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Syrien, Ukraine, Gaza: Ist das Völkerrecht am Ende? Gilt das Recht des Stärkeren? Mit den Kriegsverbrecherprozessen in Nürnberg nach dem 2. Weltkrieg begann ein neues Kapitel in der Geschichte des Völkerrechts. Und nach dem Kalten Krieg schien die regelbasierte Weltordnung realistisch. Doch die Wirklichkeit im frühen 21. Jahrhundert ist eine andere, nicht erst seit Russlands Einmarsch in die Ukraine. Auch Israels Reaktion auf das Massaker vom 7. Oktober wirft Fragen auf. Christoph Safferling, internationaler Experte für Völkerrecht, zeichnet den Weg von 1945 bis heute nach und benennt doppelte Standards und blinde Flecken gerade auch der deutschen Politik. Seine Bilanz ist ernüchternd, sein Appell scharf: Gerade Deutschland muss die völkerrechtlichen Standards einfordern. Das Recht verträgt keine Kompromisse.
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Seitenzahl: 352
Veröffentlichungsjahr: 2025
80 Jahre nachdem in Nürnberg mit dem Prozess gegen Göring und die Hauptkriegsverbrecher eine neue Epoche im internationalen Recht begann, liegt das Völkerrecht am Boden. Im Verhältnis zwischen den Staaten gilt wieder das Recht des Stärkeren. Der amerikanische Einmarsch in den Irak, das Folterregime in Syrien, Russlands Überfall auf die Ukraine, der Terror der Hamas, einige der Reaktionen Israels darauf, die Angriffe auf den Iran: Offene Verstöße gegen das Völkerrecht, von den meisten Staaten, von führenden Politikern, auch in Deutschland, mit einem Schulterzucken zur Kenntnis genommen.
Christoph Safferling, einer der renommierten deutschen Völkerrechtler, findet sich mit der Misere nicht ab, zu viel steht auf dem Spiel: Der doppelte Durchbruch des Völkerrechts nach 1945 und nach dem Ende des Kalten Krieges war ein Zivilisationssprung. Safferling blickt in seinem engagierten Abriss zurück auf die wechselhafte Genese des Völkerrechts, auf Fortschritte und Rückschläge. Und er macht klar, dass ein Land wie die Bundesrepublik, Rechtsnachfolger des »Dritten Reichs«, nur einen Platz einnehmen kann: An der Seite der Schwachen, auf der Seite des Rechts, auch wenn dies bedeutet, in offenen Konflikt zu gehen zu jahrzehntelangen Verbündeten.
Christoph Safferling
Die Rückkehr des Kriegs und der Menschheitsverbrechen
Vorwort
I Das Versprechen von Nürnberg
Was kennzeichnet das Völkerrecht?
Der Westfälische Frieden
Wie »entsteht« Völkerrecht?
Immunitäten im Völkerrecht
Rechte für den Einzelnen: Anfänge des Kriegsvölkerrechts
Neuordnung nach dem Ersten Weltkrieg
Der Völkerbund: Die Welt als ein besserer Ort
Von gerechten und ungerechten Kriegen
Aggression und Holocaust
Kriegsverbrecher auf der Anklagebank
Was hat der Prozess gebracht?
Nachfolgeprozesse
Der Stand des Völkerrechts 1949
II Große Erwartungen: Die friedenstiftende Kraft des Rechts
Die Vision von Frieden und Sicherheit
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte
Die Organisation der Vereinten Nationen: ein Spiegel der Machtverhältnisse 1944
Das System der kollektiven Sicherheit
Gerichtliche Streitbeilegung
Die Rolle der Strafgerichtsbarkeit
Bestrebungen zur Reform der Vereinten Nationen
Ost-West-Konflikt I: Menschenrechtspakte und humanitäres Völkerrecht
Der Auftakt zum »goldenen Jahrzehnt« des Völkerrechts
Handlungsfähige Vereinte Nationen
Somalia, Ex-Jugoslawien, Ruanda
Der Internationale Strafgerichtshof
Das vereinigte Deutschland und die neue Verantwortung
Die Europäische Union als Friedensstifterin
Zerplatzte Illusionen
Das Ende der Geschichte?
III Enttäuschte Hoffnungen: Die Rückkehr der Machtpolitik
9/11 – Der Krieg gegen den Terror
Ungelöste Probleme
Ost-West-Konflikt II: Alte und neue Gräben
Das Recht der neuen Kriege: Die Hilflosigkeit des Rechts
Nürnberg revisited: Eine gerechte Völkerrechtsordnung
Lawfare: Recht als Mittel der Kriegsführung
Die Respektlosigkeit vor dem Recht ist unerträglich – und nun?
