Oceana - Andrea Schütze - E-Book

Oceana E-Book

Andrea Schütze

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Beschreibung

Unzählige Brücken, verwinkelte Gassen und das Meer direkt vor der Tür: Das ist Venedig. Oceana liebt alles an ihrer Heimatstadt – außer das Wasser! Sie hat panische Angst davor und kann sich nicht erklären, warum eigentlich. Eines Tages entdeckt Oceana ein altes Familiengeheimnis, das ihr ganzes Leben auf den Kopf stellt. Sie hat eine geheime Kraft, die in enger Verbindung mit dem Meer steht. Hat sie diese Gabe etwa von ihrer Mutter geerbt? Oceana begibt sich auf die Suche nach ihrer Vergangenheit und findet dabei einen Schatz, der kostbarer ist als alles, was sie sich jemals erträumt hat.

Eine magische Geschichte für alle Kinder ab 10 Jahren, angesiedelt im zauberhaften Setting Venedig. Liebevoll, spannend und mitreißend nimmt einen die Erzählung mit auf eine zauberhafte Suche – eine Suche nach Freundschaft, Familie und Abenteuern.  

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Das Buch

Unzählige Brücken, verwinkelte Gassen und das Meer direkt vor der Tür: Das ist Venedig. Oceana liebt alles an ihrer Heimatstadt – außer das Wasser! Sie hat panische Angst davor und kann sich nicht erklären, warum eigentlich. Eines Tages stößt Oceana auf ein altes Familiengeheimnis, das ihr ganzes Leben auf den Kopf stellt. Sie hat eine geheime Kraft, die in enger Verbindung mit dem Meer steht. Ist diese Gabe etwa ein Erbe ihrer Mutter? Oceana begibt sich auf die Suche nach ihrer Vergangenheit und taucht ein in ein gefährliches Abenteuer, das sie mitten hinein führt in die magischen Kanäle der Stadt.

Die Autorin

© Barbara Dietl

Andrea Schütze hat in ihrer Kindheit so ziemlich alle Hobbys ausprobiert, die man sich nur vorstellen kann. Irgendwann ist sie beim Lesen geblieben und schreibt deshalb auch so gerne selber Bücher. Sie hat einen Gesellenbrief als Damenschneiderin, ein Diplom als Psychologin, aber kein Seepferdchenabzeichen. Mit ihren Töchtern lebt sie in einem rosaroten Haus mitten im Schwarzwald. In der Nähe gibt es eine Stelle, an der man gleichzeitig in Deutschland, Frankreich und der Schweiz stehen kann – vorausgesetzt natürlich man hat drei Beine.

www.andrea-schuetze.de

Der Verlag

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Viel Spaß beim Lesen!

Andrea Schütze

Oceana

Die Wasserträumerin von Venedig

Mit Illustrationen von

Alexandra Helm

Planet!

Il rumore non fa bene, il bene non fa rumore.

Der Lärm tut nicht gut, das Gute macht keinen Lärm.

(Italienisches Sprichwort)

Wer Perlen will, der muss ins Meer sich stürzen.

(Johann Wolfgang von Goethe)

Vor einigen Jahren am Strand der winzigen Insel Filicudi im Mittelmeer …

»Guck, Mama, was ich gefunden habe!«

Das kleine Mädchen in dem gelben Badeanzug läuft auf die Frau zu und schlingt die Arme um ihre Beine. Die Frau wendet ihren Blick vom Wasser ab, auf das sie minutenlang reglos geschaut hat. Sie streicht sich die vom Wind zerzausten Haare hinter die Ohren. Die auffällige ozeanblaue Strähne ist nun fast nicht mehr zu sehen.

»Zeig mal«, sagt sie und bewundert die rosafarbene Muschel mit dem gezwirbelten Gehäuse. »Schön! Siehst du, sie hat ein Loch in der Schale, wir können sie später zu Hause auf eine Kette fädeln.«

»Oh ja!«, ruft das Mädchen und legt die Muschel auf ein buntes Badetuch, das ausgebreitet im Sand liegt.

