Ohne dich - Erna Sassen - E-Book

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Erna Sassen

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Beschreibung

Ich bin Dein Zuhause Der fünfzehnjährige Joshua - »Rembrandt« genannt - ist ein sensibler, aber auch wütender Junge mit einer besonderen Begabung fürs Zeichnen. Die Schule mag er nicht besonders und möchte sie lieber heute als morgen beenden. Damit ist er in seiner durch und durch bildungseifrigen Familie seit jeher ein Außenseiter. Halt und Freundschaft findet er bei Zivan, die mit ihrer Familie einst aus dem Irak geflohen ist. Doch dann kehrt diese in ihre Heimat zurück, und plötzlich ist Funkstille. E-Mails bleiben unbeantwortet, die Häkchen hinter den WhatsApp-Nachrichten grau. Da erfährt Joshua, dass Zivan mit ihrem Cousin verheiratet werden soll. Wird er sie jemals wiedersehen? Ein erschütterndes, ein eindringliches Buch.

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ERNA SASSEN

Aus dem Niederländischen von Rolf Erdorf

VERLAG FREIES GEISTESLEBEN

Dieses Buch beruht zum Teil auf der Lebensgeschichte von zwei außergewöhnlich inspirierenden Frauen, deren wirkliche Namen ich leider nicht nennen kann. Hier heißen sie Zivan und Shanya. Mein Respekt und mein Dank ihnen gegenüber sind sehr groß.

1

Alles geht schief.

Dieser Arsch von Sergio hat mir mein Skizzenheft abgenommen.

Zum Glück war es nicht das mit den Aktzeichnungen, da bin ich schlau genug, das zu Hause zu lassen.

Es war das dicke mit dem weichen Einband von Leonardo da Vinci.

Mein schönstes. Fast voll.

Alles geht schief.

Seit dem Augenblick, als ich in diese Scheißklasse gesteckt wurde, war mir natürlich klar, dass ich irgendwann Stress mit Sergio bekommen würde, dem Anführer einer Gruppe hoffnungsloser Loser. Großes Maul, große Muskeln und wegen seines geklauten Rollers für die Mädchen maximal attraktiv. Keilt sich regelmäßig mit anderen auf dem Schulhof, und das vor den Augen der Schulleitung, die zu feige ist, etwas gegen ihn zu unternehmen.

Ich wusste, ich sollte mich von ihm fernhalten. Was ich auch tat. Bloß Sergio selbst hält sich von niemandem fern. Gleich von Tag eins an will er mir was.

Ich bin seit zwei Wochen hier. Summa cum laude von der achten Realschul- in die neunte Hauptschulklasse gewechselt. Durfte selbst entscheiden, ob ich die achte wiederholen oder stattdessen lieber voll in der Hauptschule durchstarten wollte. Darüber brauchte ich natürlich keine Sekunde nachzudenken. «Für mich bitte die Hauptschule», hatte ich zu meinem Vater gesagt. «Je kürzer, desto besser.» Und dass ich nicht verstand, wieso ich mich nicht schon viel früher für den berufsbildenden Unterricht entschieden hatte. «Das verstehst du sehr gut», sagte mein Vater, «denn das hatte etwas mit Zivan zu tun.»

Ja.

Vielen Dank auch, Pa, dass du mich daran erinnerst.

Zivan.

Sie besuchte die Realschule.

«Bist du schwul oder was? Oder warum kritzelst du die ganze Zeit in die Heftchen?» Sergio riss mir das Skizzenheft unter den Händen weg. Ich hatte ihn nicht kommen hören, in der Kantine herrschte ein Höllenlärm und ich hatte meine neuen Noise-Cancelling-Kopfhörer auf.

«Nein, wieso?», fragte ich in einem Reflex, außerstande zu irgendeiner Form des Widerstands.

Das ärgert mich noch am meisten.

Dass ich nicht einfach gesagt habe: «Klar bin ich schwul. Sonst noch was, du Arsch?»

Nicht dass ich schwul wäre, aber es geht ums Prinzip.

«Gib mir mein Heft wieder.»