Anhang
Dank
Literatur
»Aber der letzte Schritt, periodisch wiederkehrende Kriege zu verhüten, die bei internationaler Gesetzlosigkeit unvermeidlich sind, ist, die Staatsmänner vor dem Gesetz verantwortlich zu machen«, erklärte der US-amerikanische Chefankläger im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess Robert H. Jackson am 21. November 1945 im Saal 600 des Nürnberger Justizpalastes.[1] Heute, achtzig Jahre später, blicken wir fassungslos auf die Situation in Europa und in der Welt und fragen uns, warum es nicht gelingt, diesen letzten Schritt zu gehen. Welchen Wert hat das Völkerrecht, wenn es nicht in der Lage ist, Angriffskriege zu verhindern? Was bringen die Regeln des humanitären Völkerrechts, wenn in den bewaffneten Konflikten weiterhin vergewaltigt, gemordet, geschändet und gefoltert wird? Welche Bedeutung haben die Menschenrechte, wenn weiterhin Diktatoren Menschen ausbeuten, unterdrücken, einsperren und umbringen lassen?
Von einem Rechtssystem erwarten wir Sicherheit und Ordnung. Was für ein Rechtssystem aber ist das Völkerrecht, wenn es diese Ziele offensichtlich nicht erreicht? Ist es überhaupt in der Lage, Frieden und Menschenwürde zu garantieren?
Kriege und Verbrechen gegen die Menschlichkeit waren in den vergangenen achtzig Jahren seit Nürnberg immer präsent. Der Koreakrieg, dessen Ergebnis wir heute in der Trennung von Süd- und Nordkorea am 38. Breitengrad immer noch sehen, die Dekolonialisierungskriege, der Vietnamkrieg und, und, und – die Reihe reißt nicht ab. Aber nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, das der Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 so stimmungsvoll symbolisiert, keimte die Hoffnung auf, dass Recht und Vernunft sich nun auch selbst im Völkerrecht Bahn brechen. Auch wenn der Übergang von der Diktatur zur Demokratie bei Weitem nicht in allen Staaten unblutig verlief, auch wenn im ehemaligen Jugoslawien Rassenhass und religiöse Verblendung in blutigen Massakern und Völkermord endeten, so fand die internationale Gemeinschaft doch gemeinsam eine völkerrechtliche Antwort auf diese Verbrechen. Die Idee von Nürnberg, Staatenführer zur Rechenschaft zu ziehen, wurde wieder mit Leben gefüllt und durch mehrere Strafgerichtshöfe in die Tat umgesetzt. Für das ehemalige Jugoslawien, für Ruanda, Sierra Leone und Osttimor wurden nach dem Nürnberger Vorbild internationale oder hybride Strafgerichtshöfe geschaffen, die den Opfern Gerechtigkeit bringen sollten. Schließlich einigte man sich im Sommer 1998 mehrheitlich sogar auf die Einrichtung eines permanenten Internationalen Strafgerichtshofs. Das alles deutet darauf hin, dass dieser letzte Schritt, den Robert H. Jackson in Nürnberg anmahnte, nun gegangen werden konnte.
Was bei der Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs schon nur eine vage Hoffnung war, geriet angesichts der Terrorgefahr seit 9/11 mit dem folgenden, immerhin von den Vereinten Nationen autorisierten Krieg in Afghanistan in eine Schieflage und erweist sich heute angesichts des brutalen Angriffs Russlands auf die Ukraine, der nicht enden wollenden Gewalt in Palästina, der Vertreibungen und Massenexekutionen in Myanmar und anderer blutiger Konflikte als naive Vorstellung. Autokraten und Populisten übernehmen die Macht auch in traditionellen Demokratien. Rückwärtsgewandt predigen sie die Größe ihrer Nationalstaaten, stellen die Eigeninteressen in den Vordergrund und erteilen dem Multilateralismus eine Absage. Vom »letzten Schritt« ist die internationale Staatengemeinschaft weiter entfernt denn je. Die Macht will sich der Vernunft nicht unterordnen. Der Krieg als größte Geißel der Menschheit ist zurück auf der politischen Bühne und bringt tausendfaches Leid mit sich.