Der Strand ist menschenleer. Es ist ein sonniger, warmer Vormittag im Mai und die Touristensaison hat noch nicht begonnen, auch wenn sowieso nur wenige Urlauber nach Filicudi finden. Nur ein Angler sitzt auf den Felsen der Bucht.

»Ciao, Enzo!«, ruft die Frau und winkt dem alten Mann zu.

Der Angler tippt sich an den Strohhut. Dann zieht er die Angel aus dem Wasser und packt seine Sachen zusammen. Langsam geht er den Trampelpfad auf dem mit Gestrüpp bewachsenen Felsen ins Dorf zurück. Nun sind nur noch die beiden hier. Es duftet nach Rosmarin und Meer. Alles ist friedlich.

»Perfetto …«, murmelt die Frau. »Gehen wir schwimmen?«, ruft sie laut.

Das Mädchen jubelt und die Frau schlüpft lächelnd aus dem Strandkleid. Darunter trägt sie einen leuchtend orangefarbenen Badeanzug mit zwei auffälligen weißen Streifen an der Seite, die sie extra aufgenäht hat, damit ihre Tochter sie beim Schwimmen nicht so leicht aus den Augen verliert.

»Aber mit Neopren-Anzug«, sagt die Frau, »das Wasser ist noch viel zu kalt. Ich will nicht, dass du dich erkältest.«

»No, no!«, protestiert das kleine Mädchen. »Mit dem Neo sieht man doch den hier nicht!« Mit hoch erhobenen Armen dreht sie sich um sich selbst. Der zitronengelbe Badeanzug strahlt in der Sonne. Sie hat ihn zum Geburtstag bekommen und alles daran ist wunderbar: die Rüschen an der Taille, die aussehen wie ein Tutu, das Wort Sirena, Meerjungfrau, aus blauen und grünen Pailletten, die glitzern wie das Mittelmeer höchstpersönlich. Und natürlich die kleine, gewellte Flosse auf dem Rücken.

Die Frau holt den Neoprenanzug trotzdem aus der Badetasche. »Wir ziehen erst den Neo an und darüber dann den Badeanzug, sì?«

Das Mädchen runzelt kurz die Stirn, dann nickt es. »Sì, Mama.«

Ihre Mutter geht in die Knie und die Kleine legt die Händchen auf ihre warmen Schultern. Ein Sonnenstrahl trifft auf die milchig, hellorange Perle am Hals der Mutter. Sie hilft ihrer Tochter mit dem sperrigen Neopren und zupft anschließend gewissenhaft so lang an dem gelben Badeanzug herum, bis er auch wirklich perfekt sitzt und die kleine Flosse erwartungsvoll hin und her wippt. Dann gehen sie Hand in Hand auf den Wellensaum zu und waten langsam und bedächtig immer tiefer ins Wasser.

»Wollen wir noch mal zur Seeigel-Höhle?«, fragt die Frau.

Das Wasser reicht dem kleinen Mädchen bereits bis zur Brust. Das Meer hat heute einen ungewöhnlich starken Sog und zieht die beiden beständig weiter hinein. Bald wird die Kleine sich nicht mehr auf den Füßen halten können.

»Merkst du, das Meer ruft uns!«, jubelt das Mädchen.

»Andiamo, dann los!« Die Frau zieht ihre Tochter sanft mit sich unter Wasser.

Von einem Wimpernschlag auf den anderen hat das Meer die beiden verschluckt, als seien sie nie da gewesen.

Sie tauchen. Immer weiter hinaus.

Der Sog wird stärker, vielleicht zieht ein Sturm auf, aber Mutter und Tochter haben die Höhle schon fast erreicht. Ein Kinderspiel, denn die beiden können schwimmen wie Fische. Lachend gleiten sie durch einen riesigen Schwarm silbrig glitzernder Sardinen.

