Ohne ein letztes Wort - Harlan Coben - E-Book

Ohne ein letztes Wort E-Book

Harlan Coben

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Beschreibung

Eine mutige Chirurgin, ein mysteriöser Auftrag und eine tödliche Verschwörung - Nr. 1-SPIEGEL-Bestsellerautor Harlan Coben und Oscar-Preisträgerin Reese Witherspoon mit ihrem ersten gemeinsamen Thriller!

Maggie McCabe, brillante und aufopferungsvolle Chirurgin bei der Army, kennt das Leben am Abgrund. Doch als sie nach einer Reihe von Schicksalsschlägen ihre ärztliche Zulassung verliert, ist sie an ihrem Tiefpunkt angekommen. Deshalb zögert sie nur kurz, das mysteriöse Angebot eines ehemaligen Kollegen anzunehmen. Er ist ein Star unter den plastischen Chirurgen; seine einflussreichen Klienten verlangen die beste Behandlung und absolute Diskretion. Auf einem entlegenen Luxusanwesen fordert ein geheimnisvoller und mächtiger Mann eine unkonventionelle Behandlung. Nur eine Handvoll Chirurgen ist qualifiziert für diesen Auftrag – Maggie ist eine davon. Sie begibt sich in eine Welt voll unermesslichem Reichtum und erfüllt ihren Teil der Vereinbarung. Doch dann verschwindet ihr Patient spurlos. Maggie bemerkt zu spät, dass sie Teil einer perfiden Verschwörung ist, die nicht nur die Kreise der internationalen Elite erschüttert, sondern auch tief in Maggies eigene Vergangenheit zurückreicht.

»Harlan Coben und Reese Witherspoon sind ein Dream-Team, das niemand hat kommen sehen, aber für das jeder Thriller-Fan dankbar sein wird.« The Real Book Spy
»Es ist der Krimi-Coup des Jahres.« STERN CRIME

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 466

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Buch

Maggie McCabe, brillante und aufopferungsvolle Chirurgin bei der Army, kennt das Leben am Abgrund. Doch als sie nach einer Reihe von Schicksalsschlägen ihre ärztliche Zulassung verliert, ist sie an ihrem Tiefpunkt angekommen. Deshalb zögert sie nur kurz, das mysteriöse Angebot eines ehemaligen Kollegen anzunehmen. Er ist ein Star unter den plastischen Chirurgen; seine einflussreichen Klienten verlangen die beste Behandlung und absolute Diskretion. Auf einem entlegenen Luxusanwesen fordert ein geheimnisvoller und mächtiger Mann eine unkonventionelle Behandlung. Nur eine Handvoll Chirurgen ist qualifiziert für diesen Auftrag – Maggie ist eine davon. Sie begibt sich in eine Welt voll unermesslichem Reichtum und erfüllt ihren Teil der Vereinbarung. Doch dann verschwindet ihr Patient spurlos. Maggie bemerkt zu spät, dass sie Teil einer perfiden Verschwörung ist, die nicht nur die Kreise der internationalen Elite erschüttert, sondern auch tief in Maggies eigene Vergangenheit zurückreicht.

Weitere Informationen zu Reese Witherspoon und Harlan Coben sowie zu lieferbaren Titeln von Harlan Coben finden Sie am Ende des Buches.

Harlan Coben & Reese Witherspoon

Ohne ein letztes Wort

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Gunnar Kwisinski, Friedo Leschke, Charlotte Breuer, Kristian Lutze, Thomas Bauer

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2025 unter dem Titel »Gone Before Goodbye« bei Grand Central Publishing, New York / Boston.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstveröffentlichung Oktober 2025

Copyright © 2025 by Harlan Coben & Reese Witherspoon

Copyright © dieser Ausgabe 2025

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: UNO Werbeagentur nach einer Vorlage von Alan Dingman und Albert Tang unter Verwendung von Bildmaterial von Shutterstock /saicle und iStock /undergroundw

Redaktion: Anja Lademacher

ES · Herstellung: ik

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-33400-0V001

www.goldmann-verlag.de

Für die vielen Militärärzte, Militärärztinnen, Krankenschwestern und Krankenpfleger, die sich in Gefahr begeben, um so viele Leben wie möglich zu retten.

Danke für diesen Mut und das große Mitgefühl.

TriPoint-Flüchtlingscamp, Nordafrika

Ich höre den Schrei nicht.

Die Krankenschwester hört ihn. Der Narkosearzt auch. Ich bin zu tief im Tunnel, so tief, wie ich es nur bin, wenn ich in einem Operationssaal stehe, so wie jetzt, nachdem ich das Sternum aufgesägt und meine Hände in den Brustkorb des Jungen gesenkt habe.

Dies ist mein Heim, mein Büro, meine Zuflucht. Hier bin ich Zen.

Weitere Schreie. Schüsse. Hubschrauberrotoren. Eine Explosion.

»Doktor?«

Ich höre die Panik in ihrer Stimme. Ich rühre mich nicht. Ich wende den Blick nicht ab. Meine Hände, die ältesten medizinischen Instrumente, die der Mensch kennt, stecken in der Brusthöhle, mein Zeigefinger tastet den Herzbeutel ab. Ich konzentriere mich darauf. Nur darauf. Es läuft keine Musik. Mir ist klar, dass das in Operationssälen heutzutage ungewöhnlich ist, aber ich genieße die Stille an diesem heiligen Ort, selbst wenn wir für eine Herztransplantation acht Stunden brauchen. Mein Team nervt das. Sie brauchen die Ablenkung, die Unterhaltung, die Zerstreuung – und genau damit habe ich ein Problem. Ich will keine Zerstreuung. Meine Glückseligkeit und meine Brillanz beruhen ganz auf der Konzentration auf das vor mir liegende Problem.

Aber die Geräusche stören mich.

Schnellfeuersalven. Noch eine Explosion. Die Schreie werden lauter.

Sie kommen näher.

»Doktor?« Die Stimme zittert jetzt, wird panisch. Und dann, weil ich offenbar nicht zuhöre: »Marc?«

»Wir können es nicht ändern«, sage ich.

Das beruhigt sie nicht.

Trace und ich sind vor acht Tagen in Ghadames angekommen. Eine junge Frau, die sich Trace und mir als Salima vorgestellt hat – wenn das denn ihr richtiger Name ist –, und ein korpulenter Fahrer, der namenlos blieb und kein Wort sagte, haben uns am Diori Hamani Airport in Niamey abgeholt. Zu viert sind wir zwei lange Tage in Richtung Nordosten gefahren, haben eine Nacht in einem Safe House in der Nähe von Agadez und die zweite in Zelten unter dem Sternenhimmel in Bilma verbracht. Dann ließen wir den Fahrer im Norden von Niger zurück, fuhren nachts weiter durch die Wüste und stiegen dann in ein anderes Fahrzeug um.

Salima und Trace haben nur Augen füreinander. Das überrascht mich nicht. Trace ist der Inbegriff eines Womanizers. Selbst wenn er vom Tod umgeben ist – oder vielleicht genau deshalb.

Wenn man dem Tod nahe ist, fühlt man sich am lebendigsten.

Salima brachte uns weiter nach Norden, an der Grenze zwischen Algerien und Libyen entlang. Östlich von Djanet wurden wir von einem halben Dutzend schwer bewaffneter Milizionäre gestoppt. Sie waren jung, vermutlich Teenager, und von irgendeiner starken Droge aufgeputscht. Sogenannte Kindersoldaten. Gewalt lag in der Luft. Mit weit aufgerissenen Augen packten sie erst mich, dann Trace. Die jungen Milizionäre zwangen mich auf die Knie.

Hielten mir ein Gewehr an den Hinterkopf.

Ich würde als Erster sterben. Trace würde dabei zusehen. Dann wäre er an der Reihe.

Ich schloss die Augen, stellte mir Maggies Gesicht vor und wartete, dass jemand abdrückte.

Die Kindersoldaten erschossen uns nicht – offensichtlich. Salima, die mindestens vier Sprachen fließend spricht, sank auf die Knie und redete schnell. Ich weiß nicht, was sie gesagt hat – sie hat es uns nicht erzählt –, aber die Kindersoldaten fuhren davon.

Mehr Schreie. Mehr Schüsse. Noch näher. Ich versuche, mich zu beeilen.

Ich habe Maggie nicht erzählt, wie gefährlich diese letzte Mission ist, auf so vielen Ebenen – nicht, weil ich fürchtete, dass sie sich Sorgen machen würde, sondern wegen unseres Versprechens. Sie hätte darauf bestanden mitzukommen.

So sind wir beide.

Sie fragen sich, was einen Helden ausmacht? Natürlich spielt die Selbstlosigkeit eine Rolle. Aber dazu kommen eben auch ein großes Ego, Leichtsinn und Abenteuerlust.

Wir haben keine Angst vor der Gefahr. Wir haben Angst vor der Normalität.

Trace schiebt seinen Kopf in mein Blickfeld, er trägt eine chirurgische Maske. »Marc?«

»Wie viel Zeit haben wir noch?«

»Sie haben die Nordseite des Camps niedergebrannt. Dutzende sind schon tot. Salima schickt alle weg.«

Ich sehe die Krankenschwester und den Narkosearzt an. »Geht«, sage ich zu ihnen.

