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Die Zeiten ändern sich. Früher war alles anders. Wer kennt sie nicht, solche Aussagen der Eltern oder Großeltern? Im Kindesalter interessiert man sich vielleicht noch für die Geschichten von früher. In der Jugend hat man meist andere Dinge im Kopf. Doch das Interesse an den Geschichten erwacht wieder. Genau aus diesem Grund hat Wolfgang Nutsch Erlebnisse aus seiner Kindheit und seiner Jugend niedergeschrieben. 1935 in Hildesheim geboren, hat er den Zweiten Weltkrieg und seine Folgen miterlebt. Seine in Kurzgeschichten verfassten Erlebnisse sind nicht nur für seine Nachkommen von Interesse, sondern für jeden, der Geschichten aus dem Alltag von früher lesen möchte.
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Seitenzahl: 177
Veröffentlichungsjahr: 2024
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.
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© 2024 novum publishing
ISBN Printausgabe: 978-3-99146-961-2
ISBN e-book: 978-3-99146-978-0
Lektorat: Juliane Johannsen
Umschlagabbildungen: Wolfgang Nutsch; Naokikim | Dreamstime.com
Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh
Innenabbildungen: Wolfgang Nutsch
www.novumverlag.com
Vorwort
Unsere Kinder waren noch klein. Immer wieder meinte ich, ihnen erzählen zu müssen, wie es zu unserer Zeit gewesen war, als wir in dem gleichen Alter wie jetzt unsere Kinder waren. Das könnte doch interessieren, dachte ich. Doch irgendwann bekam ich dann den ablehnenden Seufzer zu hören: „Oh Papa, oh Papa – du immer mit deinem Früher.“ Also, nun wusste ich um die Interessenlage seitens der Kinder Bescheid und ich nahm mich in dieser Sache sehr zurück.
Nun sind die Kinder erwachsen und haben selber Kinder. Auf einmal wächst bei ihnen das Interesse an früher. Sie merken, bald ist da niemand mehr, der ihnen von den Erlebnissen von früher erzählen kann.
Das war für mich der Grund, einige Begebenheiten aus der Kinderzeit unserer also älteren Generation aufzuschreiben und auch die eine oder andere Gedächtnisskizze dem Text hinzuzufügen. Vielleicht lesen es die nun erwachsenen „Kinder“ einmal, oder gar deren Kinder, die nächste Generation.
Wenn nicht, dann hat mir das Schreiben dieser Kurzgeschichten selbst sehr viel Spaß gemacht. Nicht nur, weil alte Erinnerungen wieder wachgerufen wurden, sondern auch, weil mir dabei bewusst wurde, wie viel man doch in einem Lebensalter von nun beinahe neunzig Jahren so erleben konnte.
Es hat sich doch in diesem Lebensabschnitt in allen Bereichen des Arbeitens, der Technik, dem sozialen Verständnis und der privaten Lebensgestaltung unheimlich viel verändert.
Wolfgang Nutsch, geboren 1935 in Hildesheim
Frühste Erinnerungen
Weiter zurück als bis zum 6. oder 7. Lebensjahr reichen die Erinnerungen wohl nicht. Immerhin gibt es doch einiges aus dieser Zeit, das sich tief in mein Gedächtnis eingegraben hat.
Mein Vater war damals noch zuhause. Er arbeitete in einer naheliegenden größeren Firma in der Rechnungsabteilung. An manchen Abenden in der Woche hat er als Mitglied des Stenographenvereins noch Unterricht in Kurzschrift und Schreibmaschinenschreiben erteilt.
