Ocean City – Im Versteck des Rebellen - R. T. Acron - E-Book
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Ocean City – Im Versteck des Rebellen E-Book

R. T. Acron

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Beschreibung

Flucht aus Ocean City Ganz Ocean City jagt Jackson und Crockie! Aber als sich die schwimmende Megastadt dem Festland nähert, gelingt es den Freunden trotzdem, sich dorthin abzusetzen. Sie wollen auf dem Kontinent nach dem verbannten Rebellenführer suchen und ihn heimlich wieder in die Stadt einschleusen. Denn ohne seine Hilfe scheint ein organisierter Widerstand kaum möglich. Doch auf dem Festland gelten eigene Regeln und Gesetze – und Ocean Citys langer Arm reicht selbst bis hierhin. Um zu überleben, müssen sich die Freunde dubiosen Gestalten anvertrauen – und untertauchen. Dabei drängt die Zeit, denn die City wird sich schon in wenigen Tagen wieder vom Festland entfernen und dann gäbe es für Jackson und Crockie kein Zurück.

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R. T. Acron

1

Zurück. Das war Jacksons einziger Gedanke. Ein Gedanke so groß, dass er ihm den kühlen Blick auf alles andere verstellte. Ein Gedanke, der ihm die Luft zum Atmen nahm. Das altersschwache Boot stampfte durch die graue See, der Dunkelheit entgegen, raus aus dem künstlichen Licht der City, weg von den Hafenanlagen. Fjodor steuerte die nach Fisch stinkende Kiste geradewegs in die Richtung, in der sie das Festland vermuteten.

»Wir müssen zurück!«, keuchte Jackson.

Sein Freund Crockie stand neben ihm an der Reling. Er war sichtlich bemüht, seinen Magen und seine Nerven unter Kontrolle zu halten. Der Kahn schwankte in den Wellen des Ozeans. Crockie schüttelte den Kopf, auf dem die ersten Haarstoppeln wieder sprießten, nachdem die Abteilung Z ihm im Gefängnis den Schädel rasiert hatte. »Red keinen Mist, Jackson. Wir sind ihnen gerade noch entkommen. Es gibt kein Zurück. Entweder wir schaffen es bis zu der verdammten Küste oder …« Das oder wollte er sich wohl lieber nicht ausmalen.

Crockie kramte in einer Box im Heck des Bootes. Sie stand neben unordentlich hingeworfenen Netzen und ein paar Hummerkörben, die sich dort stapelten. Schwimmwesten kamen zum Vorschein. Drei Stück. Für sieben Personen. Außerdem leuchteten die Westen in einem schreienden Orange, weithin sichtbar. Sichtbarkeit war im Augenblick das Letzte, was sie brauchten.

Crockie knallte den Deckel der Kiste zu. »Wenn ich jemals wieder ein normales Leben haben sollte, lerne ich schwimmen«, knurrte er.

Die Mädchen und Jimmy hatten sich sofort unter Deck in die winzige Kajüte verzogen, um zu überprüfen, ob alles an Bord war, was sie für teure Minuten und Stunden bei dem Eigentümer des Schiffs gekauft hatten. Grischa stand in der Bugspitze und hielt Ausschau. Immer wenn eine hohe Welle heranrollte, gab er Fjodor ein Zeichen, der daraufhin den Motor drosselte.

Jackson packte Crockie an den Schultern. »Wir müssen zurück, Crockie«, wiederholte er. »Zurück!«

Die Lichter der Hochhäuser von Ocean City, die gelbliche Beleuchtung der Hafenanlage der schwimmenden Millionenstadt, entfernten sich immer weiter. Der altersschwache Kahn legte ein beachtliches Tempo vor und schlingerte dabei bedenklich durch die Wellenkämme.

»Er hat sie, Crockie, verdammt noch mal, er hat sie!«

»Wer hat was?« Crockie wand sich aus Jacksons Griff. »Willst du mir die Schulter auskugeln?«

»Kilroy. Rufus. Er hat sie.« Die Panik in Jackson wuchs. Sie überflutete ihn in Wellen, die schlimmer als dieses grauschwarze Wogen vorm Bug des Bootes waren. Es war ihm egal, wie wirr er sich anhörte. Beim Anblick seiner kleinen Schwester an der Hand dieses alten Mannes hatte sich sämtliche Vernunft von ihm verabschiedet.

Jackson hatte sie gesehen. Er hatte genau gesehen, wie der alte Mann Jacksons Schwester Celine festgehalten und zu ihm herübergegrinst hatte. Es bestand kein Zweifel: Es war Rufus Gainsbourgh gewesen. Der Mann, dem Jackson vertraut hatte. Der Mann, der Jackson und Crockie mal einen Hubackle zugesteckt, mal mit einer alten Speicherplatte und ziemlich oft mit einem guten Rat ausgeholfen hatte. Wie ein Großvater war er für Jackson gewesen, obwohl er das nie ausgesprochen hatte. Warum gab er sich als Clarence Kilroy, dem angeblich dieser Kutter gehörte, aus? Warum überließ er ihnen, den gesuchten Rebellen vom Kommando Matt Fuller, das Boot? Aber viel wichtiger als alle anderen Fragen war: Was machte seine kleine Schwester an der Hand dieses Mannes?

Jackson wusste nicht, was für ein Spiel Rufus Gainsbourgh trieb. Eines wusste er jedoch sicher: Celine sollte keine Figur in diesem Spiel sein. Sie mussten umkehren, Celine sofort befreien und dann mit ihr fliehen.

»Er hat Celine.« Jackson raufte sich die Haare. »Wir müssen umdrehen.«

Crockie starrte ihn entgeistert an. »Was redest du für ein Zeug? Bist du irre? Wieso Rufus?«

Das Boot sackte in ein Wellental. Crockie verlor das Gleichgewicht, rutschte aus und kippte rückwärts gegen die Kiste mit den Schwimmwesten. »Verdammt!«, schrie er.