»Ich fliege!«, ruft das Mädchen und linst auf ihre Flosse. Wie echt sie unter Wasser aussieht, wie von einem Paradiesfisch. »Guck mal!«

Doch die Antwort ihrer Mutter geht in einem dunklen, alarmierenden Wummern unter. Es ist mehr zu spüren, als zu hören und kommt völlig aus dem Nichts. In Sekundenbruchteilen wird die eben noch heile Unterwasserwelt von einem tosenden Strudel aus Sand und Wellengewalt zerstört.

Das Mädchen wird von dem Strudel erfasst und herumgewirbelt wie ein hilfloser, kleiner Seestern in der Gischt eines Sturms. Felsbrocken und Gestein stürzen auf es herab.

»MAMA, MAMA, MAMA!«, kreischt das Mädchen und sieht sich panisch um. Orange, orange-weiß, wo sind diese Farben? Wo? Wo?

Doch das Kind kann nichts mehr erkennen. Das Wasser ist aufgewühlt und trüb von wirbelndem Sand und zermalmten, graubraunen Algenfetzen. Alles rumort und bebt. Das Mädchen spürt nicht mal mehr, wo oben und unten ist. Es schreit und schreit.

Da lässt ein scharfer, alles übertönender Schmerz in seinem Arm es verstummen. Es ist der schlimmste Schmerz, den das Mädchen je gefühlt hat. Wie eine Falle aus tausend eisernen Zackenzähnen krallt sich etwas in ihren Oberarm und zerquetscht alles Lebendige. Es ist, als würde ihr Arm erfrieren, so eiskalt und taub fühlt er sich auf einmal an. Das Mädchen steht unter Schock, sie kann sich nicht mehr bewegen und wird tiefer und tiefer auf den Meeresgrund gezogen. Das Atmen unter Wasser fällt ihm immer schwerer.

»Mama, hilf mir doch, hilf mir!«, wimmert das kleine Mädchen.

Dann verliert es unter einer Lawine aus Geröll das Bewusstsein.

Kapitel 1

»Nicht alles auf einmal, Sporco. Und vom Teilen hast du auch noch nix gehört, was?«

Oceana stupst die Ratte beiseite, damit die zwei Tauben auch noch etwas von den Bröseln abbekommen, die sie ihnen gerade aufs Fensterbrett gekrümelt hat. Sporco, was Dreck auf Italienisch heißt, ist Oceanas schwanzlose Zimmerratte. Gemeinsam mit Marco und Polo, den Tauben, die regelmäßig zum Nachmittagskekse-Essen vorbeikommen, macht sie sich über die Krümel her.

»Alsch ob die beiden esch nötig hätten, hierher tschum Eschen tschu kommen«, mault Sporco schmatzend. »Für Tauben isch Venedig doch wie scho ein All-you-can-eat-Buffet.« Sporco versucht unauffällig, die Tauben beiseite zu schieben.

Gurrend schlagen sie mit den Flügeln, um nicht vom Fensterbrett zu fallen.

»Geht’s noch?«, gurrt Marco erbost und erkämpft sich wieder seinen Platz auf dem Sims.

»Hält dich keiner davon ab, nach draußen zu gehen und dir selbst Futter zu suchen, Sporco«, murrt Polo und versucht, den letzten Krümel zu ergattern.

»Hört auf, euch zu streiten«, mahnt Oceana sanft. »Es ist genug für alle da. Hier, ich teile noch einen mit euch«, sagt sie und stopft sich die andere Hälfte des Buranelli in den Mund. »Und ihr zwei lasst Sporco mit dem Thema ›Rausgehen‹ in Ruhe. Ihr wisst doch, dass er noch eine Weile braucht, bis er sich wieder traut. Und ihr wisst auch, warum.«

Die Tauben ruckeln betreten mit dem Kopf. Oceana hat ja recht. Als sie Sporco eines Tages mit nach Hause brachte, war er mehr tot als lebendig und es hat Wochen gedauert, ihn wieder aufzupäppeln und die Wunde am Schwanz zu behandeln.

»Scusa«, sagt Marco brav.

»Scusa«, schließt sich Polo an.