Das habe ich dann doch noch gesagt. Bisschen mager. Mehr wegen des Gesichtsverlusts, den ich vermeiden wollte, als in der Hoffnung, es jemals wiederzusehen. «Du bekommst es zurück, wenn ich es aus habe», sagte Sergio der Dschungelkönig.

«Sag bloß, du kannst lesen», erwiderte ich, während ich möglichst beherrscht ein Heft aus meinem Rucksack zog, um darin weiterzuzeichnen.

Als Antwort zog er mir mit dem Skizzenheft eins über die Rübe.

Zivan! Wieso liest du meine Nachrichten nicht???

2

In meiner neuen Klasse stellen sie erst einmal alle Tische auf den Kopf, wenn sie einen Unterrichtsraum betreten. Das finden sie lustig.

Viel Mühe, denke ich. Es läuft nämlich jedes Mal darauf hinaus, dass sie die Tische wieder richtig hinstellen müssen.

Aber dann sind schon zehn Minuten vorbei.

Wahrscheinlich geht es ihnen darum.

Je kürzer, desto besser.

Heute Morgen hat es ungefähr eine halbe Stunde gedauert, denn die Mathelehrerin bekam einen Nervenzusammenbruch. Daran war sie ehrlich gesagt auch ein wenig selbst schuld. Schon gleich beim ersten Tisch, der Kopf stand, fing sie an zu jammern: «Ach bitte, liebe Leute, ich habe ein schreckliches Wochenende hinter mir …»

Offenbar kennt diese Lehrerin die Spielregeln nicht. Vielleicht ist sie neu. Genau wie ich.

Aber selbst wenn. Sie werden während ihrer Ausbildung doch im Umgang mit solchen Situationen trainiert, denke ich mir. Und man sollte schon ein bisschen Talent mitbringen, wenn man Lehrkraft für die Mittelstufe werden will. Oder? Talent geht ihr ab, der Mathelehrerin. Sie sah sehr müde aus. Oder vielleicht ist sie krank. Dass sie so wenig aushält.

Schon nach fünf Minuten fing sie an zu weinen.

O-o, dachte ich. Jetzt haben sie Blut geleckt, junge Frau.

Jetzt werden sie erst richtig zubeißen.

Aber das taten sie nicht.

Auf einmal stellten alle ihre Möbel wieder auf die Füße, und jemand machte das Licht an. Genug gelacht. Jetzt zur Tagesordnung.

Aber die Lehrerin heulte einfach weiter. Die wollte echt ein großes Ding daraus machen.

Eines der Mädchen hatte offenbar Mitleid mit ihr und verließ die Klasse, um den Rektor zu holen. Alle übrigen schauten auf ihre Handys oder unterhielten sich über ihren Nervenzusammenbruch hinweg.

Sergio, der vor mir saß, drehte sich zu mir um. Gott, dachte ich, jetzt geht’s los. Ich schaute ihn nicht an, das erschien mir unvernünftig. Soll man bei aggressiven Hunden auch nicht tun. Sergios Hand verschwand unter seinem Pulli. Erst dachte ich, er würde eine Pistole darunter hervorziehen, aber es war mein Skizzenheft. Nicht gedacht, dass ich das noch mal wiedersehen würde. Mich wunderte, dass er es nicht weggeworfen oder angezündet hatte.

Er legte es aufgeschlagen auf meinen Tisch und blätterte darin herum, bis er gefunden hatte, wonach er suchte.

«Das hier will ich», sagte er. «Hier.» Er zeigte auf seinen linken Oberarm. Es war der Wolf.

Die Version, bei der ihm das Blut aus dem aufgesperrten Maul tropft. Meine gelungenste.

Scheiße.

Ausgerechnet den Wolf.

Vorsichtig atmete ich einige Male ein und aus, damit Sergio meine Nervosität nicht bemerkte.

«Das geht nicht», sagte ich dann.

«Wieso nicht?»

Ich hatte überhaupt keine Lust, es ihm zu erklären, aber mir war klar, dass ich musste; Sergio ist keiner, der schnell locker lässt.