Jackson lief zum Führerstand des Bootes und riss die Tür auf. Fjodor lachte. »Kannste nicht anklopfen? – Ganz schön fette Wellen, quer übern Ozean wollte ich mit dem Ding nicht schippern.«

Jackson griff ins Ruder. Aus dem Augenwinkel nahm er Grischas Fuchteln mit den Armen wahr, aber das Boot legte sich quer.

»Finger weg«, fauchte Fjodor.

»Wir drehen um!«, rief Jackson. Er schob Fjodor weg, packte sich das Ruder und warf es herum. Das Boot legte sich bedenklich auf die Seite. Wassermassen überspülten das Deck. Crockie musste sich festhalten, damit er nicht über Bord ging.

»Scheiße, drehst du jetzt völlig durch, Jackson?«, schrie Crockie. Er kam in die Kabine gestürzt und packte Jackson an der linken Schulter. Im selben Moment legte sich Fjodors schwere Hand auf Jacksons rechte Schulter. Jackson krallte sich am Steuer fest. Die beiden waren stärker. Sie zerrten ihn los. Fjodor schubste Jackson aus dem Führerstand, übernahm wieder das Steuer und brachte das Boot zurück auf Kurs.

Crockie hielt Jackson fest. »Was soll der Mist? Rufus hat Celine? So ein Quatsch. Wir haben einen Plan, kapiert? Und an den halten wir uns, wir können nicht zurück.«

»Ohne mich!«

Jackson stürzte zum Heck, riss die Kiste mit den Schwimmwesten auf und warf eine in das Kielwasser des Bootes. Er kletterte auf die Kiste, bereit zum Sprung, aber Crockie packte ihn am Arm.

»Hör auf, du bist wahnsinnig. Das schaffst nicht einmal du.«

Jackson versuchte, sich loszureißen, aber Crockie hing an ihm wie eine Klette. Das Boot sackte wieder in ein Wellental, sie verloren beide das Gleichgewicht. Crockie knallte vornüber gegen die schmale Reling. Ein Schmerzensschrei übertönte das Rauschen der Wellen. Crockie sackte in sich zusammen und schwankte. Jackson versuchte, ihn am Arm zu packen.

Er spürte, wie ihm der Stoff der Jacke durch die Finger glitt. Er konnte ihn nicht halten. »Vorsicht, Crockie«, schrie er noch, aber es war zu spät. Crockie rutschte über die Reling.

Durch Jacksons Gehirnwindungen raste ein Bild: wie die Leute der Abteilung Z Crockie vor wenigen Wochen angeschossen hatten und sein Freund in den Kanal gestürzt war. Einen Herzschlag zu lang hatte Jackson gewartet, nicht zugegriffen, war nicht hinterhergesprungen. »Crockie war tot«, hatten die anderen gesagt, »du konntest ihm nicht helfen!« Aber Crockie war nicht tot gewesen. Er hatte die Sache überlebt. Jackson machte sich trotzdem Vorwürfe, dass er versagt hatte.

Die Erinnerung gab Jackson eine solche Kraft, dass seine Hand sich wie ein Schraubstock um Crockies Handgelenk legte. Ich lasse ihn nicht los, nein, eher gehe ich mit ihm über Bord. Ein stechender Schmerz ließ ihn zusammenfahren. Das zeitgleiche Krachen klang nicht gut. Nicht Crockies, sondern seine eigene Schulter war ausgekugelt.

»JACKSON!«, gellte wie aus weiter Ferne Crockies Schrei.

Jackson sah, wie Crockies Füße im Wasser schleiften. Die Füße, nun schon die Knie. Jacksons Hand klammerte sich an Crockies Handgelenk und Crockies an seines. Der Schmerz in der Schulter war unerträglich, aber Jackson wusste, dass ein anderer Schmerz ihn nie mehr im ganzen Leben verlassen würde, wenn er jetzt losließ. Er stemmte die Füße gegen die Reling und schaffte es, mit der zweiten Hand Crockies Kragen zu packen. Jemand schrie etwas in Jacksons Ohr, drei, vier weitere Arme griffen nach Crockie.

»Wir haben ihn!«

Chaos, Schreie, etwas raste auf Jacksons Gesicht zu, eine Faust. Wohlige Schwärze breitete sich um Jackson aus.

 

Jackson schmeckte Blut. Schmerz pochte in seiner Nase. Jemand hatte ihn geschlagen, ihm wahrscheinlich die Nase gebrochen.

Jackson wollte aufstehen. Es ging nicht. Ein unbändiger Schmerz in der Schulter warf ihn zurück in das muffige Kissen. Er lag auf einem der schmalen Betten in der Kajüte. Um ihn herum war es dunkel.

»Hey, jetzt übertreibt ihr’s aber, Jungs«, hörte er draußen eine Stimme. Das war Lou.

»Ich wollte ihn nicht umhauen«, grummelte Grischa. »In dem Gemenge …«

»Ist schon gut«, sagte Lou. »Hauptsache, es ist niemand zu Schaden gekommen.«

Seine Nase, seine Schulter, eigentlich sein ganzer Körper fühlte sich ziemlich nach Schaden an.

»Er bringt uns alle in Gefahr.« Scouts scharfe Worte ließen keinen Zweifel daran, was sie von Lous Versuch hielt, die anderen zu beruhigen. Sie war von Anfang an nicht davon überzeugt gewesen, dass Jackson eine Hilfe für die Gruppe darstellte. Bei Crockie hatte Scout sich ganz anders verhalten. Kratzbürstig war sie zu allen, aber bei Crockie schimmerte immer noch etwas anderes durch.