»Sie können ihn nicht retten«, sagt die Schwester, als sie einen Schritt zurücktritt. »Selbst wenn Sie rechtzeitig fertig werden, selbst wenn er die Operation irgendwie überlebt, werden die ihn umbringen.«

Ich weiß nicht, wer »die« sind. Ich kenne die Rechtfertigungen, die Entstehung, die Historie, die Lager, die Stämme, die Warlords, die Fanatiker, die Extremisten und die Unschuldigen nicht. Ich weiß nicht, wer die Guten und wer die Bösen sind, warum diese Menschen hier in diesem Flüchtlingslager sind, wer die Unterdrücker und wer die Unterdrückten sind. Es ist nicht so, dass ich unpolitisch wäre, aber für Maggie, Trace und mich darf das alles keine Rolle spielen.

Ich arbeite weiter an meinem Patienten, einem fünfzehnjährigen Jungen namens Izil. Ich hoffe, dass alle, die ich behandle, unschuldig sind – bezweifle es allerdings. Aber es kann einfach nicht unsere Aufgabe sein herauszufinden, wer auf welcher Seite steht. Unsere Aufgabe ist es – um nicht zu großspurig zu klingen –, ihre Leben zu retten. Die Leute sagen: »Bringt sie alle um und überlasst es Gott, sie auszusortieren.« Für uns gilt so ziemlich das Gegenteil, wir wollen alle retten und überlassen es Gott … Sie verstehen schon.

Ich stehe nicht auf »beiden Seiten«. Ich stehe auf »keiner Seite«.

»Verschwinden Sie«, sage ich. »Alle raus hier.«

»Marc?«, sagt Trace.

Wir sehen uns über die chirurgischen Masken hinweg an. Wir kennen uns schon lange. Wir haben unsere Assistenzarztzeit zusammen verbracht. Wir haben rund um die Welt in humanitären Krisen wie diesen medizinische Hilfe geleistet. Er ist einer der besten Herz-Lungen-Chirurgen der Welt.

Er sagt: »Ich kann dir hier helfen.«

»Ich schaff das.«

»Wir warten.«

Ich schüttele den Kopf, aber er weiß Bescheid.

»Lass mir einen Krankenwagen da«, sage ich. »Auf einen Krankenwagen werden sie nicht schießen.«

Wir wissen beide, dass das nicht mehr stimmt. In der Welt von heute nicht mehr.

Wir hätten nicht herkommen sollen. Ich hätte es nicht zulassen dürfen. Ich hätte mich ums Geschäft kümmern, mich verabschieden und nach Hause fliegen müssen.

Ich müsste bei Maggie sein.

Ich verabschiede mich nicht von Trace. Er verabschiedet sich nicht von mir.

Aber es ist das letzte Mal, dass ich ihn sehe.

Ein paar Sekunden später bin ich mit Izil allein im Raum. Ich beeile mich, in der naiven Hoffnung, dass ich es schaffen könnte. Als die Tür auffliegt, bin ich gerade dabei, die Brust des Jungen wieder zuzumachen.

Bewaffnete Milizionäre stürmen herein. Ich weiß nicht, wie viele. Alle haben diesen irren Blick. Ich kenne diesen Blick. Habe ihn schon viel zu oft gesehen. Erst vor ein paar Tagen in Djanet.

Und manchmal sehe ich ihn, wenn ich in den Spiegel blicke.

Ich schließe die Augen, stelle mir Maggies Gesicht vor und warte, dass jemand abdrückt.

Eins Baltimore

Ein Jahr später

Maggie McCabe hätte nicht hierherkommen sollen.

»Wo bist du gerade?«, fragt Marc.

Maggie betrachtet das Gesicht ihres Mannes auf dem Handydisplay. »Hab ich dir doch schon gesagt.«

»An der Johns Hopkins University.«

»Ja.«

»Auf dem Wyman Quad?«

»Ja.«

»Da, wo wir uns das erste Mal begegnet sind«, sagt er. »Während der Orientierungswoche an der medizinischen Fakultät. Erinnerst du dich?«

»Natürlich erinnere ich mich«, sagt Maggie.

»Als ich dich gesehen habe, wusste ich sofort, dass du die Richtige bist.«

»Mach mal halblang.«

»Ich versuche, dich aufzumuntern.«

»Das wird so nichts.«

»Und was machst du gerade?«

Maggie denkt zurück an ihren ersten Besuch auf dem Campus, blauäugig und unbedarft, voller Hoffnung und Optimismus, mit Schwung und Elan, oder wie man das sonst noch ausdrückt. Wie naiv von ihr. Doch andererseits, wenn deine Welt zusammenbricht, wenn du alles hattest und dir das auch bewusst war, du das zu schätzen wusstest und es nicht eine Sekunde lang für selbstverständlich gehalten hast, weil dir klar war, dass du einfach riesiges Glück hattest, in deiner Naivität aber irgendwie erwartet hast, dass das Karma dich für diese Dankbarkeit belohnt oder dich zumindest in Frieden lässt, musst du plötzlich auf die härteste Tour lernen, dass das Schicksal wankelmütig und das Leben chaotisch ist, und dass niemand ungeschoren davonkommt. Dass du in einem Augenblick alles haben kannst, was du dir wünschst, und es dir im nächsten ohne Weiteres wieder entrissen werden kann.

»Ich versinke gerade in Selbstmitleid«, sagt sie.

»Hör auf damit. Geh rein.«

»Ich will zurück nach Hause.«

Marc runzelt die Stirn. »Tu das nicht.«

»Ich bin noch nicht bereit.«

»Doch, das bist du. Bitte. Ich möchte, dass du hineingehst. Tu es für mich.«

»Echt jetzt?«

Sie blickt hinauf zur weißen Kuppel auf der Shriver Hall und blinzelt eine Träne weg. Vor einer Stunde hat sie widerwillig ein langärmeliges, wadenlanges Kleid angezogen, es ist dunkelblau. Nicht schwarz. Das wäre zu morbid. Dunkelblau erschien ihr angemessen – passend zum Anlass, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Denn sie würde heute Abend lieber im Boden versinken, als irgendwie aufzufallen.

»Maggie?«

»Ja?«

»Geh rein. Es würde mir viel bedeuten. Und deiner Mutter auch.«

»Wow«, sagt Maggie.

»Was ist?«

»So sentimental und manipulativ bist du früher nicht gewesen.«

»Natürlich war ich das«, sagt Marc.

Leise sagt sie: »Natürlich warst du das.« Dann: »Und das nervt.«

»Was?«

»Nichts, vergiss es.«

Vor zweiundzwanzig Jahren hat Maggie an dieser hoch angesehenen Universität ihr Medizinstudium abgeschlossen mit sämtlichen Auszeichnungen, die man bekommen konnte. Für ihre Ausbildung zur Fachärztin für Chirurgie ist sie dann ans NewYork-Presbyterian Hospital gegangen, eine renommierte plastische Chirurgin geworden und hat ihrem Land im Fronteinsatz in Afghanistan und im Nahen Osten als Field Surgeon 62B gedient. Dann heiratete sie Marc und zog mit ihm ins Ausland, um die Ärmsten der Armen zu heilen.

Marcs Stimme aus dem Handy: »Hallo?«

»Sie werden mich anstarren.«

»Natürlich werden sie dich anstarren. Du bist ein total heißer Feger.«

Maggie runzelt die Stirn. Manche Dinge ändern sich nie.

»Geh rein«, wiederholt er.

Sie nickt, weil er recht hat, und schließt die App. Auf ihrer Handyhülle sind zwei M&M-Figuren zu sehen, der gelbe M&M-Mann überreicht der grünen M&M-Frau einen Blumenstrauß. Marc hat ihr die Hülle geschenkt, halb im Ernst, halb im Scherz. Maggie & Marc. M&M. Marc kaufte auch M&M-Kissenbezüge. Er kaufte M&M-Wurfkissen. Marc fand es bezaubernd. Sie fand es peinlich, was ihn natürlich nur noch mehr anstachelte.

»Maggie?«

Sie erschrickt, als sie die Stimme hört, und lässt ihr Handy in die Handtasche fallen. Als sie sich umdreht, sieht sie ihren Kommilitonen Larry Magid, einen Dermatologen. Das letzte Mal hat sie Larry vor fünf Jahren gesehen, als er mit ihnen nach Nepal geflogen ist, um Marc und sie bei der Bekämpfung eines Ausbruchs der Hansen-Krankheit zu unterstützen, besser bekannt unter dem Namen Lepra. Beide arbeiteten dort im gleichen Krankenhaus, sogar im gleichen Stockwerk, sodass er über ihre aktuellen Probleme sehr gut informiert ist.

»Hey, Larry.«

Er windet sich: »Bist du wegen … ich meine, äh, gehst du …?«

Er deutete verschämt auf das Gebäude.

»Klar«, sagt Maggie.

»Oh.«

»Was ist?«

»Nichts.«

»Sie haben ein Stipendium zum Gedenken an meine Mutter ins Leben gerufen«, sagt sie.

»Richtig, ich habe davon gehört.«

»Deshalb bin ich hier.«

»Klar. Ich muss los. Mickey erwartet mich sicher schon.«

Er eilt davon. Am liebsten hätte sie ihm hinterhergerufen, er solle aufpassen, sie habe Lepra. Sie will einfach nur ihr Handy hervorholen und sich bei Marc ausheulen: »Verstehst du jetzt, was ich meine?«, aber das Handy ist schon in der Tasche, außerdem ist sie etwas gereizt, also zum Teufel damit.

Zögernd trottet Maggie die Treppenstufen hoch, die sie vor zweiundzwanzig Jahren begeistert hinaufgeflogen ist, um sich ihr Diplom abzuholen. Auf einem Banner über der Tür steht:

Stipendienverleihung

Willkommen zurück, Johns-Hopkins-Alumni!