Noch einmal Ankläger Jackson in Nürnberg: »Und lassen Sie es mich deutlich aussprechen: Dieses Gesetz wird hier zwar zunächst auf deutsche Angreifer angewandt, es schließt aber ein und muss, wenn es von Nutzen sein soll, den Angriff jeder anderen Nation verdammen, nicht ausgenommen die, die jetzt hier zu Gericht sitzen. Wir können im Innern Gewaltherrschaft, Willkür, Zwang und Überfall derer, die gegen die Rechte ihres eigenen Volkes an der Macht sind, nur beseitigen, wenn wir jedermann vor dem Gesetz verantwortlich machen. Dieser Prozess ist der verzweifelte Versuch der Menschheit, die Strenge des Gesetzes auf die Staatsmänner anzuwenden, die ihre Macht im Staate benutzt haben, die Grundlagen des Weltfriedens anzugreifen und die Hoheitsrechte ihrer Nachbarn durch Übergriff und Überfall zu verletzen.«[2]
Hier traf der Visionär Jackson den Nagel auf den Kopf: Der Prozess in Nürnberg war der verzweifelte Versuch der Menschheit, das Völkerrecht endlich zu dem zu machen, was es sein soll. Ein Instrument, den Frieden zu schützen, ihn einzufordern und Verstöße streng zu sanktionieren. Die Menschheit sehnt sich bis heute danach.
Das vorliegende Buch möchte dieser Sehnsucht Ausdruck geben. Es möchte erklären, warum das Völkerrecht so ist, wie es ist, wie es sich entwickelt hat, welche Potenziale es hat und warum wir es trotz seiner Defizite brauchen. Dabei wird zwangsläufig pauschalisiert, periodisiert, typisiert und auch ein wenig trivialisiert. Das Buch will einordnen, erklären, Missfallen ausdrücken, vor allem aber Hoffnung machen.
Im Kern geht es hier um das Sicherheitsrecht, nicht um das Wirtschaftsvölkerrecht. Internationale Wirtschaftsbeziehungen, WTO, Weltbank, Lieferkettengesetz, all das steht hier nicht im Fokus. Im multilateralen Geflecht des Wirtschaftsvölkerrechts liegt auch vieles im Argen, und seit der Amtsübernahme von Donald Trump ist die Unsicherheit groß. Doch in diesem Buch steht das Thema Krieg und Frieden im Mittelpunkt. Auch hier zeigt der Regierungswechsel in den USA seine Auswirkungen. Die Dysfunktionalitäten liegen aber im System, die Entwicklung hin zur heutigen Ratlosigkeit hat schon lange vorher begonnen.
Dieses Buch ist aus der Perspektive Mitteleuropas und insbesondere Deutschlands geschrieben. Als spätes Mitglied der Boomer-Generation, aufgewachsen in der alten Bundesrepublik, bin ich ein Kind des Kalten Kriegs. Das wird und soll auch deutlich werden, denn es ist vor allem meine Generation, die für viele der unerträglichen Situationen in der Welt verantwortlich ist, die heute unser Gewissen strapazieren. Das Buch ist also auch eine Art Selbstanklage. Ich habe mich bemüht, die Dynamik der aktuellen Entwicklungen in der Welt so weit wie möglich abzubilden. Dennoch sind dem Fortschreiben dieser Entwicklungen zeitliche Grenzen gesetzt, in diesem Fall ist es der 17. Juni 2025. Auf diesem Stand sind die folgenden Ausführungen.
Christoph Safferling
Erlangen, im Juni 2025
Das Völkerrecht ist das Recht, das die Staaten zur Regelung der Beziehungen untereinander setzen. Die Akteure oder Subjekte des Völkerrechts sind einzig und allein Staaten, so jedenfalls die traditionelle Lesart. Neben den Staaten gibt es nur noch drei originäre Völkerrechtssubjekte: das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, der Heilige Stuhl und der Malteser-Ritterorden. Eine große Rolle spielt das heutzutage nicht mehr.
Ist das Recht der Völker gleich dem Recht der Natur? Leben die Völker in einem Naturzustand miteinander, in dem ein Krieg aller gegen alle herrscht, in dem nichts gerecht oder ungerecht ist? Thomas Hobbes (1588–1679) hat das in seinem Leviathan so angenommen.[3] Auch Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) sieht im Völkerrecht kein wirkliches Machtinstrument mit Verbindlichkeit für die Staaten. Es zählt allein der Wille der Staaten.[4] Der Grund für diese Aussagen liegt in der Prämisse der Staatssouveränität: Staaten sind souverän und damit absolut. Sie sind keiner auswärtigen Macht unterworfen, an Regeln nur gebunden, soweit sie diesen zugestimmt haben, und nach innen frei zu entscheiden, wie sie das gesellschaftliche Leben gestalten.