Lou nahm Jackson in Schutz. »Jackson hat die Nerven verloren, aber das kann passieren.«

»Das darf nicht passieren«, gab Jimmy zurück. »Wir stehen immer noch am Anfang der Mission. Wenn er wieder durchdreht, kostet uns das vielleicht alle Kopf und Kragen.«

Jackson hasste den herablassenden Ton von James O’Reilly, der von allen nur Jimmy genannt wurde. Klar, er war der Älteste von ihnen. Er hatte der mächtigsten Frau von Ocean City als persönlicher Assistent gedient, und vor allem verfügte er alleine über die Informationen, die sie brauchten, um diesen Matt Fuller auf dem Festland zu finden. Alle anderen sollten nur das wissen, was unbedingt nötig war. Wenn einer von ihnen in die Hände der Abteilung Z fiel, konnte er die Mission nicht gefährden. Crockie hatte erlebt, was es bedeutete, von diesen Leuten befragt zu werden. Nach allem, was Jackson von Crockie erfahren hatte, schreckten die noch nicht mal vor Folter zurück.

»Hey!«, machte Jackson sich bemerkbar.

Die Luke über den Holztritten, die hinauf aufs Deck führten, quietschte und schlug zurück auf die Planken. Schritte trappelten herab.

»Von den Toten auferstanden«, versuchte Crockie einen Scherz.

Jackson konnte nicht grinsen. Jede Regung seiner Gesichtsmuskeln rächte sich mit einem stechenden Schmerz aus der Gegend, wo seine Nase einmal hervorgestanden hatte. Es fühlte sich an, als sei sie jetzt ein breiiger Fleck.

Lou, Scout und Jimmy folgten Crockie in den engen Raum, der schon zwei Personen kaum genug Platz bot. Für einen kurzen Moment konnte er einen Blick auf den tiefschwarzen, von Sternen durchlöcherten Himmel werfen. Das Rauschen der Wellen wurde lauter und übertönte das pulsierende Geräusch in seinem Schädel. Dann schlug die Luke zu. Kurz war es stockfinster, bis Jimmy eine Lampe aufleuchten ließ.

Jackson machte einen erneuten Versuch, sich aufzustützen, aber die Schulter wollte ihm nicht gehorchen.

»Ausgekugelt«, stellte Scout kalt fest.

Bevor Jackson sich wehren konnte, hatte sie seinen Arm gepackt, ihm einen Fuß auf den Brustkorb gesetzt und einmal heftig gezogen. Die Profilsohle auf Jacksons Brust drückte ihm die Lunge ein, ein erneuter blitzartiger Schmerz durchfuhr ihn, über seine Lippen kam aber nur ein »Pffft …« und dann ein Wimmern.

»Gern geschehen«, sagte Scout.

Jackson kreiste mit der linken Schulter, dann mit der rechten. Angenehm war das nicht, aber es reichte, um sich aufzusetzen.

Lou schüttelte den Kopf. Ihr Blick war traurig. Kein Vorwurf, kein Ärger lag darin. »Jackson, was ist los mit dir? Du bringst uns alle in Gefahr! Das muss dir doch klar sein.«

Jackson sah an Lou vorbei. Sein bester Freund Crockie stand da, schaute ihn aus den schwarzen, ein wenig mandelförmigen Augen an. Jackson konnte nicht erkennen, was in Crockie vorging. Seit Crockies Verhaftung hatte sich so viel verändert, nicht nur die langen Haare hatten sie ihm in der Haft abgeschnitten. Als zitterndes Häufchen Elend hatten Jackson und Lou ihn befreit. Zitternd, aber ganz schön zäh, wie sich gezeigt hatte.

»Tut mir leid, Crockie«, flüsterte er.

»Vergiss es«, antwortete Crockie mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Mir qualmten die Socken. Die kleine Abkühlung war gut«, versuchte er zu scherzen.

»Es war Rufus«, sagte Jackson leise. »Rufus Gainsbourgh stand am Ufer. Mit Celine.«

Jackson erzählte ihnen in allen Details, was er gesehen hatte. Von dem Typen, der sich als Clarence Kilroy ausgegeben hatte. Wie er den Regenhut abgezogen hatte und dann eine Perücke. Jackson hatte ihn erkannt. Rufus. Ohne jeden Zweifel.

Crockie schüttelte den Kopf. »Ausgeschlossen, Jackson. Du musst dich verguckt haben. Es war dunkel, nur die Funzel am Kai. Es kann nicht sein.«

»Das macht keinen Sinn. Er hat euch doch immer geholfen. Warum sollte Rufus das tun?«, sagte Lou.

»Das weiß ich nicht. Deshalb müssen wir …«, Jackson zögerte einen Augenblick, »… muss ich zurück. Ihr könnt mich für bescheuert halten, aber meine kleine Schwester erkenne ich noch. Er hat sie an der Hand gehalten.«

»Hier geht keiner zurück«, sagte Jimmy. »Jedenfalls keiner alleine. Und im Übrigen: Keiner von uns kann zurück. Das weißt du selbst.«

Jimmy reckte den Arm und zog den Ärmel zurück. Sein Decoder kam zum Vorschein. Er fummelte den Verschluss auf und hielt Jackson das Handgelenk hin. Unter der Haut zeichnete sich der Chip ab, der aus einem Menschen einen Teilhaber und Bewohner von Ocean City machte.

