Offenbach Undercover - Christina Kunz - E-Book

Offenbach Undercover E-Book

Christina Kunz

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Beschreibung

Tatort Offenbach. Im Leonhard Eißnert-Park, inmitten des Wassersprühfelds, wird eine Männerleiche gefunden. Schnell steht fest, dass der Tote – Timo Fetzer alias Tom Fischer – ein verdeckter Ermittler des LKA ist. Aber wieso wurde er getötet? Und wieso wurde ihm postmortem die Zunge herausgeschnitten? KHK Jana Schröder und ihr Kollege Amir Trageser nehmen die Ermittlungen auf. Zugeteilt wird ihnen Daniel Forster vom LKA, der die Ermittlungen unterstützen soll. Jana ist zunächst genervt von ihm, doch bald entwickelt sie seltsame Gefühle, die sie zu unterdrücken versucht. Der Fall eskaliert, als der nächste Tote im Ehrenmal im Leonhard Eißnert-Park gefunden wird – ebenfalls ohne Zunge. Und außerdem fehlt noch etwas anderes … Raue Sitten, harte Kerle, leidenschaftliche Gefühle und eine Powerfrau als Kommissarin – Christina Kunz' Krimi spiegelt das Leben der Stadt am Main wider. Voller Einsatz und eine ausgeklügelte Geschichte machen diesen Krimi zu einem spannenden Lese-Erlebnis. Dabei wird schnell klar: Offenbach ist und bleibt ein heißes Pflaster!

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Seitenzahl: 292

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Christina Kunz

Offenbach Undercover

Krimi

eISBN 978-3-911008-15-0

Copyright © 2024 mainbook Verlag

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Gerd Fischer

Coverdesign und Umschlaggestaltung: Florin Sayer-Gabor –

www.100covers4you.com

Unter Verwendung von Grafiken von Volodymyr, Adobe Stock

Auf der Verlagshomepage finden Sie weitere spannende Bücher:

www.mainbook.de

Inhalt

Die Autorin

Prolog

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

Epilog

Zu guter Letzt

Die Autorin

Christina Kunz wurde in Hanau geboren, hat Germanistik und Mathematik auf Lehramt in Frankfurt studiert und lebt und arbeitet in Seligenstadt. Für Literatur hat sie sich schon immer begeistert, und auch geschrieben hat sie, seit sie denken kann, hauptsächlich Kurzgeschichten und Lyrik. Ihr erster Roman Das Erbe von Grüenlant erschien 2018 bei mainbook. Sie ist aktiv in der Frauengruppe „Luna – Frauen schreiben“, in der Schule hat sie die „Schreibwerkstatt“ gegründet, in der junge Talente zum Schreiben motiviert und gefördert werden und die Möglichkeit zum Austausch über ihre Texte haben.

Neben dem Schreiben ist ihre Leidenschaft die Musik. Am liebsten verbringt sie ihre Freizeit in der Natur. Mit ihrem Hund Jimmy macht sie lange Spaziergänge und Wanderungen, in den Ferien ist sie gerne in den Bergen unterwegs. Außerdem gilt ihre große Liebe England, was sich auch in so manchem Text widerspiegelt.

www.instagram.com/christina.e.kunz

www.christinakunz.de

Prolog

Er schlich hinter seinen Kameraden durch die Nacht, eingehüllt in die schwarzen Schatten der Kastanienbäume, die in Reih und Glied wie Verbündete den Weg flankierten. Ihr Laub raschelte leise und dämpfte die Schritte der vermummten Männer. Ihm war nicht wohl dabei, es war nicht richtig, was sie hier taten. Etwas knirschte unter seinem Fuß, eine achtlos auf den Gehweg geworfene Plastikflasche, wie zur Bestätigung. Er fühlte sich ertappt.

„Psst, pass doch auf, Idiot!“, zischte ein dunkler Schemen hinter ihm. Er zog den Kopf zwischen die Schultern. Es war nun mal sein Job. Er würde es durchziehen. Opfer musste man bringen. Was interessiert mich irgendein Türke, redete er sich ein.

Der Geruch von gebratenem Fleisch zog ihm in die Nase und erinnerte ihn an Vergangenes, ein anderes Leben, kurz oder lang, es spielte keine Rolle mehr. Lachende Gesichter, fettige Finger, der Geschmack von Weißkohl und Knobi. Nicht nachdenken, ermahnte er sich.

Es war Licht in der Dönerbude, aber zu dieser Zeit war kaum jemand da. Am Tisch saßen ein junger Mann und eine junge Frau und diskutierten heftig, ihre Hände fuchtelten wild durch die Luft, er versuchte, sie zu beruhigen, indem er beschwichtigend die Arme hob. Der weißhaarige Türke hinter der Theke räumte gerade auf und beobachtete die beiden kopfschüttelnd, ein nachsichtiges Lächeln umspielte seine Lippen. Ein Jüngerer half ihm, Kopfhörer auf seinen Ohren verhinderten seine Anteilnahme.

Steffen warf den ersten Molli. Das Klirren der Fensterscheibe barst durch die Nacht. Es brannte nur zögerlich. Ein zweiter folgte, das Mobiliar fing Feuer.

Der Alte reagierte sofort, griff nach dem Feuerlöscher, während der Jüngere sich schon die Kopfhörer von den Ohren gerissen und ein Telefon in der Hand hatte.

Er selbst war wie gelähmt, sah den Hass in Steffens Augen glitzern. Der Blick hielt ihn fest, und plötzlich sprang der Funke über. Er nahm den Molli, den Steffen ihm in die Hand gedrückt hatte, spürte das kühle glatte Glas und die Hitze der Flamme, die an seinen Fingern leckte. Sein Arm schnellte nach vorn, zielte, Volltreffer!

