Oglog - Exol Sand - E-Book

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Exol Sand

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Beschreibung

Seltsame Dinge geschehen in Sodreg und Umgebung. Das große Schweigen geht um und nimmt Geräusch für Geräusch mit sich fort. Kirchenglocken bleiben stumm, wenn man sie läutet, ratternde Mühlen drehen sich plötzlich ohne jeden Ton von sich zu geben und Schafe recken ihre Hälse vergeblich in die Höhe. Kein Laut kommt aus ihren Mäulern und ihr Meckern bleibt stumm. Die Welt beginnt in Stille zu verfallen und niemand hat eine Erklärung für diese gespenstischen Vorgänge. Ausgerechnet Hans, der faulste und einfältigste Bursche der ganzen Gegend, will der Sache auf den Grund gehen. Ahnungslos bricht er auf ins Ungewisse und findet sich schnell in einem Abenteuer wieder, dass ihn zu Orten jenseits seiner Vorstellungskraft führt. Brütend heiße Dschungel, Höhlen voll reißender Bestien und Bäume, die bis in den Himmel reichen und von tausenden Menschen bewohnt werden. Um zu bestehen, muss er über sich hinauswachsen, sein altes Ich hinter sich lassen und den Gefahren entgegentreten, die auf Schritt und Tritt auf ihn warten. Und über allem schwebt der Geist eines uralten Wesens mit schier unbegrenzten Kräften.

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Seitenzahl: 745

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Ähnliche


Exol Sand

Oglog

Fantasy-Roman

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Nachwort

Kapitel 1

Wozu einen Becher benutzen?

Der Krug tut es doch auch!

Hans lag im Bett und spürte, wie ihm die Morgensonne wärmend auf die Nase schien. Es war Sommer und das Fenster seines Schlafzimmers stand weit offen. Die Gardinen wehten sanft im Wind und auf dem Apfelbaum vor dem Fenster sang eine Amsel eifrig ihr Lied. Die große Uhr am Rathaus zeigte bereits acht und das ganze Dorf Sodreg war schon seit Stunden auf den Beinen. Alle, bis auf Hans. Jeder in dem kleinen Ort wusste, dass er keine Lust zum Arbeiten hatte und am liebsten faul im Bett lag oder untätig in der Sonne saß. So war es auch an diesem Tag. Vom Schlafzimmer aus lauschte er zufrieden dem geschäftigen Treiben auf der Straße, dachte aber längst noch nicht ans Aufstehen.

Die Menschen draußen gingen fleißig ihrer Arbeit nach. Beim Bäcker klapperten die Bleche, der Schmied hieb glühendes Metall in Form und Gemüsehändler Alois Zuckermann zog seinen quietschenden Karren zum Markt. Als im Nachbarort Grüntal die Kirchenglocke läutete, rannten die letzten Kinder lärmend zur Schule und kurz darauf kam der Schäfer Klaus Wollinger die Straße entlang und trieb seine blökenden Tiere hinaus auf die Weide.

"Sollen sie doch arbeiten und den schönen Tag mit Geschäftigkeit vergeuden. Ich mache lieber noch ein Nickerchen.", dachte Hans bei sich im Stillen, drehte sich um und schlief sogleich wieder ein.

Jeder andere hätte bei all dem Lärm wohl kaum ein Auge zugemacht. Doch ihm machten die Geräusche nichts aus. Er mochte sie sogar und fühlte sich besonders wohl, wenn er, wie jetzt in der warmen Jahreszeit, bei offenem Fenster vor sich hin dösen und dabei all den vertrauten Klängen aus dem Dorf lauschen konnte.

Gegen Mittag wachte er zum zweiten Mal an diesem Tage auf und endlich stieg er schläfrig aus dem Bett. Seinen alten Schlafrock legte er nur selten ab und so behielt er das liebgewonnene Kleidungsstück einfach an. Er schlüpfte in seine Pantoffeln und ging hinab ins Bad. Hier betupfte er das Gesicht mit etwas Wasser, achtete aber sehr genau darauf, es damit keinesfalls zu übertreiben. Kaltes Wasser zu dieser frühen Stunde war nun wirklich nichts für ein so empfindsames Gemüt. Gähnend ging er ins Wirtshaus gegenüber. Dort saßen zahlreiche Gäste beisammen, die sich während ihrer wohlverdienten Mittagspause mit Gemüse, Fleisch und Brot für die zweite Tageshälfte stärkten. Viele waren in Gespräche vertieft. Andere, froh einmal nicht reden zu müssen, schafften es kaum den Blick über den Rand ihrer Suppenschüssel zu heben. Als der faule Hans im Schlafrock zur Tür hereinkam, lachten aber alle auf und riefen

"Ah sieh an, der fleißige Hans. Hast du auch schon ausgeschlafen?"

Er tat, als habe er sie nicht gehört und setzte sich wortlos an einen Tisch, an dem ein Platz für ihn freigehalten worden war. Die Besitzerin des Gasthauses dachte bei sich:

"Es ist ein Jammer mit dem Burschen. Einen solchen Taugenichts hat die Welt noch nicht gesehen."

Doch sie sagte nichts und stellte ihm stattdessen etwas zu Essen vor die Nase, so wie sie es jeden Tag machte. Bezahlen konnte Hans die Mahlzeit freilich nicht, denn wer den ganzen Tag nur faul herumsitzt, hat auch kein Geld für schöne Dinge. Die Wirtin aber, die seiner Mutter am Totenbett versprochen hatte, ein Auge auf den Jungen zu haben, ließ es sich gefallen. Ihre Geschäfte liefen gut und so kam es auf  eine verschenkte Portion Fleischsuppe nicht an.

Als er den Teller leer gegessen hatte, stand er auf und ging ohne ein Wort des Dankes zurück zu seinem Haus. Seit beide Eltern gestorben waren, wohnte er allein darin. Früher war es ein schönes Haus gewesen, doch der faule Kerl kümmerte sich nicht darum. So war das Dach inzwischen löchrig geworden und hier und da regnete es bereits herein. Die Fenster waren so verschmutzt, dass man kaum noch hindurchschauen konnte und der Blumengarten, der seiner Mutter ganzer Stolz gewesen war, bot ein Bild des Jammers. Unkraut spross wohin man blickte, bedeckte die einst so leuchtend bunte Blütenpracht und überwucherte alle Wege und selbst das hohe Gartentor. Hans jedoch hatte keinen Blick dafür. Mit langen Schritten kämpfte er sich durch kniehohes Gestrüpp und ließ sich auf die klapprige Bank sinken, die am Stamm des Apfelbaumes stand. Im Schatten seiner Blätter ließ es sich aushalten. Zufrieden döste er und lauschte den Geräuschen, die von der Straße zu ihm vordrangen. Gerade kamen die Kinder fröhlich singend aus der Schule zurück, die Waschfrauen am Fluss schnatterten wie Gänse und der Schreiner Friedrich Holznagel sägte, feilte und hämmerte, dass es eine Freude war, ihm bei der Arbeit zuzuhören. All die vertrauten Geräusche, die in Hans' Ohren einfach wundervoll klangen, ließen ihn herrlich ins Träumen geraten. Als dann auch noch die Kirchenglocke in Grüntal schlug, war das Glück für ihn perfekt und er fiel in einen tiefen und traumlosen Schlaf.

Als er die Augen wieder auftat, sank die Sonne gerade hinter das Dach des Schreiners und es wurde ein wenig kühl unterm Apfelbaum. Hans' Magen knurrte fürchterlich und so ging er mit schlurfenden Schritten erneut hinüber ins Wirtshaus, um sein Abendessen einzufordern. Nach einem langen Tag saßen hier die Dorfbewohner beisammen und genossen ihren kurzen Feierabend. Nur die Wirtin war noch immer im Einsatz und eilte unermüdlich von Tisch zu Tisch. Schallendes Gelächter erfüllte den Raum, als die fröhliche Schar den faulen Hans hereinkommen sah, der am Abend noch immer aussah wie am Morgen und es noch nicht einmal geschafft hatte, sich den Schlafrock auszuziehen. Er schnappte Sätze auf wie:

"Sieh dir diesen Nichtsnutz an", "So faul wie der kann doch gar keiner sein", "Fortjagen müsste man den faulen Hund" oder "Es dauert nicht mehr lange und seine Bruchbude fällt ihm über dem Kopf zusammen."

Er hörte es zwar, doch erschien es ihm zu anstrengend und der Mühe nicht wert, auch nur irgend etwas darauf zu erwidern. Außerdem, was hätte es geändert? Sollten sie doch reden und sich über ihn das Maul zerreißen. Ihm war es gleich. Solange er seine Ruhe hatte, mochten die anderen denken was sie wollten.