«Das bin ich», sagte ich mit einem Kopfnicken in Richtung Wolf. «Und du willst doch nicht mit einem Schwulen auf der Schulter rumlaufen, nehme ich an.»

Es dauerte etwas, bevor er antwortete.

Als würde er nachdenken. Mit seinem vom Kickboxen zermatschten Hirn.

«Wieso bist du das?», fragte er.

Ich sah ihn an. Er blinzelte nicht mit den Augen. Ich auch nicht. Ich werde es dir nicht noch deutlicher vorsagen, dachte ich, ich habe mich hiermit ohnehin schon extrem zum Affen gemacht.

Wir lieferten uns einen Wettstreit, wer zuerst blinzeln oder wegsehen musste.

«Ich will diesen Wolf», wiederholte Sergio. «Hier.»

«Tja, dein Pech», sagte ich. «Such dir was anderes aus.»

Wir redeten beide recht leise, damit uns keiner verstehen konnte, aber ich spürte, dass gleich mehrere seiner zwielichtigen Kameraden uns im Auge behielten.

Sergio starrte mich immer noch an.

Ich starrte zurück.

Mir brannten schon die Augen, und ich befürchtete, dass sie gleich tränen würden, wenn ich nicht schnell zwinkern konnte. Zum Glück kam in dem Augenblick der Rektor mit einer Tasse Kaffee für die Mathelehrerin herein.

«Glückwunsch, Leute, das habt ihr ja fein hingekriegt!», polterte er. «Frau de Wit ist gerade erst wieder an der Schule, nachdem sie sich wochenlang um ihren sterbenden Vater und ihre demenzkranke Mutter gekümmert hat. Also ich glaube, wenn ihr so weitermacht, schafft ihr es in kürzester Zeit, dass sie sich krankschreiben lassen muss.»

Mittlerweile war die Mathelehrerin in Begleitung desselben Mädchens entschwunden, das den Rektor alarmiert hatte. «Aber Herr Rektor, diesmal war es wirklich halb so schlimm», versuchte Nadia, die sich selbst nicht an dem Tumult beteiligt hatte, ihre Klassenkameraden zu verteidigen. «Sie haben sofort aufgehört, als Frau de Wit zu heulen anfing.»

«Nadia», unterbrach sie der Rektor, «ich will kein Wort mehr darüber hören.»

Mir gefällt der Rektor. Er mag auch keine Schleimer.

Zu Hause blätterte ich mein Skizzenheft durch, um zu sehen, was Sergio alles mit seinen fiesen Pranken betatscht hatte.

Ich kam mir vor wie in diesem Albtraum, in dem ich mit nacktem Hintern über die Straße laufe und unser Haus nicht finden kann.

Bestimmt hat er manche Sachen fotografiert und verbreitet die jetzt unter seinen Höhlenmenschenfreunden und dem Rest meiner Klassenkameraden.

Mit den entsprechenden tödlichen Kommentaren.

Scheiße noch mal. In der Schule kann ich mich nicht mehr blicken lassen.

Joshua steht auf kleine Ziegen. Joshua ist ein Ziegenficker.

Das mit den Ziegen kann ich erklären.

Zivan! Wieso reagierst du nicht???

3

Diese blauen Scheißhäkchen bei WhatsApp schalte ich manchmal ab, wenn ich es nicht mehr ertrage, die ganze Zeit kontrollieren zu müssen, ob Zivan meine Nachrichten gelesen hat.

Ich brauche es nicht zu wissen. Dass sie sie nicht liest. Fuck.

Zivan!!!

Es macht mich ganz verrückt, wenn du mich ignorierst!!!

Was ist los???

Sag etwas!!!

4

«Hey, Rembrandt!» Ein Klaps gegen meinen Hinterkopf. «Ich will immer noch diesen Wolf.»

Der Fahrradstellplatz unterhalb des Schulgebäudes.

Kein einziger Erwachsener in der Nähe.