»Kein Ding«, erwidert Sporco, denn er ist nie lang beleidigt oder schlecht gelaunt.

Oceana grinst. Manchmal kommt sie sich vor wie eine Mutter, die einen Geschwisterstreit schlichten muss. Aber zum Glück vertragen sich die drei in der Regel prima.

»So, ihr Lieben, der Zucker hat echt geholfen. Sicherheitshalber essen wir noch einen, okay?« Oceana fischt einen weiteren der S-förmigen Kekse aus der Dose. »Bin schon ganz zittrig gewesen. Aber, seht ihr, der Stein sitzt trotzdem perfekt.«

Sie hält die Bastelarbeit hoch, an der sie gerade herumgetüftelt hat. Es ist eine venezianische Halbmaske aus Pappmaschee, die Oceana bemalt hat. Winzige filigrane Muster in Gold ziehen sich über die Wangenpartie. An Stirn und Schläfen wippen lange Federn in kräftigen Rot-, Gelb- und Orangetönen. Rund um die Augenaussparungen hat sie funkelnde Kristallsteinchen gesetzt und an der Nasenwurzel blitzt ein großer roter Diamant, der im Licht der tiefstehenden Sonne strahlt, als sei er tatsächlich ein kostbarer Rubin und nicht nur ein Bastelstein aus Plastik.

»Der Feuervogel ist fertig!«, schmettert Oceana und schwenkt die Maske hin und her, damit Bewegung in die Federn kommt. »Also wenn das nicht wie Flammen aussieht, weiß ich auch nicht. Dann wollen wir doch mal ’ne Runde Touris beglücken …«

»Ist wirklich absolut toll geworden, Ozzy«, lobt Sporco, und Marco und Polo ruckeln bestätigend mit dem Kopf.

Ein Lächeln huscht über Oceanas Gesicht. Dann schiebt sie den Stuhl vom Schreibtisch zurück, der direkt unter dem schmalen Fenster steht. Wenn sie wollte, könnte sie ihn ganze acht Meter zurückschieben, bis er an der Zimmertür anstoßen würde. Denn Oceana lebt nicht nur in einer der magischsten Städte der Welt, sondern, fast wie zum Ausgleich, auch in einem Kinderzimmer mit dem bescheuertsten Grundriss, den sich jemals jemand ausgedacht hat. Obwohl ausgedacht das falsche Wort ist, da Oceanas Haus vor vielen Jahren wohl mehr oder weniger durch Zufall entstanden ist. Als der riesige Palazzo Grimani, der das Vorderhaus einer ganzen Straße bildet, und in dem heute ein Museum untergebracht ist, entstand, mauerte man kurzerhand eine störende Gasse zu, die damals zum Innenhof des Palazzos führte und welche man nicht mehr benötigte: die Callessa Viccolo. Dieser handtuchschmale Streifen klebt also an der Rückwand des Palazzos und ist vor ein paar Jahren das Zuhause von Oceana und ihrem Nenn-Onkel Pietro geworden. Das ist der Grund, weshalb Oceanas Zimmer an der breitesten Stelle hundertachtunddreißig Zentimeter misst, dafür aber sechs Meter hoch und über acht Meter lang ist.

Was gar nicht mal so unpraktisch ist, wenn man die beiden Sammlungen bedenkt, die Oceana in ihrem Schlauchzimmer beherbergt.

Da wären zum einen die Kostüme.

In Deckenhöhe gibt es eine Kleiderstange, die sie mithilfe eines Seilzuges zu sich herunterlassen kann. Daran hängen Oceanas ganz normale Klamotten wie Hosen, Pullis, Jacken und Shirts, alles in Schwarz oder Dunkelblau.

»Künstlerinnen haben eben Phasen«, erklärt sie ihren Mitbewohnern. »Im Moment habe ich meine schwarze Phase, denn schwarze Kleidung ist irgendwie speziell …« Oceana fährt mit der Hand die Klamotten entlang. »Aber rote auch!« Sie lacht vergnügt und der fröhliche Ton vermischt sich mit dem Rascheln des Kostüms, das sie von der Stange nimmt.

