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Als Konstantin Benjamin zum ersten Mal in der Bibliothek sieht, ist es um sein Herz geschehen. Bei jedem Buch, das Benjamin sich ausleiht, starrt Konstantin ihm heimlich hinterher. Das bemerkt auch der zehnjährige Adam, der ihm sofort Ratschläge in Sachen Liebe und erste Dates erteilt. Als Adam den Bus verpasst und Konstantin ihn deshalb nach Hause fährt, öffnet ihm unerwartet Benjamin die Tür. Fortan verbringt Konstantin immer mehr Zeit mit den beiden. Doch darf er sich weitere Gefühle erlauben und damit womöglich Adams Familie zerstören? Eine zauberhafte Weihnachtsgeschichte über Liebe, Verantwortung und den Mut, sein Herz zu öffnen.
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Seitenzahl: 204
Veröffentlichungsjahr: 2024
O du Schwierige
O du Schwierige
Impressum
Über die Autorin
O du Schwierige
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Epilog
Programm
Jessman, der Lichtelf
Holy Night
Noch einmal schlafen, dann ist ... Schöne Bescherung
Über Lesben, Lebkuchen und Leidenschaft
Friedenszeit
Friedensboten
Friedensfreunde
Cassidy Starr
Cassidy Starr, O du Schwierige
Aus der Reihe: Merry X-Mas – Short Stories, Bd.2
© HOMO Littera
Am Rinnergrund 14/5, A- 8101 Gratkorn
www.HOMOLittera.com
E-Mail: [email protected]
Grafik und Covergestaltung: Rofl Schek
Bildnachweis: x-mas background © Melinda Nagy – stock.adobe.com
christmas market © ecstk22 – stock.adobe.com
coral and gold glitter © Dany – stock.adobe.com
vintage frame © Zein Republic Studio – stock.adobe.com
frame © ankomando – stock.adobe.com
Originalausgabe: Dezember 2024
Alle Rechte vorbehalten. Ein Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, ist nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages gestattet.
ISBN Print: 978-3-99144-052-9
ISBN PDF: 978-3-99144-053-6
ISBN EPUB: 978-3-99144-054-3
ISBN PRC: 978-3-99144-055-0
Cassidy Starr ist eine niederösterreichische Autorin mit einem zweiten Lebensschwerpunkt in Wien. Durch den daraus resultierenden Spagat verbringt sie Stunden in öffentlichen Verkehrsmitteln, die sie kreativ nutzt: Im Geiste spielt sie während dieser Zeit Dialoge und ganze Szenen aus ihren Manuskripten durch. Sie selbst bezeichnet sich als »schreibbesessen«. Sie bekommt ihren Kopf erst wieder frei, wenn sie die Gedanken zu ihren Geschichten auf Papier gebracht hat.
Veröffentlichungen bei HOMO Littera:
Mission Namtia, Sirius B, Heft 2, Science-Fiction, Herbst 2016
(Un)Fair Play, Gay Erotic, Herbst 2017
Felix’ erste Liebe in: Einfach weg – Nahrung für dein Fernweh, Winter 2018 (1. Auflage)
Trans-parent, Roman, Winter 2019
Biografin meines Herzens, Roman, Winter 2022
Erkenntnis in: Friedenszeit, Miteinanda für die Ukraine, Benefizanthologie, Herbst 2022
Der erste Kuss in: Friedensfreunde, Miteinanda für die Ukraine, Benefizanthologie, Herbst 2022
Es war die beste Zeit des Jahres.
Konstantin hatte schon viele Diskussionen darüber geführt, aber keiner seiner Gesprächspartner konnte ihn auch nur ansatzweise von seiner Meinung abbringen. Der Dezember war der ultimative Monat. Es war nicht heiß, unzählige Häuser waren geschmückt, überall funkelten Lichter – und wenn es einmal wieder weiße Weihnachten gab, war er glücklich. Natürlich hing das mit seiner Kindheit zusammen: jeden Tag Schneeballschlachten, Schneemänner bauen und dann mit seinen drei besten Freunden Schlitten fahren. Die Chancen auf eine weiße Pracht standen momentan noch schlecht, aber die Adventszeit hatte erst begonnen. Noch konnte ihn die Natur angenehm überraschen.