Der alte Türke fluchte und gestikulierte, während der Jüngere noch einen Feuerlöscher holte. Kurz meldete sich sein schlechtes Gewissen, aber seine Kameraden kannten keine Skrupel. Sie grölten laut und ließen den Molotowcocktails nun Steine folgen. Er musste mitmachen, es war sein Job, aber er hatte bereits aufgehört, darüber nachzudenken. Eine Rauchwolke wehte ihm ins Gesicht, der Gestank von Feuer, Rauch und Zerstörung überlagerte die Essensgerüche. Er griff sich einen Stein und warf ihn zögerlich, der zweite hatte bereits mehr Wucht, den dritten warf er mit voller Kraft. Es war befreiend. Befremdet stellte er fest, wie leicht es plötzlich war, dieses Ventil zu nutzen, schließlich hatten die ihn doch in diese Scheißlage gebracht, allesamt, in diese verdammte Scheißlage, wenn die gar nicht hier wären, müsste sich auch niemand gegen sie wehren, dann gäbe es das alles nicht, es gab kein Gut und Böse, nur seine beschissene Lage, es war egal, wer daran schuld war, bloß irgendwer musste es sein, scheiß drauf. „Fuck you!“ Der nächste Stein.

Die junge Frau und ihr Gegenüber rannten auf die Straße, er zog sie an der Hand hinter sich her, vorbei der Streit, vor der Flammenkulisse wirkten sie surreal und überdimensional.

„Scheiß Ausländer, Ausländer raus, Kanakenpack!“, brüllten seine Kameraden.

Seine Wut riss ihn mit, und er stimmte ein, erst kaum vernehmbar, nur eine Bewegung seiner Lippen, doch dann immer lauter. „Hurensöhne! Deutschland den Deutschen!“

Steffen war neben ihm und ebenfalls in Rage. „Hier“, er gab ihm einen weiteren Stein.

Er warf ihn in Raserei, Furor Teutonicus, dachte er, so ist es richtig. Der Stein traf die junge Frau an der Schläfe. Ihre großen schwarzen Augen starrten ihn an, bevor sie zusammenklappte und reglos am Boden liegen blieb.

Er stand wie gelähmt. Plötzlich fiel seine ganze Wut von ihm ab, in sich zusammen, wie die Asche, die das Feuer von der Dönerbude übriglassen würde. Wie in Zeitlupe nahm er den Funkenregen wahr, die funkelnden Sterne in der mondlosen Nacht, die Kastanienwächter, deren Rauschen sich nun vorwurfsvoll mit dem Flammenknistern mischte, den erschrockenen Blick des jungen Mannes, der ihm eine Faust entgegenschleuderte und sich dann über die junge Frau beugte.

„Ich wollte nicht …“, war alles, was er herausbrachte, während seine Beine nachgaben und er auf die Knie sackte.

Er sah Steffens schwarze, schlanke Silhouette vor dem durch das Feuer orange gefärbten Hintergrund, hinter Steffen die anderen, johlend, Steine werfend, sich gegenseitig abklatschend, wahnsinnig.

„Guter Wurf“, rief ihm jemand zu und zeigte mit beiden Daumen nach oben.

Im Hintergrund hörte er Sirenen, kurz darauf erleuchtete Blaulicht die Nacht.

Steffen zog ihn am Arm hoch. Er sah über die Schulter, sie lag am Boden, der junge Mann über ihr, er rüttelte an ihrer Schulter und warf hasserfüllte Blicke in seine Richtung.

Er ließ sich von Steffen mitziehen und rannte mechanisch davon.

Der Blick ihrer schwarzen Augen verfolgte ihn. Was, wenn sie tot war?

1

„Kaffee?“

Kriminalhauptkommissarin Jana Schröder nahm dankbar den Pappbecher entgegen, den ihr Kollege, Kriminalkommissar Amir Trageser, ihr reichte. Viel Milch, wenig Zucker, er wusste, was sie brauchte.

„Wo?“, fragte sie ihn.

Sie standen am Eingang des Leonhard-Eißnert-Parks, gleich neben dem Bieberer Berg, Stadion der Offenbacher Kickers. Heimspiel für sie. Sie war in zehn Minuten da gewesen. Trotzdem war Amir, wie meistens, vor ihr am Tatort.

Amir nickte in Richtung des Parks. „Da.“

Er ging voran, vorbei an dem mit bunten Graffitis bemalten Kiosk in Richtung Kletterpark, und zeigte schließlich nach vorn.

Dort, inmitten des Wassersprühfeldes, lag ein Mann. Er hatte alle Viere von sich gestreckt und die Augen blicklos gen Himmel gerichtet. Sein ehemals weißes T-Shirt war blutverschmiert, sein Gesicht wies mehrere blaue Flecken und blutige Stellen auf. Der rechte Fuß war seltsam verdreht.

„Oh!“, entfuhr es Jana. Sie krallte ihre Finger in den Kaffeebecher, man gewöhnte sich nie daran. Sie schüttelte ihre Gefühle ab und setzte die professionelle Brille auf. Das gelang ihr meistens gut, aber später würden die Bilder wieder in ihrem Kopf spuken, das wusste sie.

Jana ließ den Blick schweifen. Das Wassersprühfeld war im Sommer besonders bei Kindern beliebt. Aus mehreren sandsteinfarbenen Betonskulpturen, die an Baumstümpfe erinnerten, schossen Wasserfontänen in alle Richtungen auf die etwa 20 mal 20 Quadratmeter große Betonfläche und ließen das Wasser in Regenbogenfarben schillern. Jetzt allerdings war das Wasser abgeschaltet und Amir hatte bereits dafür gesorgt, dass das vorerst auch so blieb. Von dem länglichen Holzgebäude, in dem die Kasse des Kletterparks und die Ausleihe der Klettergurte untergebracht waren, kam gerade ein junger Mann in rotem Pulli in Begleitung eines uniformierten Kollegen auf sie zu. Er fuhr sich mit beiden Händen fahrig durch seine ohnehin schon in alle Richtungen abstehenden blonden Haare.

„Das ist einer von den Mitarbeitern des Kletterparks“, flüsterte Amir. „Er hat ihn gefunden.“

„Alles klar“, meinte Jana, „wie heißt er?“

Amir sah in seine Notizen. „Paul Wegener. Er war heute Morgen der erste und hat ihn entdeckt. Hat gleich die Polizei gerufen.“

„Gut.“ Sie wandte sich dem Mann zu und stellte sich vor. „Jana Schröder, Kripo Offenbach.“

„Paul Wegener.“ Er warf einen schrägen Blick zu dem Toten und wurde leichenblass. Dann drehte er sich wortlos um, rannte zum nächsten Baum und übergab sich.