Gemächlich ging er zu seinem Tisch, wo die fleißige Wirtin Brot, Käse und einen kleinen Krug Bier für ihn aufgetragen hatte. Sie zwang sich sogar ein freundliches Lächeln ab, als Hans an ihr vorüberging. Ächzend, als hätte er den Tag über schwere Steine tragen müssen, ließ er sich auf den Stuhl sinken. Das Schläfchen im Freien hatte ihn wirklich durstig gemacht. Das Bier in einen Becher zu schütten, um es dann zu trinken, schien ihm aber doch recht anstrengend und überdies unnütz zu sein. Also trank er einfach aus dem Krug und war stolz darauf, einen so großartigen Einfall gehabt zu haben. Nach dem Essen trat er vor die Wirtsstube und lief ein paar Schritte die Straße hinunter. Als er fünf Häuser weit gegangen war, stieg ihm der Schweiß auf die Stirn und er kehrte eilig um. Schnell ging er zurück nach Haus und fand, dass es an der Zeit war, den Tag nun endlich ausklingen zu lassen. Schließlich dämmerte es bereits und für heute meinte er, genug erlebt zu haben. Der Spaziergang hatte ihm die letzten Kräfte geraubt und er war nun viel zu müde, um auch nur daran zu denken, sich zu waschen. Ohne Umweg stieg er direkt ins Bett, drehte sich auf die Seite und schlief nach wenigen Augenblicken ein.

Kapitel 2

Wie soll man denn da

schlafen können?

Der nächste Tag begann wie der vorherige. Die Sonne strahlte, am offenen Fenster wehten die Gardinen, auf dem Apfelbaum sang die Amsel, der Bäcker schepperte geschäftig mit den Backblechen, Kinder krakeelten und der Schmied hämmerte mit kräftigen Schlägen rot glühendes Metall zu Hufeisen und Türbeschlägen. Hans lag schlaftrunken im Bett und war guter Dinge. Er freute sich, noch ein Nickerchen machen zu können. Nach dem anstrengenden Spaziergang am Abend zuvor hatte er sich das mehr als verdient. Schläfrig wälzte er sich um. Er zog die Decke bis zum Kinn und wartete auf das Läuten der Grüntaler Kirchenglocke. Wenn ihr lieblicher Klang in der Ferne ertönte, würde er friedlich einschlummern und seine müden Knochen erholen können. Jeden Augenblick musste es soweit sein. Mit offenen Augen starrte er zur Wand und konnte es kaum erwarten, bald wieder ins Land der Träume zu tauchen. Er lauschte angestrengt und endlich hörte er es. Oder doch nicht? Nein, er hatte sich geirrt. Das metallische Scheppern war nicht die Glocke, sondern nur ein Blech in der Backstube ein paar Häuser weiter.

Hans drehte sich noch einmal um und war ratlos. Sollte er die Glocke verpasst haben? Nein, das war unmöglich. Soweit er sich erinnern konnte, hatte er ihr helles Läuten noch nie versäumt. Mit banger Hoffnung lauschte er angestrengt noch einige Zeit in den Morgen, doch der vertraute Klang wollte einfach nicht ertönen.

"Dann eben nicht.", dachte er und schloss die Augen. Er versuchte einzuschlafen, schaffte es aber nicht. Ärgerlich wühlte er sich durch das Bett und fand nicht in den Schlaf zurück. Die hellen Glockenschläge fehlten ihm zu morgendlichen Glück.

Schlecht gelaunt schlug er die Decke zurück und stand auf. Er schaute kurz im Badezimmer vorbei, betupfte sein Gesicht mit ein paar Spritzern Wasser und trat schließlich hinaus auf die Straße. Wie viele Menschen hier unterwegs waren. Jeder ging eifrig einer Beschäftigung nach und alle sahen ausgeschlafen und tüchtig aus. Er dagegen war in den letzten Jahren seines Lebens noch nie so früh auf den Beinen gewesen.

"Donnerwetter, Hans. Was ist denn mit dir passiert?", fragte Bäcker August Rippelmann, der gerade seine Backstube ausfegte und den müde dreinblickenden Burschen als erster sah. Als hätten sie sich abgesprochen, trat der Schmied, den alle Funke nannten, zur gleichen Zeit hinzu. Er blieb erschrocken stehen, als er Hans erblickte, der im Schlafrock aus dem Haus gekommen war.

"Hans was ist los? Was machst du hier um diese Zeit?", wunderte er sich und klang dabei so, als mache er sich tatsächlich Sorgen um den Faulpelz mit dem strubbeligen Haar.

"Was ist denn mit der Glocke heute los?", brummte Hans und kratzte sich gähnend den Kopf.

"Welche Glocke?", wollte Bäcker Rippelmann wissen und sah Funke fragend an. Der aber wusste auch nicht, was Hans meinte und hob ahnungslos die Schultern.

"Die Glocke in Grüntal.",  gab er mürrisch zur Antwort. "Ich glaube, sie hat nicht geläutet."

"Die Glocke in Grüntal.", wiederholte Funke nachdenklich. "Ja ich weiß nicht. Nein, ich glaube, die hat tatsächlich nicht geläutet heute. Hast du sie gehört Rippelmann?"

Der Bäcker überlegte angestrengt und rieb sich die mehlweiße Nase. Dann schüttelte er den Kopf.

"Wenn ich so darüber nachdenke.", sagte er. "Nein. Nein, ich glaube nicht. Aber wenn ich in der Backstube arbeite, ist es sowieso zu laut um Etwas anderes zu hören, als das ewige Geschepper meiner Bleche."

"Genau", pflichtete ihm Funke bei. "Wenn ich schmiede, ist es noch viel lauter als beim Rippelmann. Da höre ich nicht was draußen vor sich geht."

"Seltsam", wunderte sich Hans. "Ich kann mich nicht daran erinnern, dass die Glocke je einen Tag nicht geläutet hätte."

"Wenn es dir so wichtig ist, dann geh nach Grüntal und schau nach was los ist!", feixte Funke und konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen. Nie im Leben hätte er geglaubt, dass der faule Kerl tatsächlich bis ins Nachbardorf laufen würde, nur um zu sehen, warum die Glocke dort stumm geblieben war. Doch zu seinem Erstaunen passierte genau das.

Ohne noch einmal ins Haus zu gehen, um Proviant für den Weg einzupacken und ohne darüber nachzudenken, dass der Marsch anstrengend werden könnte, machte sich Hans in Schlafrock und Pantoffeln auf den Weg nach Grüntal. Er war schon eine Ewigkeit nicht mehr dort gewesen. Viel zu weit und beschwerlich erschien ihm der Weg. Doch nun, da er sich um seinen Schlaf gebracht sah, war es ihm die Mühe allemal wert.

Beherzt schritt er drauf los. Schon bald hatte er die letzten Häuser seines Heimatdorfes hinter sich gelassen. Der Weg führte entlang duftender Wiesen und vorbei an Feldern, auf denen goldenes Getreide wuchs. Wie schön es doch hier draußen war und wie herrlich alles roch. Hans hatte die Düfte blühender Blumen und reifer Früchte wohl seit Kindertagen nicht mehr gerochen und in all den Jahren schon beinahe vergessen. Auf halbem Wege begegnete er Klaus Wollinger und seine Schafen. Die Tiere standen auf einer Wiese, auf der ihnen das Gras bis zu den Bäuchen reichte. Sie blökten zufrieden und ließen es sich schmecken, während der Hirte auf seinen Stab gestützt schläfrig in die Sonne schaute. Als er Hans erblickte, zuckte er zusammen.

"Hans", rief er erschrocken. "Was machst du hier und warum hast du deinen Schlafrock an?"

"Ich bin auf den Weg nach Grüntal. Die Glocke dort hat heute nicht geläutet und ich will wissen warum.", rief der rastlose Bursche dem Alten im Vorübergehen zu und eilte weiter, ohne stehen zu bleiben.

"Wirklich?", fragte der Schäfer erstaunt. Er selbst hatte die Glocke schon seit Jahren nicht mehr gehört. Das ewige Blöken seiner Schafe war ihm ein treuer Begleiter geworden und viel zu laut, als das er ihr Läuten hätte hören können. Er hob noch einmal verwundert die Brauen über die plötzliche Geschäftigkeit des faulen Hans. Doch bald schon hatte er ihn vergessen und schaute stattdessen wieder fröhlich in den warmen Himmel.

Hans merkte, wie ihm die Beine schwer und immer schwerer wurden. Er war es nicht gewohnt, so weit zu laufen und hatte mit schmerzenden Füßen und einer staubigen Kehle zu kämpfen. Doch er gab nicht auf und erreichte schließlich durstig und verschwitzt sein Ziel. Auf dem Platz vor der Kirche hatte sich das halbe Dorf versammelt. Er hatte also Recht. Irgend etwas musste vorgefallen sein an diesem Tage. Und was immer es war, es musste etwas mit der Glocke zu tun haben. Warum sonst sollten sich die Leute zu dieser frühen Stunde so zahlreich ausgerechnet hier versammeln? Hilbert Trost, der dicke Bürgermeister Grüntals, stand schweißgebadet in der Sonne. Er streckte sich nach Kräften, um bis ganz hinauf zur Spitze des Turms schauen zu können. Dort oben, in luftiger Höhe, werkelten einige Männer herum und hatten ihre Not zu verstehen, was ihnen der Dicke von unten mit seinem dünnen Stimmchen zurief.