Konstantin lächelte, als er eine Abkürzung durch den Park nahm und das rege Treiben beobachtete. Die ersten Weihnachtsstände hatten bereits geöffnet. Er konnte es kaum erwarten, sie abzugehen und zu sehen, welche Klassiker geblieben waren und welche Neuheiten man heuer anbot.
Zuerst musste er jedoch einen ganzen Arbeitstag hinter sich bringen. Zumindest mochte er seinen Beruf, und so würde die Zeit im Flug vergehen.
Er kehrte auf die Straße zurück und betrat das Gebäude.
Die Weihnachtsdeko ist da!, kündigte ihm ein notdürftig festgeklebter Zettel neben der Ankleide an.
Er seufzte und zog das Blatt von der Wand ab. Zweifellos musste die Deko bereits angekommen sein. Es ärgerte ihn, dass sein Kollege nicht schon mit dem Aufbau begonnen hatte. So viel war nicht zu tun. Jakob war sich aber zu schade, einen Handgriff mehr zu machen, als ihre Berufsbeschreibung vorschrieb. Zum Glück war wenigstens einer von ihnen in der richtigen Stimmung.
Konstantin betrat den Saal und legte den beschriebenen Zettel auf die Ablage für wiederverwendbares Papier, dann nahm er den Karton in Augenschein, der regelrecht auf dem Tresen thronte. Seine Chefin hatte sich dieses Jahr nicht lumpen lassen. Er war gespannt darauf, hineinzuschauen, auch wenn ihm davor graute, das ganze Material dekorativ in der Bibliothek zu verteilen.
Zuvor musste er jedoch die täglichen Aufgaben erledigen, wie alle Computer hochfahren, Onlinebestellungen prüfen und die bestellten Bücher und Journale ins Erdgeschoss bringen, ehe die ersten Kunden sich in der kleinen Stadtbibliothek einfanden.
***
Mit seiner zusätzlichen Aufgabe betraut und einer nicht gerade schicken, aber ihm trotzdem irgendwie stehenden Weihnachtsmütze auf dem Kopf verging die Zeit rasend schnell – vielleicht war an ihm sogar ein Raumausstatter verloren gegangen. Deshalb bemerkte er den Besucher erst, als sich dieser laut räusperte. Konstantin fuhr hoch und schob den fast leeren Karton mit dem Fuß zur Seite. Hinter dem Tresen stand ein junger Mann, der einen schweren Kodex an seine Brust drückte.
»Hallo«, grüßte der Blondschopf mit einem nervösen Lächeln und legte das Buch vor ihm ab. »Heute ist der letztmögliche Rückgabetermin. Ich hoffe, ich bin nicht zu spät?«
Konstantin zog sich eilig die Mütze vom Kopf und warf einen Blick auf die Uhr. Eigentlich mussten die ausgeliehenen Bände bis fünfzehn Uhr zurückgegeben werden, aber es war Advent, und er war nicht katholischer als der Papst. »Kein Problem. Ich erledige das schnell.«
Das Computerprogramm würde protestieren, aber er hatte es schon das eine oder andere Mal umgangen, indem er das jeweilige Buch im Handkatalog eintrug und dann die Daten im alten System vertauschte. Anstatt eine Geldstrafe zu zahlen, konnte man zur Adventszeit lieber einen kandierten Apfel für ein Kind kaufen.
»Vielen Dank!« Das Lächeln des jungen Mannes wurde breiter, und seine grauen Augen funkelten.
Um sich davon abzulenken, wie sehr ihm das gefiel, zog Konstantin die Schale mit dem Naschzeug zu sich und fragte: »Schokolade?«
»Gerne!« Der junge Mann wickelte das Schokostückchen noch vor Ort aus, schob es sich in den Mund und marschierte dann mit schwingendem Schritt davon.