Jana folgte ihm unauffällig. Sie konnte die Reaktion des jungen Mannes nachvollziehen. Auch ihr war es beim Anblick der zugerichteten Leiche flau im Magen geworden. Dass diese quasi vor ihrer Haustür lag und nicht irgendwo sonst in ihrem großen Einsatzgebiet, machte es nicht besser. Wie oft war sie mit Kai und seinen Freunden hier gewesen, die Kinder hatten fröhlich im Wassersprühfeld gespielt, eine fantastische Alternative zum Schwimmbad. Sie schüttelte die Gedanken beiseite und stürzte den Kaffee hinunter, den Amir ihr mitgebracht hatte, das half. Den Becher entsorgte sie in einem Papierkorb, der nicht weit entfernt neben einer Bank stand.

Sie wartete, bis Wegener sich beruhigt hatte. „Geht’s wieder?“, fragte sie fürsorglich.

„Ich – Entschuldigung, ich …“ Wegener sah betreten auf seine Füße, es war ihm offensichtlich peinlich.

„Schon gut.“ Jana reichte ihm ein Taschentuch. „Das hier ist – nicht einfach“, meinte sie.

Dankbar wischte Wegener sich den Mund ab. Jana zeigte auf das Holzgebäude. „Wollen wir vielleicht da rübergehen?“

„Ja. Nur zu gern.“

„Können Sie mir denn irgendwas sagen? Haben Sie etwas gesehen, ist Ihnen was aufgefallen?“

„Nein …“ Wegener schüttelte den Kopf und stützte sich am Tresen ab. „Ich war gestern Abend der Letzte hier, da war noch alles in Ordnung. Heute Morgen“, konzentriert starrte er auf den Tresen, „lag er da.“

„Kennen Sie den Toten?“, wollte Jana wissen.

„Nein, nie gesehen.“ Wegener kniff die Augen zusammen. „Jedenfalls glaube ich das.“ Er schniefte. „Er sieht schlimm aus.“

Jana nickte mitfühlend. „Danke“, meinte sie und drückte ihm eine Karte in die Hand. „Wenn Ihnen noch was einfallen sollte, rufen Sie mich an, ja?“

„Ja. Klar.“

Kurz darauf traf Federica Cavelli, Rechtsmedizinerin und Janas beste Freundin, mit der Spurensicherung ein. Die beiden konnten gegensätzlicher nicht sein. Während Jana ihre kastanienbraunen Locken meist nachlässig zu einem Pferdeschwanz zusammenfasste und am liebsten Jeans und Sneakers trug, war Federica immer top gestylt und trug ihr schwarzes Haar in einem aufwändigen Kurzhaarschnitt, der ihren Friseur reich machte. Auch jetzt sah sie aus wie aus dem Ei gepellt.

„Mamma mia, bella, was ist das hier?“ Federica ließ ihre Hand über den kompletten Tatort schweifen und schloss dabei ihre Freundin mit ein.

„Scheußlich …“, bestätigte diese. Sie starrte den Toten an. „Was meinst du, woran ist er gestorben?“, fragte sie die Pathologin.

„Keine Aussage vor der Obduktion und ohne Ulis zweiten Blick“, entgegnete Federica, „schon gar keine Ferndiagnose!“ Ulrich ‚Uli‘ Weinhold war ihr Kollege, Obduktionen führten sie stets zu zweit durch. Federica hatte ihn schon informiert, dass Arbeit auf sie zukomme. Sie schüttelte den Kopf. „Er ist tot“, meinte sie dann.

„Das habe ich auch schon festgestellt“, frotzelte Jana. „Schau dir mal die Arme und Beine an, sieht aus, als wäre da einiges gebrochen.“

„Stimmt“, meinte die Pathologin. „Meine Güte, das sind ja Methoden wie im Mittelalter!“

„Mittelalter?“, fragte Jana interessiert. Das wurde ja immer besser.

„Man hat Verrätern zuerst alle Knochen gebrochen und sie dann präsentiert, als Mahnung für andere, soviel ich weiß“, meldete sich Amir zu Wort.

Ihr Handy klingelte. „Das ging aber schnell“, murmelte sie verwundert, als sie sah, dass es ihr Chef war. Seine Nachricht ließ sie frösteln.

„Das war Kriminalrat Rudolph“, erklärte sie zwei Minuten später Federica mit belegter Stimme.

„Hat er schon etwas herausgefunden?“, fragte diese, überrascht über die schnelle Rückmeldung.

„Ja. Der Tote heißt Timo Fetzer. Er war einer von uns.“

Federica, die sich einen weißen Overall über ihre geschmackvolle Kleidung gezogen hatte, kniete neben der Leiche. Selbst in dieser Aufmachung wirkte sie noch elegant.

„Jana, schau mal!“ Sie klappte dem Toten den Mund auf. Jana schnappte nach Luft. Die Zunge fehlte. „Jetzt sind wir endgültig im Mittelalter angekommen!“

„Verrätern hat man die Zunge rausgeschnitten“, erklärte Amir und beugte sich nun ebenfalls über die Leiche.

Jana grübelte. „Timo Fetzer war verdeckter Ermittler beim LKA. Vielleicht ist er aufgeflogen? Rudolph ist dran. Die Staatsanwaltschaft hat uns deren Verstärkung angekündigt, müsste jeden Augenblick eintreffen.“

„Wie – das LKA übernimmt?“, meinte Amir enttäuscht. Diesen spektakulären Fall würde er gern selbst in die Hand nehmen.

„Nein, es ist erst mal unser Fall, meint Rudolph. Wir bekommen Unterstützung, das ist alles.“ Sie klopfte Amir auf die Schulter. „Wir sind chronisch unterbesetzt, schon vergessen? Und ein bisschen Insider-Wissen vom LKA aus erster Hand schadet uns bestimmt nicht.“ Sie zwinkerte ihrem Kollegen zu und überspielte damit ihren eigenen Ärger. Als ob sie nicht selbst damit fertig werden könnten!