Vater ging früh zur Arbeit. Mittags kam er zum Essen nach Haus, denn die Mittagspausen waren damals in den Jahren 1941–1942 relativ lang. Ich meine, er hatte mindestens zwei Stunden Zeit. Zeit genug, um sich nach dem Essen noch auf dem Chaiselongue lang zu machen und die Nachrichten aus dem Radio zu verfolgen. Meistens ist er dann aber eingeschlafen und immer, wenn die Nachrichten vorbei waren, wieder aufgewacht. „Ich glaube, ich war eingeschlafen,“ waren dann seine Worte. Abends haben wir Vater oft von der Arbeit abgeholt. Der Weg war ja auch nicht sehr weit. Wir mussten nur die steinerne Treppe von der oberen Querstraße über den sogenannten Brauhof bis zur Firma hinunterlaufen. Auf dem Weg nach Haus fragte er natürlich nach, wie es in der Schule gewesen sei und verkündete manchmal, dass er uns Hasenbrot mitgebracht habe. Das klang zwar verlockend. Es war aber nicht immer so delikat, weil es sich ja um das nicht gegessene Frühstücksbrot handelte, welches Mutter für ihn am Morgen schon zubereitet hatte.
Samstags musste mein Vater nur bis zum Mittag arbeiten. Wenn ich ihn abholen durfte, bin ich etwas früher gegangen. Der Pförtner hat mich dann durch die Pforte gelassen und mir gezeigt, wie ich zu meinem Vater ins Büro kommen konnte. Das war für mich immer besonders spannend. Hier durfte ich auf einem drehbaren und in der Höhe verstellbaren Schreibtischstuhl sitzen und basteln. Zweierlei Kleber standen mir zur Verfügung. Der honigfarbene flüssige Kleber, das Gummiarabikum, mit dem praktischen Gummischnuller auf der Flasche, oder die angenehm süßlich riechende weiße Klebepaste mit dem kleinen Auftragspinsel in einer Aludose. Die Büroklammern habe ich gern zu einer langen Kette zusammengekoppelt. Vater fand das aber nicht besonders lustig, denn jedes Mal, wenn er zu einer Büroklammer greifen wollte, hatte er einen ganzen Rattenschwanz von Klammern in der Hand. Spaß hat auch die Rechenmaschine von der Firma Walther bereitet. Hier konnte man an kleinen Hebeln die Zahlen einstellen und diese durch mehrfaches geräuschvolles Vorwärtskurbeln multiplizieren und durch Rückwärtsdrehen dividieren. Natürlich konnte man mit der Maschine auch addieren und subtrahieren. Dann musste man aber jedes Mal die zu addierenden oder die zu subtrahierenden Zahlen neu einstellen und dann beim Addieren vorwärts drehen und beim Subtrahieren rückwärts drehen.
Bei schönem Wetter fuhr mein Vater abends mit dem Fahrrad in die Stadt zur Handelsschule, um dort junge Damen, seltener waren Herren dabei, in Stenographie zu unterrichten. Er hat mich dann häufig auf dem Fahrrad mitgenommen. Das Herrenfahrrad hatte ja früher eine waagerechte Stange zwischen Lenker und Sattel. Auf dieser war ein kleiner Kindersattel so festgeschraubt, dass ich noch mit den Händen an die Lenkstange fassen konnte. Die Füße hatten Halt auf Fußrasten, die seitlich an der Vorderradgabel befestigt waren. Bei dieser Sitzposition konnte man als Kind richtig mitlenken und vor allem sehen, wohin die Fahrt geht.
Im Unterrichtssaal saßen für mich alles ausgewachsene Damen. Die hölzernen Schulbänke waren zweigeteilt. Sie bestanden aus dem schreibpultähnlichen Vorbau mit abgeschrägter Schreibfläche, oben einer Rille für Schreibgeräte und dem Fach fürs Tintenfass, und der Sitzfläche für je zwei Personen. Sitzfläche und Pult waren in der Mitte durch einen Balken miteinander verbunden. Hier war mein Platz. Ich musste den Balken zwischen die Beine nehmen und links und rechts von mir flankierten mich die ausgewachsenen Damen, früher sagte man noch Fräulein zu ihnen. Es kam manchmal vor, dass mein Vater mich nach vorn holte. Dann musste ich mit Kreide ein Wort oder Kürzel in Kurzschrift auf die untere Kante der weit heruntergezogenen Tafel schreiben. Ich denke, er war immer stolz, wenn mir das fehlerfrei gelang.