Konstantin lehnte sich an den Tresen und schaute ihm grinsend hinterher. Eines Tages würde er ihn ansprechen, aber heute war dieser Tag noch nicht gekommen.
»Wenn Sie ihm nur hinterherstarren, wird das nichts mit einem Date.«
Konstantin fuhr zusammen und sah nach rechts. Die Stimme war von dort gekommen, doch er entdeckte den Besitzer erst, als er nach unten schaute. Ein Kind gab ihm Dating-Ratschläge. Passte das nicht zum Rest seines Tages?
Um zumindest ansatzweise seine Würde zu wahren, fragte er freundlich: »Was kann ich für dich tun, kleiner Mann?«
»Ich brauche diese Bücher, aber die stehen hier nirgends.«
Konstantin nahm den bekritzelten Zettel entgegen und überflog die Nummern. »Du kannst sie nicht finden, weil sie nicht öffentlich zugänglich sind. Journale muss man beantragen, und ich oder ein Kollege, wenn ich nicht da bin, bringt sie alle zwei Stunden aus dem Archiv herauf.«
»Ist das nicht umständlich?«
»Ein bisschen. Aber wir haben nicht genug Platz, um alle Werke in diesem Stockwerk aufzubewahren. Außerdem gibt es im Zeitschriftenkatalog auch sehr kostbare Ausgaben, die man nicht einfach unbeaufsichtigt lassen kann.«
Der Junge blickte ihn mit zusammengekniffenen Augen an, dann zog er die Mundpartie nach rechts und wieder zurück. »Okay. Sie haben den Wisch. Reicht das?«
»Normalerweise machen wir das online … aber du hast recht. So geht es schneller, und ich muss unten nicht den Computer hochfahren.« Er besah sich die notierten Artikel genauer und konnte trotz Kinderklaue alles entziffern. »Es ist heute nicht viel los. Weißt du was? Ich hole dir die Journale gleich. Du kannst derweil zu deinem Bruder oder deiner Schwester gehen. Ich finde euch schon.«
Der Junge blickte ihn an, als würde er ihn nicht für voll nehmen, stemmte dann die Arme in die Seiten und fragte: »Welcher Bruder? Und welche Schwester?«
»Ich nehme mal an, dass du diese Texte nicht selbst lesen willst. Falls du alleine da bist und erst später abgeholt wirst, kann ich dir die Seiten kopieren.«
»Wieso sollte ich sie nicht selbst lesen wollen?«
Konstantin musterte den Jungen vor sich, er schätzte ihn auf maximal zehn Jahre. Seine Augenbrauen schoben sich gegen seinen Willen zusammen. Bestimmt war ihm anzusehen, dass der Kleine ihm auf die Nerven ging. Statt einer weiteren Frage hob er den Zettel hoch und las die ersten drei Zeilen vor: »Topor: Ursachen, Arten und Symptome von Schneider u. Hahn, in Bewusstseinsstörungen, S. 123 bis 149. KatNr. J34.909.«
Der Junge zuckte kurz mit den Schultern und fixierte ihn weiterhin mit seinem Blick.
»Symbiotischer Mutismus in der modernen Psychiatrie, Mayer-Braun«, fuhr Konstantin fort. »Koma Stufe III bei neurotypischen Patienten, Lichtenberg … Wie viele dieser Wörter verstehst du?«
»Dafür habe ich ein Wörterbuch«, erklärte der Junge und schob stolz die Brust nach vorne.
»Du bist der Boss.« Konstantin gab sich geschlagen. Es gab keine Hausregel, wem er welche Literatur überreichen durfte. Eine Abteilung für Pornografie hatten sie nicht – oder noch nicht, wie seine Chefin kürzlich betont hatte.
Er drückte dem überraschend jungen Leser drei Stück verpackte Schokolade in die Hand und hoffte, dass das den Jungen so lange beschäftigen würde, bis er aus dem Kellergewölbe der ehemaligen Brauerei zurückkam.