Als Hans zu den Leuten trat, schauten ihn alle mit großen Augen an. Hier kannte ihn niemand und alle wunderten sich über den eigenwilligen Fremden, der im Nachtgewand auf der Straße herumspazierte.

"Was ist das für ein Tag?", jammerte eine altes Mütterchen, dem nur ein letzter Zahn geblieben war. Die Last des Lebens hatte sie schwach werden lassen und an einen Stock gezwungen. Zitternd schüttelte sie den Kopf und schaute Hans aus trüben Augen vorwurfsvoll an.

"Erst bleibt die Glocke stumm, obwohl der Küster sie aus Leibeskräften läutet und dann kommt ein Fremder in Pantoffeln und Schlafrock herbeigelaufen. Was ist das nur für ein seltsamer Tag?"

Hans schlich sich an den Leuten vorbei und erstieg schnaufend alle 157 Stufen des Turms. Oben angekommen sah er, was das ganze Dorf hatte zusammenkommen lassen und ihn um seinen geliebten Schlaf gebracht hatte. Die Handwerker, ausgerüstet mit Hämmern und anderen Werkzeugen, standen ratlos um die Glocke herum und schlugen ein ums andere mal mit aller Kraft dagegen. Erschrocken hielt sich Hans die Ohren zu. Er rechnete damit, dass dies einen solchen Lärm verursachen würde, dass es ihm die Trommelfelle platzen ließe. Doch egal wie stark die Männer auch gegen die Glocke droschen, sie gab keinen Laut von sich. Nicht das kleinste Klingen konnte man vernehmen. Es blieb so still, als seien die Hammerschläge nicht gegen das Metall gegangen, sondern hätten nur die Luft als Ziel gehabt.

"So geht das schon den ganzen Morgen", sagte einer, ohne das Hans ihn danach gefragt hätte. "Was wir auch tun. Ob der Küster die Glocke mit dem Seil zu läuten versucht oder wir sie mit dem Hammer malträtieren. Sie bleibt einfach stumm. So etwas kann es doch gar nicht geben."

Hans schritt auf den Mann zu und nahm ihm den Hammer aus der Hand. Er wollte nichts unversucht lassen. Doch auch bei ihm war das Ergebnis das selbe. Schlug er gegen die Glocke, war absolut nichts zu hören. Schlug er aber gegen einen der großen Balken des Dachstuhls, hörte man dies sehr wohl.

Nach einer Weile warfen die Männer verzweifelt die Flinte ins Korn. Niemand wusste sich einen Reim auf die seltsamen Geschehnisse zu machen und in ihrer Hilflosigkeit kamen sie alle darin überein, dass die Tage der Glocke wohl gezählt seien müssten. Lange Jahre hatte sie zuverlässig ihren Dienst getan und nun sei sie eben kaputt und der Bürgermeister, ob er wolle oder nicht, würde die Stadtkasse öffnen und Geld für eine neue herausgeben müssen. Hilbert Trost, der ein geiziger Bursche war, kam also nicht umhin, den Grüntalern schweren Herzens eine neue Glocke zu versprechen. Damit waren die Leute zufrieden und gingen wieder ihrer Wege. Schließlich gab es auch in diesem Örtchen eine Menge Arbeit, die erledigt werden wollte und die auch hier nicht die Angewohnheit hatte, sich von selbst zu Ende zu bringen.

Hans machte sich wieder auf den Weg nach Sodreg. Arbeit gab es für ihn weder hier noch da und so drängte ihn auch nichts. Er ließ sich Zeit und machte auf halber Strecke sogar noch ein kleines Schläfchen auf einer schattigen Wiese. Während der ganzen Zeit wollte ihm die Glocke aber nicht mehr aus dem Kopf gehen. Was sollte denn an einer Glocke kaputt gehen? Nein, so einfach wie die Grüntaler es sich selbst hatten einreden wollen, war das nicht. Irgend etwas Seltsames ging hier vor und Hans wollte herausfinden was.

"Aber nicht mehr heute.", gähnte er. Der Tag hatte ihn viel Kraft gekostet und inzwischen war er viel zu müde für alles, was nichts mit Schlafen zu tun hatte. Als er endlich zu Hause ankam, ließ er sich erschöpft ins Bett fallen und schlief auf der Stelle ein, während im Wirtshaus gegenüber ein Teller mit Speckbroten und ein kalter Krug Bier vergeblich auf ihn warteten.

Kapitel 3

Nein, ich habe nicht zu nah

am Feuer gestanden.

Am nächsten Morgen war das Wetter zu Hans' Bedauern nicht mehr so schön, wie an den Tagen zuvor. In der Nacht waren dicke Regenwolken aufgezogen, mit denen auch kalte Luft und ein scheußlicher Wind nach Sodreg gekommen waren. Hans hatte noch in der Nacht das Fenster schließen müssen, was ihm gar nicht behagte. Im Sommer hatte das Fenster nun einmal offen zu sein.

Jetzt lag er fröstelnd unter der Decke und beobachtete, wie schmutzige Regentropfen an den Scheiben hinabrannen und die Welt dahinter grau und ungemütlich war.

"Genau das richtige Wetter, um noch ein Schläfchen zu machen.", dachte er bei sich. "Nur schade, das die Grüntaler Glocke heute wieder nicht läuten wird."

Wenn schon die Glocke schwieg, so freute er sich doch auf die anderen Geräusche direkt vor seinem Haus. Und tatsächlich dauerte es nicht lange, bis Kinder vorüber rannten, Bäcker Rippelmann mit seinen Blechen klapperte und Schäfer Wollinger die Schafe auf die Weide trieb. Sie alle konnte der Regen nicht schrecken und so ging zumindest in Sodreg alles seinen gewohnten Gang. Oder doch nicht? Hans überlegte und meinte, dass irgendetwas fehlte. Aber was?

"Funke!", rief er mit einem Mal erschrocken, als ihm auffiel, dass unter den vertrauten Geräuschen des Dorfes der metallische Klang des Schmiedehammers heute nicht zu hören gewesen war.

Er warf die Decke beiseite und sprang mit einer bösen Vorahnung aus dem Bett. Hastig stürmte er die Treppe herunter, riss die Haustür auf und rannte, ohne sich umzusehen, direkt in die Schmiede.

Dort stand Funke mit fragendem Blick neben dem glühenden Kohlefeuer und starrte gedankenverloren in die Flammen.

"Was ist mit dir?", fragte Hans, als er den baumhohen Hünen reglos stehen sah. Funke war ein fleißiger Mann, vor Tatendrang strotzend und niemals lange untätig. Umso mehr wunderte es ihn, dass er zu dieser frühen Stunde nicht wie üblich bereits der Arbeit nachging. Langsam schritt er auf ihn zu und die Ahnung, die ihn schon im Bett beschlichen hatte, verstärkte sich nun ein wenig mehr.

"Funke...was ist los?", fragte er erneut, denn der Schmied hatte nicht geantwortet. Doch auch diesmal sagte er nichts. Stattdessen reichte er ihm den schweren Hammer und Hans wusste, was er zu tun hatte. Zögerlich ging er zum Amboss und schlug erst vorsichtig, dann ein wenig stärker darauf. Schließlich hob er den Hammer hoch über seinen Kopf und ließ ihn mit aller Kraft auf das schwarze Eisen niederfahren.

"Nichts.", flüsterte er beinahe ängstlich und ließ das Werkzeug kraftlos auf den Boden fallen. Es war wie in Grüntal. Nicht das kleinste Geräusch war zu hören.

"Ich wusste es. Die Glocke ist nicht kaputt, eben so wenig wie der Amboss. Irgend etwas Seltsames ist hier im Gange."

Da Funke nicht verstand was er meinte, erklärte ihm Hans, was sich am Tag zuvor in Grüntal zugetragen hatte. Dann gingen sie zu Rippelmann, der ihnen frischen Kuchen und dampfenden Tee anbot. Beim Essen erzählten sie dem Bäcker, was passiert war. Doch als auch er keine Erklärung für sie hatte, beschlossen Hans und der Schmied gemeinsam nach Grüntal zu gehen. Möglicherweise gab es dort inzwischen etwas Neues zu erfahren. Schließlich hatte, was auch immer die Geräusche zum Verstummen brachte, augenscheinlich dort seinen Ursprung. Unterwegs begegnete ihnen Schäfer Wollinger. Weder seine Tieren, noch ihn selbst schien das nasskalte Wetter sonderlich zu stören. Lediglich den Hut hatte er zum Schutz vor dem peitschenden Regen heute etwas tiefer ins Gesicht gezogen als gewöhnlich.

Schon von Weitem sah er die beiden Wanderer kommen und mehr noch als am Tage zuvor, wunderte er sich über den seltsamen Aufzug, in dem sie unterwegs waren. Hans ging, wie üblich, in Schlafrock und Pantoffeln und Funke kam in seiner schweren Schmiedeschürze daher. Sie waren vom Regen durchnässt bis auf die Haut, doch schien das keinen der beiden zu stören. Ohne ein Wort des Grußes eilten sie vorüber und verschwanden bald hinter grauen Regenschleiern.