Viel mehr Erinnerungen an meinen Vater, bevor er zur Wehrmacht eingezogen wurde, habe ich nicht. Nur noch die eine. Eines Tages musste mein Vater Abschied nehmen. Er müsse zu den Soldaten, hatte man uns Kindern erzählt.
Meine zwei Jahre jüngere Schwester und ich wollten ihm zum Abschied etwas ganz Besonderes darbieten. Wir haben eifrig ein Lied einstudiert und dieses dann am Vorabend zum Besten gegeben. „Muss i’ denn, muss i’ denn zum Städele hinaus und du mein Schatz bleibst hier …“
Mutter und Vater brachen in Tränen aus und verließen den Raum. Das war wohl doch nicht der richtige Weg, ihm den Abschied zu erleichtern.
Besuch bei den Großeltern
Oma hatte wohl Geburtstag. Das war der Anlass für ein Familientreffen. Die Großeltern väterlicherseits wohnten in der Eckemeckerstraße. Hier standen viele schmucke Fachwerkhäuser. Auf dem Weg dorthin kamen wir an einer Schmiede im Alten Markt vorbei. Manchmal hörte man schon von Weitem das Hämmern des Schmiedes, die zwei oder drei dumpfen Schläge auf das rotglühende Eisen, dem zwei oder drei hochklingende Schläge auf den Ambos folgten. Wenn das große zweiflügelige Tor offen stand, konnte man in dem dunklen schwarzen Raum den glimmenden Koks in der Esse sehen, der erst hell glühte, wenn der Blasebalg getreten wurde. Auch die zahlreichen unterschiedlichen Zangen, die aufgereiht an der Wand hingen, und der Ambos in der Mitte des Raumes waren nach längerem Blick in die verrußte Schmiede zu erkennen. Dies war für mich immer interessant. Besonders dann, wenn gerade eines der stämmigen Brauereipferde beschlagen wurde. Den Kampf, den der Schmied mit dem Gaul hatte, um einen der Hufe hochzuziehen, ihn zwischen seine Beine zu klemmen, um das Eisen aufzusetzen. Der Geruch des heißen Eisens und des verbrannten Horns ist noch heute in meinen Geruchszellen gespeichert. Auch die Geschwindigkeit, mit der der Schmied das Hufeisen mit langen Nägeln am Huf befestigte, die seitlich am Huf ausgetretenen Nägel krumm kröpfte und mit einer Raspel kleine überstehende Hornteile des Hufes dem Eisen anpasste, flößte mir immer wieder großen Respekt ein. Leider hatte meine Mutter nicht so viel Geduld und trieb mich an, nun endlich weiterzugehen.
Die Eckemeckerstraße war nicht mehr weit. Oma erwartete uns schon und winkte uns aus dem kleinen Fenster im Obergeschoss zu. Die Haustür bestand aus Rahmen und Füllungen und war farbig angestrichen. Beeindruckend war der schwere Buntbartschlüssel, der von innen in einem großen Kastenschloss steckte. Zum Wohnzimmer führte eine schmale Treppe hinauf. Heimlich konnte man unmöglich zum Wohnzimmer gelangen, denn jeder Schritt wurde durch Nachgeben und Knarren der Treppenstufen oder Bodendielen spürbar und hörbar. Opa kam hinter uns her. Er hatte den emaillierten Wassereimer unten am einzigen Wasserhahn des Hauses gefüllt, und stellte ihn nun auf seinen angestammten Platz, auf die Kommode im Treppenflur des Obergeschosses. Mit einer Kelle schöpfte Oma Wasser in den Wasserkessel, um damit Kaffee, also echten Muckefuck, zu kochen. Ein Spitzbohnenkaffee also, Katreiner oder Lindes, der durch Zugabe von Zichorien noch eine besonders dunkle Farbe erhielt. Den Kuchen hatte meine Mutter mitgebracht. Auch so ein dunkler Kaffeekuchen, der oben als Ersatz von Walnüssen oder Mandeln mit Bucheckern garniert war, die wir im Berghölzchen gesammelt hatten.