Während er die fünf gewünschten Journale zusammensuchte, ging ihm der Gedanke durch den Kopf, dass man in einer Bibliothek vielleicht kein Naschzeug verteilen sollte – Adventszeit hin oder her. Schokolade führte zu klebrigen Fingern und diese zu beschmierten Büchern. Bei einem Leser von Schneider und Hahns Abhandlung zu Komaerkrankungen sollte er sich aber weniger Sorgen machen als bei Frau Huber, die stets einen Sportbecher am Sitzplatz hatte, egal, wie oft er es ihr erklärte.
Wie erwartet hatte der Junge das Naschzeug verschlungen und keine Spuren hinterlassen. Trotzdem verspürte er Erleichterung, als er dem Kind die schweren Bände in die Hand drückte. »Ich nehme an, du bist zu erwachsen, um dir beim Tragen helfen zu lassen?«
»Klar! Ich bin ein Mann!«
In ein paar Jahren bestimmt, dachte Konstantin und lächelte ihm hinterher. Es mussten noch zwei gewaltige Lichterketten an den Fenstern und am Eingang angebracht werden. Wie schön wäre es gewesen, wenn seine Chefin auch ans richtige Hilfsmaterial gedacht hätte. So musste er erst im Abstellraum nach Klebestreifen suchen, die das Gewicht der Lichterkette trugen. Zumindest war nicht viel los, und er konnte sich den Arbeiten widmen. Er wurde zwar nicht dafür bezahlt, und eigentlich hätte Jakob schon gestern die Deko anbringen sollen, aber er war nicht tollpatschig, und so käme er noch vor dem Ende der Öffnungszeiten an den Tresen zurück und konnte sich um die eingegangenen E-Mails und Bestellungen kümmern.
Es war ungewöhnlich still – sogar für eine Bibliothek. Normalerweise gab es immer ein oder zwei Leute, die nur wegen der Computer vor Ort waren und fröhlich in die Tasten schlugen. Auch Studenten, die sonst im hinteren Bereich des Lesesaals saßen, hatten sich nicht eingefunden – vermutlich weil Prüfungszeit war und schriftliche Arbeiten warten mussten.
Nach fast sechzig Minuten und ohne weitere Besucher warf Konstantin einen letzten Blick auf die Glastür des Eingangs. Es sah nicht so aus, als würde noch jemand kommen. Er verließ seinen Posten also ohne schlechtes Gewissen und suchte nach dem Naseweis von vorhin. Wie nicht anders zu erwarten, wirkte der Junge verzweifelt.
»Kann ich dir helfen?«
»Ich kann das alleine.« Das dünne Stimmchen klang, als würde der Kleine gleich weinen.
»Dessen bin ich mir sicher!« Zumindest in zehn oder fünfzehn Jahren. »Aber ich bin dafür da, den Lesern zu helfen. Also, was genau willst du wissen?«
Der Junge zögerte, dann schob er ihm seinen Block entgegen. Die Seite war fast bis zum Ende mit medizinischem Fachvokabular gefüllt, die Hälfte davon in Latein.
»Ich habe eine Idee.« Konstantin schmunzelte und zog das Journal zu sich. »Ich lese den Artikel und fasse dir den Inhalt zusammen. Auf Deutsch. Lass mich das für dich machen, dann geht auch mein Arbeitstag schneller vorbei.« Nicht, dass er nicht noch Bücher zurückstellen und Bestellungen bearbeiten müsste … »Was sagst du?«
Der Kleine zögerte wieder und musterte ihn, als befürchtete er, von ihm in einen Sack gesteckt und verschleppt zu werden. Misstrauisch nickte er schließlich. »Danke schön!«
Eigentlich war er ganz süß – etwas frech, aber zumindest steckte er seine kleine Stupsnase nicht Tag und Nacht in ein Handy.
»Gut, dann fange ich zu lesen an. Wenn du magst, kannst du dir gern noch ein Stück Schokolade holen.« Damit beugte sich Konstantin über das Werk und setzte sein Angebot in die Tat um.