Wahrscheinlich hast du ihn längst, denke ich. Auf deinem linken Arm. Ein Handyfoto gemacht, dann zum Tattoo-Shop und das Foto gezeigt, nichts mehr zu ändern.

Nachher beim Sport mal kurz nachschauen.

Sergio starrt mich ganz lange an.

Seine Kumpels haben sich um uns gestellt und machen den Kreis immer kleiner.

Mir wird mulmig.

Nichts anmerken lassen.

Unhörbar ausatmen und nicht mit den Augen blinzeln.

«Du kannst es noch hundertmal sagen, aber meine Antwort bleibt dieselbe», sage ich.

«Und die ist?»

«Nein.»

«Warum nicht?»

«Das weißt du schon. Such dir was anderes aus.»

Dylan drückt sich schon unangenehm gegen mich. Ich muss mich anspannen, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. «Abzischen!», schnauzt Sergio plötzlich.

Ich glaube, er meint mich, und ich unternehme einen Versuch, mich umzudrehen, aber seine Leibwächter sind gemeint.

Einer nach dem anderen schleichen sie sich.

«Sonst das hier.» Er zeigt mir ein Foto.

Ich wusste es.

Mein gesamtes Skizzenheft befindet sich vollständig auf seinem iPhone.

«Das geht auch nicht.»

«Warum nicht?»

«Es geht nicht. Ich erkläre es dir irgendwann mal. Such dir was anderes aus.»

Er schaut mich an, als wollte er mir gleich eine aufs Maul geben.

«Hast du noch mehr von den Heftchen?»

«Ja.»

Natürlich habe ich noch mehr von den Heftchen.

«Darf ich sie sehen?»

«Geht nicht. Die liegen zu Hause.» Scheiße, das ist mir einfach rausgerutscht. Erst nachdenken, bevor du was sagst, Trottel! Demnächst steht er mit seiner gesamten Bande vor der Tür …

«Wo wohnst du noch mal?»

Na bitte. Da hast du den Salat.

Im selben Dorf wie er. Wohne ich. Leider.

«Neben der Kirche.»

«Ich komme am Nachmittag vorbei.»

Ach du Scheiße.

5

Wieso stelle ich mich eigentlich so an.

Das kann man sich natürlich auch fragen.

Warum gebe ich Sergio nicht einfach, was er will, dann bin ich ihn los.

Seine Jünger, diese jämmerlichen Mitläufer, die ihn fortwährend wie ein Bienenschwarm umgeben, rennen mich so oft sie können beim Basketball über den Haufen. Als würden sie Rugby spielen. Und sobald sich die Möglichkeit ergibt, knallen sie mir diesen knallharten Scheißball an den Kopf, sogar die aus demselben Team wie ich. Und der Sportlehrer tut, als würde er es nicht bemerken. Fuck.

Das bin ich. Noch mal zu dem Wolf. Du lieber Himmel.

Geht’s noch kindischer? Was macht es denn schon? Ein Wolf ist ein Wolf. Jeder kann einen Wolf zeichnen. Und jeder hat einen Wolf auf dem Arm, so was Besonderes ist das nicht. Aber warum muss er dann unbedingt meinen haben? Was soll das?

Sicher ein Machtspielchen.

Er will etwas haben, das ich ihm nicht geben will. Wodurch es für ihn nur noch begehrenswerter wird.

Übrigens ist Sergio schon übersät mit Tattoos. Ausschließlich auf seinem Rücken; bestimmt hat das einen Grund. Und dem Anschein nach keine Tiere, auch wenn ich in der Umkleide nicht die Gelegenheit habe, seinen Perserteppich bis in alle Einzelheiten zu studieren.

6

Es klingelt.

Shit.

Das werden sie sein.

Pa ist nicht zu Hause.

Ich kann mich auch verstecken. Einfach nicht aufmachen.

Nicht, dass mir das helfen wird.

Stehen sie morgen wieder vor meiner Tür.

Es ist Sergio. Allein, ohne seinen Clan.