Für uns Kinder begann nun eine langweilige Phase. Ich machte mich wie immer über Omas umfangreiche Knopfsammlung her. Die Knöpfe wurden natürlich immer abgetrennt, wenn ein Kleidungsstück seinen Geist aufgegeben hatte. Opa war handwerklich äußerst geschickt. Er hatte einen großen Kasten mit Deckel gebastelt, in dem durch eine Einteilung mindestens 30 Fächer vorhanden waren. Alle waren randvoll mit Knöpfen gefüllt, große und kleine, einfache bis prachtvoll glänzende. Ich durchwühlte alle Fächer. Suchte so lange, bis ich eine Vielzahl gleicher und ähnlicher Knöpfe beisammen hatte. Diese legte ich reihen- und gruppenweise zu Formationen zusammen. Das waren meine Truppenverbände, die exakt geordnet über den Dielenfußboden marschierten.
Irgendwann ließ es sich nicht vermeiden. Ich musste wohl oder übel den Ort aufsuchen, zu dem auch der Kaiser zu Fuß hingegangen sein soll. Gewiss nicht zu diesem, denn dies war ein im zehn Meter entfernten Nebengebäude untergebrachtes Plumpsklo. Die Brettertür hatte kein Schloss, sondern nur einen Haken, mit dem die Tür zugehalten werden konnte. Im Inneren befand sich ein großer, aus Brettern zusammengenagelter Kasten. In dessen obere Fläche war ein großes Loch eingeschnitten, das durch einen schweren, massiven Holzdeckel abgedeckt war. Den musste man hochklappen. Schnell setzte ich mich auf den für mich zu hohen Kasten, denn der Blick in die Tiefe kostete mich jedes Mal Überwindung. Die verzogene Brettertür war nicht dicht. Außerdem ließ der Fensterhaken kein dichtes Verriegeln zu, sodass genügend Licht durch den breiten Spalt ins Innere des Örtchens gelangen konnte. Auch hatten sich die Augen nun an die Dunkelheit gewöhnt. An der Wand hing ein Drahtgebilde, auf das in etwa Postkartengröße exakt zerrissenes Zeitungspapier aufgespießt war. Wofür bloß? Heute kauft man dafür Toilettenpapier mit Blümchen. In den Ecken fielen mir die vielen stufenförmig übereinander angeordneten Spinnweben auf. Interessant, wie schnell die Spinnen ein zerstörtes Netz wieder reparieren konnten. Wie sie dabei mit ihren flinken Beinen den Faden an den radial verlaufenden Spinnfäden verknoteten. Wenn es mir dann noch gelang, eine der grün schillernden Fliegen zu fangen und in ein Spinnennetz zu werfen, war dies eine besonders erlebnisreiche Beobachtung. Blitzschnell schoss die Spinne aus ihrer Ecke heraus, wickelte mit ihrem Spinnfaden in großer Eile die Beute mit allen Beinen ein, bis nur noch ein helles Knäuel zu sehen war. Doch irgendwann hat man diesen Ort doch lieber wieder verlassen. Nicht nur wegen der unangenehmen Gerüche, sondern auch wegen der langsam spürbaren Kälte.
Oben im kleinen Wohnzimmer war mittlerweile die Stimmung auf dem Höhepunkt. Man spielte „Mensch ärgere dich nicht“. Immer wieder vor dem Ziel gelang den Mitspielern der Rausschmiss. Mir ist nur noch die letzte Szene in Erinnerung, als meine Tante Trude voller Zorn das Fenster aufriss, und das ganze Spiel mitsamt den Männchen aus dem Fenster warf.
Der Abschied fiel an diesem Abend etwas frostiger als sonst aus.