In der Halle herrscht reges Treiben. Vier Studenten und Studentinnen spielen Mozarts Streichquartett Nr. 19 in C-Dur. Maggies Arme hängen an der Seite herab, aber wie von selbst bewegen sich die Finger zur Musik, als hätte sie eine Geige in der Hand. In dem prächtigen Saal befinden sich rund fünfhundert Personen – Ärzte und Stipendiaten. Man erkennt sofort, dass es sich um eine Medizinerveranstaltung handelt, sehr viele Männer tragen Fliege. So machen Ärzte das, weil normale Krawatten zu locker herunterhängen und bei den Untersuchungen stören. Ihr Vater, ein Army-Chirurg, der ebenfalls als Field Surgeon 62B an der Front war, seinerzeit in Vietnam, hat immer Fliegen mit grellen Blumenmustern getragen. Er behauptete, das hätte auf seine Patienten ein bisschen verschroben und somit angenehm menschlich gewirkt.

Als Maggie schließlich den großen Saal betritt, erstarren die Gäste nicht, es wird auch nicht still im Raum oder so etwas, aber ein kurzes Stutzen ist spürbar.

Sie bleibt ein paar Sekunden stehen, die ihr wie eine Ewigkeit vorkommen, ist mehr als nur peinlich berührt und hat das Gefühl, dass ihre Hände plötzlich zu groß sind. Sie wird rot. Warum ist sie nur hergekommen? Sie sieht sich nach einem freundlichen oder zumindest bekannten Gesicht um. Das einzige, das sie entdeckt, blickt sie vom Podium herab an. Von einem Poster auf einer Staffelei.

Mom.

Gott, ihre Mutter war so schön.

Das vergrößerte Foto stammt aus dem Universitätsjahrbuch von vor fünf Jahren, dem letzten Jahr, in dem Mom hier gelehrt hat, kurz vor der Diagnose, die sie ihren beiden Töchtern drei Jahre lang verschwieg, bis sie Maggie schließlich in der Klinik in Ghana, die sie dort neu eröffnet hatten, anrief und sagte: »Ich werde dir etwas erzählen, wenn du mir versprichst, dass du nicht nach Hause kommst. Deine Arbeit ist zu wichtig.« Also versprach Maggie es, ihre Mom erzählte es ihr, beide weinten, aber Maggie hielt ihr Versprechen, bis ihre Schwester Sharon irgendwann anrief und sagte: »Es ist bald so weit.« Dann gab Maggie Marc am Dubai International Airport einen Abschiedskuss, forderte ihn auf, die Sache zum Abschluss zu bringen und bald nachzukommen, dann flog sie nach Hause, um die letzten Tage zusammen mit ihrer Schwester Sharon am Bett ihrer Mutter zu wachen.

Maggie sieht ihrer Poster-Mutter in die Augen, weil dies im Moment das einzige freundliche Gesicht im Raum ist. Mit hoch erhobenem Kopf geht sie in Richtung Podium. Sie hofft, dass es nur ihr Narzissmus ist, meint aber, dass die Gespräche abbrechen oder zumindest leiser werden, wenn sie vorbeigeht. Hinter ihr tuscheln die Leute, aber vielleicht bildet sie sich auch das nur ein. Sie wendet den Blick immer noch nicht vom Bild ihrer Mutter ab, sieht nicht zur Seite, spürt aber jetzt, dass die Leute sie anstarren.

Eine bekannte Gestalt tritt ihr in den Weg und sagt: »Es überrascht mich, dass du hier erscheinst.«

Es ist Steve Schipner, auch bekannt als der Schmierige Steve, der wie sie plastischer Chirurg ist, womit sich, wie sie hofft, die Gemeinsamkeiten jedoch auch schon erschöpft haben. Er hat über eine Million Follower auf einem Instagram-Account, auf dem er Vorher-nachher-Fotos postet und sich als Busenflüsterer bezeichnet. Steve und sie haben im gleichen Jahr ihren Abschluss gemacht und dann im NewYork-Presbyterian und an der Columbia University unter der Anleitung von Dr. Evan Barlow den chirurgischen Ausbildungsabschnitt absolviert. Steve ist ein Typ, der einem keinen guten Morgen wünschen kann, ohne dass es anzüglich und schmierig klingt, und so ist er auch an seinen Spitznamen geraten. Er lebt jetzt in Dubai und spezialisiert sich der Bio in seinem Profil zufolge auf »ambitionierte Influencerinnen, die versuchen, die Klicks auf ihren Social-Media-Accounts, den Spaß im Leben und ihre Körbchengröße zu maximieren«.

»Ja, ich bin immer für eine Überraschung gut«, sagt Maggie.

Er sieht sich um und bemerkt die feindseligen Blicke. »Ich freu mich jedenfalls, dich zu sehen.«

»Danke, Steve.«

»Hast du Barlow gesehen?«

»Nein, du?«, fragt sie.

»Nein.«

»Ich glaub nicht, dass er hier ist.«

»Er wollte angeblich kommen«, sagt er. »Ich will mit ihm über einen hübschen Partnerschafts-Deal sprechen und …« Er bricht ab, wendet sich ihr zu und lächelt sie mit voller Power an. »Ach, rat doch mal, wo ich jetzt arbeite.«

Sie will das nicht, aber nicht mitzuspielen, wäre noch schlimmer. »In Dubai, habe ich gehört.«

»Ja, aber wo in Dubai«

»Keine Ahnung, Steve. Wo denn?«

Er beugt sich zu ihr und flüstert: »Apollo Longevity.«

Maggie versucht, sich nichts anmerken zu lassen. Es fällt ihr schwer.

Steve fährt fort. »Ist das nicht das Unternehmen, bei dem Marc und du damals …?«

»Ich bin daran nicht mehr beteiligt.«

Maggie versucht, die Information zu verarbeiten. Apollo Longevity ist noch aktiv. Selbst jetzt noch. Nach allem, was passiert ist.

Das ist nicht gut.

Steve sieht sie von oben bis unten an, sein Blick kriecht über sie wie Regenwürmer nach einem Regenguss. »Du siehst gut aus, Maggie.« Er zieht eine Augenbraue hoch, bevor er fortfährt: »Wirklich gut. Richtig gut.«

Maggie gibt ein unverbindliches »Mhm« von sich.

»So straff, so fit«, fährt Steve fort und spannt den Bizeps an, um seine Worte zu illustrieren. »Was machst du? Hanteltraining? Pilates?« Wieder zieht er eine Augenbraue hoch. »Schweißtreibendes Hot-Yoga?«

Sie schüttelt den Kopf. »Funktionieren diese Sprüche jemals, Steve?«

»Andauernd, Maggie. Und weißt du, warum?«

»Du brauchst es mir nicht zu erzählen«, sagt Maggie. »Aber ich wette, du tust es.«

Er beugt sich zu ihr. »Weil ich jetzt ein reicher, arrivierter siebenundvierzigjähriger Chirurg bin. Ich kann viel jüngere Bräute abschleppen als dich.«

Sie verzieht das Gesicht. »Hast du gerade ›jüngere Bräute‹ gesagt?«

»Du bist nicht zu gut für mich«, sagt er. Dann ergänzt er in einem rauen Flüsterton: »Nicht mehr.«

Mit diesen Worten verschwindet er.

Steves Schleimspur führt zu einer Gruppe früherer Kommilitonen und Kommilitoninnen in der rechten Ecke. Sie kennt sie alle, aber als sie näher kommt, drängen sie sich zusammen und tun so, als würden sie Maggie nicht sehen. Ein Teil von ihr ist wütend und will sie zur Rede stellen, ein größerer Teil jedoch – der ehrlichere Teil – fragt sich, ob sie nicht auch in dieser Augenkontakt meidenden Gruppe wäre, wenn an ihrer Stelle ein anderer Kommilitone oder eine andere Kommilitonin so bloßgestellt worden wäre.

Scheiß drauf.

Maggie geht zu der Gruppe hinüber, stellt sich mitten unter sie und sagt: »Hallo zusammen.«

Schweigen.

Sie sieht von einem Gesicht zum nächsten. Niemand erwidert ihren Blick.

»Stephanie«, sagte Maggie zu einer alten Freundin, die in ihren Champagner starrt, als würde er ein Geheimnis verbergen, »wie geht’s Olivia?«

Olivia ist Stephanies Tochter.

»Oh, äh, ihr geht’s gut.«

»Hat mein Empfehlungsschreiben geholfen?«

Maggie weiß, dass es so ist. Sie hat den Brief vor einem Jahr geschrieben, als ihr Name noch Türen öffnete statt verschloss, und sie weiß natürlich, dass Olivia angenommen worden ist, aber im Moment ist Maggie nicht in Stimmung, jemanden vom Haken zu lassen.

»Stephanie?«

Bevor Stephanie antworten kann, ergreift eine andere Kommilitonin, Bonnie Tillman, Maggies Ellbogen. »Können wir uns kurz unter vier Augen unterhalten, Maggie?«

Bonnie ist Augenärztin in Washington, D. C., und immer noch (und für immer) ihre Jahrgangssprecherin. Ihre Helmfrisur wird mit Schellack in Form gehalten. Sie ringt sich ein Lächeln ab. Es erfordert große Anstrengung, es aufrechtzuerhalten. Angeblich braucht man siebzehn Muskeln, um zu lächeln, und dreiundvierzig, um die Stirn zu runzeln. Bei Bonnie ist es offensichtlich umgekehrt.

Sie gehen durch eine alte Glasflügeltür auf eine Terrasse.