„Na dann.“ Amir war beruhigt. „Woran hat er gearbeitet?“, wollte er wissen.

Jana zuckte die Schultern. „Das kann uns hoffentlich der Kollege vom LKA sagen.“ Für irgendwas muss er ja gut sein, dachte sie und wandte sich wieder der übel zugerichteten Leiche zu.

„Der wurde brutal gefoltert“, stellte Federica fest, „sieht aus wie ein einziges Hämatom.“ Vorsichtig hob sie erst den linken, dann den rechten Arm an. „Beide gebrochen.“ Sie wies auf das Handgelenk. „Schau mal!“

Jana entdeckte ein kleines Tattoo. Es war eine Rune: Þ. Sie drehte sich nachdenklich zu ihrem Kollegen um.

„Amir, wenn du schon so ein Mittelalterexperte bist, weißt du vielleicht, was die Rune bedeutet?“ Sie zeigte ihm das Handgelenk.

„Hm. Mit Runen kenne ich mich nicht sonderlich aus. Aber das da“, er deutete auf die Leiche, „ist ein ‚Dorn‘, ein ‚Thorn‘, wird ausgesprochen wie das englische ‚th‘. Mehr weiß ich aber nicht.“ Er musterte die Rune interessiert. „Die Runen symbolisieren nicht nur Laute, sie haben auch eine Bedeutung. Das S, zum Beispiel, wie du es von den Nazis kennst“, er zeichnete das blitzförmige Symbol in den sandigen Boden, „bedeutet auch ‚Sieg‘. Das Hakenkreuz sind zwei gekreuzte Sieg-Runen.“

„Wow“, entfuhr es Jana. „Das wusste ich gar nicht! Und du willst dich nicht mit Runen auskennen? Woher weißt du das bloß?“

Amir grinste. „Manchmal sind Rollenspiele auch für was gut!“ „Oh Mann …“ Jana schwieg einen Moment, in Gedanken versunken. „Amir, finde heraus, was es mit dieser Rune auf sich hat. Ich werde das Gefühl nicht los, dass uns das einen Schritt weiterbringt.“

„Sie können hier nicht durch!“

Die energische Stimme Kacpers, des uniformierten Beamten, schreckte Jana aus der Betrachtung der Leiche auf.

„Forster, LKA.“

Die zwei Worte klangen so frostig, dass sie Jana einen Schauder über den Rücken jagten. Das musste die angekündigte Verstärkung sein. Sie machte sich auf den Weg, den Kollegen zu begrüßen.

„Ist in Ordnung, Kacper. Lass ihn durch!“

Der Mann musste in ihrem Alter sein. Er trug eine schwarze Jacke, aus deren Revers ein ebenso schwarzer Rollkragen ragte, Jeans und Schnürstiefel. Die Schläfen seines dunkelblonden Haares zeigten deutliches Grau. Ein Paar eisblaue Augen musterte Jana von oben bis unten. Das asketische Gesicht ließ dabei keine Regung erkennen.

„Sie sind …?“ Forster hob eine Augenbraue.

„Jana Schröder. KHK“, fügte sie mit Nachdruck hinzu und zückte ihren Ausweis. „Sie müssen der Kollege vom LKA sein.“

„KHK Daniel Forster, richtig.“ Er taxierte sie weiterhin.

„Können Sie sich ausweisen?“; fragte Jana ungeduldig, als Forster keine Anstalten machte, das von sich aus zu tun.

Er hielt ihr wortlos seinen Ausweis unter die Nase. Jana studierte ihn länger als notwendig.

Dann reichte sie ihm die Hand. „Willkommen im Team.“ Er erwiderte mit festem Druck. Ein feiner Duft von After-Shave zog ihr in die Nase.

„Ich übernehme ab sofort die Ermittlungen.“ Sein Tonfall erlaubte keine Widerrede.

Gerade das bewirkte bei Jana das Gegenteil. Ihr Chef hatte ausdrücklich gesagt, es sei ihr Fall.

„Sagt wer?“, entgegnete sie deshalb provokant.

Forster schien ehrlich überrascht. „Ich sage das“, antwortete er bestimmt.

Jana stemmte die Hände in die Hüften. Sie baute sich so gut es ging vor Forster auf, der sie um mindestens zehn Zentimeter überragte.

„Das werden Sie nicht“, entgegnete sie ruhig. Ihre Stimme entbehrte nicht einer gewissen Schärfe.

„Bitte?“ Forster wirkte irritiert und hob wieder eine Augenbraue. Offenbar war er es gewohnt, dass man seinen Anordnungen direkt Folge leistete. „Ich glaube, Sie verstehen das nicht richtig. Der Tote war einer von uns, vom LKA; deshalb übernehme ich.“ Sein Tonfall klang, als spreche er mit einem kleinen Kind.

Jana holte tief Luft und schloss kurz die Augen. Der brachte sie jetzt schon auf die Palme!

„Nein, Sie verstehen nicht.“ Sie feuerte ihre Worte wie Blitze in Forsters Richtung. „Sie wurden mir als Verstärkung angekündigt. Wir können das gerne mit Kriminalrat Rudolph klären.“ Forster sah aus, als würde er gleich explodieren. Jana hielt stand, obwohl sie ihren Ärger kaum noch zurückhalten konnte.

„Jana?“ Amir unterbrach das Blickduell.

„Ja?“ Froh über diese Unterbrechung drehte sie sich zu ihrem Kollegen um und deutete dann auf ihn. „KK Amir Trageser, mein Kollege“, stellte sie ihn kurz vor und folgte Amir zu Federica. Sie ließ Forster einfach stehen.

„Schau mal“, meinte Federica und deutete auf den Arm des Toten, bevor sie Forster bemerkte, der Jana hinterherstapfte.

An der Innenseite des Oberarms, unter dem Ärmel des T-Shirts, den Federica nach oben geschoben hatte, befand sich ein weiteres Tattoo, ganz frisch, ein verschnörkeltes ‚S‘.