Ist das Völkerrecht aber beliebig, welchen Wert hat es dann als Recht? Hat es überhaupt Rechtscharakter? Oder ist es nur Rhetorik im Geflecht internationaler Beziehungen, wie die zeitgenössischen amerikanischen Wissenschaftler Jack L. Goldsmith und Eric A. Posner meinen?[5]
Der große Aufklärer Immanuel Kant (1724–1804) setzt sein Vernunftkonzept gegen den Zustand der Rechtlosigkeit und sieht in seinem Vertragsentwurf Zum ewigen Frieden die Staaten in der Lage, über Bündnisse Streit zu schlichten und Kriege zu vermeiden.[6] Auch Kant geht von der Staatssouveränität als Grundlage des Völkerrechts aus. Er sieht darin aber die Chance für die Staaten, sich moralisch zu verhalten und rechtlich zu binden.
Der Schlüssel zum Verständnis des Völkerrechts liegt demnach genau hier: in der Staatssouveränität. Was genau aber meint hier »Souveränität«? Woher kommt dieses Konzept, und wie ist es legitimiert?
Im zwischenmenschlichen Kontext gibt es Souveränität auch. Hier nennen wir sie Persönlichkeitsrecht.[7] Die Begründung des Persönlichkeitsrechts liegt letztlich in der Menschenwürde. Der Schutz der Menschenwürde ist das oberste Gebot unserer Verfassung und steht deshalb ganz am Anfang: Die Würde des Menschen ist unantastbar (Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz). In dieser Formulierung greift der Artikel auf, was unveränderlich der Verfassung vorgeht, stellt aber zugleich die Forderung auf, dass jeder die Würde des anderen als unantastbar anzuerkennen hat.
Wir verstehen die Persönlichkeitsrechte aber nicht als absolut. Die Freiheit des Einzelnen ist immer beschränkt durch die Freiheit des anderen und der Gemeinschaft.[8] Über die Legitimation für die Beschränkungen mag man sich im Einzelnen streiten, aber über den elementaren Gedanken, dass die Freiheit des Einzelnen relativ zur Freiheit der anderen verstanden wird, besteht grundsätzliche Einigkeit in den demokratischen Rechtsstaaten der Welt. Dazu existieren Institutionen, Behörden und Gerichte, die diesen Ausgleich zwischen den Rechtspositionen Einzelner und den Interessen der Allgemeinheit überwachen und notfalls mittels Zwang durchsetzen.
Wieso nun gilt diese Relativität nicht in gleicher Art und Weise für die Staaten und ihre Souveränität? Woher kommt dieser Absolutheitsanspruch von Staaten? Warum fehlen hier allgemeine Institutionen, die einen Ausgleich schaffen zwischen den Interessen der Staaten und der Weltgemeinschaft? Wieso sind Staaten nur dann gebunden, wenn sie explizit auf ihre Souveränität verzichten? Ist der Krieg das einzige Mittel, völkerrechtliche Interessen durchzusetzen? Zur Beantwortung dieser Fragen müssen wir weiter ausholen. Zuvor möchte ich jedoch einen kurzen Blick auf die Geburt des neuzeitlichen Völkerrechts in der Folge des Dreißigjährigen Krieges werfen.
Das moderne Konzept der Staatssouveränität stammt aus der frühen Neuzeit. Der französische Staatsphilosoph Jean Bodin (1529–1596) hat es definiert als die dem Staat zustehende Letztentscheidungsbefugnis.[9] Er wollte damit Sicherheit und Frieden im Land garantieren, denn die konfessionellen Bürgerkriege hatten Frankreich stark in Mitleidenschaft gezogen. Die unbeschränkte Konzentration der Staatsgewalt auf den Monarchen konnte die Konfliktbeendigung im Innern garantieren. Heute sprechen wir vom staatlichen Gewaltmonopol oder von innerer Souveränität. Der legitime Herrscher ist der Souverän. Wie genau diese Herrschaft beschaffen ist, ob es ein absolutistischer Monarch ist, der von Gottes Gnaden eingesetzt ist, oder das Volk, das sich in demokratischen Wahlen eine Regierung setzt, ist dabei nicht wichtig. Souveränität funktioniert im Völkerrecht unabhängig von der Staats- und Regierungsform.