»Wir alle fühlen uns schlecht wegen der Probleme, die du in letzter Zeit hast«, setzt Bonnie mit einer Stimme an, die nur durch einen chirurgischen Eingriff herablassender zu gestalten wäre, »das entschuldigt aber nicht, was du getan hast.«

Maggie sagt nichts.

»Dies ist eine Veranstaltung für renommierte Ärzte und Ärztinnen.«

»Sie ist für Leute, die hier ihren Abschluss gemacht haben.«

»Das weißt du besser.«

Schweigen.

»Dir wurde die Approbation aberkannt«, fährt Bonnie fort.

»Sie wurde ausgesetzt«, korrigiert Maggie. »Bis das Ergebnis der Überprüfung vorliegt.«

»Ach, dann bist du also unschuldig?«

Maggie antwortet nicht.

»Du solltest gehen.«

»Das werde ich eher nicht tun.«

»Es ist dem Gedenken deiner Mutter gegenüber nicht fair.«

»Wie bitte?«

»Die Erinnerung an sie gehört nicht dir allein, Maggie. Nicht auf diesem Campus. Sie hat sehr vielen von uns Studierenden eine Menge bedeutet. Deine Anwesenheit hier befleckt die Erinnerung an sie.«

»Ich wurde gebeten, das Stipendium zu verleihen.«

»Das war vorher.«

»Die Einladung wurde nicht widerrufen.«

»Wir hielten es nicht für erforderlich.«

»Und wer macht das jetzt?«

Bonnie richtet sich auf.

»Moment, du?«

»Die Verwaltung hielt es für das Beste.«

»Aber meine Mutter hat dich immer für eine hochnäsige, verklemmte Schlampe gehalten, Bonnie.«

Bonnies Augen weiten sich, als hätte sie eine Ohrfeige bekommen. »Tja.«

Maggie sagt nichts. Bonnie fängt sich wieder.

»Ganz egal«, sagt Bonnie, »du solltest gehen. Wenn du hierbleibst, besudelt das den Ruf der ganzen Jahrgangsstufe.«

Bonnie dreht sich um und geht. Maggie schließt die Augen, öffnet wie wieder und starrt ins Leere.

»Bonnie?«

Bonnie bleibt stehen und wendet sich Maggie wieder zu.

»Meine Mutter hat das nicht gesagt. Tut mir leid. Das war nicht fair. Sie hat immer positiv über dich gesprochen. Du bist eine gute Wahl.«

Bonnie schluckt. »Ich werde mein Bestes geben. Das verspreche ich dir.«

Dann lässt sie Maggie allein auf der Terrasse zurück. Drinnen schlägt jemand mit einer Gabel gegen seine Champagnerflöte, um die Aufmerksamkeit der Gäste auf sich zu ziehen. Es wird ruhiger. Jemand fordert die Anwesenden auf, zum Podium zu kommen, damit sie anfangen können. Maggie bleibt draußen auf der Terrasse.

Bonnie hat recht. Sie sollte nicht hier sein.

Sie starrt hinaus ins Laub der Bäume. Hinter ihr schließt jemand die Glastür, sodass sie nicht mehr hört, was im Saal passiert. Das ist okay. Sie will schon in die Handtasche greifen, noch einmal mit Marc sprechen, aber das wäre nur eine dumme Krücke, es würde letztlich nur dazu führen, dass sie sich noch schlechter fühlt.

»Hallo, Maggie.«

Der Mann trägt einen maßgeschneiderten kobaltblauen Anzug und eine so perfekt gebundene Krawatte, dass man vermuten könnte, er hätte dabei himmlische Hilfe in Anspruch genommen. Er hat graue Haare und einen perfekten Scheitel auf der linken Seite. Maggie weiß, dass er Anfang siebzig ist – er war ein Kommilitone ihrer Mutter, und sie war vor ein paar Jahren zu seinem siebzigsten Geburtstag eingeladen, konnte aber nicht zur Party kommen, weil sie im Ausland war.

»Hallo, Dr. Barlow.«

»Du bist schon lange nicht mehr meine Studentin, Maggie. Sag einfach Evan.«

»Ich glaube nicht, dass ich das kann, nein, wirklich nicht.«

Evan Barlow lächelt. Es ist ein schönes Lächeln. Er sieht – um einen schmierigen Kommilitonen zu zitieren –, so straff, so fit aus. Beinahe hätte sie ihn gefragt, ob er schweißtreibendes Hot-Yoga macht. Evan Barlow leitet das Barlow Cosmetic Center, die vielleicht renommierteste und diskreteste Firma für Schönheitsoperationen im Land. Wenn Prominente etwas machen lassen wollen, ohne dass jemand davon erfährt, vertrauen sie Evan Barlow.

Sie stehen nebeneinander und starren auf den Quad hinaus. »Tja, dies ist mein erster Besuch auf dem Campus seit meinem Abschluss«, sagt er.

»Ehrlich?«

»Ja.«

»Und warum sind Sie zurückgekommen?«

»Ich glaube, das kannst du dir denken.«

»Mom?«

»Ich habe sie geliebt, weißt du?«

»Das wusste ich nicht, nein.«

»Sie und dein Vater sind inzwischen tot, daher kann ich es jetzt zugeben.«

»Ich dachte, Sie wären nur ein paar Wochen miteinander ausgegangen.«

»Das sind wir. In unserem zweiten Studienjahr. Aber sie hat mir das Herz gebrochen.«

Maggie runzelt die Stirn. »Waren Sie nicht dreimal verheiratet?«

»Viermal«, sagt er.

»Und ist Ihre derzeitige Frau nicht ungefähr dreißig Jahre alt?«

»Zweiunddreißig«, sagt er und breitet die Hände aus. »Da sieht man mal, was ein gebrochenes Herz einem Menschen antun kann.«

Maggie kann sich ein Lächeln nicht verkneifen.

»Dein Vater war so ein guter Mann und hat viel besser zu ihr gepasst. Also habe ich mich mit ihrer Freundschaft begnügt. Aber …« Er schüttelt den Kopf. »Wenn man alt wird, wird man sentimental und fängt an zu philosophieren. Ich sage das so dahin, aber es enthält tatsächlich ein Stück Wahrheit.«

Als er sie anlächelt, muss sie an die chirurgischen Visiten im NewYork-Presbyterian denken, und daran, was für ein großzügiger Lehrer er war und was für eine belebende und anregende Wirkung allein seine Anwesenheit auf sie hatte. Evan Barlow knisterte vor Energie. Man wollte einfach in seiner Nähe sein.

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, sagt Barlow: »Du warst die beste Studentin, die ich je hatte. Das weißt du. Du bist Chirurgin, also ist dein Ego groß genug, um zu erkennen, dass ich die Wahrheit sage.«

»Korrektur: Ich war Chirurgin.«

Sie kneift die Augen zu. Dann spürt sie seine Hand auf ihrer Schulter.

Mit sanfter Stimme sagt er: »Maggie?«

Tränen schießen ihr in die Augen. »Es tut mir leid.«

»Schon gut.«

»Ich habe Sie im Stich gelassen.« Sie öffnet die Augen. »Ich habe sie …«, auf wen sich das sie bezog, bedurfte keiner Erwähnung, »… im Stich gelassen.«

»Hast du nicht«, sagt er. »Moment, okay, entschuldige, das ist despektierlich. Das hast du. Ich werde dich nicht belügen. Darf ich offen sein? Du hast Mist gebaut. Großen Mist. Darum bin ich hier.«

»Ich kann Ihnen nicht folgen.«

»Ich brauche keine Stipendienzeremonie, um deiner Mutter zu gedenken. Das kann ich auf viel direktere Art. Moment, ich drücke das nicht richtig aus. Lass mich noch mal von vorn anfangen. Ich bin heute hergekommen, um dich zu sehen.«

»Mich? Wieso?«

»Ich möchte dich um einen Gefallen bitten.«

Als er nicht direkt weiterspricht, sagt Maggie: »Fahren Sie fort.«

»Ich würde mich freuen, wenn du am Montag zu mir ins Büro kommst.«

»Diesen Montag?«

»Ja. Um zehn.«

»Gibt es jetzt ein Barlow Center in Baltimore?«

»Nein, aber demnächst vielleicht. Im Moment sind sie in Palm Beach, Los Angeles und New York City. Ich möchte, dass du nach New York City kommst. Ich lasse dich von einem Fahrdienst abholen und reserviere eine Suite im Aman für dich.«

»Das verstehe ich nicht. Warum soll ich zu Ihnen nach New York kommen?«

»Das kann ich dir nicht sagen.«

»Warum nicht?«

»Es ist … es steht mir nicht zu.«

Maggie verzieht das Gesicht. »Und wem steht es zu?«

»Es ist ein faszinierendes Angebot. Mehr kann ich jetzt nicht sagen.«

»Ich habe meine Approbation verloren.«

»Ich weiß. Das Angebot ist etwas …«, Barlow blickt auf, als suche er nach einem passenderen Wort, »… ungewöhnlich.«

»Können Sie es mir nicht einfach jetzt erzählen?«

»Nein, das kann ich nicht.«

Sie überlegt. »Wenn ich das sagen darf, Dr. Barlow, aber das ist alles etwas seltsam.«

»Ich weiß.«

»Genau genommen ist es sogar sehr seltsam.«

»Ja, zugegeben, das ist es. Pass auf, ich weiß, dass ihr beide, Sharon und du, ernste finanzielle Probleme habt …«

»Woher wissen Sie das?«

»… aber ich werde dir einen Scheck über zwanzigtausend Dollar ausstellen. Nur fürs Kommen.«

Er greift in die Anzugtasche, zieht einen Stift und ein …

»Ist das ein Scheckbuch?«, fragt sie.