Ihre Mühe sollte nicht belohnt werden und am Abend kehrten sie unverrichteter Dinge wieder zurück nach Sodreg. In Grüntal hatten sie nichts Neues herausfinden können. Die Menschen dort glaubten noch immer, dass die Glocke im Kirchturm kaputt sei und aus diesem Grund jeden Versuch ihr einen Ton zu entlocken, beharrlich mit Schweigen beantwortete.

"Die neue Glocke wird bald läuten, ihr werdet schon sehen!", war alles, was sie zu hören bekamen. Müde, frierend und erschöpft schleppte sich Hans mit zitternden Beinen ins Wirtshaus um sein Abendessen einzunehmen, während Funke noch einmal in die Schmiede ging. Er wollte noch immer nicht glauben, was er mit eigenen Augen gesehen hatte und hoffte, dass nun wieder alles in Ordnung wäre. Doch genau wie am Morgen, blieb der Amboss auch jetzt noch stumm und gab nicht das kleinste Geräusch von sich. Schließlich musste er einsehen, dass es keinen Sinn hatte, es noch weiter zu versuchen. Enttäuscht legte er den Hammer beiseite, hing die Schmiedeschürze an einem eisernen Haken auf und gesellte sich zu Hans ins Wirtshaus.

Die anderen Gäste wunderten sich nicht schlecht, als die beiden an einem Tische schmausten und warfen ihnen verstohlen fragende Blicke zu. Um die Neugier der lauernden Schar zu befriedigen, erzählten sie alles, was sich seit dem Vortag zugetragen hatte. Was sie als Antwort auf ihren Bericht erhielten, war aber nichts als Hohn und Spott. Die Leute glaubten ihnen nicht. Schweigende Kirchenglocken und ein eiserner Amboss, der keinen Laut von sich gab, wenn man mit dem Hammer auf ihn schlug. So etwas gab es allenfalls in Geschichten, aber wohl kaum hier bei ihnen in Sodreg und in Grüntal ganz gewiss auch nicht.

"Hast wohl zu nah am Feuer gestanden?", rief einer der Männer zu Funke und sogleich brach der ganze Saal in brüllendes Gelächter aus. Alle lachten, bis ihnen Tränen in die Augen stiegen und sie sich hustend die Bäuche halten mussten. Hans und Funke lachten nicht. Sie wussten was sie gesehen hatten, egal ob die Anderen ihnen glaubten.

So wurde es schließlich Nacht und Hans war noch keinen Schritt weiter gekommen. Nach dem zweiten Tag ohne seine geliebten Früh- Mittag- und Nachmittagsschläfchen war er so müde, wie noch nie zuvor in seinem Leben. Noch während er nach Hause ging, fielen ihm die Augen zu und er hatte keine Ahnung, wie er noch einen weiteren dieser furchtbar anstrengenden Tagen würde durchstehen können. Wie machten das all die Anderen bloß? Sie stiegen morgens aus den Betten, zu einer Zeit, zu der er gewöhnlich noch fest im Land der Träume weilte. Dann gingen sie zur Arbeit, wo man sicher auch nicht schlafen konnte und am Abend schließlich saßen sie fröhlich beisammen und ließen es sich gut gehen, ganz so, als hätten sie den Tag über geruht.

Für den faulen Hans wäre dieses Leben nichts, dass wusste er genau. Daher musste er unbedingt die Ursache für die seltsamen Geschehnisse finden. Dann, so hoffte er, würde alles wieder so wie früher werden und im Kreise seiner geliebten Geräusche fände er endlich wieder in den Schlaf. Heute aber würde er nichts mehr ausrichten können und so schlüpfte er ins Bett und schlief ein, noch bevor er die Decke überstreifen konnte.

Kapitel 4

Lacht nur, ihr wisst es

ja nicht besser.

Als es draußen wieder hell wurde, regnete es noch immer und die Welt war grau und ungemütlich. Schlecht gelaunt lag Hans im Bett und wusste, dass er auch an diesem Morgen nicht zurück in den Schlaf finden würde. So war er dann auch kaum verwundert, als er feststellte, dass neben der Glocke, die nicht läuten wollte und dem stumm gewordenen Amboss nun auch aus Rippelmanns Bäckerei kein Lärm mehr zu hören war. Anders als noch am letzten Tag, stürzte er nicht aus dem Bett und rannte fliegenden Fußes über die Straße. Er wusste auch so, was geschehen war und lief in aller Ruhe zum Bäcker hinüber. Wie tags zuvor der Schmied, stand August Rippelmann gedankenverloren inmitten seiner Backstube und schüttelte immerfort den Kopf.

"Hans, jetzt hat es mich auch erwischt.", murmelte er niedergeschlagen, als der um seinen Schlaf betrogene Bursche zu ihm trat. Hans nickte, nahm sich zwei der überall herumliegenden Backbleche und schlug sie mit aller Kraft gegen einander. Er machte sich erst gar nicht die Mühe, es sanft zu versuchen. Das brauchte er auch nicht, denn egal wie heftig er die Bleche auch aneinander rasseln ließ, sie gaben doch keinen Ton von sich.

Am folgenden Tag verstummten die Werkzeuge des Schreiners Friedrich Holznagel und am Tag darauf das laute Quietschen der alten Eisenkette am Dorfbrunnen. Spätestens jetzt bemerkten auch die anderen Dorfbewohner, dass etwas nicht stimmte und sie Hans und Funke zu Unrecht ausgelacht hatten. Als die Sonne nun am Morgen danach ihren Blick durch eine zarte Wolkendecke auf das Dorf richtete, war schließlich nichts mehr von dem immer währenden Blöken der Tiere vom alten Schäfer Wollinger zu hören. Sie reckten die Hälse in die Luft und meckerten aus Leibeskräften. Doch aus ihren Mäulern drang kein Laut.

Spätestens jetzt war auch dem letzten Zweifler klar, dass hier etwas vor sich ging, dass sich mit normalen Worten nicht erklären ließ. Das Leben in jenen Tagen war nicht mehr das Selbe ohne den geschäftigen Lärm, der schon seit ungezählten Jahren so selbstverständlich zu Sodreg gehörte, wie Wasser in einen Fluss. Als nach einiger Zeit nun alle vertrauten Geräusche auf die gleiche, wundersame und angsteinflößende Weise verschwunden waren, berief der Bürgermeister in großer Sorge hastig eine Versammlung im Gemeindesaal ein. Er wollte Stärke zeigen und den gespenstischen Vorgängen im Ort endlich auf den Grund gehen. Anders als sonst, wenn die Herren Stadträte hinter verschlossenen Türen tagten, war diesmal jeder eingeladen und auch Hans war mit dabei. Da er verschlafen hatte, fehlte es ihm an der Zeit, sich etwas Anständiges anzuziehen und er tauchte wieder einmal in Schlafrock und Pantoffeln auf.

Unter den Dorfbewohnern hatte sich inzwischen große Angst breit gemacht und nicht wenige glaubten, sie alle seien verflucht oder mit einem bösen Zauber belegt. Andere wieder hielten das für Unsinn und so entbrannte rasch ein lautstarker Streit. Jeder meinte, mit sich überschlagender Stimme etwas kundtun zu müssen. Natürlich wurde dabei alles als dummes Gerede abgetan, was man nicht selbst gesagt hatte. Die Wahrheit aber war, dass niemand wusste, was die Ursache jener seltsamen Ereignisse war.

Der Bürgermeister schaute sich das wilde Durcheinander eine Zeit lang an. Immer wieder versuchte er die aufgebrachten Menschen zu beruhigen. Doch so sehr er sich auch mühte, die Leute hörten ihm einfach nicht zu. Erst als der alte Wollinger den Saal betrat und mit langen Schritten durch die Reihen der  streitenden Dorfbewohner ging, verstummten sie allmählich und schauten dem bärtigen Mann mit großen Augen hinterher. Es war ganz und gar ungewöhnlich, dass er sich bei dieser Versammlung sehen ließ. Am liebsten war er mit seinen Schafen in der Natur unterwegs und brauchte dabei niemanden um sich. Überhaupt mied er den Kontakt mit anderen Menschen, wo immer es ging. Umso erstaunlicher war es nun, dass er an diesem Tag den Weg zu ihnen gefunden hatte. Zielsicher ging er auf das Rednerpult am vorderen Ende des Saals zu. Er stellte sich dahinter und wartete geduldig. Als es schließlich so still geworden war, dass man die Mäuse hinter den Mauern rascheln hörte, erzählte er den gespannt Lauschenden eine Geschichte.