Denn anders als ihre Alltagssachen sind ihre venezianischen Kostüme, die ebenfalls an dieser Seilzugstange hängen, so bunt und farbenprächtig, wie man es für Venedig erwartet: bauschige Reifröcke mit Pailletten, Puffärmel mit Spitzenmanschetten, wehende Umhänge. Ballonröcke, Kleider mit Schleppe, prächtige Corsagen und pompöse Kragen mit Federn und noch viele weitere Verkleidungen aus raschelndem Taft, säuselndem Satin und knisterndem Tüll.

Oceana zieht das Kostüm vom Bügel, für das sie eben die passende Maske fertiggestellt hat, hält es vor sich und betrachtet sich im Spiegel.

»Ich brauche noch was für die Haare«, murmelt sie. »Blau passt irgendwie krass schlecht zu Feuerrot. Oder obwohl …« Oceana zieht eine Strähne vors Gesicht, klemmt sie sich zwischen Oberlippe und Nase und zieht eine Grimasse. »La Signora Blaubart, sehr angenehm …«

Dass Oceanas Haare im Alter von ungefähr fünf, sechs Jahren langsam anfingen, die Farbe zu wechseln, bis sie irgendwann komplett knallblau waren, kann sich bis heute niemand erklären. Zum Glück hatte Onkel Pietro diese geheimnisvolle Verwandlung relativ gelassen hingenommen. Sie wurde einfach das Mädchen mit den blauen Haaren und wer sie neu kennenlernte, ging sowieso davon aus, dass Oceana sich die Haare färbte.

»Aber das stimmt nicht«, murmelt Oceana in ihren Gedanken. »Und wenn ich schon nach den größten Meeren der Welt heiße, dann passen blaue Haare schließlich perfekt!«

Gedankenverloren kratzt sich Oceana am rechten Unterarm. Es gibt dort eine Stelle, die zu den unmöglichsten Zeitpunkten anfängt zu jucken. Ihre eigene Theorie ist, dass der Auslöser ein spezieller Gedanke ist, den ihr Gehirn aber im Geheimen denkt, sodass sie ihn gar nicht mitbekommt. Klingt irgendwie ziemlich verwurschtelt, aber anders lässt sich der Juckreiz nicht erklären. Oceana kratzt und kratzt, doch es wird nicht weniger.

»Rrraaah!«, flucht sie und holt ein paarmal tief Luft.

Das hat ihr Dottore Colombo geraten, wenn sie dieses bescheuerte Phantom-Jucken hat: Respira profundamente, topolino, atme tieeef eiiin und wieder aus, Mäuschen, fieeeeee, pschuhhhh … Als kleines Mädchen musste sie immer kichern, wenn er ihr diese Entspannungstechnik mithilfe eines dicken Plüschkaninchens vorschnaufte.

»Fieeee, pschuh«, atmet Oceana.

»Kruh, ruhh«, helfen Marco und Polo mit.

Oceana starrt ihren nicht vorhandenen rechten Arm wütend an, an dem sie genau an der Stelle in der Luft herumkratzt, wo normalerweise ihr Unterarm sein müsste.

»Wie kannst du jucken, wenn du gar nicht da bist?«, fragt sie wohl schon zum tausendsten Mal. »Und warum gerade jetzt? Was für’n unsichtbaren Schalter hab ich denn da im Körper, echt ey!«

Doch seltsamerweise kann der Arm sehr gut jucken, auch wenn von ihm nur ein kurzer Stumpf existiert. Sie sei so auf die Welt gekommen, sagt Pietro immer, aber manchmal hat Oceana sogar den Eindruck, eine Faust ballen zu können. Obwohl sie keine Hand hat. Und das ist wirklich verrückt!