***
Nach knappen dreißig Minuten und einem Déjà-vu aus seiner Studienzeit fühlte sich Konstantin mit seinem Gesprächspartner wie ein Arzt und diskutierte sogar – auf kindlichem Niveau – über das erlangte Wissen. Zu gerne hätte er den Jungen gefragt, woher sein Interesse für Komaerkrankungen kam, aber er ließ es bleiben. Wenn es einen tragischen Vorfall in der Familie des Kleinen gegeben hatte, wollte Konstantin nicht in ein Wespennest stechen, und falls sein Gegenüber einfach nur außergewöhnliche Hobbys hatte, wollte er so eine Vermutung nicht in den Raum stellen.
War es denn so ungewöhnlich? Konstantin hatte als Kind Science-Fiction-Romane verschlungen und deswegen versucht, sich in moderne Mechanik einzulesen. Wie er von dieser Thematik auf Medizin, Gartenbau, Tierschutz und schließlich Bibliothekswesen gekommen war, konnte er selbst nicht mehr so genau sagen.
»Oh, Mist! Ich muss los!« Der immer noch namenlose Junge schob eilig seine Sachen zusammen und stopfte sie ohne Vorsicht in seinen Rucksack.
Konstantin versuchte zu überspielen, dass er vor Schreck zusammengefahren war, indem er lächelnd winkte. »Komm gut nach Hause.«
Der Dreikäsehoch sprang vom Sessel und wollte schon loslaufen, als er sich noch einmal mit einem Grinsen umdrehte. »Danke! Sie haben mir wirklich geholfen. Deswegen will ich Ihnen etwas zurückgeben. Also, mein Tipp: Wenn man jemanden gut findet, sollte man es ihm einfach sagen.«
»Wie kommst du jetzt darauf?«
Der Junge zuckte mit den Schultern. »Ich hab’ doch genau gesehen, wo Sie vorhin hingeguckt haben – und das war ganz klar nicht sein Rücken, sondern sein Po.«
Guter Gott! Ein Kind hatte ihn dabei ertappt, einem anderen Mann auf den Hintern geschaut zu haben! Er hatte gehofft, dass der Kleine nur seinen verträumten Blick erhascht hatte. Offensichtlich hatte er aber alles gesehen und wusste auch genau, was er da beobachtet hatte.
Konnte es noch peinlicher werden? Ja, wenn er den Dreikäsehoch nicht schnell loswurde und noch weitere Ratschläge von ihm bekam.
»Musst du nicht los?«
»Ja, ja! Aber merken Sie sich, was ich gesagt habe. Fragen kostet ja nichts.« Damit machte sich der Kleine endlich auf den Weg.
Konstantin wischte sich über das Gesicht, um die Hitze zu vertreiben, die sich gefährlich darin ansammelte. Zum Glück hatte der Junge nichts davon mitbekommen.
»Moment mal …« Konstantin blickte Richtung Ausgang. Wie hatte der Junge seinen Rucksack hereingeschmuggelt?
Es war einer jener Tage, an denen man am liebsten nicht zur Arbeit gegangen wäre. Ein überheblicher Student hatte ihn angeschnauzt, der Onlinekatalog war zwei Stunden lang ausgefallen und mehrere Bücher waren verloren gegangen und erst nach langem Suchen wieder aufgetaucht – was immer noch besser war, als von einem Diebstahl auszugehen und für jeden Band ein Formular ausfüllen und einen Antrag auf Neukauf stellen zu müssen. Zudem hatte er schlecht geschlafen, weswegen Konstantin sich erschöpft fühlte.
Zum Glück endete der Tag bald – nur noch die letzten E-Mail-Anfragen bearbeiten und dann endlich den Heimweg antreten. Wenigstens stand Weihnachten vor der Tür …
Das erinnerte ihn daran, dass er immer noch die Homepage mit einer zum Thema passenden Leseliste updaten musste – eine Tatsache, die ihn glauben ließ, dass seine Kollegen bisher nichts in diesem Zusammenhang bewerkstelligt hatten.