Federica zog verwundert die Augenbrauen hoch.

„Kollege Daniel Forster vom LKA. Er unterstützt uns“, meinte Jana beiläufig und stellte die Rechtsmedizinerin vor.

„Hier, die Leiche …“ Sie zeigte Forster den Toten.

„Das sehe ich, danke“, war die knappe Antwort.

Jana verdrehte die Augen, während Federica hinter Forsters Rücken vieldeutig gestikulierte.

Dieser inspizierte in aller Ruhe den Toten.

„Woran ist er gestorben?“, fragte er sachlich.

„Das – kann ich erst sicher nach der Obduktion sagen“, hauchte sie. Federica himmelte Forster regelrecht an.

„Danke. Schicken Sie mir den Bericht so schnell wie möglich.“ Forster ignorierte Federicas schmachtenden Blick, nickte ihr kurz zu und betrachtete sich eingehend das Wassersprühfeld. „War der Brunnen die ganze Zeit aus?“

„Ja. Um diese Jahreszeit ist er für gewöhnlich ausgeschaltet. Und …“, belehrte sie Forster im schulmeisterlichen Tonfall, „… das ist kein Brunnen.“ Dann wandte sie sich ihrer Freundin zu. „Rica, der Bericht geht an mich“, stellte sie klar. „Anweisung von Rudolph.“

„Alles klar, bella!“ Federicas Wangen waren gerötet, sie wirkte leicht verwirrt.

„Ach ja, was ist es denn dann?“, fragte Forster schroff.

„Um acht bei Nello?“, bot Jana ihrer Freundin an. Diese hob den rechten Daumen. „Ein Wassersprühfeld“, erklärte sie Forster geduldig. Der verdrehte die Augen.

*

Jana hatte die Arme in die Hüften gestemmt und betrachtete die Fotos, die Sandra von der KTU gebracht und Amir an der Plexiglastafel drapiert hatte.

Timo Fetzer, 32, verdeckter Ermittler beim LKA.

Ein Mensch. So jung. Zu jung.

Jana versuchte, ihn sich lebendig vorzustellen, lachend, scherzend, intakt.

Er war hübsch gewesen, ohne die Blutergüsse, ein sanftes Gesicht, jedoch mit markanten Wangenknochen und einem kantigen Kinn, welches ihm einen energischen Ausdruck verliehen haben musste.

Wer konnte ihm das angetan haben?

Sie schloss die Augen.

Ich werde alles tun, um deine Mörder zu finden, versprach sie ihm. „Frau Schröder?“

Erschrocken fuhr Jana aus ihren Gedanken.

Kriminalrat Hans-Werner Rudolph stand in der Tür. Wie so oft hatten sie ihn nicht bemerkt. Er hatte die unangenehme Angewohnheit, plötzlich und unauffällig aufzutauchen und hinter einem zu stehen.

„Ja?“ Sie drehte sich zu ihm um. Er war perfekt gekleidet, dunkelblauer Anzug, bordeauxrote Krawatte, sein volles graues Haar sorgsam nach hinten gekämmt und mit Haarspray fixiert, wie immer hielt er sich kerzengerade. Das Sinnbild eines verantwortungsbewussten Beamten und Vorgesetzen. Unbewusst nahm auch Jana Haltung an und strich ihren Pullover glatt.

Rudolph wies mit dem Kinn zu der Plexiglastafel. „Ein Kollege.“ Seine Schultern sackten fast unmerklich nach unten, er strich sich mit der Hand über das Kinn, schüttelte den Kopf und seufzte. Selten ließ er einen solchen Moment der Schwäche zu, Jana fühlte eine tiefe Sympathie in sich aufflackern. Fast sofort nahm Rudolph wieder seine übliche Haltung ein. „Das bedeutet oberste Priorität. Wir dürfen uns keine Fehler erlauben.“

„Wir geben unser Bestes“, versicherte Jana ihm und meinte das auch so. Sie gab immer ihr Bestes. Aber diesmal ganz besonders.

„Ich weiß.“ Rudolph nickte. Er wusste, was er an seinem Team und ganz besonders an ihr hatte. „Wie ich sehe, haben Sie sich schon bekannt gemacht.“ Er wandte sich Forster zu.

„Äh – ja.“ Jana wollte nicht weiter darauf eingehen.

„Ich erwarte, dass Sie uneingeschränkt mit Herrn Forster zusammenarbeiten.“

„Klar.“ Jana kaute auf ihrer Unterlippe und verkniff sich einen Kommentar.

„Herr Forster?“ Rudolphs Ton war streng, und Jana freute sich insgeheim, dass ihr Chef gegenüber dem LKA keine Zurückhaltung übte. „Das hier ist mein bestes Team. Ich erwarte von Ihnen jede mögliche Unterstützung.“

Forster nickte kurz. Ansonsten verzog er keine Miene.

*

„Also, was wissen Sie noch über Timo Fetzer?“

„Verheiratet, mit Laura, ein Sohn. Wohnhaft in Wiesbaden.“ Forster, der in einer Ecke hinter Janas Schreibtisch an die Wand gelehnt stand, las die Fakten aus seinem Tablet vor. Er fuhr sich durchs Haar.

Scheiße, dachte Jana, und drehte sich um zu Forster, der auf seinen Bildschirm starrte. „Wie alt?“

„32, habe ich doch vorhin schon gesagt“, murmelte er, ohne aufzuschauen. Jana schüttelte den Kopf.

„Nicht er, sein Sohn!“

„Drei“, entgegnete Forster, nachdem er einen Moment gescrollt hatte. „Nico.“

„Scheiße.“ Diesmal sagte sie es laut, Forster lenkte seine Aufmerksamkeit vom Bildschirm nun auf seine Kollegin. Jana strich sich mit dem Finger über die Lippen und schaffte es gerade noch rechtzeitig, nicht darauf herumzubeißen. Was sollte er von ihr denken?

Forster war jedoch schon wieder in seinen Bildschirm vertieft.

„Laura.“ Er sah erneut von seinem Tablet auf.

