihnen zu sprechen, wenn sie stets den ganzen Tag und die halbe Nacht an sie dachte.
»Das war vor Jahren«, erwiderte Armin grob. Er sah geringschätzig auf seine Frau. »Du mußt doch selbst wissen, wie unzuverlässig du bist.«
Alice fühlte, wie Tränen in ihr aufstiegen, aber sie weinte nicht. »Du hast dich doch bisher immer auf mich verlassen können«, erwiderte sie. »Ich weiß, daß du wieder an den Tod unserer Kinder denkst, aber das war eine Verkettung unglückseliger Umstände.«
»Wärst du rechtzeitig losgefahren, würden Sonja und Klaus noch heute leben«, schleuderte Armin ihr entgegen. »Aber pünktlich konntest du ja niemals sein! Du warst mit den Kindern um vier zu Frau Dr. Frey bestellt, also hättest du mindestens um halb vier mit ihnen im Wagen sitzen müssen. Aber nein, du bist erst um Viertel vor vier losgefahren!«
»Du weißt, daß ich Klaus erst suchen mußte. Er hatte sich versteckt, weil er Angst vor der Impfung hatte.« Alice stand vom Tisch auf. »Als ich ihn endlich im hintersten Winkel unseres Gartens aufgestöbert hatte, mußte ich ihn erst noch einmal waschen und frisch ankleiden.«
»Du hättest dafür sorgen können, daß er sich nicht mehr schmutzig macht, nachdem du ihn für den Arztbesuch angezogen hattest. Warum hast du denn die Kinder überhaupt noch einmal nach dem Essen hinausgelassen? Sie hätten auch im Haus spielen können.«
»Das mußt ausgerechnet du mir sagen!« Alice schluckte. »Wer war es denn, der ständig darauf drang, daß die Kinder an die Luft kamen? Selbst bei Regen sollten sie draußen spielen. Viel frische Luft und Bewegung, das war doch immer deine Devise! Und wenn ich ihnen einmal etwas verbot, dann hobst du dieses Verbot wieder auf.«
»Jetzt sag nur noch, ich hätte sie in den Tod gefahren«, ereiferte sich Armin Kaiser. Seine Augen wurden dunkler vor Trauer. »An dem Tag, an dem man meine Kinder zu Grabe getragen hat, ist ein Stück von mir selbst gestorben. Ich sehe sie noch immer vor mir in ihren Särgen liegen, sehe ihre…«
»Hör auf!« Alice preßte die Hände auf die Schläfen. »Hör auf, ich kann es nicht mehr hören!«
»Warum soll ich denn abends pünktlich nach Hause kommen?« fragte Armin nun dumpf. Aber er stellte diese Frage mehr sich selbst ,nicht Alice. »Das Haus ist so leer ohne die Kinder. Ich höre nicht mehr ihre Stimmen, kann sie nicht mehr in den Armen halten…«
»Das Haus ist nicht leer, ich bin doch noch da!« Alice ließ die Hände sinken. Eine blonde Locke fiel ihr über die Augen. Sie merkte es kaum. Hoffnungsvoll sah sie ihren Mann an. Als er nicht auf ihre Worte reagierte, ergriff sie seinen rechten Arm. Ihre Finger umspannten sein Handgelenk. »Hörst du, Armin, ich bin doch noch da«, wiederholte sie.
»Du…!« Seine Stimme klang fern.
»Ja, ich! Und ich liebe dich, ich kann ohne dich nicht sein, Armin!«
Armin seufzte auf. Es war, als würde er aus einem Traum erwachen. »Ja, du bist noch da«, sagte er ohne jede Wärme, so daß seine Worte ihr wie ein einziger Vorwurf vorkamen. »Ich muß jetzt gehen. Ich habe es wirklich eilig.« Mit seiner freien Hand strich er sich die braunen Haare zurück.
Alice ließ den Arm ihres Mannes los. »Ich bin dir im Wege, nicht wahr?« fragte sie verloren. Sie war erst dreißig, fünf Jahre jünger als ihr Mann, und doch fühlte sie sich wie eine alte Frau. Das Leben schien keinen Sinn mehr für sie zu haben.
»Rede keinen Unsinn«, erwiderte er hart. »Wir sind miteinander verheiratet und werden auch miteinander verheiratet bleiben, ganz gleich, was du mir angetan hast.«
»Würdest du es überhaupt bemerken, wenn ich nicht mehr da wäre?« fragte Alice verzweifelt, aber ihr Mann hörte das nicht mehr. Er hatte bereits seine Aktenmappe ergriffen und war zur Haustür gegangen. Laut fiel die Tür hinter ihm ins Schloß.
*
»Also abgemacht, Frau von Schoenecker. Sie bringen mir die ganze Rasselbande am Samstagnachmittag«, sagte Josef Steiner. »Es wird den Kindern bestimmt Spaß machen, in unserem alten Haus herumzustöbern und am Abend zusammen mit meiner Tochter die Tiere von der Weide zu holen.«
»Hoffentlich machen Ihnen die Kinder nicht zuviel Arbeit, Herr Steiner«, meinte Denise etwas besorgt. Josef Steiner, einer der Großbauern von Bachenau, hatte sie am Vormittag angerufen und um ihren Besuch gebeten. Völlig überraschend hatten er und seine Frau ihr dann bei einer Tasse Kaffee den Vorschlag gemacht, die Kinder von Sophienlust für einen Nachmittag zu sich einzuladen.