Ob er erneut einen Handapparat für Weihnachtsbücher aufstellen sollte? Im vorletzten Jahr hatten die kleinen Leser diesen gerne wahrgenommen. Im letzten Jahr hingegen …
Ein weiterer Blick auf die Uhr ließ Konstantin erleichtert ausatmen. Die Öffnungszeit ging zu Ende. Er marschierte zum hinteren Teil des Raumes und fuhr die fünf Computer hinunter. Vor zehn Jahren hätte er die Nutzer wegscheuchen müssen, inzwischen konnte man das eigene Smartphone aus der Tasche ziehen und überall Dinge, die man wissen wollte, nachschlagen.
Waren es schon zwanzig Jahre? Die Zeit verging scheinbar schneller als früher.
Gerade als Konstantin sich wieder zum Tresen aufmachte, flog die Glastür auf und jemand stürmte auf die letzte Minute herein – viel zu spät, um noch ein Buch auszuleihen. Außerdem trug der Besucher einen Wintermantel und eine Haube. Waren die Verbotsschilder dafür denn noch immer nicht groß genug?
Konstantin ließ sich seinen Unmut nicht anmerken und zwang sich ein Lächeln auf. »Kann ich irgendwie helfen?«
»Ich … Ja, Entschuldigung! Ich weiß, man muss die Jacken ausziehen. Ich wollte nur kurz schauen, ob …« Der junge Mann ging auf die Zehenspitzen, um über Konstantins Schulter zu schauen. »Es hat sich schon erledigt. Entschuldigen Sie die Störung!«
»Kein Problem. Ich würde mich freuen, Sie wiederzusehen, sofern Sie dann ohne Mantel hereinkommen.«
Der junge Mann lächelte, wich seinem Blick aber aus, was Konstantin ebenfalls lächeln ließ. Es war der Blondschopf, dem er auf den Hintern gestarrt hatte. Der Mann war attraktiv, und seine schüchterne Art war süß. Konstantins Bemerkung konnte man mit etwas gutem Willen als Flirten auslegen. Es war aber erst das zweite Mal, dass sie ins Gespräch gekommen waren, ohne dass es sich um die Formalitäten der Bibliothek handelte. Hoffentlich war es nicht das letzte Mal, denn auch wenn der kleine Klugscheißer – der Junge, der die Journale aus dem Archiv verlangt hatte – etwas anderes behauptete, konnte man einen Fremden nicht einfach um ein Date bitten.
Es würde noch andere Chancen dafür geben, redete Konstantin sich ein. Immerhin arbeitete er hauptberuflich hier, und der junge Mann würde irgendwann erneut ein Buch ausleihen.
»Ja, also … Ich muss dann wieder los!«
»Wir haben ohnehin seit einer Minute geschlossen …« Damit war das Gespräch beendet.
Der Blondschopf drehte sich erst an der Tür angekommen noch einmal um und rief ihm einen Abschiedsgruß zu, den Konstantin mit einem Winken erwiderte. So viel also dazu.
Er setzte sich an den Computer und öffnete die Bibliothekswebsite. Lisa hatte ihm einen Code gegeben, mit dem er Schneeflocken über den Bildschirm tanzen lassen konnte, wenn er ihn richtig eingab. Ihrer Meinung nach ein Klacks – sie war aber auch ein Profi. Konstantin ging nicht davon aus, dass er aus Versehen das gesamte Internet löschte, aber er hatte Respekt davor, mit einer falschen Eingabe Schaden anzurichten, der nur mit Stunden harter Arbeit wiedergutzumachen wäre.
»Es wird schon schiefgehen«, machte er sich selbst Mut, während er seine Finger aufwärmte.
»Ich bin gut mit Technik. Wenn du Hilfe brauchst, mach’ ich das für dich.«
Konstantin fuhr mit dem Drehsessel herum und starrte in vor Selbstsicherheit strahlende Augen. »Hey, kleiner Doktor!«, sagte er überrascht.