Als er selbst noch ein Kind gewesen war, habe er mit seinen Eltern in einem Dorf weit weg von hier gewohnt. Das Leben dort sei idyllisch und schön gewesen, genau wie in Sodreg. Es gab Menschen, die fleißig ihrer Arbeit nachgingen und sich am Abend trafen, um sorgenfrei beisammen zu sitzen. Die Leute hätten es verstanden, rauschende Feste zu feiern, bei denen getanzt, gelacht und bis in den Morgen hinein gesungen wurde. Kurzum, das Leben in jenem Dorf war über viele Generationen hinweg laut und fröhlich.

Eines Tages sei dann das schleifende Rattern der Sägemühle am Fluss verstummt. Die Leute hätten geglaubt, sie sei kaputt, stellten aber bald voller Schrecken fest, dass die Mühle unverändert ihren Dienst tat, ohne dabei auch nur das kleinste Geräusch von sich zu geben. In den folgenden Tagen erstarben nach und nach immer mehr der vertrauten Klänge und es wurde zusehends stiller, bis von dem einst so fröhlich lärmenden Durcheinander nichts mehr übrig geblieben war. Die Menschen hätten lange nach einer Erklärung für diese Ereignisse gesucht und diese letztlich auch gefunden. Der Oglog, so erzählte der alte Mann, sei damals schuld an allem gewesen, wobei ein ängstliches Zucken über seine Augen huschte, als er diesen Namen nannte.

"Wer?", rief jemand der nicht wusste wer das sein soll. Von einem Oglog hatte er noch nie etwas gehört. Der Schäfer nickte verständnisvoll und erzählte weiter, was man auch ihm einst berichtete und worüber er seit dieser Zeit kein Wort mehr verloren hatte.

Der Oglog sei ein uraltes Wesen, das in einer Welt fernab der diesen lebe. Sie läge im Verborgenen und kein Mensch hätte sie je zu Gesicht bekommen. Er sei von Grund auf böse und möge die Menschen nicht, die zu Tausenden die Erde bevölkerten und auf ihr kröchen wie nutzloses Ungeziefer. Am schlimmsten fände er den unerträglich Lärm, der über kurz oder lang überall dort auftauche, wo sie sich niederließen und ihre Siedlungen errichteten. Dieser sei in seinen Ohren so laut und allgegenwärtig, dass er selbst in die hintersten Winkel seines Reiches vordränge und ihn in seinem ewigen Schlaf störe. Also habe der Oglog den Menschen mit einem bösen Zauber die Geräusche gestohlen und weggesperrt. Einige mutige Dorfbewohner hätten daraufhin versucht, die Geräusche zu befreien. Sie seien losgezogen, um die Welt des Oglog zu finden. Doch auch den Tapfersten unter ihnen sei es nicht gelungen und keiner von denen, die sich auf den Weg gemacht hatten, wurde je wieder gesehen.

So verließen die übrigen Bewohner nach und nach das zur Ruhe verdammte Dorf und zogen in alle Winde davon. Damit war die Wut des Oglog besänftigt. Er fand seinen Frieden, legte sich hernieder und fiel alsbald wieder in einen tiefen Schlaf. Nun, nach so vielen Jahren, dass ein Mensch indes vom Kind zum alten Manne geworden war, sei er abermals erwacht, da der Lärm der Menschen ihn ein weiteres Mal geweckt habe. Vor lauter Zorn hätte er jetzt auch ihnen, den Menschen aus Sodreg und Grüntal, die Geräusche des Alltags geraubt und weggesperrt.

Als der Schäfer seine Geschichte erzählt hatte, herrschte großes Schweigen im Saal. Die Leute schauten einander ungläubig an und wussten nicht recht, was sie davon halten sollten.

"Haben deine Schafe dir das Märchen erzählten?", brüllte plötzlich ein vorlauter Bursche, woraufhin die ganze Versammlung in kreischendes Gelächter ausbrach. Als sich die Leute wieder beruhigt hatten, wurde Hans, den sonst gar nichts kümmerte, von einer Wut gepackt, wie er sie noch nie zuvor erlebt hatte. Aus irgend einem Grund glaubte er die Geschichte des Schäfers  vom Fleck weg und es ärgerte ihn, dass die Anderen dies nicht taten. Stattdessen fiel ihnen nichts Besseres ein, als den alten Mann gemein und hässlich auszulachen.

"Wenn ihr ihm nicht glaubt, dann mache ich mich auf den Weg zum Oglog.", rief er so laut, dass es auch der Letzte im Saal hören konnte, worauf das Gelächter noch lauter dröhnte als zuvor und den Leuten davon Tränen in die Augen schossen. Das ausgerechnet der faule Hans an dieses Märchen glaubte, der tagein tagaus im Schlafrock umherlief und mehr im Land der Träume weilte, denn in der wirklichen Welt, war an sich nichts Ungewöhnliches. Das er aber tatsächlich vorhatte, sich auf den Weg zu diesem Ogloguntier zu machen, konnte nun wirklich niemand glauben.

"Das Lachen wird euch noch vergehen!", rief er aufgebracht und mit zitternder Stimme. Dann drehte er sich um und stürmte hinaus auf die Straße.

Zum ersten Mal in seinem Leben grämte es ihn, ausgelacht worden zu sein. Traute ihm denn tatsächlich niemand etwas zu? War er denn wirklich so ein Faulpelz, dass man nur darüber lachen konnte, wenn er sich etwas vornahm? Im Herzen kannte er die Antwort auf diese Frage und sie machte ihn nur noch wütender. In jenem Moment schwor sich Hans, allen Menschen in Sodreg zu beweisen, dass auch er etwas leisten konnte, wenn er es nur wollte. Niemand sollte ihn je wieder den faulen Hans nennen. Und wenn er die gestohlenen Geräusche zurück brächte, würde gewiss auch keiner mehr über ihn lachen.

Kapitel 5

Einfach losgehen, hat

er gesagt.

Tags darauf erwachte Hans aus einer beinahe schlaflosen Nacht. Er fühlte sich schrecklich, war müde und hatte Kopfschmerzen. Auch war er längst nicht mehr so entschlossen, wie noch am Abend zuvor. Träge strampelte er die Decke fort und lag einige Augenblicke im Zug der kühlen Morgenluft. Als es ihn fröstelte, angelte er mit dem Fuß die Decke wieder herauf und schlüpfte hastig darunter. Nach wenigen Sekunden fror er nicht mehr. Es war gemütlich in seinem Bett und fast hätte er sich wieder einmal damit abgefunden, der faule Hans zu sein, der im Leben gar nichts schaffen kann. Dann stahl sich die Erinnerung an die große Versammlung im Gemeindesaal in seinen Kopf und es war, als könne er das Lachen der Leute dort noch immer hören. Wie schrecklich es sich angefühlt hatte, zum hundertsten Male verspottet worden zu sein. Das konnte Hans den Leuten nicht ungestraft durchgehen lassen. Nicht noch einmal. Egal wie oft sie sich in der Vergangenheit auch über ihn lustig gemacht haben mochten. Von nun an sollte damit Schluss sein. Niemals wieder wollte er ihnen zur einer Gelegenheit verhelfen, die ihn erneut zum Objekt ihres Gelächters machen würde. Er würde die gestohlenen Geräusche zurück bringen und wäre endlich nicht mehr der faule Nichtsnutz aus dem alten Haus.

Voller Tatendrang stieg er aus dem Bett und machte sich auf den Weg zur Weide. Sicher würde der alte Wollinger ihm sagen können, wer oder was dieser Oglog eigentlich war und was man tun musste, um zu ihm zu gelangen. Ob es ein langer Weg war? Womöglich führte er ihn weit weg von der Heimat, dorthin, wo er noch nie zuvor gewesen war. Doch egal wie beschwerlich die Reise auch werden würde, er war fest entschlossen, jede Mühe auf sich zu nehmen.

Als er bei der Schafwiese ankam, stand der Alte da wie eh und je. Er stützte sich auf seinen Stock und hielt sein faltiges Gesicht in die Sonne.

"Herr Wollinger, wie komme ich zum Oglog?", fragte Hans, als er bei ihm angelangt war. Doch statt eine Antwort zu geben, schüttelte er nur den Kopf.

"Geh nach Hause Hans. Das ist nichts für Dich.", brummte er, schloss die Augen und reckte das Kinn in den Himmel. Von dieser Antwort war Hans so geschockt, dass er sich umdrehte und davon ging. Nach einigen Schritten blieb er stehen und drehte sich um.

"Warum ist das nichts für mich?", schnarrte er mit ärgerlicher Stimme und einem säuerlichen Geschmack im Mund, der wohl vom Zorn her rührte, der langsam in ihm aufstieg.

"Warum glaubt niemand, dass auch ich etwas schaffen kann?"

Der Schäfer seufzte und ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.

"Weil du in deinem ganzen Leben noch nie etwas geschafft hast Hans, deswegen. Sieh dich an. Du schläfst den lieben langen Tag und bringst es noch nicht einmal fertig, dir morgens anständige Kleidung anzuziehen. Und auch jetzt, wo du den Oglog suchen willst, stehst du im Schlafrock mitten auf der Weide."