Oceana nimmt ein Cremedöschen aus dem Regal. Der Deckel ist nur aufgelegt, damit sie es mit einer Hand leicht öffnen kann. Sie tupft ein wenig Salbe auf den Stumpf und massiert sie sanft in die Haut. Anschließend stupst sie mit einem Schminkpinsel in ein Töpfchen Körperpuder, klopft ihn sorgfältig ab und stäubt das duftende Pulver darüber. So wird nichts zwicken oder schaben, wenn sie gleich die Prothese anzieht. Langsam klingt das Jucken ab und Oceana hat ruckzuck wieder gute Laune.

»Und auch hier, meine Damen und Herren, lieber Sporco, lieber Marco und liebe Polo, zeigen sich die Vorzüge meines architektonisch durchaus bemerkenswerten Zimmers«, sagt Oceana, als würde sie eine Touristen-Führung veranstalten, wie man sie oft in Venedig beobachten kann, und deutet die Mauer hinauf. »Denn wie Sie erkennen können, bin ich wohl das einzige Kind in Venedig, das nicht nur eine Sammlung höchst zauberhafter Kostüme und doppelhöchst noch zauberhaftester Masken sein Eigen nennen darf, sondern auch eine Sammlung Arme.«

Oceana schnappt sich einen Besenstiel, an dem vorne ein Haken befestigt ist und angelt damit ihre aktuelle Prothese von einem Nagel hoch oben an der Wand. Nach jedem Wachstumsschub wird eine neue angepasst und deshalb hängen dort bereits sechs Kinderarme in verschiedensten Größen und Ausführungen.

»Au weia, da muss mal neuer Nagellack drauf«, sagt Oceana und begutachtet kritisch die künstliche Hand. »Egal, mach ich später …« Oceana klemmt sich die Prothese zwischen die Knie und führt den Stumpf in die Öffnung, um die Schale zu befestigen. »Irgendwann«, murmelt sie, »irgendwann werde ich mir einen Roboterarm kaufen. Wenn ich erwachsen bin.«

Oceana fachsimpelt oft mit Dottore Colombo über die neuesten Entwicklungen im Bereich der bionischen Prothesen.

»Gedankensteuerung ist das Zauberwort«, erklärt Oceana nun Sporco, der hingerissen am Cremedöschen schnuppert. »Mit purer Gedankenkraft kann ich dann die Finger steuern.« Sie reibt mit einem weichen Tuch ein wenig Schmutz aus der starren Lücke zwischen Daumen und Zeigefinger der Kunststoffhand. »Das nennt man Plug-and-Play-Prothesen, Sporco, merk dir das.«

»Ist gut«, antwortet Sporco und wartet, bis Oceana gerade nicht guckt, um einen kleinen Schlecker von der Creme zu nehmen. »Jamm«, murmelt er und leckt sich übers Schnäuzchen, während Oceana weiterredet.

»Dann ist da nix mit monatelang üben, sondern ich wach auf und zack, stöpseln die meinen nagelneuen Robo-Arm an und oh Wunder, ich kann mit den Fingern ’ne Nähnadel einfädeln, e fatto, und fertig.«

»Bravissimo!«, gurrt Marco.

»Sì, bravo und kannst du uns das Fenster aufmachen per favore, wir sind verabredet, Piazza San Marco«, fügt Polo hinzu.

Oceana öffnet ihnen lachend das Fenster. »So wie alle anderen fünf Millionen Tauben von Venedig auch«, scherzt sie. »Ciao!«

Oceana wendet sich wieder an Sporco. »Na ja, weißt du, kann sein, dass ich ein bisschen übertrieben habe, so einfach ist es bestimmt nicht. Und überhaupt, woher soll ich auch die hunderttausend Euro dafür nehmen …«

Sporco schmiegt sich an Oceanas Unterarm. Sein Fell ist weich und borstig zugleich.

»Es wird alles gut«, sagt er ernst und Oceana schmunzelt. Manchmal ist Sporco ziemlich philosophisch.

Dann lugt sie aus dem Fenster. Die Sonne blinzelt über die Palazzi auf der anderen Seite des Kanals und färbt das Wasser des Rio Servero in dieses spezielle venezianische Türkisblau, an dem man sich nicht sattsehen kann.