»Hi!«
»Was machst du hier? Du weißt, dass wir seit Minuten geschlossen haben?«
»Echt jetzt?«
»Da drüben hängt eine große Uhr.« Konstantin deutete mit dem Daumen darauf. »Ich bin sicher, du kannst analoge Anzeigen lesen.«
»Klaro! Ich bin ja nicht blöd.«
»Davon bin ich auch nicht ausgegangen. Wo warst du, als ich vorhin an deinem Platz vorbeigegangen bin, um die Computer auszumachen?«
»Unterm Tisch.«
»Und wieso warst du unter dem Tisch?«, fragte Konstantin leicht angespannt.
Der Junge schaute ihn einen Moment an, dann antwortete er mit ausgebreiteten Händen und unschuldigem Blick: »Ich sitze beim Lesen gerne im Schneidersitz.«
Das war so gut wie jede andere Erklärung. Es betraf ihn auch nicht. Was ihn allerdings durchaus etwas anging: »Der letzte Bus heute fährt in vier Minuten. Das schaffst du nicht mehr.«
Der Kleine zuckte unberührt mit den Schultern. »Ich kann gehen. Urliopa sagt, dafür hat uns Gott Füße gegeben.«
»Und wie weit von hier wohnst du? Davon abgesehen, es regnet immer noch in Strömen.«
»Ulriopa sagt auch, dass wir nicht aus Zucker sind.«
Konstantin rieb sich den Nasenrücken. »Als ob ich ein Kind alleine im Dunkeln und auch noch im Regen durch die Stadt laufen lassen würde.«
»Halb so schlimm! Wir sind nur eine kleine Stadt.«
»Keine Detaildiskussionen jetzt! Sammle deine Siebensachen zusammen und dann los! Ich fahre dich heim.« Das Updaten der Bibliotheksseite würde also doch von jenem Mann gemacht werden, den die Chefin ansonsten damit betraute. Gut so. »Weißt du deine Adresse auswendig?«
»Sehe ich aus, als wäre ich doof?«
»Manchmal täuscht der Schein!«
»Also sehe ich super schlau aus?«
»Pack deine Sachen! Sonst fahre ich ohne dich!« Der morgige Arbeitstag würde eine halbe Stunde früher beginnen. Darüber freute er sich schon mal nicht. »Tempo, Herr Doktor! Hopp, hopp! Oder glaubst du, im Krankenhaus hat man ewig Zeit?«
»Ich bin ja gleich so weit!«, sagte der Junge und lief zu den hinteren Rängen. »Hast du schon den Computer runtergefahren und alle Lichter ausgeknipst?«
Jetzt wurde er auch noch vorlaut! Konstantin war sich nicht mehr sicher, ob es eine gute Idee war, dieses Kind nach Hause zu bringen. Es war natürlich die einzig richtige Entscheidung, aber war sie klug? Er traute dem kleinen Klugscheißer zu, dass er Begriffe wie sexueller Übergriff kannte, aber nicht genau wusste, was sie bedeuteten. Wer könnte beweisen, was er mit dem Jungen alleine im Auto getan oder nicht getan hatte?
Konstantin warf einen Blick zum Fenster hinaus. Es sah nach Weltuntergang aus. Zu dem Regen hatte sich Wind hinzugefügt. Er konnte den Jungen unmöglich alleine in die Dunkelheit entlassen.
»Lass mich das ja nicht bereuen!«, warnte er ihn, als sie das Gebäude gemeinsam verließen.
»Was jetzt?«
»Dass ich dich heimbringe.«
»Ich muss mich beim Autofahren nicht übergeben. Ich kann gut dabei lesen!«
»Das meinte ich … Lass gut sein! Hier nach rechts.«
Sie bogen in die Seitengasse ein, und Konstantin stellte fest, dass sein Begleiter besser für das Wetter gekleidet war als er selbst. Zum Glück hatte er einen Parkplatz nur wenige Meter von der Bibliothek entfernt ergattert.
»Das ist deine Karre?«, rief der Junge, als Konstantin seinen Schlüssel aus dem Mantel fischte.
»Ja. Gefällt sie dir?«
»Logo! Die ist cool!
»Cool trifft es ganz gut. Die Heizung funktioniert gerade nicht.«
»Bei einem Oldtimer kann nicht alles perfekt sein. Oh, Mann! Wie geil! Darf ich hinters Steuer?«
»Ein anderes Mal.« Moment! Er bemerkte seinen Fehler im selben Augenblick wie der Dreikäsehoch.