Hans schaute an sich herunter und stellte erschrocken fest, dass Herr Wollinger Recht hatte. Wieder einmal hatte er es versäumt, sich nach dem Aufstehen anzukleiden und auch gewaschen hatte er sich nicht, von seinem wild zu Berge stehenden Haar ganz zu schweigen.

"Für solch ein Wagnis braucht es Mut und Verstand und von beidem hast du nicht genug.", fuhr der Schäfer fort und Hans spürte, wie bei diesen Worten der widerliche Geschmack in seinem Mund immer weiter zunahm.

"Ach ja", schrie er den Mann unerwartet garstig an. "Und wer sonst sollte es tun? Etwa eines der Lästermäuler, die sich über die Geschichte so köstlich amüsiert haben? Von denen wird wohl niemand gehen. Die sitzen lieber herum und hoffen, dass sich alles von selbst wieder einrenkt."

Der Alte machte ein überraschtes Gesicht. Eine solche Entschlossenheit hatte er ihm augenscheinlich gar nicht zugetraut. Außerdem stimmte es, was Hans sagte. Von den Leuten aus dem Dorf würde sich wohl niemand auf den Weg zum Oglog machen. Sie glaubten ihm nicht, waren zu sehr in ihr Tagwerk vertieft und hatten in ihren Köpfen keinen Platz für derlei Dinge, die sich mit normalen Worten nicht beschreiben ließen. Und er, der es besser wusste als sie, war schon zu alt dafür. Warum also sollte es Hans nicht versuchen? Am Ende würde der Faulpelz womöglich gar noch das Glück haben, die Sache zu einem guten Ende zu führen.

"Also gut Hans", sagte er schließlich. "Wenn es dir wirklich ernst ist damit, will ich dir erzählen, wie du den Oglog finden kannst. Doch sei gewiss, dass es kein leichter Weg werden wird. Sein Reich ist weit von hier entfernt und doch ist es überall um uns herum. Es sind geheime Tore, die unsere Welt mit der seinen verbinden. Und nur wer ihr Geheimnis kennt, kann sie entdecken."

"Geheimnis? Was für ein Geheimnis?", drängte Hans voller Ungeduld. Was der Schäfer erzählte, klang  seltsam und rätselhaft und er wollte endlich mehr erfahren. Der Alte lächelte.

"Das Geheimnis der Töne."

"Das Geheimnis der Töne. Was soll das sein?"

"Es ist so.", fuhr der Schäfer fort. "Der Oglog hat sehr gute Ohren. Er hört nahezu alles, auch wenn es noch so leise und weit von ihm entfernt ist. Er kann Dinge über Entfernungen wahrnehmen, dass ein Mensch sich das kaum vorzustellen vermag. Warum sonst sollten ihn all die Geräusche unserer Welt solchermaßen stören, dass er sie gestohlen und weggesperrt hat?"

Hans zuckte mit den Schultern.

"Darum jedenfalls hat er sämtliche Eingänge zu seiner Welt mit Geräuschen versehen, die man nur als seltsam beschreiben kann. Wenn du ein Tor zum Reich des Oglog finden willst, musst du nach einem solchen Ort Ausschau halten. Aber gib Acht. Die Zugänge liegen meist an finsteren und einsamen Plätzen, damit die Menschen ihnen nicht zu nahe kommen. Weit im Inneren von Wäldern etwa oder am Grund von tiefen Schluchten. Einen solchen Platz musst du finden, dann gelangst du in seine Welt."

Hans schluckte und plötzlich kam es ihm gar nicht mehr so abwegig vor, dass die anderen derart laut gelacht hatten, als Wollinger ihnen vom Oglog erzählt und er es als einziger geglaubt hatte. Das alles klang doch sehr weit hergeholt und er hegte den Verdacht, dass der Schäfer ihm einen Bären aufgebunden hatte und sich hinter seinem ernsten Gesicht ganz köstlich amüsierte. Das aber hätte bedeutet, dass er zurück nach Hause hätte gehen müssen, wo der Spott des ganzen Dorfes  schon darauf wartete, sich über ihn zu ergießen. Also traf er eine Entscheidung. So seltsam und unglaubwürdig die ganze Sache auch erschien, beschloss er für sich, sie zu glauben. Schließlich war es mindestens ebenso seltsam und unglaubwürdig, dass Glocken und Bleche keinen Laut von sich gaben, egal wie heftig man auch auf sie einschlug.

Es gab also Tore in eine andere Welt, die sich an abgelegenen Orten befanden und mit bestimmten Geräuschen versehen waren. So schwierig und zugegebenermaßen auch furchteinflößend hatte er sich die Sache im Grunde gar nicht vorgestellt. Und überhaupt, was um alles in der Welt sollten 'seltsame Geräusche' sein, mit denen der Oglog die Zugänge zu seiner Welt versehen hatte? Er hatte keine Ahnung, was der Schäfer damit meinte. Doch wenn es nicht anders ging, würde er auch vor dem finstersten Wald nicht zurückschrecken und auch die tiefste aller Schluchten würde ihn nicht aufhalten können. Er war jetzt ein neuer Hans und der ließ sich nicht von seinem Ziel abbringen. Wie er dieses allerdings erreichen sollte, wusste er zu jenem Zeitpunkt freilich nicht. Ratlos stand er da und verstand nicht recht, wie er die Sache anpacken sollte. Dunkle Wälder, finstere Schluchten und andere Orte, die von Menschen gemieden wurden. So etwas kannte er nicht. Woher auch? Er hatte sich doch seit Jahren nur so weit von seinem Haus fortbewegt, dass er es noch sehen konnte. Wie sollte er da wissen, wo es solch befremdliche Flecken Erde zu entdecken gab? Der Schäfer sah ihn an und lachte.

"Lauf einfach drauf los! So haben es die Leute damals auch gemacht."

"Aber die sind nicht zurück gekehrt", wisperte Hans erschrocken, denn er wusste noch sehr genau, was Herr Wollinger am vergangenen Abend erzählt hatte.

"Das ist wahr.", brummte er. "Doch wenn du den Oglog wirklich finden willst, darfst du an so etwas nicht denken."

Hans nickte entschlossen. Er hielt es für eine gute Idee, aufs gerade Wohl drauf loszuziehen und wollte sich gleich auf den Weg machen. Die Sache duldete keinen weiteren Aufschub. Außerdem fürchtete er, dass ihn die Faulenzerei wieder einholen würde, wenn er noch einmal nach Hause ginge.

"Sagen Sie den Leuten im Dorf, dass ich ihnen die gestohlenen Geräusche zurückbringen werde.", trug Hans dem Alten auf. Dann kehrte er Sodreg den Rücken und lief los.

Kapitel 6

Leberwurst und frische

Äpfel.

Hans lief gemächlich auf der staubigen Straße entlang, die vom Dorf fort führte. Zwar hatte er es eilig, doch wollte er seine Kräfte nicht schon jetzt überstrapazieren. Schließlich wusste er nicht, wie weit der Weg werden würde und da konnte es nicht schaden, mit Besonnenheit ans Werk zu gehen. Nach einiger Zeit sah er die ersten Häuser von Grüntal vor sich auftauchen. Er beschloss, nicht durch das Dorf zu gehen und nahm stattdessen einen schmalen Pfad, von dem er glaubte, dass er ihn rechts am Ort vorbei führen würde. Schon hier, so kurze Zeit nachdem er aufgebrochen war, befand er sich in einer fremden Umgebung. Diesen Weg war er nie zuvor gegangen. Wie auch? Hans kannte ihn ja nicht. Er führte ein wenig abschüssig über eine Wiese und leitete ihn am klapprigen Zaun einer Weide entlang. Die Kühe fraßen ohne aufzublicken und schienen ihn nicht zu bemerken.

"Komisch", dachte er. "das sind doch gut und gerne dreißig Tiere. Aber nicht eins hat einen Laut von sich gegeben."

Rasch vergaß er die Kühe. Vor ihm eroberten dunkle Wolken den Himmel und der Wind frischte auf. Rauschende Böen zogen durch das Gras und bogen die turmhohen Silberpappeln um, die an der Grenze zu Hilger Kogels Weizenfeld wuchsen. Kogel war ein erfolgreicher Mann. Der reichste und geschäftigste Bauer in der ganzen Gegend. Jeder kannte ihn und schaute ehrfürchtig auf seine Ländereien. Es dauerte nicht lange, bis die dunkle Wolkenschar alles Blau vom Himmel gewischt und sich zu einer geschlossenen Decke zusammengefunden hatte. Der Wind blies Hans jetzt kräftig ins Gesicht. Fast war es, als wolle er ihn zum Umkehren bewegen. Zu seinem eigenen Erstaunen aber kamen ihm diese Gedanken nicht in den Sinn und er lief, beflügelt von seiner eigenen Willenskraft, tapfer weiter. Am Ende der Wiese stieg der Pfad wieder an und führte zurück auf einen staubigen Feldweg, der sich vor ihm an einer Gabelung teilte. Hans ärgerte sich. Wenn er nach hinten blickte, konnte er noch den Grüntaler Kirchturm sehen. Er war kaum mehr als einen Steinwurf von zu Hause entfernt und hatte abermals keine Ahnung, wohin diese Wege führten. Allmählich dämmerte ihm, wie viel von dem, was für die Bewohner seines und der umliegenden Dörfer normales Alltagswissen war, er nicht besaß. Er würde ganz sicher keinen zweiten Sodreger finden, der nicht zu sagen wusste, wohin man auf diesen alten Ackerstraßen kam. Jeder von ihnen war bei der Erledigung seiner Geschäfte wohl bereits dutzende Male hier entlang gekommen. Jeder, bloß er nicht.