»Unsere Identitäten sind verbrannt, verstehst du das? Ich könnte mir das Ding auch aus dem Fleisch pulen. Es gibt kein Zurück mehr, jedenfalls nicht, bis wir Matt Fuller gefunden haben. Er hat die technischen Möglichkeiten, diese verdammten Dinger zu bauen, und zwar so, dass man damit Lydia Tremont und ihre ganze Zentralbank mitsamt der Abteilung Z zum Teufel jagen kann. Wenn du deine Eltern und deine Schwester jemals wiedersehen willst, halte dich an unseren Plan. Tu, was dir gesagt wird. Du gefährdest mit deinem Verhalten die ganze Gruppe. Ist dir das klar? Du hast gerade fast deinen besten Freund über Bord gehen lassen.«

»Hör auf«, ging Crockie dazwischen. »Es war ein Blackout. Er hat mich gehalten, sonst wäre ich Fischfutter geworden.«

Jackson war dankbar, dass sein Freund hinter ihm stand. Er wusste natürlich, dass Jimmy recht hatte. Er ließ den Kopf hängen. Celine war in der Hand eines Mannes, der anscheinend verrückt war. Und was tat Jackson? Er schipperte mit einem Rebellenkommando weg von der City, Richtung Festland. Ohne Celine.

Crockie setzte sich neben Jackson auf die Bettkante. »Jackson, wir haben im Moment keine andere Möglichkeit, als die Sache wie geplant durchzuziehen. Wenn es stimmt, was du sagst –«

»Ich habe sie gesehen!«

»Das will ich gar nicht bestreiten. Wenn dieser Kilroy Rufus ist, müssen wir herausfinden, was los ist. Irgendwer spielt uns hier einen gewaltigen Streich.«

»Einen Streich?«, fragte Scout. »Sieht alles nicht nach einem Spaß aus.«

»Müssen wir dich hier unten festketten? Oder können wir dir vertrauen?« Lou fixierte Jacksons Blick.

Klein, drahtig und sportlich hockte sie neben ihm. Die Haare hielt ein schlichtes Gummiband, im linken Ohr trug sie einen Ohrschmuck mit einer Feder, der sanft hin und her schaukelte.

»Natürlich könnt ihr das.«

Plötzlich schlug die Luke auf. Grischa stand oben. »Eine Patrouille, zwei Schnellboote.«

2

»Können die unseren Kahn ausmachen?«, fragte Scout.

»Unser Störsender gegen die Radarortung läuft einwandfrei, aber wenn sie auf Sichtweite kommen …« Grischa zuckte die Achseln.

Jackson sah sie. Es waren zwei Schnellboote, die nördlichen und nordöstlichen Kurs nahmen. Große Suchscheinwerfer strichen über die Wasseroberfläche.

»Wenn sie die Dinger nach Westen schwenken, haben sie uns«, flüsterte Scout.

»Glaube ich nicht, so weit reichen die Strahlen nicht.« Crockie stand mit einem Fernglas direkt hinter Scout und visierte die Patrouillenboote an.

Fjodor änderte den Kurs. »Wir schlagen einen Haken und weichen ihnen aus«, murmelte er.

Jackson ließ den Kopf hängen. Die Lichter von Ocean City wurden schwächer und schwächer und verschwanden bald wie ein sanftes Glimmen im Meer. Wenn ihm trotz des Versprechens, das er Lou gegeben hatte, noch ein Rest Hoffnung geblieben war, verflüchtigte sich dieser nun. Schwimmend würde er es nicht mehr schaffen, bei diesem Wellengang, ohne einen Orientierungspunkt, im Dunkeln. Ausgeschlossen. Seine Hoffnung lag jetzt in der entgegengesetzten Richtung, auf dem Kontinent. Und sie hatte einen Namen: Matt Fuller.

Der Rebell sollte ihnen helfen, seine und Crockies Familien aus der Gewalt von Lydia Tremont und ihren Leuten zu befreien. Er hatte die technischen Mittel, um die kleinen elektronischen Chips zu fälschen, die in der City aus einem Menschen einen Teilhaber machten, ihm mit dem dazugehörigen Decoder eine Identität verschafften. Laut Jimmys Aussage hatte Matt Fuller sogar die nötigen Kontakte, um das gesamte System der City aus den Angeln zu heben, um es neuer, freier und gerechter wiederaufzubauen.

Matt Fuller holen und ihn den Rest erledigen lassen. Das war ihr Plan, auf den steuerte das kleine, stinkende Boot zu.

Jackson spürte, wie seine Nase anschwoll. Der Schlag hatte Wumms gehabt. Er bekam nur noch durch das linke Loch Luft.

Nachdem Fjodor den Kurs geändert hatte, entfernten sie sich weiter von den Patrouillenbooten. Anscheinend suchten sie gar nicht nach diesem Schrottkahn.

Sie saßen zusammengekauert und in alte Decken gehüllt im Heck des Bootes. Nur Fjodor hielt am Steuer durch. Crockie hatte Wasser erhitzt. Jeder hielt nun einen Becher mit heißem Tee in den Händen, der zwar muffig schmeckte, aber immerhin wärmte.

»Wie kommen wir eigentlich durch den äußeren Ring?«, fragte Jackson nach einer Weile und schaute in die Runde.

»Wir haben einen Passierschein«, sagte Jimmy.

»Einen Passierschein?«, fragte Jackson.

Jimmy nickte. »Der Passierschein gehörte zu dem Deal mit Clarence Kilroy. Ohne den Lappen wäre das Boot nichts wert gewesen.«

Jackson biss sich auf die Lippen. Er verkniff sich den Kommentar. Er bewahrte Ruhe. Er hatte es Lou versprochen. Und er hoffte, dass er sich doch geirrt hatte. Wenn dieser Bootseigentümer, dieser Kilroy, und Rufus Gainsbourgh ein und dieselbe Person waren, dann wollte er nicht wissen, was passierte, wenn sie den Lappen bei einer Kontrolle vorlegten. Es musste doch längst eine riesige Fahndung nach ihnen geben. Nach allem, was sie sich geleistet hatten, war davon auszugehen, dass die Sicherheitsdienste ihnen auch eine Flucht über das Meer zutrauten.

»Ihr glaubt also wirklich, dass die einen alten Fischkutter mit sieben gesuchten Leuten darauf durchlassen, einfach so? Nur weil sie einen Lappen dabeihaben?«, fragte Crockie.