»Arbeit werden sie schon machen, aber noch mehr Freude«, mischte sich die Bäuerin ein. »Seit unsere Kinder groß sind, fehlt uns direkt etwas!« Sie lachte. »Zuerst kann man es kaum erwarten, daß sie aus den Windeln heraus sind, und dann wachsen sie in einem Tempo, das einem den Atem nimmt.«
»Diese Erfahrung machen wir in Sophienlust auch immer wieder«, antwortete Denise. »Meist bekommen wir ein ziemlich eingeschüchtertes, hilfloses Kind, und nach einigen Wochen stellen wir fest, daß es nicht nur körperlich, sondern auch seelisch gewachsen ist.« Sie nahm ein Gebäckstück aus der Schale, die Frau Steiner ihr entgegenhielt. »Danke!«
Josef Steiner blickte zur Uhr. »Tassen festhalten«, riet er scherzend. »Gleich wird der Nachmittagszug vorbeirasen.«
»Josef, du übertreibst wie immer«, meinte seine Frau lachend. Sie wandte sich an Denise: »Daß die Bahnlinie nur wenige Meter hinter unserem Haus vorbeiführt, ist zwar nicht gerade angenehm, aber auch nicht so schlimm, wie Josef ausdrückt. Die Schlafzimmer liegen Gott sei Dank zur anderen Seite.«
Josef Steiner stand auf und trat an das breite Wohnzimmerfenster, eine der wenigen Konzessionen, die er bei der Renovierung des Hauses an die Neuzeit gemacht hatte. »In fünf Minuten wird man oben auf dem Bahndamm den Zug vorbeirasen sehen! Wir machen… Da läuft ja eine Frau den Bahndamm hoch!«
»Eine Frau?« fragte Irmgard Steiner verwundert. »Was will sie denn da oben?«
Denise sprang auf, warf einen kurzen Blick aus dem Fenster. Tatsächlich, eine Frau mit halblangen blonden Haaren stieg den steilen Bahndamm empor. Mit den Händen hielt sie sich am Strauchwerk fest.
»Die wird sich doch nicht vor den Zug werfen wollen?« schrie die Bäuerin auf. Sie drehte sich zu Denise um, aber diese hatte bereits das Wohnzimmer verlassen. »Komm, Josef! Frau von Schoenecker wird Hilfe brauchen.« Ohne auf ihren Mann zu warten, lief sie Denise nach.
Denise rannte durch den Hausgarten der Steiners. Sie nahm sich nicht die Zeit, zum Gartentor zu gehen, sondern stieg kurz entschlossen über die niedrige Mauer.
Die hohen Absätze ihrer Schuhe behinderten sie, als die Böschung begann. Im Laufen streifte sie die Schuhe ab.
Die Frau vor ihr hatte bereits die Schienen erreicht. Gebückt, ohne ihre Umgebung zu beachten, stand sie da. Für Denise gab es keinen Zweifel daran, daß diese Frau vorhatte, sich vor den Zug zu werfen. Denise wagte es nicht, sie anzurufen, sondern kletterte so lautlos wie möglich die Böschung empor.
In der Ferne hörte Denise nun das Rattern und Stampfen des Zuges, das rasch näherkam. Noch bevor sie die Höhe des Bahndammes erreicht hatte, sah sie die Lokomotive. Die Frau vor ihr duckte sich noch etwas tiefer. Sie schien zu befürchten, daß der Lokführer sie noch rechtzeitig bemerken und bremsen würde.
In rasender Geschwindigkeit jagte der Zug über die Schienen. Denise kämpfte sich die letzten Zentimeter an die Frau heran. Als der Zug nur noch etwa zweihundert Meter von ihr und der Frau entfernt war, hatte sie sie erreicht.
»Ich würde es nicht tun!«
Erschrocken wandte sich Alice Kaiser um. Im selben Moment griff Denise zu und hielt sie eisern fest.
»Lassen Sie mich los!« Alice versuchte sich aus dem Griff zu befreien, aber es gelang ihr nicht. Denise drängte sie zurück. Beide stolperten dann gleichzeitig, stürzten hin. Donnernd brauste der Zug an ihnen vorüber.
»Warum haben Sie das getan?« fragte Alice erbittert. »Warum müssen Sie sich ständig in das Leben anderer einmischen? Jetzt wäre alles vorbei gewesen!«
»Woher wissen Sie das so genau?« Denise kam auf die Beine und klopfte sich ihren Rock ab. Sie reichte Alice die Hand, aber die junge Frau stieß sie nur wütend beiseite.
»Sie sollten froh sein, daß Ihnen Frau von Schoenecker das Leben gerettet hat«, sagte Josef Steiner und wischte sich über die Stirn. Schweratmend stand er neben den beiden Frauen. Er war seit Jahren nicht mehr ganz gesund. Das Klettern war ihm deshalb schwergefallen. Seine Frau wartete unten vor der Böschung auf sie.
»Ich wüßte nicht, wofür ich da dankbar sein sollte«, entgegnete Alice Kaiser und stand allein auf. Sie machte sich nicht die Mühe, ihr Kleid abzuklopfen. Ohne Denise von Schoenecker und Joesef Steiner weiter zu beachten, stieg sie den Abhang hinab.
»Nicht einmal ein Dankeschön haben Sie bekommen«, schimpfte der Bauer.
»Das habe ich auch nicht erwartet«, erwiderte Denise. »Ich werde mich…« Vor ihren Augen stolperte Alice. Im Fallen streckte sie die Arme aus. Hart schlug sie am Fuß der Böschung auf. Irmgard Steiner lief zu ihr und kniete neben ihr nieder.
Denise reichte dem Bauern ihre Hand und half ihm, den steilen Abhang hinabzuklettern.