Sieht eigenartig aus, Sergio ohne Leibwächter. Aber es ist ein gutes Zeichen, denke ich. Hoffe ich. Wäre er mit der Absicht hierhergekommen, mich zusammenzuschlagen, dann hätte er sicher seine Handlanger mitgebracht, damit sie ihn filmten. Denn warum sollte man jemanden zusammenschlagen, wenn kein Publikum dabei ist und man es nicht auf YouTube hochladen kann? Mir scheint, das macht keinen Sinn. «Rembrandt!» Ein knallharter Stoß gegen meinen Arm.

Ungefragt folgt er mir in den Flur.

«Immer hereinspaziert», murmele ich nicht ohne Sarkasmus.

«Ich wollte mir doch deine Zeichnungen anschauen! Oder meinst du, ich sollte das draußen im Regen tun?»

Im Wohnzimmer deute ich auf den Tisch, auf dem ich ein paar meiner Skizzenhefte bereitgelegt habe.

Natürlich nicht die Aktzeichnungen.

Sergio nimmt Platz und blättert durch das erste Heft.

Zum Glück hat er keine schmutzigen Finger. Na ja, bestimmt hat er die, aber sagen wir mal, sie färben nicht ab. Es klebt kein Motoröl dran oder so. Oder Schafskacke.

Und er schlägt die Seiten behutsam um.

Nicht wie man es von einem wie Sergio erwarten würde.

Von einem, der seinen Freunden täglich zur Begrüßung die Schulter auskugelt, erwartet man nicht, dass er Heftseiten umschlagen kann, ohne ihnen ernsthaften Schaden zuzufügen. Aber er kann es.

Und er tut es auch. Vorsichtig und mit Bedacht.

Er betrachtet meine Zeichnungen sehr gewissenhaft.

Sergio hat Ahnung davon, soweit man das bei Zeichnungen sagen kann. Das merke ich, weil er ab und zu auf etwas zeigt, und das ist dann immer die gelungenste Version einer Serie oder ein zufällig gut gelungener Aquarellversuch.

«Ist das hier Wasserfarbe?»

«Ja.»

«Und das da?»

«Holzkohle.»

«Schön.»

«Danke.»

Man glaubt es nicht.

Dass ein Hells Angel wie Sergio was von meinen Zeichnungen versteht.

Das Merkwürdige ist, dass mir innerlich auf einmal ganz warm wird.

Froh eigentlich, um ehrlich zu sein.

Verrückt.

Als bekäme ich Komplimente von einem bedeutenden Kunstrezensenten. Oder von sonst jemand ganz Wichtigem für mich; ich wüsste gar nicht, wer. Aber das hier ist Sergio! Zukünftiger Käfigkämpfer. Oder Drogendealer. Oder Cyberkrimineller.

Offenbar kann Sergio Gedanken lesen. Plötzlich erhebt er sich und baut sich mit einem drohenden Blick in den Augen vor mir auf. Tut mir leid!, sage ich in Gedanken. Das mit dem Drogendealer. Oder dem Cyberkriminellen, ich weiß nicht, was für ihn schlimmer ist, vielleicht ja der Käfigkämpfer. Ist das eine Beleidigung für einen Kickboxer? Das mit dem Käfigkämpfer tut mir leid, Sergio! Ich werde dich in Zukunft nie mehr mit meinen Gedanken verletzen.

Dann zieht er plötzlich sein Shirt über den Kopf und zeigt mir seinen Rücken: ein einziges großes, buntes Gemälde, bestehend aus verschiedenen Elementen, deren Zusammenhang ich nicht unmittelbar entdecke.

«Schön», sage ich.

Ich meine es ernst. Es ist wirklich schön. «Worum geht es da?»

Sergio antwortet mir nicht sofort. Offenbar will er, dass ich es mir länger anschaue.

Gern würde ich es abfotografieren, aber ich traue mich nicht. «Um die Familiengeschichte meiner Mutter und meiner Oma.» Aha.