„In ‚Laura‘ ist kein einziges ‚S‘“, führte Jana seinen Gedankengang erleichtert fort. „In ‚Nico‘ auch nicht. Und ein ‚S‘ wie ‚Schatzi‘ wird er sich wohl kaum tätowiert haben.“ Sie rieb sich das Kinn.

„Fragen wir sie doch!“, schlug Forster vor.

„Sind Sie wahnsinnig?“ Jana schüttelte empört den Kopf. „Die hat gerade ihren Mann verloren! Das müssen wir ihr erst mal beibringen!“

„Ja – und? Es gilt, einen Mord aufzuklären. Da können wir auf Befindlichkeiten keine Rücksicht nehmen.“ Forster verzog keine Miene.

„Doch, das müssen wir.“ Jana war außer sich. Jetzt knabberte sie doch am Daumennagel. Schnell zog sie den Finger wieder aus dem Mund und steckte ihn zwischen die anderen. Forster schien es nicht bemerkt zu haben.

„Ihr – werdet schon einen Weg finden“, versuchte Amir, der wusste, was in ihr vorging, die Wogen zu glätten.

Jana atmete einmal tief durch. „Was wissen Sie noch?“, wendete sie sich wieder an Forster. „Woran hat er gearbeitet?“

Dieser vertiefte sich wieder in sein Tablet.

„Timo Fetzer agierte unter falschem Namen. Er nannte sich ‚Tom Fischer‘ und hatte eine kleine Wohnung in der Richard-Wagner-Straße.“ Forster hob kurz den Kopf, Jana sah ihn weiter interessiert an. „In Offenbach gibt es eine rechtsradikale Gruppierung, nennt sich ‚Thors Hammer‘. Fetzer wurde dort eingeschleust.“

„Warum?“ Sie überlegte. Den Namen hatte sie schon mal gehört, aber nicht in der Größenordnung für verdeckte Ermittlungen. Zumindest hatte sie das bisher geglaubt.

„Das weiß ich nicht“, entgegnete Forster zögernd. „Der Verfassungsschutz hält das Ganze unter Verschluss. Ich werde aber nicht lockerlassen.“

„Wie lange ist das her?“, wollte Jana wissen.

„Etwa drei Monate.“ Forster schwieg wieder.

„Lassen Sie sich doch nicht alles aus der Nase ziehen!“ Jana spürte, dass sie schon wieder wütend wurde.

Forster wendete den Blick von seinem Tablet und richtete ihn unverhohlen auf Jana. Er zögerte mit seiner Antwort.

„Kann ich Ihnen denn trauen?“

Die Frage überraschte Jana. Sie stellte sich ihr nicht, auch wenn sie keinen guten Start hingelegt hatten.

„Das müssen Sie schon selbst entscheiden“, antwortete sie deshalb.

Forster betrachtete eingehend die Tatortfotos. „Sie sind dran.“ Er nickte Jana auffordernd zu.

„Hm.“ Jana grübelte. „Im Grunde wissen Sie schon alles. Von ‚Thors Hammer‘ habe ich auch schon gehört. Unruhestifter mit rechtsradikalem Hintergrund.“ Sie seufzte. „Das ist Sache der OK. Ich werde da mal nachfragen.“ Jana hatte einen guten Draht zu ihrem Kollegen Oliver Steinkamp von der Organisierten Kriminalität.

„Vor zwei Wochen haben sie die Dönerbude meines Kumpels am Europaplatz in Brand gesetzt“, ergänzte Amir.

„Was ist daraus geworden?“, wollte Jana wissen.

„Ich weiß nicht. Ich habe ihn seitdem nicht mehr gesprochen.“ „Dann wäre vielleicht jetzt der richtige Zeitpunkt dafür“, meinte Jana.

„Klar. Mache ich. Gleich nachher.“ Amir schnippte mit den Fingern.

Forster hatte das Gespräch mit versteinerter Miene verfolgt.

„Ich fahre jetzt zu Laura Fetzer“, entschied er und griff nach seiner Jacke, die er über einen Stuhl geworfen hatte.

„Nein“, erwiderte Jana energisch, „wir fahren zu Laura Fetzer. Nachdem ich mit der OK telefoniert habe.“

„Ich glaube nicht …“, wollte Forster einwenden.

„Teamwork?“, entgegnete Jana spitz.

Forster seufzte. Sie konnte sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Wahrscheinlich war er froh, wenn er Laura Fetzer die traurige Nachricht nicht allein überbringen musste. Außerdem hatte Rudolph ihn deutlich ermahnt, mit ihr zusammenzuarbeiten. Je besser ihnen das gelang, desto schneller war der Fall gelöst und er war sie wieder los. Zumindest in diesem Punkt, glaubte Jana, waren sie sich einig.

„Dann fahren wir eben gemeinsam nach Wiesbaden“, ergab er sich gedehnt. „Aber ich fahre.“

Wieder redete er mit Jana wie mit einem kleinen Kind. Sie zählte in Gedanken bis drei.

„Einverstanden.“

*

Oli Steinkamp konnte Jana tatsächlich ein paar Informationen geben. Er bezeichnete die Gruppierung als einen ‚gut organisierten Nazi-Haufen‘.

„Denen ist nicht beizukommen, und wenn man mal was findet, taucht gleich dieser Anwalt auf und wirft mit Paragrafen um sich.“

„Welcher Anwalt?“, hakte Jana nach.

„Matthias Renner. Ätzender Typ, wenn du mich fragst.“

„Und die Staatsanwältin hat keinen einzigen Paragrafen zur Hand?“, wunderte Jana sich.

„Bis jetzt nicht. Die Petridis musste immer klein beigeben.“

„Und ihr macht da nichts? Immerhin sind das Nazis!“ Jana konnte es kaum glauben.

„Was sollen wir denn machen? Die prügeln sich ein bisschen, das war’s, keine öffentliche Anstiftung, keine Hetze, alles im Rahmen. Festnehmen, Personalien feststellen, laufen lassen.“ Oli redete sich in Rage. „Das kotzt mich ja selbst an. Wir haben sie im Blick und hoffen, dass wir sie endlich drankriegen können, mehr is nicht. Zeit dafür haben wir auch nicht. Gerade haben wir ein Riesenproblem mit Schutzgelderpressung. Und ich weiß nicht, wie’s euch geht – wir sind unterbesetzt!“

Jana starrte zu dem leeren Schreibtisch gegenüber.