»Ja.«

»Wo sind wir hier? Im Jahr 1987? Wer hat denn heute noch ein Scheckbuch dabei?«

Barlow kann sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Ich wollte vorbereitet sein.«

Er stellt den Scheck aus.

»Das ist nicht nötig«, sagt sie.

»Doch, das ist es. Du musst für deinen Zeitaufwand entschädigt werden.«

»Hören Sie auf«, sagt sie jetzt mit etwas mehr Nachdruck. »Ich sage es noch einmal. Sie verhalten sich seltsam.«

»Ich weiß.« Er steckt das Scheckbuch wieder ein. »Vertraust du mir, Maggie?«

Wenn sie ehrlich ist, vertraut sie niemandem mehr. Oder fast niemandem.

»Eins noch«, sagt er.

»Was?«

»Es wäre gut, wenn du niemandem etwas davon erzählst.«

»Meiner Schwester muss ich es erzählen.«

»Es wäre besser, wenn du das nicht tust.«

»Ich wohne mit ihr zusammen. Ich kann nicht einfach nach New York abhauen.«

»Natürlich kannst du das.« Er reicht ihr eine Visitenkarte. »Ich schicke dir eine Textnachricht, um die Abholung per Fahrdienst zu arrangieren.«

»Ich würde lieber den Amtrak-Zug nehmen«, sagt Maggie.

»Wenn dir das lieber ist. Ab morgen Abend wird die Suite im Aman Hotel in der 57th Street auf deinen Namen reserviert sein. Die Einzelheiten für Montag können wir bis dahin noch klären.«

Maggie nimmt die geprägte Visitenkarte, sieht sie an, dann sieht sie ihn an. Dr. Evan Barlow leitet eines der erfolgreichsten, exklusivsten Unternehmen für kosmetische Chirurgie der Welt. Er ist millionenschwer, und das merkt man ihm an. Sie versucht, etwas aus seiner Miene abzulesen. Sie ist ausgeglichen, professionell, attraktiv und würdevoll.

Aber sieht sie auch Angst darin?

»Was geht hier wirklich vor, Dr. Barlow?«

»Mehr kann ich nicht sagen, Maggie. Die Entscheidung liegt ganz bei dir.«

»Und wenn ich mich dagegen entscheide?«

Er zuckt die Achseln. »Es war schön, dich zu sehen.«

Barlow gibt ihr einen Wangenkuss und geht zur Tür.

»Woher haben Sie gewusst, dass ich hier bin?«, fragt sie.

Ein Schatten huscht über sein Gesicht, den sie nicht deuten kann. Er schüttelt den Kopf ganz leicht und dreht den Türknauf.

»Am Montag wirst du alles erfahren«, sagt Barlow, dann verschwindet er in den Saal.

Zwei

Marc sagt: »Du wirst jetzt noch eine Weile herumdrucksen, aber wir wissen doch beide, dass du hinfährst.«

Er hat recht. Wieder einmal.

Maggie geht über den Campus. Sie ist noch so lange geblieben, dass nicht der Eindruck entstand, man hätte sie vertrieben, aber als die Reden beendet waren und die Leute wieder anfingen, sich zu unterhalten, hat sie sich verdrückt.

»Und«, fuhr Marc fort, »was will Dr. Barlow deiner Meinung nach von dir?«

»Ich habe gehofft, dass du mir diese Frage beantworten kannst«, sagt Maggie.

»Hhm, ich google ihn mal eben … holla.«

»Was ist?«

»Wusstest du, dass Evan Barlow auf der Forbes-Liste der reichsten Ärzte steht?«

Maggie verzieht das Gesicht. »Es gibt eine Forbes-Liste der reichsten Ärzte?«

»Die Top einhundert, ja.«

»Und Barlow ist drauf?«

»Nummer zweiundvierzig. Mit einem Eigenkapital von fast einer Milliarde Dollar.«

»Und das hat er als Arzt verdient?«

»Nein, eigentlich nicht. Er hat es als, ich weiß nicht, man könnte ihn wohl als Medizinunternehmer bezeichnen. Barlow Cosmetics ist eine große Marke. Plastische Chirurgie ist immer noch ihr wichtigstes Standbein, aber die Firma hat ihr Angebot auf Naturheilmittel und Kosmetikprodukte erweitert. Schon komisch.«

»Was?«

»Keiner dieser reichsten Ärzte macht sein Geld mit der Behandlung von Patienten. Sie verdienen entweder an Arzneimitteln, Versicherungen oder Patenten. Ein paar sind in die Biotech-Industrie gegangen und erweitern damit die Grenzen der traditionellen Medizin, wie ihre Werbeslogans besagen.«

»Und was will Dr. Barlow dann von mir?«

Auf dem zu kleinen Display zuckt Marc die Achseln. »Er war dein Lieblingsprofessor, stimmt’s?«

»Ja.«

»Dein Mentor. Außerdem war er ein Freund der Familie.«

Maggie nickt. »Er hat mir vorhin erzählt, dass er meine Mutter geliebt hat.«

»Dann liegt es womöglich daran. Vielleicht will er dir aus der Patsche helfen.«

»Und wie?«

»Indem er dir einen Job bei Barlow Cosmetics anbietet.«

»Aber ich habe meine Approbation verloren. Ich darf nicht operieren.«

»Du könntest etwas anderes für ihn oder seine Firma machen.«

»Und was soll das bitte sein? Ich kann nur eine Sache gut.« Maggie sieht das Grinsen in Marcs Gesicht. Sie seufzt und verdreht die Augen. »Sag’s nicht.«

Marc lächelt. »Was?«

»Lass es einfach.«

»Du meinst, ich soll nicht sagen, dass du nur eine Sache gut kannst?«

»Stopp.«

»Okay, okay«, sagt er und hebt die Hand in gespielter Kapitulation. »Trotzdem halte ich es für das Wahrscheinlichste, dass Barlow deine Lage kennt und dir helfen will.«

Weil sie mit gesenktem Kopf aufs Display blickt, läuft Maggie beinahe in eine Gruppe Studenten, die ihr entgegenkommen. Jemand murmelt, sie solle aufpassen, wohin sie geht, und sie entschuldigt sich aufrichtig, weil sie es ehrlich gesagt nicht ausstehen kann, wenn Leute mit gesenktem Kopf herumlaufen und aufs Display starren.

»Was hast du noch?«, fragt sie.

»Vor siebzehn Jahren hat er das erste Barlow Cosmetic Center eröffnet. Angeblich ist es hochmodern und auf dem neuesten Stand der Technik.«

»Was ist der Unterschied?«, fragt Maggie.

»Was?«

»Das steht in allen Werbeanzeigen. Hochmodern und auf neuestem Stand der Technik. Ist das nicht dasselbe?«

»Hochmodern besagt, dass man sich in einem bestimmten Bereich der neuesten und fortschrittlichsten Werkzeuge und Plattformen bedient. Auf dem neuesten Stand der Technik bezieht sich auf die besten Technologien und Techniken, die durch modernste Verfahren entstehen.«

Maggie verzieht das Gesicht. »Das hast du gerade nachgeschlagen.«

»Hab ich, ja.«

»Als wir auf der Columbia waren, war er kein Milliardär«, sagt sie. »Er hat Lippen-Kiefer-Gaumenspalten und Verbrennungen operiert und allgemeine Wiederherstellungschirurgie betrieben. Er hat fast ausschließlich mit armen und unterversorgten Menschen gearbeitet.«

»So wie du«, sagt Marc.

Maggie schüttelt den Kopf. »Wie wir.«

»Ich habe nie eine Lippen-Kiefer…«

»Du weißt ganz genau, was ich meine.«

»Ja, stimmt. Aber wahrscheinlich ist das alles Vergangenheit. Ich nehme an, dass Barlow inzwischen vorwiegend Brustvergrößerungen und Faceliftings macht. Über die Einzelheiten seiner Tätigkeit ist nicht viel in Erfahrung zu bringen.«

»Er hat viele prominente Patienten«, sagt sie. »Die erwarten wahrscheinlich höchste Diskretion.«

»Wahrscheinlich.«

Sie überlegt kurz und denkt dann: Wieso nicht? »Ich hab den Schmierigen Steve getroffen.«

»Hat er dich angebaggert?«

»Ja, aber er kann jetzt jüngere Bräute abschleppen.«

»Jüngere Bräute?«

»Scheint eine große Sache zu sein.« Dann sagt sie: »Er hat erzählt, dass er jetzt für Apollo Longevity arbeitet.« Als sie keine Antwort bekommt, fährt sie fort: »Ich dachte, die wären geschlossen.«

»Die Firma verfolgt noch immer dasselbe Ziel: Langlebigkeit. Durch PRP- und EBOO-Eigenblutbehandlungen, Ozontherapien, Zellregeneration, Stammzellen.« Er grinst. »Alles hochmodern und auf dem neuesten Stand der Technik.«

»Aber WorldCures ist erledigt?«

»WorldCures gibt es nicht mehr, Maggie.«

Ganz trocken. So nüchtern wie nur irgendwas.

»Klar«, sagt sie. »Ich weiß.«

»Und wann fährst du nach New York?«

»Morgen früh«, sagt sie. »Ich ruf deinen Dad im Vipers an. Mal gucken, ob er in der Stadt ist.«

»Hast du ihn in letzter Zeit gesehen?«

»Nicht, seit er und seine Gang vor einem Monat auf ihrem Roadtrip hier durchgezogen sind.«

»Wie geht’s ihm?«

»Du kennst doch Porkchop«, sagt sie.