»Perfekter Touri-Augenblick, nix wie raus. Ich kann bestimmt noch für ein paar einmalige Venedig-Fotos sorgen …«

Es gibt für Oceana, direkt nach dem Sammeln, Nähen und Basteln der Kostüme, nichts Schöneres, als verkleidet durch Venedig zu huschen. All die Brücken und Gässchen, Winkel, Plätze und Kanäle bilden die Kulisse für ganz außergewöhnliche, magische Momente. Oceana spürt geradezu körperlich die Freude der Menschen, wenn es ihnen gelingt, diese flirrende, geheimnisvolle Fantasiegestalt in ihrem bezaubernden Kostüm mit dem Handy zu erhaschen.

Sporco räuspert sich, als wolle er etwas sagen.

»Hm?«, fragt Oceana und breitet das Kleid auf dem Bett aus. »Komm schon, spuck’s aus!«

»Ich … ähm … würde gerne mitkommen«, wispert er kaum hörbar.

Doch Oceana hat ihn genau verstanden. Sie hebt ihn hoch, drückt ihm ein Küsschen zwischen die Ohren und jubelt. »Natürlich darfst du mitkommen! Ich freu mich so! Und da meine Kostüme selbstverständlich große Taschen haben, kannst du es dir darin schön gemütlich machen, ja? Sporco, das ist die schönste Nachricht des Tages und ich finde es total mutig von dir!«

Es dauert nicht lang und aus dem handtuchschmalen Gassenhaus auf der Rückseite eines der berühmtesten Museen der Welt huscht eine feuerrote Gestalt hinaus. Als die Nachmittagssonne die flatternden Stofflagen des Kostüms zum Leuchten bringt, sieht es aus, als würde sie von lodernden Flammen umhüllt. Ab jenem Moment, wenn Oceana auf die Gasse tritt und losläuft, wird sie bis zum Ende ihres Ausfluges nicht mehr stehen bleiben. Das ist ihr spezielles Geheimnis, um die Magie ihres Erscheinens noch ungreifbarer zu machen.

Tänzelnd, flatternd und flüchtig wie ein Fantasiewesen mäandert der Feuervogel mit den azurblauen Haaren zwischen den Touristen hindurch. Oceana blickt über die Geländer der Brücken, hebt ihre Hand zu einem majestätischen Gruß, doch wenn Menschen in den Gondeln mit dem Handy nicht schnell genug sind, ist Oceana längst wieder verschwunden. Sie eilt weiter, fast sieht es aus, als ob sie flöge, ihre Füße sind unter dem langen Gewand nicht zu sehen. Auf der Piazza San Marco ist es heute etwas leerer, sodass Oceana mit ausgebreiteten Armen durch die pickenden Tauben wirbeln kann, die sie flatternd umkreisen. Eine ganze Weile wird sie von Marco und Polo begleitet, was die traumhafte Erscheinung noch zauberhafter wirken lässt. Oceana huscht über Treppen und an reich verzierten Fassaden entlang, versetzt eine Gruppe asiatischer Touristen in helle Begeisterung und genießt den Applaus der Gäste in den kleinen Trattorien, wenn sie an den Tischen vorbeihuscht. All ihre Posen, Gesten und Bewegungen sind so geschmeidig und anmutig, so beseelt und glücklich, dass jeder, der einen Blick auf sie erhascht, den Eindruck hat, als schwebe ein fabelhaftes Märchenwesen durch diese magische Stadt.

»Hallo! Mir ist schlecht von dem Gewackel, können wir wieder nach Hause?«, ruft Sporco irgendwann mitten in eine ihrer perfektesten Drehungen hinein und das bringt Oceana so aus dem Konzept, dass sie sich auf eine Treppenstufe setzen muss, um sich vor Lachen auszuschütten.

Und dieser Moment ist es auch, an dem das absolut zauberhafteste Foto dieses Ausfluges von ihr entsteht.