Hans war froh, dass ihn jetzt niemand sehen konnte und entschied sich nach links zu gehen. Kaum hatte er einige Schritte getan, fiel ihm ein Tropfen auf die Nase und kurz darauf ein zweiter auf den Arm. Bis zum dritten dauerte es einige Zeit, dann jedoch entluden die Wolken ihre nasse Fracht unbarmherzig und mit voller Wucht. Lautstark prasselnd tränkten sie in wenigen Augenblicken alles ringsum in ein nasses Gewand. Der Wind war nochmals stärker geworden und schleuderte dem einsamen Burschen schmerzhaft Regen und abgerissenes Laub ins Gesicht.

"Verdammt!", fluchte er, doch gegen das Tosen kam seine Stimme nicht an. Mühsam schleppte er sich weiter. Mit einer Hand schirmte er die Augen ab, mit der anderen hielt er die Schlafmütze auf dem Kopf. Bald war er bis auf die Haut durchnässt und schlotterte vor Kälte. Blitze zuckten und ließen die schwankenden Bäume in einem schaurig kalten Licht erscheinen. Gewaltige Donner folgten und rollten über das Land wie Wogen von Lärm. Hans bekam es mit der Angst. Es war jetzt gefährlich hier draußen. Äste hätten auf ihn herabstürzen können oder, und davor fürchtete er sich am meisten, ein Blitz hätte ihn treffen können. Erschrocken stellte er fest, dass sich nun Worte wie 'umkehren', 'zurück nach Haus gehen' oder 'wäre ich doch einfach im Bett geblieben' in seinen Geist stahlen. Sie waren alte Bekannte. Mit ihrem vermeintlichen Wohlklang hatten sie ihren Teil zu seinem jahrelangen Nichtstun beigetragen. Und je länger der Regensturm anhielt, umso mehr brachten sie seinen eben noch so standhaften Willen ins Wanken.

Ein ums andere mal blieb er stehen und drehte sich um. Als der Regen sich anfühlte, als bestünde er aus lauter Kieselsteinen und zischende Blitze sich zu Dutzenden glühend heiß in Bäume fraßen, lief er gar einige Minuten zurück, bereit aufzugeben und das Gelächter der ganzen Nachbarschaft über sich ergehen zu lassen. Es wäre egal, solange er nur diesem furchtbaren Unwetter entkäme. Er stellte sich vor, wie er in sein Bett schlüpfen und die Regenschlieren auf den Fensterscheiben beobachten würde. Die Decke zöge er bis zur Nasenspitze und die Kälte hier draußen ließe ihn nicht mehr zittern. Eine herrliche Vorstellung. Dann aber ertappte er sich dabei, wie er sich schon jetzt darüber ärgerte, dass ihm der Hohn und Spott des ganzes Dorfes gewiss wäre, wenn er nicht standhaft bliebe. Offenbar, dass wurde ihm jetzt klar, war es ihm doch nicht gleich, was die Anderen über ihn dachten. Jetzt nicht mehr. Und so schlug er wieder den richtigen Weg ein und stellte sich dem Regen.

Eine ganze Stunde noch tobte der Sturm und sandte eine wahre Sintflut auf die Erde hernieder. Dann verebbten die reißenden Böen. Der Regen ließ nach und hörte endlich ganz auf. Donner grollte jetzt nur noch von fern und kurz darauf brach der Himmel wieder auf. Zwischen weißgrauen Tupfen fiel neues Sonnenlicht und brachte die Wärme zurück. Bald stieg feiner Nebel aus Wiesen und fernen Wäldern und strebte himmelwärts, um sich zu neuen Wolken zusammenzufinden. Tiere kamen aus ihren Verstecken und Hans schaute sich begeistert um. Er war der einzige Mensch weit und breit. Niemand sonst hatte jenem Sommergewitter vom Anfang bis zum Ende getrotzt. In diesem Moment fühlte er sich zum ersten mal besonders. Er hatte tatsächlich einmal etwas geschafft und marschierte frohen Mutes weiter.

Zur Mittagsstunde kam er in eine Gegend, in der sich bewaldete Hügel und Täler in schöner Regelmäßigkeit abwechselten. Aus jedem Tal lugte die Spitze eines Kirchturms hervor und verriet, dass Menschen sich dort niedergelassen hatten. Der Regen war bis hierhin nicht gekommen und der Feldweg unter seinen Füßen trocken und staubig. Inzwischen war es auch wieder warm, heiß geradezu und längst fror Hans nicht mehr. Das Wandern bereitete ihm unerwartete Freude und er hoffte auf eine anständige Mahlzeit in einem der zahlreichen Dörfer. Einige Kupfermünzen hatte er noch zusammengekratzt. Genug vielleicht, um damit einen Krug Bier und einen Teller mit Brot und Speck bezahlen zu können.

Der raue Weg wurde bald zu einer gepflasterten Straße. Hans staunte, denn eine solche gab es zwischen Sodregs Äckern nicht. Sie führte in engen Windungen an kleinen Feldern und Wiesen vorüber. Dort luden Menschen Heu auf große Leiterwagen. Eine schwere Arbeit, bei der der Schweiß in Strömen lief. Zwischen ihnen tobten Kinder mit Steckenpferden, die zum Helfen wohl noch nicht alt genug waren. Sie entdeckten ihn als erstes und stimmten sofort lautes Gelächter an. Dann kamen sie zu ihm gerannt und sprangen lärmend und schreiend immerfort um ihn herum.

Mit schnellen Schritten kam ihre Mutter hinterher, schimpfte tüchtig und scheuchte sie fort. Heidrun war eine rundliche Bäuerin mit freundlichen Augen und kurzen braunen Haaren. Ihr Gesicht war schon ein wenig faltig, obwohl sie kaum älter war als Hans.

"Man lacht nicht über anderer Leute Aussehen.", rief sie den Kleinen hinterher. Die aber waren schon wieder mit Toben beschäftigt und hörten bestenfalls nur noch mit einem Ohr zu. Die Frau entschuldigte sich bei ihm und da es gerade Zeit für eine Pause war, lud sie ihn zum Essen ein.

"Du siehst hungrig aus.", stellte sie fest und fragte woher er denn gekommen war.

"Aus Sodreg.", gab Hans zur Antwort und Heidrun zog die Brauen hoch. Sie schaute ihn anerkennend an. Offenbar hatte er seine Sache gar nicht schlecht gemacht. Er war gut vorangekommen und inzwischen so weit von zu Haus entfernt, dass eine einfache Bäuerin darüber ins Staunen geriet.

Das Mittagsmahl war köstlich. Frisches Wasser aus Tonkrügen, dicke Brotscheiben mit Käse und Leberwurst, eingelegte Gurken und frisch aufgeschnittene Äpfel. Hans ließ es sich schmecken und langte ordentlich hin. Währenddessen berichtete er von den Dingen, die sich in den letzten Tagen in Sodreg und Grüntal zugetragen hatten. Jetzt hörten auch die Kinder zu. Immer wieder vergaßen sie dabei zu essen, so überaus spannend fanden sie seine Geschichte. Als er fertig war, blickte Heidrun ihren Mann an, der bis dahin kaum ein Wort gesprochen hatte.

"Mhh", brummte er und nickte schwach. "Wie bei uns."

Otto war kein Freund der großen Worte und so begann seine Frau zu erzählen, dass es bei ihnen in letzter Zeit ganz ähnlich zugegangen war. Angefangen hatte es in der Woche zuvor in Schiefersfelden. Wie in Sodreg, waren auch dort der Bäcker und der Schmied die ersten, die es mit dem großen Schweigen zu tun bekommen hatten. So nannten die Leute der Gegend jene seltsamen Phänomene, die sich keiner erklären konnte. Anders als in Sodreg, gab es hier allerdings niemanden, der so etwas schon einmal erlebt hatte und so blieben die Menschen ratlos zurück. Nach Schiefersfelden, fuhr Heidrun fort, hätte es auch ihr Dorf getroffen. Weißmühlengrund war seit Jahrhunderten bekannt für seine fünf Wassermühlen. Diese reihten sich wie Perlen auf einer Schnur entlang des Weißbachs auf, der sprudelnd frisches Bergwasser auf die hölzernen Mühlräder goss. Die Mahlwerke waren alt, knarzten und ratterten ungeheuer laut. Dennoch taten sie zuverlässig ihren Dienst und verwandelten das gesamte Korn der Bauern hier in schneeweißes Mehl. Das große Schweigen kümmerte das nicht. Eine Mühle nach der anderen wurde heimgesucht, bis schließlich alle beim Mahlen keinen einzigen Ton mehr von sich gaben. Das ganze Dorf war zusammengekommen und hatte gerätselt, was wohl die Ursache sein könnte. Doch wie bereits in Schiefersfelden, wusste auch hier niemand Rat und so blieb den Menschen weiter nichts übrig, als sich mit der seltsamen Stille abzufinden.