Marc sagt nichts, wartet nur ab.

»Es geht ihm gut«, lügt sie.

Maggie biegt um die letzte Ecke. Vor sich sieht sie das Saltbox-Haus im Kolonialstil, in dem sie aufgewachsen ist und jetzt mit ihrer Schwester Sharon und ihrem Neffen Cole lebt.

»Maggie?«

»Ja?«

»Ich hab ein schlechtes Gefühl.«

Sie bleibt stehen. »Was das Treffen mit Barlow angeht?«

»Ja.«

Ein kalter Finger fährt ihr Rückgrat hinab. »Wie kommst du darauf?«

»Einfach so. Ich kann es nicht begründen.«

»Nur ein schlechtes Gefühl?«

»Ja.«

»Andererseits«, sagt Maggie, »basieren deine Einschätzungen normalerweise nicht auf Gefühlen.«

Keine Antwort.

Als Maggie ihren Neffen aus dem Haus kommen sieht, tippt sie auf das rote Icon und lässt das Handy in die Tasche fallen. Cole setzt ein breites Lächeln auf, als er seine Tante sieht. Es war ein schwieriges Jahr für den Jungen – zu viele Tode, Scheidungen und Schulden für einen Fünfzehnjährigen –, aber Cole hat für seine Tante und seine Mutter immer ein Lächeln parat. Maggie weiß nicht, ob dieses Lächeln echt ist. Sie nimmt an, dass es das nicht ist. Cole ist so verdammt freundlich und einfühlsam, und Maggie hat den Verdacht, dass er weiß, unter welchem Stress seine Mutter und seine Tante stehen, dass er nicht noch mehr dazu beitragen will.

»Hey, Tante Maggie.«

Sie antwortet mit einem »Hey«. Er kommt mit liebenswert schlaksigen Schritten auf sie zu. Ihr Herz schlägt höher, als sie die Menschlichkeit in seinen abgehackten Bewegungen, seine Jugend und Zerbrechlichkeit sieht.

»Wie geht’s deiner Mom?«, fragt Maggie.

Seine Miene verfinstert sich. »Sie sitzt wieder am Küchentisch.«

»Das wird schon wieder«, sagt Maggie zu ihm. Dann: »Sie wird schon wieder.«

»Dass du hier bei uns bist … ich weiß, dass es nicht deine Aufgabe ist …«

»Es ist meine Aufgabe«, sagt Maggie.

Cole nickt und ringt sich wieder ein Lächeln ab. Eine Hupe ertönt. Vor ihnen hält ein Auto mit ein paar Teenagern, deren Oberkörper aus den Fenstern hängen. Sie rufen Cole, der Maggie entschuldigend ansieht, sie lächelt nur und winkt ab.

»Geh schon«, sagt sie.

»Sicher?«

»Ich krieg das in den Griff.«

Cole geht mit seinen schlaksigen Schritten zum Wagen, dieses Mal jedoch etwas schneller. Maggie blickt ihm nach, freut sich über diesen Moment der Normalität. Ihr Neffe hat das verdient. Die hintere Tür wird geöffnet, der Wagen verschluckt ihn.

Als der Wagen die Straße runter verschwindet, nimmt sie ihr Handy aus der Tasche und ruft im Vipers an. Sie hört das Klingeln des schwarzen Retro-Münztelefons, das in der Ecke der Bar steht und an dem ein Schild mit der Aufschrift »Außer Betrieb« hängt, damit es die Gäste nicht benutzen. Es ist Porkchops Version eines Batphones. Ihr Schwiegervater, Porkchop – ja, so nennen ihn alle, sogar sein Sohn spricht seinen Vater mit »Schweinekotelett« an –, hat »old school« ganz neu definiert. Er besitzt weder ein Handy noch einen Computer. Auch kein Haus, kein Auto und keinen Fernseher. Porkchop hat einmal zu ihr gesagt: »Mir gehört nur ein Motorrad und die leere Straße vor mir.« Und als sie das Gesicht verzog, zuckte er die Achseln und sagte: »Das hab ich mal auf einem Streichholzheftchen in einer Biker-Bar in Sturgis gelesen.«

Als der Hörer abgenommen wird, meldet sich eine Frau. Sie klingt irgendwie gleichzeitig jung und so, als hätte sie schon alles erlebt. »Vipers for Bikers.«

Maggie hört die übliche Geräuschkulisse aus der Biker-Bar. »Bat Out of Hell« läuft in der Jukebox, einer von Porkchops Lieblingssongs. Meat Loaf rockt gerade, dass er »gone, gone, gone« sein wird, wenn die Nacht endet. Maggie und Marc haben den Song auf ihrer Hochzeit gespielt, und sie, Marc, Porkchop und Sharon bildeten auf der Tanzfläche einen Kreis und sangen den Text aus voller Kehle mit, bis Marc sie an sich zog, die Welt um sie herum verschwand, der Song für einen Moment ruhiger wurde und Marc mitsang, dass sie das Einzige auf der ganzen Welt sei, das »pure and good and right« sei. Und dann blickten sie sich gegenseitig an, bis der Song wieder Tempo aufnahm und ihr einfiel, dass Meat Loaf hier tatsächlich über die letzte gemeinsame Nacht mit seiner Angebeteten sang. Und dann endete die Strophe damit, dass er schreit: »We’ll both be so alone.«

»Ist Porkchop da?«

»Nein.«

Maggie hat die Szenerie vor Augen – die Jukebox in der Ecke, das Sägemehl auf dem Boden, die Sammlung von Neon-Bier-Leuchtreklamen, der schwere Geruch von abgetragenem Leder, Diesel und Testosteron.

»Kann ich eine Nachricht für ihn hinterlassen?«

»Kommt drauf an. Sind Sie eine von seinen Verflossenen?«

»Verflossenen?«, wiederholt Maggie. »Hat Porkchop gesagt, dass Sie das fragen sollen?«

»Ja.«

Der Mann ändert sich nie.

»Sagen sie ihm, dass Maggie angerufen hat.«

Die Frau spart sich ein »Okay« oder »Geht klar.« Sie legt einfach auf.

Maggie steckt ihr Handy ein, tritt ins Haus, wo sie beinahe über ein Paar von Coles Sneakern in der Größe kleiner Kanus stolpert. »Hallo?«

»In der Küche«, antwortet Sharon.

Das Haus ist irgendwo in der Vergangenheit hängen geblieben. Maggie ist sich nicht einmal sicher, in welcher. In den Siebzigern? Den Achtzigern? Wenn man darin aufwächst, merkt man gar nicht, wie altmodisch das eigene Haus ist, und natürlich ist das ja auch kein Problem. Die schweren beige-grünen Vorhänge haben Quasten. Die fadenscheinigen Perserteppiche haben komplizierte Muster. In der antiken »Nippesvitrine« – wie Mom sie nannte – stehen Dutzende kleine Fotos in Silberrahmen, die meisten von ihnen schwarz-weiß, neben diversen kitschigen Hummel-Kinderfigürchen – ein Junge auf einem Apfelbaum, ein Mädchen mit einem Regenschirmchen und so weiter. Soweit Maggie das beurteilen kann, haben die Figuren dort schon immer gestanden. Sie erinnert sich jedenfalls nicht daran, dass ihre Eltern je eine gekauft, hinein- oder umgestellt oder ausgetauscht hätten. Nichts von dem Nippes schien für ihre Eltern irgendeine besondere Bedeutung zu haben. Sie sprachen nie darüber, woher sie die Dinge hatten, aber wie Maggie ihre Eltern kannte, hat sie ihnen jemand geschenkt, oder sie haben sie geerbt, womit ihr Schicksal besiegelt war, nämlich entweder im Keller aufbewahrt oder in die Nippesvitrine gestellt zu werden.

Es war nicht so, dass ihre Eltern knapp bei Kasse waren oder, um es direkter zu sagen, keinen Geschmack hatten, es lag eher daran, dass das »Doktorenehepaar McCabe« einfach keine Lust hatte, sich darum zu kümmern. Mom und Dad störten sich nicht an den altmodischen Tapeten und den abgewetzten Teppichen. Ihre Eltern waren wunderbar, freundlich und immer etwas abwesend. Sie waren Leseratten, Heiler und Akademiker. Sie gaben ihr Geld für Bücher und Erfahrungen aus, nicht für Polstermöbel und dekorative Gegenstände. Maggie hat es noch vor Augen, wie sie mit ihren Freunden zusammen im Wohnzimmer saßen und diskutierten, womöglich angefeuert von etwas zu viel Alkohol, oft bis in die frühen Morgenstunden. Das war in jener Zeit, als Widerspruch nicht Wut und Verachtung erzeugte, sondern als etwas Positives gesehen und unterschiedliche Standpunkte geschätzt wurden, weil sie das Denken schulten und schärften.

Aber im Moment ist Maggie nicht in Stimmung für … War es Nostalgie? Wie nennt man die Sehnsucht nach kritischem Denken, gesundem Menschenverstand und Anstand?

Maggies Familiengeschichte lässt sich immer noch an den gerahmten Fotos auf dem Kaminsims ablesen – sie und Sharon bei der Tanzaufführung als Maggie acht war und Sharon sechs, verschiedene Abschlussfeiern, Hochzeiten, Geburten und so weiter. Das kennen wir alle. Beim jüngsten Foto hält Maggie inne – ein Gruppenbild im Querformat von ihrer Hochzeit. Marc und sie stehen strahlend in der Mitte. Neben Maggie ist Sharon zu sehen, die natürlich ihre Trauzeugin war. Neben Marc steht sein Trauzeuge Trace Packer. Eigentlich hätte Trace auch auf ihrer Seite stehen können. Maggie hatte Trace zuerst kennengelernt, als er mit ihr zusammen als Field Surgeon 62B bei zwei Fronteinsätzen gedient hatte.