Wir Schlüsselkinder
Mutter ging nun arbeiten, sodass wir Kinder tagsüber allein waren. Durch die Grifföse des Schlüssels zu unserer Wohnung wurde ein breites Band gezogen und so verknotet, dass es gerade über meinen Kopf zu ziehen war, ohne dabei die Nase abzureißen. Die Einbruchsicherheit war damals wohl noch kein Thema. Die Haustür war nicht verschlossen und konnte durch eine gusseiserne, schwarze Türklinke auch von außen geöffnet werden. Nur die Korridortüren zu den einzelnen Wohnungen waren verschlossen. Dies aber auch nur mit einem Buntbartschlüssel, sodass es gar keine Schwierigkeit war, mit einem gebogenen Nagel die Schlossfalle zurückzunehmen und die Türe zu öffnen.
Morgens stand meine Mutter sehr früh auf. Sie war stets gewaschen und angezogen, bevor sie uns Kinder weckte und uns für den Tag herrichtete. Zum Essen gab es morgens eigentlich immer Haferflocken mit einem Löffel Zucker und wenn Mutter nicht guckte auch zwei Löffel Kakao. Darüber wurde warme Milch gegossen. Da es meistens grobe Haferflocken waren, hatten wir daran immer ganz kräftig zu kauen. Nebenbei machte Mutter unsere Frühstücksbrote, die in eine kleine Brottasche aus Leder verstaut wurden. In der Regel hatte sie auch schon das Essen für Mittag gekocht. Der Topf mit der Suppe, meistens ein Eintopfessen, kam in die Sofaecke. Er wurde dort mit Zeitungspapier, Decken und Kissen eingepackt, sodass er zum Mittag noch gut warm war.
Fertig angezogen und mit umgehängter Brottasche wurde meine Schwester in den Kindergarten gebracht. Ich hatte zusätzlich zur Brottasche noch einen ledernen Tornister mit den sauber eingepackten Schulutensilien auf den Rücken zu nehmen. Da wir in den ersten Schuljahren mit einem Griffel auf einer Schiefertafel schreiben mussten, hingen aus dem Schultornister seitlich ein Schwamm und ein Läppchen heraus, die mit der Tafel durch einen Bindfaden verbunden waren. Später haben wir natürlich mit Bleistift oder auch mit Tinte in linierte Hefte geschrieben. Das Schreiben mit Tinte erfolgte mit einem Federhalter, in den eine Redisfeder gesteckt wurde. Diese musste man immer nach ein paar Worten wieder in ein Tintenfass tunken. Aber nicht zu tief, damit es keinen Klecks aufs Papier gab.
Für den Tag bekamen wir bestimmte Verhaltensmaßregeln mit auf den Weg und hatten klar definierte Aufgaben zu erfüllen, wie zum Beispiel den Fußboden zu bohnern, einige Dinge gegenüber vom Kaufmann zu holen, das Feuer im Kachelofen anzuzünden und natürlich die Schularbeiten sauber zu erledigen. Das Bohnern des Dielenfußbodens habe ich gern gemacht. Hierzu stand ein schwerer Bohnerbesen zur Verfügung.
Nach dem Einwachsen wurde dieser in Richtung des Verlaufs der Fußbodendielen hin- und herbewegt. Um ein ganz besonders gutes Ergebnis zu erzielen, durfte sich meine Schwester noch auf den Bohnerbesen setzen. Das machte uns beiden Spaß und der Boden war hinterher superblank. Schließlich wollten wir ja auch unserer Mutter eine Freude bereiten.