„Nicht besser“, meinte sie dann. „Hast du ein paar Namen für mich?“

„Schick ich dir.“

„Danke, Oli. Du hast mir echt geholfen.“

Bevor sie nach Wiesbaden aufbrachen, gab Jana Amir noch ein paar Instruktionen. Er sollte herausfinden, wo die Tattoos gestochen worden waren und was dieser ‚Thorn‘ bedeutete. Vorher sollte er sich noch Fetzers/Fischers Wohnung anschauen.

Amir nickte. „Mach ich. Dann besuche ich Murat. Und dann finde ich diese ‚S‘“, zählte er auf.

Er schnappte sich seine Jacke, und Jana tat es ihm gleich.

2

Jana schaute aus dem Fenster und versuchte, nicht daran zu denken, dass der unfreundliche Forster neben ihr saß und den Wagen lenkte. Das war gar nicht so einfach, denn der Duft seines After-Shaves füllte dezent den Innenraum aus.

Jana schloss die Augen. Ihre Gedanken wanderten zu Christian, zurück zu diesem schrecklichen Augenblick. Setz dich, Jana. Ein mitleidiger Blick. Christian wurde bei dem Einsatz erschossen. Wenn du was brauchst …

Sie fühlte sich seltsam zeitlos und musste unwillkürlich an Laura Fetzer denken. Gleich würde sie ihr gegenüberstehen. So oft sie es auch versuchte, sie bekam den Gedanken nicht scharf in den Kopf. Forster neben ihr, der den Blick starr auf die Fahrbahn gerichtet hatte, kam ihr unwirklich vor.

„Warum macht jemand sowas?“, murmelte sie, eher zu sich selbst. Aber Forster griff die Frage zu ihrer Überraschung auf. „Was meinen Sie?“

„Warum arbeitet jemand als verdeckter Ermittler, wenn er zuhause Frau und Kind hat?“ Sie blickte grübelnd auf ihre Füße. „Das ist gefährlich, und es hat ihn bestimmt niemand dazu gezwungen. Noch dazu diese Tattoos …“

Forster starrte weiter auf die Fahrbahn. „Vielleicht wollte er einfach zuhause raus.“ Seine Stimme klang hart.

Verwundert sah Jana ihn an. „Warum dann auf diese Weise?“

Forster schüttelte den Kopf. Er würde nichts mehr sagen. Sein Mund hatte einen verkniffenen Zug angenommen. Jana hatte das Gefühl, dass da mehr dahintersteckte, beließ es aber vorerst dabei, sich ihre eigenen Gedanken zu machen.

Fetzers Frau dürfte von seinem Einsatz nichts gewusst haben. Wahrscheinlich wusste sie nicht einmal, dass er verdeckt ermittelte. Für sie war er in Berlin, Kassel, Bonn oder irgendwo sonst auf der Welt, vielleicht rief er täglich an und erzählte ihr Lügengeschichten oder besuchte sie am Wochenende mit einem Blumenstrauß. Ganz sicher wusste Laura nichts davon, dass er sich nicht sehr weit von ihr entfernt in Offenbach-Lauterborn aufhielt. Es musste ein weit größerer Schock für sie sein, als es das damals für Jana gewesen war. Sie mussten es ihr vorsichtig beibringen.

Jana glaubte nicht, dass Forster dafür der Richtige war.

„Sie halten sich nachher zurück, ja?“ Jana erntete einen Seitenblick mit hochgezogener Augenbraue.

„Bitte?“

„Sie fallen nicht mit der Tür ins Haus und bombardieren die Frau mit Fragen.“

„Schön, dass Sie mir meinen Job erklären wollen“, knurrte er.

„Ich meinte doch nur …“

„Ach, Sie meinten?“, fiel er ihr ins Wort. „Ich mache das hier nicht zum ersten Mal.“

„Das wollte ich damit auch nicht unterstellen“, gab Jana hitzig zurück. „Wenn Sie mich ausreden lassen würden, wäre es einfacher.“

„Es wäre einfacher, wenn Sie nicht so feindselig wären“, blaffte Forster.

„Hah, ich?“ Jetzt war Jana endgültig auf 180. „Der Einzige, der hier feindselig ist, sind ja wohl Sie. Sie meinen wohl, weil Sie vom LKA kommen, wären Sie etwas Besseres.“

„Pah!“ Forster starrte verbissen auf die Fahrbahn. Jana fragte sich, ob sie nicht einen Schritt zu weit gegangen war. Aber der Mann war nun einmal unmöglich. Sie zählte in Gedanken wieder bis drei.

„Was ich sagen wollte“, fügte sie mit ruhiger Stimme an, „ist, dass es von Frau zu Frau vielleicht etwas einfacher sein könnte.“

Forster schwieg. Sein Schweigen sagte mehr als tausend Worte.

*

Amir stand vor dem tristen Wohnblock in der Richard-Wagner-Straße und ließ seinen Blick die Fassade hinaufgleiten. Fenster an Fenster, vergilbter Putz, kleine Balkons mit Betonbrüstung, die ihren Namen kaum verdienten. Man hatte offenbar geglaubt, mit gelben Farbtupfern etwas Fröhlichkeit ins Viertel zu bringen, aber dieser Versuch bewirkte das Gegenteil. Vergilbtes Grau und verblasstes Gelb waren keine gute Kombination.

Gegenüber war eine kleine Grünfläche mit ein paar Bäumen. Immerhin die ließen sich vom nahenden Frühling motivieren, ein bisschen Farbe ins Viertel zu bringen.

Amir fuhr mit dem Finger über die Klingelschilder neben der Haustür. „Fischer“ wohnte ganz oben. Er seufzte. Hoffentlich gab es einen Aufzug.