Als sie Trace und Marc einander vorstellte, verstanden die beiden Männer sich auf Anhieb. Schließlich gründeten sie zu dritt – Marc, Trace und Maggie – die WorldCures Alliance, eine der am schnellsten wachsenden Wohltätigkeitsorganisationen, darauf spezialisiert, den Ärmsten medizinische Versorgung zukommen zu lassen.

Ganz rechts auf dem Foto stehen Maggies Eltern. Sie wirken herzzerreißend lebendig und gesund. Auf den zweiten Blick glaubt Maggie jedoch, eine gewisse Unsicherheit in der Körpersprache ihrer Mutter zu erkennen. Oder ist das eine Projektion von ihr, aus dem Gefühl heraus, dass alles anders gelaufen wäre, wenn sie es nur gewusst hätte? Porkchop, Marcs Vater, steht ganz links. Alle Männer tragen farblich passende Smokings außer Porkchop, der zwar die zugehörige Fliege und das weiße Hemd mit dem Piqué-Einsatz trägt, auf die Biker-Lederjacke und den lächelnden Totenkopf allerdings nicht verzichten wollte – aber anders hätte Maggie es auch nicht gewollt.

Wie aufs Stichwort klingelt ihr Handy. Im Display steht einfach nur »Münztelefon«.

»Hallo?«

Porkchops raue Stimme grunzt: »Was gibt’s?«

»Eigentlich nichts«, sagt Maggie, die immer noch Porkchop auf dem alten Hochzeitsfoto betrachtet. »Na ja, außer dass die Frau, die den Anruf für dich angenommen hat, andere Frauen als ›Verflossene‹ bezeichnet.«

»Wieso, wäre ›meine Mädels‹ besser?«

»Eher nicht.«

»Sondern? Meine Bräute? Gespielinnen? Liebesäffchen? …«

»Hast du gerade Liebesäffchen gesagt?«

»Meine Babes, Schatzis, meine Kuschelbärchen …«

»Hör bitte auf.«

»Ein paar von den Jungschen nennen sie ›Shorties‹«, fährt Porkchop fort. »Ist das besser?«

»Nein«, erwidert Maggie. »Und sag nie wieder Jungschen.«

»Wenn ich das sage, ist das niedlich.«

»Nein, wirklich nicht.«

»Aaalso«, sagt Porkchop gedehnt. »Das war ja mal eine nette Art ins Gespräch zu finden. Was gibt’s Maggie?«

»Kann ich mich nicht einfach mal so bei dir melden?«

»Klar.«

Schweigen.

»Ich komme morgen nach Manhattan«, sagt Maggie.

»Mit dem Zug?«

»Ja.«

»Wann?«

»Mit dem um sieben vierzehn.«

»Ich hol dich ab. Dann kannst du mir alles erzählen.«

Porkchop legt auf. Maggies Blick wandert noch einmal über das Hochzeitsfoto. Ihr Kopf ist leer, ihre Gedanken sind überall und nirgends.

Aus der Küche ruft Sharon: »Maggie?«

Sie reißt den Blick vom Foto los, atmet tief durch, nimmt sich ein Beispiel an ihrem Neffen und ringt sich ein Lächeln ab. Als Maggie die Küche betritt, sitzt Sharon, wie Cole schon gesagt hat, am Tisch vor ihrem aufgeklappten Laptop und zwischen Papieren, die aussehen, als hätte sie jemand aus großer Höhe über ihr abgeworfen. Daneben steht eine Flasche roter Château Haut-Bailly. Schon der Anblick versetzt ihr einen tiefen Stich, der nichts damit zu tun hat, dass ihre Schwester in letzter Zeit häufig bis zum Exzess trinkt.

»Was machst du?«, fragt Maggie.

Sharon sieht sie an. »Ich programmiere eine hyperdimensionale generative Interferenz durch stochastische Gradientenoptimierung künstlicher Intelligenz unter Nutzung von … Soll ich fortfahren?«

»Lieber nicht.«

Sharon nimmt ihre Lesebrille ab. »Wie war’s bei der Veranstaltung?«

»Eigentlich ziemlich gut.«

»Lügnerin.«

Sharon ist ein Genie. Tatsächlich. Maggie war eine Spitzenstudentin – zweitbeste Absolventin ihrer Highschool (der verdammte Stuart Kleinman hat ihr mit 0,003 GPA-Punkten den Platz als Jahrgangsbeste weggeschnappt), seit ihrer Kindheit von dem Wunsch getrieben, ihren Eltern in den Beruf als Ärztin zu folgen –, aber ihre Schwester Sharon war ein echtes Universalgenie, eins von den Kindern, die Lehrer und andere Verantwortliche als »begnadet«, »hochbegabt« oder meist einfach als »Wunderkind« bezeichneten. Sharon hätte die Highschool bereits mit elf Jahren abschließen können, die Wahrheit ist jedoch – eine Wahrheit, die ihre Eltern schon früh erkannten –, dass Wunderkinder langfristig keinen Erfolg haben. Denken Sie an die, die Sie noch von früher kennen. Wo sind sie jetzt? Sehen Sie? Solche Genies sind vor Angst oft wie gelähmt, geben zu viele Hobbys auf, versinken in Selbstzweifeln und Selbsthass oder … Wer weiß?

Sie stürzen ab und gehen in Flammen auf.

Ihre Eltern, die das verstanden hatten, förderten ihre überragenden Leistungen zwar, achteten aber darauf, Routinen und Normalität in ihrem Leben zu etablieren. Dad zitierte in diesem Zusammenhang gerne Flaubert. »Sei ruhig und ordentlich in deinem Leben, damit du wild und originell in deiner Arbeit sein kannst.«

Aber das Leben war nicht einfach für Sharon. Ihr Gehirn konnte nicht herunterfahren – so ist es noch immer. Die endlosen Impulse sorgen dafür, dass die Synapsen und das Nervensystem heiß laufen. Das Gehirn wird normalerweise als elektrisches Netzwerk betrachtet, und ihres beschleunigt immer weiter, bis schließlich die Sicherung durchbrennt. Sie kann es nicht bremsen oder heruntertakten. Selbst der kleinste Fehler bringt Sharon dazu, sich in etwas hineinzusteigern, aus einer Mücke einen Elefanten zu machen und sich zu geißeln.

»Wer hat Moms Stipendium verliehen?«, fragt Sharon.

»Bonnie Tillman.«

»Oh, gut. Mom mochte Bonnie.«

»Reite nur weiter darauf rum.«

»Was?«

»Vergiss es. Und Mom mochte sie nicht. Sie hat nur gesagt, dass sie eine tolle Ärztin werden würde.«

»Das war für Mom das Gleiche«, sagt Sharon, was stimmt.

Auch Sharon hat beim Militär gedient, allerdings für einen geheimen Truppenzweig, der Passwörter knackte, künstliche Intelligenz entwickelte und hochsensible Aufklärungs-Software noch weiter verbesserte. Irgendwann begannen Sharon und ihr Mann Tad – Coles Vater – privat Software zu entwickeln, und sie programmierten eine App, die tatsächlich die Welt verändern könnte.

Sharon entwickelte eine innovative humanoide KI, die allen Menschen jederzeit einen sofortigen Kontakt zu Experten und Expertinnen ermöglichte. Eine Entwicklung, die das Wohlergehen der Menschen nachhaltig verbessern würde, hoffte sie. Würden Sie gerne zu jeder Tages- und Nachtzeit mit Ihrem Arzt sprechen? Sharons anthropomorphe Version Ihres Lieblingsarztes steht immer für einen Chat zur Verfügung. Wollen Sie Ihren Anwalt rund um die Uhr erreichen können, und das in einer Version von ihm, die das Wissen von tausend Anwälten in sich vereint? Sharons App kann das. Brauchen Sie gelegentlich eine Notfallsitzung bei Ihrer Therapeutin, womöglich sogar mitten in der Nacht, wenn sie sonst natürlich nicht verfügbar ist? Tja, die KI-Version steht rund um die Uhr bereit, und gegen eine kleine Gebühr …

Sie verstehen.

Auf praktischer Ebene sind die Einsatzmöglichkeiten schier überwältigend. Aber die moralischen Implikationen begannen Sharon zu belasten und zu bremsen. Tad, der Dollarzeichen in den Augen hatte und – vielleicht zu Recht – befürchtete, dass ihnen in diesem globalen Wettlauf jemand zuvorkommen könnte, passte das nicht. Er riss sich die gemeinsamen Patente unter den Nagel, indem er Sharon Dokumente zur Unterschrift vorlegte, die sie nicht verstand, und brannte dann mit seiner Assistentin durch. Die nachfolgende Scheidung war grausam. Sharon setzte alle juristischen Mittel ein, um die Situation zu beruhigen, aber Tads Vater war ein einflussreicher Bundesrichter – und wenn Sie glauben, dass es in unserem Rechtssystem wirklich um Wahrheit, Fairness oder Gleichheit geht, dann haben Sie entweder irgendwo nicht aufgepasst oder Sie leiden unter Wahnvorstellungen.

Sharon ist inzwischen hoffnungslos verschuldet.

Ähnlich wie Maggie.