Die Mutter ist wahrscheinlich auch bei den Hells Angels. Sie ist bewaffnet und gefährlich und wurde gerade zu einer gemeinnützigen Arbeit beim Gartenbauamt verdonnert. Oma hat sich eine ganz üble Krankheit zusammengeraucht, ich sehe eine Schachtel Zigaretten und einen Totenkopf. Und eine Fregatte. Oma war eine olle Fregatte. Oder sie hat sich immer Verrückt nach Meer angeschaut.

Sergio lässt sein Shirt wieder sinken und dreht sich zu mir um. «Ich suche was Besonderes», sagt er. «Ich möchte nicht bloß irgendwas auf dem Arm.»

Nein, tatsächlich.

Was Besonderes.

«Nicht bloß irgendwas.» Ich nicke brav mit dem Kopf. Ja, Sergio, ich verstehe dich. Du bist speziell und willst demnach auch was Spezielles.

Bisschen Vorsicht, er kann Gedanken lesen.

«Also nicht, dass die dösige Josée aus der Imbissbude plötzlich mit demselben Tattoo wie du auf dem Hintern herumläuft», sage ich.

«Oder Nadia.»

«Oder irgendein Schwuler.» Ich schaue ihn unverwandt an, ohne zu blinzeln.

Sergio schweigt.

Er setzt sich wieder an den Tisch und vertieft sich weiter in die Skizzenhefte.

«Es muss etwas sein, das zu mir passt. Und zwar nur zu mir», sagt er schließlich.

«Dann müsste ich es eigens für dich entwerfen. Dann ist es ein Auftrag. Und das kostet.»

Das Letzte war ein Versuch. Mir ist schon klar, dass ich mit Sergio hier vor meiner Nase den Göttern ausgeliefert bin. Dass er durchaus Mittel und Wege kennt, das zu bekommen, was er haben will. Und zwar ganz ohne eigene Kosten.

«Kein Problem.»

Wieder blättert er durch mein blaues Heft.

«Das Heft hier finde ich wirklich sehr schön», sagt er. «Aber warst du stoned oder was, als du es gemacht hast?»

Stoned …?

So könnte man es vielleicht nennen, denke ich verwundert.

Stoned

benebelt

unter Einfluss,

als ich in das blaue Heft gezeichnet habe.

Sergio kennt sich wirklich gut aus.

«Ja, so eins will ich», sagt er.

Eins aus dem blauen Heft, das kann er vergessen. Das weiß ich sicher. Aber ich behalte es noch eine Weile für mich.

Als ich ihn zu seinem Roller begleite, sagt er zum Abschied: «Ich habe nichts gegen Homos, weißt du.»

«Ich habe nichts gegen Heteros, weißt du», erwidere ich.

Im Nachhinein find ich es echt lustig, dass ich das gesagt habe.

Und auch etwas riskant. Denn die Leibwächter haben mit Sicherheit «was gegen Schwule».

7DAS BLAUE HEFT

Als Zivan vor anderthalb Jahren mit ihren Eltern in den Irak zog, habe ich das hier gezeichnet:

Jeden Tag.

So an die dreißig Mal.

Ich hatte alle Hände voll damit zu tun.

Herr van Alten, der Zeichenlehrer in der Orientierungsstufe, hatte meine Eltern eingeladen. Aber die wollten nicht zusammen kommen. Darum zeigte er Kato meine Zeichnungen.

Kato – genannt Kaat – ist meine Schwester. Sie ist sechseinhalb Jahre älter als ich und holt mich manchmal mit ihrem Roller von der Schule ab.

Kaat sagte: «Ja, ich weiß. Er hat Kummer.»

Van Alten meinte zu wissen, woher mein Kummer kam. Er dachte, es käme durch die Trennung. Womit er nicht die zwischen mir und Zivan meinte, sondern die Scheidung meiner Eltern.

Van Alten lag falsch.

Ich war völlig okay mit der Scheidung.

Mehr als okay.

Heilfroh war ich, als meine Mutter ging. Konnte mir gerade noch den Jubelruf beim Abschied verkneifen. Ich habe sie ein letztes Mal gedrückt und ihr einen sanften, aber gebieterischen Schubs in den Rücken gegeben. Jetzt geh schon, Ma. Bloß kein unnötiges Hinauszögern.