Zum Einkaufen brauchte ich nur über die Straße zu gehen. Grüneberg war ein ganz kleiner Laden, aber der hatte so gut wie alles, was man zum Essen und auch Basteln brauchte. Haferflocken, Grieß, Mehl, Zucker und Salz waren zum Beispiel in großen Schubkästen untergebracht. Mit einer Schütte aus Holz oder Schaufel aus Zinkblech füllte Herr Grüneberg die Tüten, die er auf eine Tafelwaage stellte. Der letzte Rest wurde fein von der Schütte gestreut, indem er mit dem Finger auf den Stiel der Schütte tippte, bis die Zungen der Tafelwaage sich auf gleicher Höhe gegenüberstanden. Für Mengen unter einem Pfund verwendete er die spitzen Tüten, sonst die breiten eckigen. Für Zucker kamen, so meine ich mich zu erinnern, blaue Tüten, für Salz die rötlichen Tüten zum Einsatz. Wollte man Nägel oder Schrauben kaufen, wurden diese abgezählt. Auch Werkzeuge wie Hammer, Zangen, Feilen, Schleifpapier oder Garn und Schnürsenkel konnte man bei ihm kaufen. Scharf waren wir Kinder auf einen Bonbon. Sie befanden sich in größeren Schraubgläsern, die stapelbar waren und schräg nach vorn eine größere Öffnung zum Hineingreifen hatten. Manchmal hatten wir ja Glück, wenn es nach dem Bezahlen einen Bonbon gab.
Wenn Milch zu holen war, musste ich einen weiteren Weg bis zur Dingworthstraße machen. Zum Milchholen hatten wir eine zwei Liter fassende Milchkanne aus Aluminium. Sie wurde mit einem Deckel, solange dieser noch auf die verbeulte Kanne passte, verschlossen. Der Bügelgriff bestand aus Draht, der durch ein hölzernes rundes Griffstück führte. Die Kanne war schon recht verbeult. Sie war mir schon des Öfteren vor die Füße gefallen. In der Kanne lag dann der Zettel mit dem Hinweis, wie viel Milch ich zu holen hatte, und das meist abgezählte Geld. Beim Milch-Heidel standen die großen metallenen Milchkannen, so wie sie auch auf den Bauernhöfen zu finden sind, und an der Wand hingen die Füllmaße für zum Beispiel ¼ Liter oder ½ Liter. Mit diesen wurde dann die Milch aus den großen Kannen geschöpft und in die mitgebrachte Kanne gefüllt. Weil die Füllmaße nicht immer ganz bis zum Rand voll waren, gab es am Schluss noch einen kleinen Schluck obendrauf. Auf dem Nachhauseweg kam ich manchmal auf die Idee, die gefüllte Kanne am gestreckten Arm vertikal kreisen zu lassen. Bei der richtigen Geschwindigkeit wurde dabei keine Milch verschüttet.
Im Wohnzimmer stand ein großer Kachelofen, so wie er früher wohl in den meisten Wohnungen zu finden war. Unten bestand er aus einem gusseisernen Sockel mit den Türchen zum Feuerungsraum und zum Aschekasten. Der obere Aufsatz war verkachelt und reichte fast bis zur Decke. Der Aufsatz hatte zwei quadratische Aussparungen. In der unteren Öffnung stand meistens ein Wasserkessel und in der oberen Röhre lagen manchmal Äpfel. Wenn der Ofen richtig in Schwung war, sang das Wasser im Kessel in den verschiedensten Tonlagen und die Puttäpfel dufteten appetitanregend. Mutter hatte mir aufgetragen, gegen Abend das Feuer im Kachelofen anzumachen. Es wäre alles vorbereitet und ich brauche nur ein Streichholz dranzuhalten. Das tat ich auch. Doch das Feuer wollte ums Verrecken nicht brennen. Mir fiel ein, dass Mutter, wenn sie die Grude in der Küche kalt startete, mit einer langstieligen Schaufel eine Flüssigkeit auf den Grudekoks träufelte, bevor sie diesen anzündete. Also versuchte ich mit dieser Flüssigkeit auch beim Anzünden des Kachelofens mein Glück. Ich hatte gerade die Flüssigkeit verteilt, als mich schlagartig eine Explosion in die andere Ecke des Zimmers warf. Irgendwie musste wohl noch ein Funken Glut im Ofen gewesen sein, der den Spiritusdampf zur Explosion brachte. Jedenfalls hatte ich selbst keine Wimpern und Augenbrauen mehr und feuerrote Augen. Aus dem Kachelofen war im oberen Drittel eine Kachel herausgeflogen. Aber sonst war weiter nichts passiert.