Jimmy lächelte. »Ja. Ich habe allerdings ein paar Tricks vorbereitet.«

Lou zeigte in den Himmel vor ihnen. »Ist das da der Leuchtturm auf dem Festland?« Am Horizont huschte ein Licht vorüber.

»Möglich«, murmelte Jimmy. »Ich hätte nicht gedacht, dass wir schon so nah sind.«

Jackson hörte den Zweifel in Jimmys Stimme. Sie steuerten genau auf das Signal zu.

Scout war es, die durch ein Fernglas sah und plötzlich das Kommando gab: »Mist, abdrehen! Schnell, wir müssen abdrehen! Das ist der äußere Ring.«

Fjodor steuerte das Boot in südlicher Richtung von den Lichtern weg, aber schon bald tauchten neue auf. Es wurden mehr und mehr, und je näher sie kamen, desto größer wurden die Bogen, die die starken Scheinwerfer zogen.

»Willkommen im äußeren Ring von Ocean City«, flüsterte Jimmy.

Sie alle sagten kein Wort. Jackson sah Schiffe. Große, hell erleuchtete Fregatten, die mit ihren Suchscheinwerfern das Meer erhellten, allerdings im Moment noch in die andere Richtung, nach draußen.

»Je näher die City einem Kontinent kommt, umso enger zieht sich der äußere Ring zu«, erklärte James O’Reilly flüsternd. »Aber ich hätte nicht gedacht, dass er so eng ist, um uns vor den Feinden von außen zu beschützen.«

Die Feinde von außen. Bei diesen Worten schoss Jackson der Schwur durch den Kopf. Wie lange hatte er den mit seiner Schwester Celine geübt? Wie oft hatte er selbst ihn wiederholen müssen? »Mir ist bewusst und ich habe verstanden, dass nur die Gemeinschaft der City dazu in der Lage ist, mich gegen Feinde von außen und gegen Unrecht im Innern zu schützen.«

Jeder Bewohner von Ocean City hatte diesen Schwur geleistet. Dabei war die Gemeinschaft zu einem Scheiß in der Lage! Unrecht im Innern – was hatten seine Eltern, was hatte Celine getan? Nichts! Sie wurden unschuldig festgehalten. Feinde von außen? Gab es die überhaupt? Oder diente dieser Ring aus Kriegsschiffen in Wahrheit dazu, die Bewohner der City in Schach zu halten?

»Das Leben auf den Kontinenten ist hart und geprägt von großer Ungerechtigkeit«, so hatten sie es in der Clark Kellington Highschool gelernt. Diesen Satz hatten Jackson, Crockie und einfach alle an der Schule irgendwann in Referaten aufsagen müssen. Machte die ewige Wiederholung eines Satzes diesen Satz wahr? Wer von ihnen war schon einmal außerhalb der City gewesen? Crockie nicht, Lou und Scout garantiert auch nicht und Jackson selbst war nur einmal im Urlaub in einer befreundeten schwimmenden Stadt gewesen, die sich Cheruba Island nannte. Aber auf einem Kontinent? Nie.

Fjodor und Grischa kamen vom Kontinent. Sie redeten nicht gern darüber. Wie auch immer das Leben auf den Kontinenten aussah: Auf einen Kontakt mit den Leuten vom äußeren Ring waren Fjodor und Grischa jedenfalls nicht scharf. Sie ließen die Scheinwerferschiffe nicht aus den Augen.

»Sie schließen den Ring und das da sieht ganz nach einem Boot der Border Control aus«, sagte Fjodor.

Ein eher schmales und nicht sehr großes Motorboot mit den Hoheitszeichen von Ocean City nahm Kurs auf den Kutter. Nicht sehr schnell, aber geradewegs.

»Ein Schnellboot«, knurrte Grischa. »Abhauen könnt ihr knicken.«

»Okay, wir gehen ins Wasser«, sagte Jimmy. »Nur Grischa und Fjodor bleiben an Bord und spielen die harmlosen Fischer, für die der Lappen ausgestellt ist.«

Crockie wurde kreidebleich, hielt aber den Mund.

»Das soll dein Trick sein?«, fragte Jackson. »Crockie kann nicht schwimmen!«

»Macht nichts«, erwiderte Jimmy. »Das muss er auch nicht.«

3

Lydia Tremont tackerte mit ihren Absätzen von links nach rechts in ihrem hoch oben im Tower der Zentralbank von Ocean City gelegenen Büro, machte kehrt und tackerte zurück. Das wiederholte sie seit einer guten Stunde. Hin und her.

Dieser Raum setzte alle Zeichen ihrer Macht ins rechte Licht. Auf dem wuchtigen Schreibtisch aus einem Edelholz, das längst nicht mehr gehandelt werden durfte, thronte das blitzblank glänzende Messingschild. Generalsekretärin Lydia Tremont stand darauf, so ausgerichtet, dass es jeder beim Betreten ihrer Machtzentrale sehen konnte. Manchmal ärgerte sie sich, dass in ihrem Titel das Wort Sekretärin enthalten war. Mittlerweile wusste allerdings jeder in Ocean City: Lydia Tremont war der General, nicht die Sekretärin.

An den Wänden präsentierte sie die Urkunden ihrer ebenso blitzblanken Karriere. Sogar das Abschlusszeugnis der Clark Kellington Highschool hing dort: Abschlussnote 1,0und Exzellenz-Prädikat. Das war in der Geschichte von Ocean City selten.

Bei ihrem nächsten Marsch durch das Zimmer knallte sie den Finger auf den Knopf der Gegensprechanlage, ein Reflex, eine Bewegung, die sie tausendmal vollzogen hatte, wenn sie ihren Assistenten in Bewegung setzen wollte. Fast hatte sie den Namen des Verräters auf den Lippen gehabt. Im letzten Moment verschluckte sie ihn.