Und die Tränen behalt bitte für dich.

Meine Mutter ist ein ziemlich rastloser Typ. Eine, bei der man nie weiß, was jetzt wieder kommt. Die einen nervös macht. Erst dies und dann wieder das. Streit mit der einen, Probleme mit dem anderen. Alles, was sie stört, gleich ein Dutzend Mal hintereinander und mit dutzendmal denselben heftigen Emotionen raushauen. Aus vollem Hals schreien, wenn sie böse ist, aus vollem Hals lachen, wenn sie etwas lustig findet.

Echt. Die Leute werden ganz schnell kirre von meiner Mutter. Mit ihr in der Nähe muss man sich vor Gehörschäden im Acht nehmen.

Als sie sich in die «Liebe ihres Lebens» verliebte und uns deswegen verlassen musste («Ich kann nicht anders! Es ist eine Kraft stärker als ich. Es hat nichts mit meiner Liebe für euch zu tun, aber meine Liebe für IHN ist allesversengend. Ich gehe vor die Hunde, wenn ich dem jetzt nicht nachgebe!»), sagte ich darum:

«Ma, mach einfach dein Ding, aber mach nicht so viele Worte draus. Die Koffer packen und abziehen, wie schwer kann das sein?»

Nein, das habe ich nicht gesagt.

Aber gedacht. In vergleichbaren Begriffen. (Ich war erst zehn.)

Meine Schwester ist übrigens genauso. Raubt einem auch den letzten Nerv. Sie redet die ganze Zeit. Und sie wippt mit dem Fuß. Und wenn sie nicht redet, dann pfeift sie. Auch wenn sie fröhlich ist.

(Ist sie fast immer.)

Eine herrliche Ruhe also, als meine Mutter ging und Kato mitnahm.

Das sagte ich anfangs auch oft zu meinem Vater, wenn wir abends nach dem Essen zu zweit auf der Couch saßen.

«Eine herrliche Ruhe, was, Pa?»

Und dann antwortete mein Vater: «Doch, herrlich, mein Junge.» Dann schien es wirklich, als ob alles gut wäre.

Zur Sicherheit fragte ich es noch einige Male.

«Eine herrliche Ruhe, Pa?»

«Ja, mein Lieber. Herrlich.»

Und dann wieder eine ganze Zeit nichts.

Gemütlich zeichnen und dem Vogelgezwitscher lauschen.

Bis ich mir nach einer Weile doch ein wenig Sorgen machte. Papa las nicht in der Zeitung, die aufgeschlagen auf seinem Schoß lag. Und er lächelte auch nicht mehr. Er starrte bloß vor sich hin.

«Noch immer alles gut, Pa?»

«Aber ja doch.»

«Vermisst du Kaat?»

«Nein, Joshua.»

«Und es macht dir nichts aus, dass sie bei Mama und Leo wohnt?»

«Kaat darf wohnen, wo sie will. Ich hoffe, dass sie glücklich ist.»

«Dann ist ja alles okay, Pa.»

«Na klar.»

«Du hast ja immer noch mich.»

«So ist es.»

Mein Vater sagt, ein derartiges Gespräch hätten wir jeden Abend geführt.

Aber gut.

Der hier kann also auch nicht auf Sergios linke Schulter.

Allein schon, weil ich es mir nicht anschauen kann, ohne das Gefühl zu bekommen, in die beschissene Zeit zurückkatapultiert zu werden, als Zivan in den Irak emigrierte, das Geburtsland ihrer Eltern.

8

Halb drei mitten in der Nacht.

Ich habe sie vorübergehend wieder eingeschaltet, die blauen Häkchen.

Noch immer hat Zivan meine Nachrichten nicht gelesen.

Falls sie mir irgendwann einmal antwortet, dann werde ich sie ebenfalls zwei Wochen lang ignorieren.

Zur Hölle auch.