Er klingelte bei Kovacs, dem Hausmeister, bei dem er sich telefonisch angekündigt hatte. Kaum hatte er den Finger vom Klingelknopf genommen, summte auch schon der Türöffner und ein untersetzter Mann im Feinrippunterhemd öffnete eine Tür im Erdgeschoss. Über seine Glatze hatte er ein paar fettige Seitenhaare gekämmt, und seine Zähne waren so gelb wie die Nikotinwolke, die ihn aus der Tür begleitete. Amir hielt die Luft an und wies sich aus.

Kovacs deutete auf den Aufzug und drückte den Knopf. „Zehnter Stock.“

„Ich – äh – laufe lieber.“ Amir zog entschuldigend die Schultern nach oben. „Äh – Klaustrophobie.“ Nichts und niemand würde ihn dazu bringen, mit diesem Stinker zehn Stockwerke nach oben im Aufzug zu fahren. Da war die Treppe eindeutig das kleinere Übel.

Immer zwei Stufen auf einmal nehmend hetzte er nach oben und lobte sich dabei selbst für seine gute Form. So schaffte er es sogar, vor dem Aufzug mit seiner olfaktorisch herausfordernden Fracht im zehnten Stock anzukommen. Er hatte die Wohnungstür bereits gefunden, als Kovacs schwer atmend zu ihm aufschloss.

Zum Glück dauerte es nicht lange, bis die Tür offen war. „Danke, ich komme jetzt allein zurecht.“

Kovacs blieb in der Tür stehen. Amir schlug sie ihm vor der Nase zu und atmete einmal tief durch.

Er ließ einen schnellen Blick durch die kleine Ein-Zimmer-Wohnung schweifen, schloss kurz die Augen und öffnete sie wieder.

Rechts vom engen Flur führte eine Tür ins Badezimmer. Toilette, Waschbecken, Dusche auf engstem Raum. Irgendwie hatte Fetzer es noch geschafft, einen schmalen Schrank dort unterzubringen. In die Regale waren Handtücher und Zeitschriften über Motorsport gestopft. Amir öffnete die Schubladen und Schranktüren, Hygieneartikel und Putzzeug, nichts Ungewöhnliches. Der Putzeimer stand vor dem Schrank. Es fiel Amir schwer, sich einmal um die eigene Achse zu drehen. Über dem Waschbecken war ein zweitüriger Spiegelschrank angebracht. Darin fand Amir Rasierzeug, Deo und zwei benutzte Zahnbürsten.

Das Zimmer hatte eine Tür zu einem der Miniaturbalkons, auf dem sich eine Bier- und eine Wasserkiste stapelten, außerdem zwei Klappstühle und ein Wäscheständer. An der Wand links standen ein schmaler Kleiderschrank und ein flaches Regal, auf dem sich ein überdimensionaler Flachbildfernseher befand. Immerhin ein bisschen Luxus hatte sich Fetzer in seiner Absteige also geleistet, dachte Amir. An der gegenüberliegenden Wand befand sich eine ausgezogene Bettcouch, das Bettzeug lag darauf und war zerwühlt. Daneben stand ein Campingtisch, auf dem sich ein Laptop und ein ungeordneter Haufen Papier den Platz streitig machten. Rechts davon, in der Nische hinter dem Badezimmer, war eine enge Küchenecke, bestehend aus Spüle und Herd mit zwei Herdplatten und ein paar Hängeschränken. In der Spüle standen etliche schmutzige Teller. In der Ecke lagen leere Pizzakartons. Amir rümpfte die Nase.

Kurz darauf rief er Sandra an und bat sie, mit der Spurensicherung vorbeizukommen. Vielleicht fand sich hier etwas Brauchbares.

Während er wartete, suchte Amir nach dem Handy des Toten. Er hatte keines bei sich gehabt; Amir erwartete jedoch nicht, es hier zu finden. Wahrscheinlich hatten es ihm seine Peiniger abgenommen. Den Laptop würde er gleich Karl, dem IT-Fachmann, übergeben.

Anschließend durchstöberte er die Papiere auf Fetzers Tisch. Das meiste waren Werbeprospekte und kostenlose Zeitschriften. Keine Post, keine interessanten Informationen. Nichts Handschriftliches, nicht einmal etwas Harmloses wie eine Einkaufsliste. Sein Blick fiel auf die Speisekarte einer Dönerbude. Er grinste zufrieden. Da wollte er sowieso hin.

*

Forster parkte den Wagen vor einem Reihenendhäuschen in einer Neubausiedlung in einem Vorort von Wiesbaden. Die meisten Vorgärten waren noch nicht angelegt, was die Siedlung in einem tristen Grau erscheinen ließ. Jana fiel wieder der Grund ein, den Forster für Fetzers freiwilligen Einsatz vermutet hatte – Flucht. Nun, vielleicht war da ja wirklich was dran. Sie klingelte. Kurz darauf wurde die Tür von einer hübschen dunkelhaarigen Frau mit großen Rehaugen geöffnet, die in eine weite graue Strickjacke gehüllt war.

„Ja?“

„Jana Schröder, Kriminalpolizei. Das ist mein – Kollege, Daniel Forster vom LKA“, stellte sie sich vor.

„LKA?“ Verwirrt starrte die Frau Forster an. „Timo ist nicht da. Er ist in Berlin. Sie wollen doch sicher zu ihm?“

„Sind Sie Laura Fetzer?“, fragte Jana, um sicherzugehen.

„Ja, aber …“ Die Rehaugen starrten jetzt Jana an.

„Dürfen wir vielleicht reinkommen?“, fragte sie freundlich.

„Ich sagte doch schon, Timo ist nicht da.“ Sie zog ihre Jacke zu und klammerte sich an den Saum.

Jana spürte, wie Forster neben ihr ungeduldig wurde.

„Das wissen wir“, setzte er an, eine Spur zu schroff, wie Jana fand.

„Wir wollten auch eigentlich zu Ihnen“, sagte sie deshalb schnell. „Also – dürfen wir?“

Laura Fetzer öffnete die Tür und trat einen Schritt zur Seite. „Aber ja, natürlich, entschuldigen Sie! Ist was mit ihm?“