Ja, die McCabe-Mädchen, die in der Medizinerfamilie McCabe zum Erbringen von Spitzenleistungen erzogen worden waren, hatten sich wegen enormer finanzieller Belastungen, juristischer Probleme und eben auch einem Skandal ins Abseits manövriert, offenbar ohne jede Möglichkeit, dieser Situation wieder zu entkommen.

Außer vielleicht, wer weiß, mithilfe von Maggies altem Mentor in New York?

»Jetzt mal ehrlich«, sagt Sharon. »Wie war die Veranstaltung?«

»Es gibt unglaublich viele Studenten und Studentinnen, die Mom verehrt haben.«

»Ich meine für dich?«

»Oh.« Maggie überlegt einen Moment: »Beschissen.«

»Tut mir leid«, sagt Sharon.

»Ja, schon in Ordnung.«

»So richtig überrascht sind wir beide davon aber nicht.«

»Nein, sind wir nicht«, sagt Maggie. »Dr. Barlow war auch da.«

»Oh, das muss aber doch schön für dich gewesen sein.«

»War es«, sagt Maggie. »Er hat mir erzählt, dass er in Mom verliebt war.«

»Da war er bestimmt nicht der Einzige«, sagt Sharon.

»Stimmt.«

»Was ist?«

»Nichts weiter«, sagt Maggie und schüttelt den Kopf. Sie betrachtet die Papiere auf dem Tisch. Es sind keine Forschungsunterlagen, sondern Rechnungen. »Was soll das denn?«

Sharon setzt ihre Lesebrille wieder auf und beugt sich über die Rechnungen. »Ich berechne unsere finanziellen Möglichkeiten.«

»Aber …«

»Wir müssen das Haus verkaufen.«

»Noch nicht.«

»Maggie, es ist nur ein Haus. Das ist dir doch klar, oder? Ein unbelebtes Objekt. Ein physisches Gebilde. Seelenlose Materie. Holz, Ziegel, Mörtel. Es sind nicht …«

»Mom und Dad«, beendet sie den Satz ihrer Schwester. »Ich weiß. Hör zu, ich fahre morgen nach New York. Lass uns darüber sprechen, wenn ich wieder zurück bin.«

Sharons Interesse ist sofort geweckt. »Was gibt’s denn in New York?«

Maggie wollte ihr eigentlich von Barlows Einladung erzählen, obwohl Barlow darauf bestanden hat, dass sie das nicht tun dürfe, aber jetzt, als es so weit ist, zögert sie plötzlich. Sie hat kein Problem damit, Barlow zu hintergehen – ihre Schwester ist wichtiger als ein alter Mentor –, aber es kommt ihr plötzlich falsch vor, Sharon in die Sache hineinzuziehen, bevor sie mehr darüber weiß.

Sharon missdeutet die Pause. »Hast du, äh, ein Date?«

»Was? Nein.«

»Ist schon in Ordnung …«

»Sharon …«

»Okay, vergiss es. Hast du bei der Veranstaltung irgendjemanden aus deinem Jahrgang getroffen?«

»Den Schmierigen Steve.«

Sharon verzieht das Gesicht. »Igitt, eklig.«

»Ja, oder?«

»Und was willst du in New York City?«

»Ich treffe mich mit Porkchop.«

Sharon fixiert sie mit ihrem Blick: »Und weiter?«

»Was soll das heißen, ›und weiter‹?«

»Natürlich lieben wir alle Porkchop«, sagt Sharon, »aber wenn es etwas zu besprechen gibt, setzt er sich sofort auf sein Motorrad und fährt hierher.«

Maggie seufzt. »Es ist nur … es hat sich eventuell ein geschäftliches Angebot aufgetan.«

»Was für ein geschäftliches Angebot?«

»Gott, bist du neugierig.«

»Ich betrachte mich eher als ›wissbegierig‹.«

»Kommst du damit klar, wenn ich sage, dass ich noch nicht darüber sprechen möchte?«, fragt Maggie.

»Wenn du damit klarkommst, wenn ich sage, dass ich mir ein paar Sorgen mache.«

»Das brauchst du nicht.«

»Ich würde dich niemals verurteilen, Maggie.«

»Ich weiß.« Dann: »Außerdem gibt es nichts zu verurteilen.«

»Was ist mit Trace?«

Wieder spürt Maggie, wie ihr ein Schauer über den Rücken läuft. »Was soll mit ihm sein?«

»Ist er wieder da? Triffst du dich in New York mit ihm?«

»Trace ist noch im Ausland«, sagt sie. »Ich glaube, in Bangladesch.«

»Versucht er da, WorldCures zu reanimieren?«

Maggie schüttelt den Kopf. Eine Wiederbelebung ist ausgeschlossen. Das weiß Sharon auch, sodass es eine ziemlich seltsame Bemerkung ist, aber manchmal ist Sharon einfach so. Maggie McCabe, das Gesicht von WorldCures, ist jetzt eine Aussätzige. Die Finanzierung ist tot.

»Außerdem …«, Sharon atmet tief aus, »… habe ich mich bei einer Dating-App angemeldet.«

»Das freut mich für dich. Wurde auch Zeit.«

»Die App heißt Melody Cupid und vermittelt die Partner anhand des Musikgeschmacks.«

Maggie hält sich die Hand vor den Mund. »O Gott.«

»Was ist?«

»Du hast einen schrecklichen Musikgeschmack.«

Drei

Als Maggie in der Moynihan Train Hall an der Penn Station in New York aus dem Zug steigt, erwartet Porkchop sie auf dem Bahnsteig.

Porkchop blickt auf kein Handy, er geht nicht ungeduldig auf und ab. Er ist ganz Zen, steht in einer Ruhe da wie eine ältere Version seines Sohns, der Chirurg. Porkchop sieht genau wie das aus, was er ist: ein ewiger Biker. Grau melierter Bart, lange Haare, die er mit einem grünen Kopftuch zurückgebunden hat, Lederjacke, verwaschene Jeans mit Ölflecken und einer silbernen Gürtelschnalle mit Totenkopf und gekreuzten Knochen. Seine Haut ist von den Jahren auf der Straße gebräunt und verwittert, sein Gesicht ist attraktiv und hart, als wäre es aus Stein gemeißelt.

Porkchop sieht Maggie in die Augen und nickt leicht. Würde er einen Cowboyhut tragen, so hätte er ihn kurz angetippt. Sie eilt zu ihm, bemüht sich, nicht zu rennen, und Porkchop breitet seine kräftigen Arme aus, um sie zu begrüßen. Als er sie umfängt, verschwindet sie für einen Moment. Sie schließt die Augen. Porkchop ist ein großer, bärenhafter Mann. In seinen Armen fühlt sie sich klein und sicher, und da sie dieses Gefühl nicht oft hat, gibt Maggie sich ihm einfach einen Moment lang hin. Er drückt sie schweigend an sich. Porkchop strahlt sowohl Ruhe als auch Energie aus.

Wie sein Sohn.

Der leichte vertraute Geruch nach Marlboros – Porkchop hat schon immer geraucht – verstärkt ihr Wohlbefinden noch. Beinahe hätte sie ihn um eine Zigarette gebeten, obwohl sie seit zehn Jahren keine mehr angerührt hat.

Als beide einen Schritt zurücktreten, fragt Porkchop: »Wo schläfst du?«

Keine der üblichen Höflichkeitsfloskeln: »Wie geht es dir?«, »Wie war die Fahrt?«. All das steckt in der Umarmung.

»Im Aman Hotel.«

»Wow. Nobel.«

»Ja.«

»Ich dachte, du bist pleite.«

»Ich zahl es nicht.«

Porkchop zieht eine Augenbraue hoch, noch etwas, das sie an seinen Sohn erinnert. »Aha?«

»Ein geschäftliches Angebot.«

»Aha?«

»Lass das.«

Porkchop schnappt sich ihre Reisetasche, und sie gehen zur Tür. »Erzählst du mir etwas darüber?«

»Nein, tu ich nicht«, sagt Maggie.

»Gehen wir also ins Vipers?«

»Ist es nicht ein bisschen früh?«

»Wir haben jetzt ein fantastisches Brunch-Angebot.«

»Ehrlich?«

»Die Tourismusbranche, meine Liebe. Die Gang will dich unbedingt sehen.«

Das Vipers for Bikers ist genau das, wonach es klingt – eine Biker-Bar im Schatten des MetLife-Stadions an der Route 17. Früher war es ein Hardcore-Biker-/Striptease-Club und hieß Hotties on Hogs, was in flackernder Neonschrift an der Fassade stand. Vor acht Jahren ist der Laden pleitegegangen, und Porkchop hat das Hotties gekauft, zu einer touristenfreundlichen Mischung aus Cosplay-Biker-Bar und Restaurant umgebaut und es »Vipers for Bikers« genannt.

»Das freut mich«, sagt Maggie. »Und ich will auch alle sehen.« Dann legt sie ihre Hand auf Porkchops Arm. »Aber vorher muss ich noch bei Trace reinschauen.«

Sie wartet auf Porkchops Reaktion, die aber ausbleibt.

»Warum?«, fragt er nur.

»Weil ich das immer mache, wenn ich in New York bin.«

»Mhm.«

»Und vielleicht finden wir auch einen Hinweis auf seinen Aufenthaltsort.«

»Bangladesch.«

»Gehen wir immer noch davon aus?«, fragt Maggie.

Porkchop antwortet nicht.

Als sie den Bahnhof verlassen, stehen sie auf der überfüllten 8th Avenue. Gegenüber liegt der Madison Square Garden in seiner ganzen kolosseumsartigen Pracht. Porkchops Motorrad steht an der Ecke zur 31st Street. Maggie stellt überrascht fest, dass es keine Harley-Davidson ist.