Auf James O’Reillys Stuhl saß niemand mehr. Allzu schnell würde sie den Posten auch nicht neu besetzen. So bald würde sie niemandem vertrauen, lieber kümmerte sie sich selbst um ihren Terminkalender und kochte sich auch den Kaffee.

Alles hatte dieser Mistkerl gewusst, alles hatte sie O’Reilly anvertraut. Na ja, fast. Ziemlich viel jedenfalls. Sie wäre niemals auf den Gedanken gekommen, dass der geschniegelte Kerl sie hintergehen würde. Eine glänzende Karriere hatte O’Reilly in Aussicht gehabt. Niemand war mit Mitte 20 so hoch aufgestiegen wie er und nun hockte er irgendwo im Dreck, mit diesen Rotzlöffeln. Halbstarke Jungs und Mädchen, die es geschafft hatten, Lydia Tremont auszutricksen. Eine Bande von Teenagern, dieser Jackson Crowler war nicht einmal 14. Unglaublich!

»Ihr werdet es noch sehen«, knurrte sie. »Eine Schlacht habt ihr vielleicht gewonnen, aber der Krieg beginnt gerade erst.« Sie machte kehrt und legte die nächste Runde zurück.

Wo blieben die Agenten der Abteilung Z? Wenn diese Krise überstanden war, würde sie aufräumen. Überall. Im Zentralbankrat, in der Abteilung Z. »Überall«, schnaufte sie.

Sie machte an einem der bodentiefen Fenster halt und schaute hinaus. Ihre Blicke wanderten über die Skyline der City, die in den letzten 100 Jahren rund um das erste Modul mit dem Turm der Zeitagentur stetig gewachsen war. Kein Mensch hatte bei der Gründung der City damit gerechnet, dass dieses frei auf dem Meer treibende Gebilde eines Tages 15 Millionen Bewohner haben würde.

»Frau Generalsekretärin?«

Lydia Tremont zuckte zusammen, riss den Blick von den Lichtern der Stadt los. »Können Sie nicht anklopfen?«

»Haben wir.« Mechthild Schmidt deutete eine Verbeugung an, eigentlich nur ein Nicken und ein kurzes Wippen auf den Fußballen. Sie trug einen dunkelblauen Hosenanzug, wie immer. Das Ding schien mit ihr verwachsen zu sein. Ihre braunen Haare waren streng nach hinten gekämmt und zu einem Pferdeschwanz festgezurrt, was ihr eine maskenhafte Miene gab.

»Dreimal«, ergänzte ihr Partner Dieter Meier, ein drahtiger Typ in einem ebenfalls dunkelblauen Anzug.

Die Generalsekretärin vergeudete keine Zeit. »Haben Sie diese miesen kleinen Ratten?«, platzte es aus ihr heraus. Sie schnappte nach Luft und merkte selbst, wie viel Wut in jedem dieser Worte lag. Ich muss mich zusammenreißen, dachte sie. Entschlossen, unerbittlich – das sollte sie sein. Aber Gefühle zeigen? Auf keinen Fall.

In Mechthild Schmidts Gesicht zuckte eine Augenbraue, kaum merklich. Hatte sie den Hass in Tremonts Worten gespürt, oder wusste sie schon, was ihr blühte, wenn die Antwort auf die Frage negativ ausfiel?

»Nein«, sagte Meier. »Keine Spur.«

Tremont schnaubte.

»Wirklich gar keine noch so kleine Spur«, ergänzte Schmidt.

»Das ist unmöglich.« Lydia Tremont hatte sich wieder im Griff. »Man kann sich auf Dauer nicht in der City bewegen, ohne an irgendeinem Trafficpoint Spuren zu hinterlassen.«

Es gehörte zur Genialität und Stabilität des Systems von Ocean City, dass nicht mit Geld oder Gold bezahlt wurde, sondern jeder Bewohner der Stadt seinen Konsum in Stunden, Minuten und Sekunden bezahlte. Ein erfreulicher Nebeneffekt dieser Währung war die perfekte Überwachungsmaschinerie der zentralen Zeitagentur. Jeder Bezahlvorgang wurde über den fälschungssicheren Decoder, den die Bewohner am Handgelenk tragen mussten, an den Trafficpoints ausgeführt. Wer die Subway nutzte, ein Gespräch an einem Teleport führte oder einfach nur einen Algensalat in einer Bar aß, hinterließ Spuren im System der Zeitagentur. Niemand konnte mit einer Tarnkappe durch Ocean City spazieren.

Meier räusperte sich. »Ihr Assistent …«

»Ehemaliger Assistent!«, fuhr Lydia Tremont dazwischen.

»O’Reilly und seine Helfer haben einen Ausbruch aus dem sichersten Trakt unserer Abteilung organisiert, sie sind offensichtlich zu einigem in der Lage«, sagte Meier.

Er blieb dabei ganz ruhig. Das System hatte seit geraumer Zeit Mängel, es war veraltet. Tremont war diejenige, die gezögert hatte, die für die Modernisierung notwendigen Mittel freizugeben.

»Reden wir Klartext«, sagte Mechthild Schmidt.

Lydia Tremont schaute sie an. Die Frau wagte einen schnittigen Ton. Irgendwie gefiel der Generalsekretärin das.