Als Oceana wieder zu Hause ist, das Kleid aufgehängt und Sporcos Trinkschale mit frischem Wasser gefüllt hat, meldet sich das Handy mit dem Klassenchat-Ton.

»Nerv«, mault Oceana und erwägt kurz, die Nachricht zu ignorieren, weil sie noch so schön in der Feuervogel-Stimmung ist, doch die Neugier siegt. Sie hat in der Klasse sowieso schon keine besonders engen Freundinnen und Freunde, da möchte sie wenigstens mitkriegen, was allgemein so läuft. Sie setzt sich aufs Bett und öffnet den Chatverlauf.

Wen wundert’s, Estefania ist mal wieder am Rande des Nervenzusammenbruchs, weil sie »bestimmt in der Chemie-Arbeit morgen komplett und total verkacken« wird, und dann, haha, doch wieder die Beste ist. Aber Moment mal …

Oceana runzelt die Stirn, öffnet den Kalender und scrollt hindurch. Die Klassenarbeit war ganz sicher erst für nach den Ferien geplant, hier, sie hat es eingetragen! Doch die vielen eingehenden WhatsApps der anderen zeigen, dass sie sich wohl geirrt haben muss.

»Ich hab mich im Monat vertan! Merda, Scheiße!« Oceana wird augenblicklich schlecht. Ausgerechnet Chemie! Mit diesem Fach hat sie’s einfach nicht und es wäre dringend nötig, die 4 minus vom letzten Mal auszugleichen. »Was ich jetzt vergessen kann! Wie doof kann man sein? Antwort: Ja! Das heißt wohl: Nachtschicht!«, mault Oceana gereizt, schiebt die Bastelreste zusammen und räumt Bücher und Ordner auf den Schreibtisch, wo Sporco in einem Tuff Tüll eingeschlafen ist, um sich von seiner Seekrankheit zu erholen. Sanft trägt ihn Oceana aufs Bett hinüber und legt ihn auf den Bauch ihres Kuschelteddys.

»Gute Besserung«, flüstert sie. »Ich muss jetzt leider lernen …«

Ruhe senkt sich über das Schlauchzimmer in der Callessa Viccolo und Oceana vertieft sich brütend in den Unterrichtsstoff. Und während die konzentrierte Stille nur hin und wieder durch ein paar Flüche unterbrochen wird, ist die Planung für etwas sehr Lautes, sehr Gefährliches an anderer Stelle gerade zum Abschluss gekommen. Und dass darin jemand verwickelt ist, den Oceana kennt und diese Besprechung sogar ganz in ihrer Nähe stattfindet, davon ahnt sie natürlich nicht das Geringste …

Auch nichts davon, dass Marco und Polo, die zufällig auf einem Relief unter einem gekippten Fenster ein Päuschen machen, sich mit großen, ungläubigen Taubenaugen ansehen, als sie bruchstückhaft mitkriegen, was dort gerade besprochen wird.

Kapitel 2

Um kurz nach zehn Uhr abends sitzt Oceana immer noch am Schreibtisch und versucht, unter all den verwirrenden Informationen zu Aggregatzuständen, Stoffgemischen und Trennverfahren nicht völlig in Verzweiflung zu geraten.

Als es draußen am Bootsanleger klappert, weiß sie, dass Onkel Pietro von der Arbeit zurück ist. Eigentlich sind es nicht mal hundert Meter bis zum Museo di Palazzo Grimani, wo er zurzeit als Handwerker arbeitet, aber heute Abend musste er wohl noch was erledigen und hat das kleine Gemeinschaftsboot genommen, das er sich mit mehreren Nachbarn entlang des Rio Servero teilt.

Kurz darauf fällt die Eingangstür ins Schloss und es klopft leise an ihre Zimmertür.

»Pst, Ozzy, du bist ja noch wach.« Pietro tritt einen Schritt hinein. Seine schwarzen Locken sind über und über weiß bestäubt und auf seinem Gesicht liegt ein kalkgrauer Schimmer.

Oceana japst erschrocken auf. »Zio, Onkel, du siehst aus wie’n Gespenst!«