Schon einige Male habe ich gesehen, dass sie doch online war. Erst gestern Abend noch. Drei Mal, zuletzt um halb eins. Erst bin ich erschrocken und fühlte mich ertappt. Wieso ertappt, dachte ich dann. Sie sitzt vermutlich nicht da und checkt, ob ich zufällig auch online bin, so wie ich bei ihr. Danach musste ich mich ziemlich zusammenreißen, sie nicht zu stalken.

Sowieso bekomme ich jedes Mal fast eine Herzinfarkt, wenn ich Zivans Profilfoto sehe. Gott, wie hübsch sie auf dem Foto ist.

Kannst du dir nicht ein etwas neutraleres Profilfoto zulegen? Eins, auf dem du etwas hässlicher bist?

Oder nicht wiederzuerkennen? Mit einem Nikab oder einer Biwakmütze oder so.

Das würde deinen geistig minderbemittelten Vater doch auch freuen, oder?

Das entferne ich lieber sofort.

NACHRICHT ENTFERNEN?

Ja doch.

FÜR ALLE ENTFERNEN.

Und dass es dann unsichtbar ist, bitte. Für alle. Und dass Zivan keine Meldung über eine von mir entfernte Nachricht bekommt!!!

Aber die bekommt sie doch. DIESE NACHRICHT WURDE ENTFERNT, bekommt sie. Mit so einem Parkverbotsschild davor. Ach, wen juckt’s.

Vielleicht wäre das ein guter Trick. Schicke ihr jeden Tag eine sofort wieder entfernte Nachricht. Vielleicht wird sie dann einmal neugierig, was ich zu berichten habe.

Zivan, du dumme Kuh! Rutsch mir den Buckel runter!

FÜR ALLE ENTFERNEN

So. Das sind für heute schon zwei.

Bin gespannt.

9

«Hey, Rembrandt!»

«Ah, Badr!»

Bisschen gefährlich. Aber es nervt mich, dass er mich immer Rembrandt nennt. Besonders wenn seine Kameraden dabei sind.

«Was sagst du da zu Sergio?» Dylan, der Hauptkumpel mit dem Körper eines aufgepumpten Gorillas, fasst mich grob am Arm. Nur mal zeigen, wer hier der Boss ist. Dem großen Boss, denn natürlich will er bloß Sergio seinen Respekt bezeugen. Und ausatmen.

«Hey Badr, habe ich gesagt.» Ich reiße meinen Arm los.

Einfach anschauen. Gerade stehen. So tun, als hätte man keine Angst, dann hat man auch keine.

«Was für’n Badder?», fragt Dylan.

Was für eine fiese Visage. Echt heftig, was der für einen Blick drauf hat.

«Das darfst du dir ausdenken.»

«Er heißt Sergio.»

«Ich heiße Joshua.»

«Und ist Kickboxer.»

«Eben drum.»

Dylan versucht, seinen wütenden Blick durch mich hindurch zu lasern. Seine Stirn berührt schon fast meine.

«Du willst mich doch wohl nicht küssen, oder?», frage ich. Ausgesprochen witzig.

Das kostet mich fast mein linkes Auge. Beim nächsten Mal etwas weniger cool tun, die Augen kann ich für den Rest meines Lebens noch gut gebrauchen.

Sergio reißt seinen tapferen Knecht von mir los und schiebt ihn weg.

«Zieh Leine, Dylan.»

Und zu mir:

«Du solltest ihn nicht reizen, du Idiot. Der Typ ist verflucht stark.»

Das habe ich zu spüren bekommen.

Und spüre es ehrlich gesagt noch; Dylans Schlag wummert immer noch nach. Etwas rinnt mir über die Lippen, das nach Eisen schmeckt; ich tue, als würde ich es nicht bemerken. So lässig wie möglich gehe ich in Richtung Fahrradstellplatz. Mit meinem unversehrten Auge sehe ich, dass Sergio neben mir her geht. Darauf habe ich jetzt nicht gewartet, Sergio! Muss mich kurz um meine blutende Nase kümmern, und zwar ohne dich als Zuschauer.

Heute liest Sergio keine Gedanken.

Beim Fahrradstellplatz drücke ich mir die Nase zu und lehne den Kopf zurück.