»Abgemacht!«
»Du drehst dir die Welt so hin, wie du sie brauchst, oder?«
»Man tut, was man kann!«
»Los, rein jetzt!«, befahl Konstantin und rollte mit den Augen, als der Kleine die linke Autotür aufriss, um über den Fahrersitz zu rutschen. »Wehe, du weißt nicht, wo du wohnst, und wir kurven im Kreis herum.«
»Ein Navigationsgerät würde da helfen.«
»Willst du wieder aussteigen?«
»Nein! Ich will mit dem Teil fahren!«
Wenigstens hatte der Frechdachs Geschmack. Konstantin konnte ohnehin nichts mehr an der Lage ändern, immerhin saßen sie schon im Wagen. Er steckte also den Schlüssel in das Zündschloss und kuppelte kräftig, damit sein Gefährt ansprang.
»Oh, wow! Das ist laut! Es geht echt nichts über alte Karren, was?«
»Ich habe ihn schon ewig. Also, ja, ich bin deiner Meinung.« Er setzte den Blinker und parkte aus. »Wo müssen wir lang?«
»Nach dem Hauptplatz links Richtung Park, beim Kaufhaus vorbei die erste Straße rechts, am Ende links, dann dem Straßenverlauf entlang bis zur Ampel, da drüber, bei der nächsten Ampel rechts und dann bis zur Pestsäule. Wir sind das letzte Haus in der Sackgasse.«
»Wieso hast du nicht einfach gesagt, dass wir zur Pestsäule müssen?«
»Weil du gefragt hast, wo wir lang müssen.«
»Was habe ich über Detaildiskussionen gesagt?«
»Du hast gefragt!«
Das konnte ja heiter werden! Konstantin ging nach seinen bisherigen Unterhaltungen mit dem Frechdachs nach zu urteilen, davon aus, dass sich die Strecke wie Kaugummi ziehen würde. Zu seiner Überraschung geschah das Gegenteil. Der Junge genoss die Fahrt mit dem Oldtimer, der krachte und quietschte und bei dem man jedes kleine Steinchen spürte, wenn man darüberfuhr.
Die Zeit verging schnell, und bald kamen sie am spärlich beleuchteten Denkmal vorbei. Ein freier Parkplatz lud zum Abstellen des Motors ein, und Konstantin folgte seinem Instinkt und zog den Sicherheitsgurt von der Schulter. »Du wohnst doch wirklich hier, oder?«
»Wieso sollte ich lügen?«
»Weil du bei einem Freund Videospiele zocken willst? Weil es hier ein Häschen zu streicheln gibt? Da würde mir vieles einfallen.«
»Macht alles Sinn, vor allem das Häschen. Aber für so was ist es heute schon zu spät. Ich kriege sowieso schon Hausarrest.«
Zu Recht, wäre Konstantin beinahe über die Lippen gekommen. Zum Glück konnte er sich gerade noch zurückhalten. »Los! Raus hier! Ich bringe dich zur Haustür.«
»Du glaubst, ich gehe jetzt noch verloren?«
»Sind wir per Du?«
»Gerne!«
Dieser kleine Scheißer!
Es fehlte nur noch, dass er ihn an der Hand nahm und mit sich zog. Aber dafür kam sich der Junge wohl schon zu erwachsen vor.
»Wie heißt du eigentlich?«
»Adam.«
»Okay, ich bin Konstantin.«
»Ich weiß«, rief der Kleine und fügte grinsend hinzu: »Das steht auf dem Schild an deinem Tisch – und am Eingang gibt es ein Poster mit allen Leuten von der Bibliothek. Da bist du auch drauf.«
»Ah, ja. Das … Erinnere mich nicht daran.«
»Da bist du doch voll scharf drauf. So hübsch bist du in echt gar nicht.«
Oh, Gott! Konstantin widerstand dem Drang, seine Schläfen zu reiben.
»Aber in echt bist du männlicher.«