Hans wurde neugierig und nach dem Mittagsmahl schlug er den Weg zu den Mühlen ein. Schon von weitem konnte er die weiß gestrichenen Gebäude sehen. Mit ihrem achteckigen Grundriss waren sie einzigartig weit und breit und der ganze Stolz des Dorfes. In der Nachmittagssonne strahlten sie so hell, dass es in den Augen stach. Es stimmte. Die Mühlräder drehten sich, angetrieben vom fröhlich plätschernden Weißbach, doch die Mahlwerke waren vollkommen still.

Ganz offensichtlich war hier das Gleiche geschehen wie in Sodreg und Grüntal. Wenn der alte Wollinger keinen Unsinn erzählt hatte, war der Oglog schuld an allem und Hans hatte noch einen Grund mehr, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen.

Bis zum Abend legte er noch eine ordentliche Strecke zurück. Als die ersten Sterne am Himmel funkelten und die Sonne hinter dem Horizont versunken war, lagen sämtliche Walddörfer längst hinter ihm. Seit der Mittagsstunde war er unermüdlich immer weiter marschiert und hatte dabei Ort um Ort durchquert. Überall stieß er auf Menschen, die ihm von Dingen erzählten, hinter denen nur der Oglog stecken konnte. Die ganze Gegend war vom großen Schweigen befallen. Neben den üblicherweise Betroffenen, wie den Bäckern oder Schmieden, hatte es unter anderem auch eine Gauklertruppe erwischt. Hinter 'Eelos Bonfario', wie sie sich nannten, lag eine düstere Woche. Normalerweise strömten die Leute in Scharen herbei, wenn die Fünf mit Schalmeien, Trommeln, Silberschellen und Dudelsäcken ihre Kunst darboten. Doch seit ihren Instrumenten kein Ton mehr zu entlocken war, blieb das Publikum fort und sie hatten keinen Heller mehr verdient. Allmählich ging ihnen das Geld aus und sie blickten einer unbestimmten Zukunft entgegen.

Hans grübelte lange über die Erlebnisse des Tages nach und bemerkte viel zu spät, dass es längst an der Zeit war, einen Schlafplatz für die Nacht zu suchen. Bis es dunkel war irrte er weiter umher. Von einer Ortschaft war weit und breit nichts zu sehen und zu allem Überfluss führte der Weg nun auch noch durch ein Waldstück. Nur widerwillig betrat er den düsteren Forst. Zu beiden Seiten ragten pechschwarze Tannen auf und fingen das wenige Licht ein, dass Sternen und dem Mond entsprang. Hans schüttelte sich. Doch nicht vor Kälte. Es gruselte ihn und großes Unbehagen machte sich in seiner Seele breit. Er wagte sich nur langsam vorwärts. Jeder Schritt wurde zur Herausforderung und immer wieder blieb er stehen und lauschte. Ringsum raschelte es im Gehölz und fremde Geräusche hoben sich zu einem schaurigen Nachtlied an. Zweige brachen unter schweren Pfoten, in der Ferne tönte ein heiseres Röhren und atemloses Fauchen. Der Wind trug seltsame Gerüche heran und unentwegt streiften feine Spinnweben über seine Haut.

Bald schlug sein Herz gewaltig und er wünschte sich zurück an einen Ort, an dem er nicht alleine wäre. Eine Eule, die irgendwo in den Zweigen saß und ihr gleichförmiges Rufen ertönen ließ, klang ins seinen Ohren wie das Gemurmel von Hexen. Sicher gingen die alten Waldweiber irgendwo im Schein eines Feuers verbotenen Ritualen nach und warteten nur darauf, dass ihnen einsame Wanderer in die Fänge gerieten. Eine furchtbare Angst hatte jetzt voll und ganz Besitz von ihm ergriffen und raubte ihm jeden klaren Gedanken. Als neben ihm ganz unerwartet ein lautes Grunzen zu hören war, hielt er wie versteinert den Atem an und rührte sich nicht mehr vom Fleck. Rabenschwarze Schatten huschten auf den Weg und schauten mit silbrig funkelnden Augen geradewegs in seine Richtung. Sekunden verstrichen und nichts geschah. Sie beobachteten ihn, ohne Zweifel. Doch was planten diese finsteren Dämonen? Wollten sie sich über ihn hermachen? Sahen sie ihn ihm ihr Nachtmahl? Dann jedoch erloschen die Augen und die Schatten wurden eins mit der Nacht.

Hans' Herz pochte jetzt ganz und gar wild und er atmete so schnell, als wäre er mit einem Pferd um die Wette gelaufen. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt und es brauchte nur noch einen winzigen Tropfen, um das mit Furcht gefüllte Fass seines armen Geistes zum Überlaufen zu bringen. Dieser fand sich in Form eines flatternden Nachtfalters. Als das kleine Tier um seinen Kopf schwirrte, gab es kein Halten mehr und er rannte laut schreiend los. Es war egal, dass er kaum zehn Schritte weit sehen konnte. Raus, nur raus aus diesem Wald, war alles woran er denken konnte. Der Pfad wandte sich wie eine Schlange und es dauerte eine ganze Weile, bis die Bäume sich allmählich lichteten und ihn zurück ins Freie ziehen ließen.

Zur Sicherheit rannte Hans noch etwas weiter, bevor er atemlos stehen blieb. Keuchend drehte er sich um und sah nun nichts mehr von all den Schrecken dieses furchtbaren Ortes. Schwarz und unbeweglich standen die Bäume und schienen sich kein Stück mehr für ihn zu interessieren.

Als er eine gute Stunde später im fahlen Schein der Nachtgestirne den zugigen Gipfel eines kleinen Hügels erklommen hatte, lag ein weites Tal vor ihm. Es war in zahllose Felder unterteilt und ein schmaler, im Mondschein funkelnder Bach zog sich durch seine Mitte, wie ein feiner Silberfaden. In der Mitte erhob sich wiederum ein Hügel und auf dessen Spitze schien ein einzelnes Haus zu stehen. Zielstrebig hielt er darauf zu, war es doch das einzige weit und breit. Nach einer halben Stunde strammen Fußmarsches erreichte er eine gepflasterte Straße, die vom Feldweg abzweigte und hinauf auf die Anhöhe führte.

Oben angekommen sah er voller Erleichterung, dass er sich nicht getäuscht hatte. Hier standen tatsächlich Gebäude. Aus zahlreichen Fenstern strahlte goldenes Licht und mit jedem Schritt, den er jetzt näher herantrat, schien das Anwesen größer zu werden. Es musste das zu Hause einer wirklich wohlhabenden Familie sein. Neben dem Haupthaus gab es zahlreiche Scheunen und elegante Gästehäuser. Mit großen Fenstern luden sie müde Reisende ein, die das notwendige Geld für eine solche Unterkunft aufbringen konnten. Aus einer feinen Wirtschaft drangen gedämpfte Stimmen, leise Musik und der Duft köstlichster Speisen lag in der Luft.

Das alles hier gehörte Hilger Kogel, jenem reichen Bauern, an dessen Feldern Hans am Morgen entlang gekommen war. Er war hungrig und wog die wenigen Kupfermünzen in der Tasche ab. Gewiss würde er hier nichts dafür bekommen. Vorsichtig schlich er zum Gasthaus und schaute durch die frisch geputzten Scheiben. Drinnen saßen gut gekleidete Herrschaften an Tischen mit schneeweißen Decken und buntem Blumenschmuck. Sie schmausten von zarten Porzellantellern und tranken Wein aus geschliffenen Kristallgläsern. Ein wenig abseits standen Spielleute mit feinen Anzügen und strengen Frisuren. Auf teuren Instrumenten ließen sie zarte Melodien erklingen und verwöhnten die Ohren der erlesenen Kundschaft.

Hans knurrte der Magen und beim Anblick all der gebratenen Köstlichkeiten lief ihm das Wasser im Munde zusammen. Er war so vertieft, dass er nicht bemerkte, wie am Haus gegenüber eine schwere Tür ins Schloss fiel. Ein großer Mann war heraus getreten, um in der kühlen Luft ein Pfeifchen zu rauchen. Genüsslich sog er die frische Nachtluft ein, bevor er in den Taschen seiner goldbestickten Seidenweste nach Zündhölzern suchte. Es war Hilger Kogel, der den Tag nach endlosen Stunden endlich ausklingen ließ und sich ein paar Minuten Zeit nur für sich selber nahm. Eine ganze Weile beobachtete er den hungrigen Burschen, paffte dicke Wolken in die Luft und grinste in sich hinein.