»Alle Abfragen, die wir innerhalb einer so kurzen Zeit durchs System jagen konnten, waren negativ. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis einer von ihnen ins Netz geht. Ein Problem ist, dass wir nicht die Identität von allen in der Gruppe kennen. Jackson Crowler, Crockie Fleming und mit großer Wahrscheinlichkeit auch Louise Clermont gehören dazu. Von zwei weiteren jungen Männern und einem Mädchen haben wir vage Beschreibungen, keine Namen, keine Subkutan-ID-Chips – nichts. Wenn sie abgetaucht sind und nicht mehr in der Schule oder an ihren Arbeitsplätzen auftauchen, fallen sie vielleicht irgendwann auf. Aber das kann dauern.«

»Kann dauern. Frage der Zeit.« Lydia Tremonts Hand schlug auf die Tischplatte. »Wir haben keine Zeit. Es darf nicht dauern.«

Die Agentin blieb ruhig. »Richtig. Keine Zeit und keine Leute. Sie wissen genau, dass alle Sicherheitsorgane der City am Limit arbeiten, wenn wir uns dem Festland nähern.«

Lydia Tremont stöhnte. Für einen Augenblick hatte sie diese Tatsache verdrängt.

Wenn Ocean City sich der westlichen Spitze des Kontinents näherte, mussten alle Segmente der oberen Verwaltung, besonders aber die Strömungstechniker sowie die Ingenieure in den Maschinenparks, unter Hochdruck arbeiten und rund um die Uhr bereitstehen. Und natürlich die Sicherheitsabteilungen. Die City war zu keinem Zeitpunkt so angreifbar. Wenn das riesige Gebilde an den Versorgungsarmen der weit ins Meer ragenden Docks für ein paar Tage vor Anker ging, lagen bei allen die Nerven blank. Dieses Mal würden sie sogar zwei oder drei Wochen brauchen, weil die City endlich den schrottreifen und mit Chemikalien vergifteten Bezirk 404 abmontieren und irgendwo in der Wüste entsorgen wollte. Über ein Jahr hatten die Verhandlungen mit einem der Warlords, der den Bereich rund um den Floating Port kontrollierte, gedauert. Dieser Aristide war ein unberechenbarer Typ. Wenn sie den verpesteten Schrott nicht bald loswurden, würde sich die Erneuerung der Wohngebiete im ehemaligen 404er ewig in die Länge ziehen.

»Nach unserer Meinung ist es kein Zufall, was gerade passiert. Oder besser gesagt: dass es jetzt passiert«, sagte Mechthild Schmidt. Sie sagte allerdings nicht, was sie damit meinte. Sie ließ die Worte für ein paar Herzschläge sacken.

Lydia Tremont hielt das Schweigen aus. Sie verstand sofort, was Schmidt nur andeutete. Sie lächelte, setzte sich in den schweren Sessel und streifte ihre unbequemen Schuhe ab. »Natürlich. Sie wollen aufs Festland. Sie hinterlassen keine Spuren in der City, weil sie gar nicht mehr hier sind.«

»Gewissheit gibt es nicht, aber ich …«, sie korrigierte sich, »Meier und ich sind davon überzeugt.«

»Was will die Bande in dieser Monsterstadt auf dem Kontinent? Die ganze Gegend ist vom Bürgerkrieg zerschossen.«

Mechthild Schmidt zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Klar ist aber, dass sie so eine Nummer nicht ohne Hilfe durchziehen können. Entweder verfügen sie über eine Menge Zeit auf geheimen Konten oder über ein Netzwerk von Helfern. Oder jemand mit viel Einfluss steckt dahinter.«

Jemand, der an meinem Stuhl sägt, dachte Lydia Tremont. Jemand, der vielleicht sogar O’Reilly aus genau diesem Grund direkt in meiner unmittelbaren Nähe platziert hatte.

»Madam?«, fragte Dieter Meier.

»Nichts. – Ich muss nachdenken. Vergessen Sie die Fahndung in der City. Geben Sie eine Meldung an den Chef der Border Control Agency. Diskret. Ich will nicht, dass das Ausmaß unserer Probleme bekannt wird. Offiziell fahnden wir weiter nach ein paar kriminellen Jugendlichen.«

Die beiden Agenten nickten und verließen das Büro. Lydia Tremont griff zum Teleport. Wenn die Bande es vielleicht schon geschafft hatte, den äußeren Ring zu überwinden, brauchte sie einen Spürhund, einen Terrier, einen richtigen Wadenbeißer, der sich nicht abschütteln ließ. Ihr sehr spezieller Freund war der richtige Mann dafür.

»Euch kriege ich«, murmelte sie, während sie auf die Verbindung wartete.

 

Crockie wollte sich offensichtlich nichts anmerken lassen. Lou, Scout und den anderen konnte er vielleicht etwas vormachen, aber Jackson nicht. Vermutlich mied er deshalb den Blick seines Freundes, als sie sich alle in die Tauchanzüge zwängten.

»Wirst später froh sein, dass wir das dickere Neopren genommen haben. Damit hältste es auch in fies kaltem Wasser aus. Wenn du endlich drin bist.« Scout lachte und half Crockie beim Aufsetzen der Pressluftflasche.

Lou und Jackson standen bereits in voller Montur da, die Flossen an den Füßen.

»Seid sparsam mit der Atemluft«, sagte Jimmy.

Fjodor und Grischa kamen aus der Kajüte. »Und?«, fragte Fjodor und grinste. »Wie sehen wir aus?«

Crockie lachte. »Wie zwei Fischer aus einem drittklassigen Musical. – Erinnerst du dich, Jackson? In der Theatergruppe bei Mrs Doubtfire in der fünften Klasse, als wir für die karibische Nacht geprobt haben? Aloha-heeee …«, sang er.

Jackson nahm ihm die gute Laune nicht ab. Er kannte seinen Freund, und wahrscheinlich merkte Crockie selbst, wie falsch sein Versuch klang, die Angst zu vertreiben. Das Boot der Grenzkontrolle kam von vorn auf sie zu. Sie durften keine Zeit mehr verlieren.

»Boah, das Zeug stinkt wie Sau«, sagte Grischa. Er hielt Jimmy den Ärmel des dicken Wollpullovers hin. Er strotze von Mottenlöchern und Ölflecken.