Jetzt hatte ich nur noch Angst, dass Mutter was merkte. Dann würde wohl wieder eine Tracht Prügel fällig sein. Natürlich hat Mutter was gemerkt, die vorn gekräuselten Haare, das rote Gesicht fielen schon auf. „Wie siehst du denn aus?“, fragte sie ganz erschrocken. Aber sie war heilfroh, dass nicht mehr passiert war, und die Tracht Prügel fiel heute aus.
Diese wurde aber ein anderes Mal fällig. Denn nebenbei musste ich ja auch meine Schularbeiten machen. Außerdem so manche Sonderaufgabe lösen wie Schönschrift üben usw. Wir waren aber bei dem schönen Wetter auf der Straße beim Spielen und hatten nicht bedacht, dass Mutter etwas früher nach Haus kam. Es war schon etwas dämmerig und gerade dann kann man so schön Verstecken spielen. Aber die Regel war: „So wie es dunkel wird, geht ihr ins Haus!“ Außerdem waren meine Hausarbeiten nicht sorgfältig genug gemacht. Sie enthielten mehrere Fehler und waren schlampig geschrieben. Da war das Maß übervoll und es setzte was. Ich glaube, ich habe die Hausaufgaben viermal schreiben müssen, bis endlich kein Fehler mehr drin war und ich mich nicht verschrieben hatte. Erst danach bekam ich etwas zu essen und konnte dann ins Bett gehen. Trotzdem schlief ich schnell und tief ein, ohne noch die nachts munteren Nager unter dem Holzfußboden zu hören, die sich nun stellenweise durch die Fußleisten hindurchgearbeitet hatten und zu Mutters berechtigtem Ärger wieder einmal den wertvollen Käsebrocken von der Mausefalle geklaut hatten, ohne dass diese zugeschnappt war.
Fototermin
Vater war im Krieg. So hieß das damals, kurz und bündig. Vaters Wunsch war es, ein Foto von seiner Frau und uns Kindern zu besitzen. Also suchten wir einen Fotografen auf, der am Moritzberg sein Atelier hatte. Wir Kinder wurden fein angezogen. Meine Schwester bekam ein schickes Kleidchen aus rotkariertem Stoff an, das die Mutter selbst genäht hatte, und ich wurde in ein blütenweißes Hemd und eine dunkelblaue Jerseyhose von der Firma Bleyle gesteckt. Oben am Hals bekam ich unter den Hemdkragen eine Kordel umgebunden, an deren Enden sich flauschige, blau-weiße Plüschbommeln befanden.
Der Fotograf betrachtete sich irgendwie als begnadeten Künstler und verbrachte eine lange Zeit damit, uns richtig auf der Bank zu platzieren. Meine Mutter kam in die Mitte, links und rechts von ihr saßen wir Kinder. Uns gegenüber stand auf einem schweren Stativ der Fotoapparat, ein großer hölzerner Kasten. Beim genauen Hinsehen erkannte man, dass dieser Kasten zweigeteilt und der vordere Teil mit dem hinteren durch einen Lederbalg verbunden war. Immer wieder ging der Fotograf hinter den Kasten und verschwand unter einem schwarzen Tuch. Dabei drehte er vorne am Objektiv herum. Plötzlich sprang er wieder zu uns vor, nestelte an unserer Kleidung herum und bemängelte und korrigierte unsere Sitzhaltung, drehte und neigte unsere Köpfe. Dies Spielchen wiederholte sich etliche Male. Doch irgendwann tauchte er unter dem schwarzen Tuch wieder auf und war mit uns zufrieden. Nun schob er eine schwarze Kassette mit der zu belichtenden Platte in den hinteren Teil des Holzkastens. Er bat uns, zu lächeln, und wies uns die Richtung an, in die wir zu schauen hatten. Dann zündete er das weiße Pulver, das er auf die Metallplatte eines kleinen Handgerätes gestreut hatte, sodass dies mit hellem Schein ex