Jimmy verzog angewidert das Gesicht. »Das ist gut, die Klamotten sind von den Leuten, die mit dem Kutter jahrelang ihre Zeitkonten aufgebessert haben. Wenn ihr euer freches Grinsen unterdrücken könnt, geht ihr als Fischer durch.«

Jimmy hatte ihnen den Plan erklärt. Die Fischkutter waren ein Überbleibsel aus vergangenen Zeiten. Die Direktion von Ocean City ließ die paar Familien, die dieses Geschäft noch betrieben, gewähren. Vielleicht lag es daran, dass gerade die oberen Zehntausend genau die Leckereien am liebsten auf den Teller bekamen, die die unabhängigen Fischer manchmal unter Einsatz ihres Lebens herbeischafften. Wer viele Stunden und Tage auf dem Konto hatte, konnte sich das wild gefangene Meeresgetier leisten. Abnehmer gab es genug. Junge Thunfische und einige Oktopusarten waren besonders beliebt, aber auch alle möglichen Langusten, Krebse und Hummer.

»Der Kutter hat eine ganzjährige Lizenz«, sagte Jimmy. Er zog das in Folie eingeschweißte Schriftstück aus der Lasche einer Mappe, die an der Tür zum Führerstand hing. Das Dokument war zerknautscht und fleckig, die Folie schon ein paarmal ausgebessert worden. »Sie ist nicht gefälscht und sie gilt für zwei Personen.«

Das war also der Grund, warum die anderen ins Wasser mussten.

»Also rein in die Brühe«, sagte Scout. »Unser Besuch ist gleich da!«

Sie zog die Taucherbrille auf die Nase, steckte den Atemregler in den Mund und nuschelte etwas. Als keiner reagierte, nahm sie das Gerät, durch das sie unter Wasser atmen würde, wieder heraus. »Die Leine, den Karabinerhaken!«, blaffte sie ungeduldig, als verpasse sie im nächsten Moment ein Wasserski-Vergnügen auf Cheruba Island.

Einer nach dem anderen kontrollierten sie noch einmal ihre Pressluftflaschen sowie den Sitz der Westen und der Bleigürtel, die sie schnell hinabziehen würden. Kurz vorm Sprung ins Wasser hakte Grischa die fünf Karabiner der Führungsleinen neben den beiden Leinen, an denen Hummerkörbe hingen, ein. Solange diese Leinen hielten, konnte keiner verloren gehen.

»Flach atmen, am besten gar nicht atmen«, sagte Fjodor.

»Haha«, gab Lou zurück.

»Da gibt es nichts zu lachen. Man sieht die Luftblasen an der Oberfläche, und außerdem wissen wir nicht, wie lange die den Kutter filzen.«

Lou sprang hinter Scout her. Jimmy folgte ihr.

Crockie zögerte.

Jackson ahnte, was in seinem Freund vorging. Das war nicht nur Wasser. Es war kein Tümpel, kein Pool, keines der Kanälchen, die sie in der City angelegt hatten. Das war der Ozean. Tief und schwarz. Schwärzer als die Nacht.

»Jetzt!«, rief Fjodor. »Mach schon!«

Crockie zitterte am ganzen Körper.

Jackson nahm seine Hand. »Du hast eine Pressluftflasche«, sagte er, aber das machte das Zittern nur schlimmer. »Du hast uns.«

»Ich kann das nicht«, wisperte Crockie.

»Ich helfe dir. Wir bleiben zusammen, okay?« Jackson stand jetzt hinter ihm. In der einen Hand hielt er seinen Atemregler, in der anderen den von Crockie. »Sag nichts mehr und denk nichts mehr.« Er stopfte Crockie das Mundstück zwischen die Lippen.

Crockie wehrte sich, aber Jackson hatte schon den Karabinerhaken befestigt. Er umklammerte seinen Freund, so gut das mit der ganzen Ausrüstung ging. Dann ein Stoß, ein Sprung, trotz des dicken Neoprens: Kälte. Kälte, die von den Beinen nach oben zog, zum Bauch, die Brust wurde eng. Blasen, Gluckern, Rauschen rundherum. Langsam sanken sie hinunter.

4

Anita Stremolo stand mit einer ordentlichen Portion Stolz auf der Brücke des Aufklärungsschnellboots C43. Endlich hatte sie drei Männer unter ihrem Kommando. Es waren zwar nicht gleich fünf Boote und dreißig Mann, aber das sollte noch kommen. Spätestens in fünf Jahren wäre sie so weit. Ganz sicher. Dieses Aufklärungsboot war erst der Anfang ihrer Karriere in der Border Control Agency. Anita musste die Nähe der City zum Festland nutzen, um den nächsten Karriereschritt in der BCA vorzubereiten. Der kleine Kutter kam da wie gerufen. So konnte sie ihrer Mannschaft zeigen, wie eine Kontrolle unter ihrer Führung auszusehen hatte.

Der äußere Ring aus Marineschiffen, Tauchrobotern, Drohnen und Helikoptern wurde gerade eng um die City gezogen. Kein Gummiboot gelangte mehr unerkannt in die Nähe der schwimmenden Rieseninsel. Ohne Passierschein kam keiner rein und keiner raus.

Captain Anita Stremolo konnte alle 232 Paragrafen des Border Control Index herunterbeten. Jede denkbare und ein paar undenkbare Situationen hatte sie im Simulator trainiert. Nun würde sie zeigen, was sie draufhatte. Leider war Chuck Nording ihr Erster Offizier und der schien weder sie noch ihre Aufgabe ernst zu nehmen.

»Sieht aus wie ’n stinkender Fischkutter, Lady!«, sagte Chuck.

»Erstens lautet die korrekte Anrede Captain und nicht Lady! Zweitens ist es mir egal, was es zu sein scheint! Ich will wissen, was es ist! – Geben Sie das Kommando. Der Kutter soll beidrehen, wir kommen längsseits«, befahl Anita.