Dem folgt zunächst völlig stimmig, dass dieser Souverän Einflüsse von außen nicht tolerieren muss. Die Folge des Gewaltmonopols im Innern ist die äußere Souveränität. Vielleicht verstehen wir heute, wo wir russische und chinesische Trolle kennen, die via Social Media Politik und Wahlkampf in fremden Staaten beeinflussen, dieses Bedürfnis der Abgrenzung wieder besser, weil die Versuche, Einfluss von außen zu nehmen, offensichtlich sind. Im Mittelalter war die äußere Einflussnahme auf innerstaatliche Politik an der Tagesordnung bzw. Teil des Systems. Erinnert sei hier nur an den Einfluss des Papstes und der kirchlichen Machthaber.[10]
Wie geht man nun aber wechselseitig mit dieser äußeren Souveränität um? Ist diese in irgendeiner Art und Weise beschränkt oder beschränkbar? Ist sie einer – möglicherweise gerichtlichen – Kontrolle unterworfen? Wie verhält sich die Souveränität des einen Staates zu der des anderen?
Seit 1618 tobte in Europa eine kriegerische Auseinandersetzung unterschiedlicher Könige und Fürsten, die fürchterliches Leid, Hungersnot und Seuchen über weite Teile des Heiligen Römischen Reichs brachte. Das Morden, Verwüsten und Rauben im Namen der richtigen Religion sollte Europa dreißig Jahre lang fest im Griff halten. Die Religion stand schon bald nicht mehr im Mittelpunkt, sondern es ging um territoriale Interessen der Mächtigen. Krieg war zum damaligen Zeitpunkt aber nicht so sehr Teil des staatlichen Systems, als dass die Machthaber über große stehende Heere verfügt hätten, die nun zum Einsatz kamen. Vielmehr wurden Söldnerheere angeheuert, die sich am besten selbst versorgen sollten. Gemäß dem von Friedrich Schiller (1759–1805) geprägten Satz »Der Krieg ernährt den Krieg«[11] wurde das Plündern und Ausbluten ganzer Landstriche freigegeben, um die Soldaten zu versorgen und bei Laune zu halten.[12]
Erst ein gesamteuropäischer Friedenskongress konnte 1648 die Kriege beenden. Die Lage war indes so verfahren, dass man sich nicht einmal auf einen gemeinsamen Verhandlungsort einigen konnte. Die Stadt Münster war während der fünfjährigen Verhandlungsdauer Schauplatz der Friedensverhandlungen für die katholische Seite, in Osnabrück tagten die protestantischen Verhandlungsführer. In einigen Nachfolgekonferenzen in Nürnberg, dem »Nürnberger Exekutionstag«, wurden in den Jahren 1649 und 1650 Einzelheiten des Truppenabzugs und der Entschädigungsfragen geklärt. Der am 24. Oktober 1648 in Münster und Osnabrück unterzeichnete Westfälische Frieden definierte die Machtbalance in Europa neu und bildet bis heute die Grundlage des modernen Völkerrechts.
Es sind diese drei Prinzipien, die das »Westfälische System«, wie es in der Völkerrechtswissenschaft gern genannt wird, ausmachen. Erstens: Jeder Staat ist souverän. Zweitens: Jeder Staat hat klare territoriale Grenzen, innerhalb derer er das Gewaltmonopol innehat. Drittens: Die Staaten sind untereinander gleichberechtigt.
Der Krieg als Mittel der Durchsetzung politischer Ziele wird in den Verträgen explizit nicht ausgeschlossen. Im Gegenteil: Krieg ist weiterhin eine Normalität im Rahmen dieses auf Souveränität und Gleichheit ausgerichteten Staatensystems.
Man darf den Westfälischen Frieden nun nicht als singuläres Gründungsereignis des europäischen Nationalstaates oder eines völkerrechtlichen Gesamtsystems missverstehen. Das widerspräche der historischen Entwicklung. 1648 markiert in dieser langen Entwicklungsgeschichte aber gleichwohl einen wichtigen Meilenstein.[13] Zudem wird der Westfälische Frieden in den internationalen Beziehungen und im Völkerrecht regelmäßig mit den Prämissen Souveränität und Gleichheit der Staaten wie eine Monstranz hochgehalten, und weitere Entwicklungen werden immer wieder daran gemessen und bewertet. Dabei täte es not, den Frieden von Münster und Osnabrück als das zu sehen, was er historisch war: die Beendigung mehrere Jahrzehnte lang tobender Kriege durch Festlegung von Territorialgrenzen, Zahlung von Entschädigungen und Bestimmungen über die Religionsausübung, was für einen gewissen Zeitraum eine Friedensarchitektur in Europa garantieren konnte. Aus dem Westfälischen Frieden heute noch Forderungen abzuleiten, scheint daher mehr als fragwürdig. Gleichwohl wird in der Politik- und Völkerrechtswissenschaft häufig mit diesen Verträgen argumentiert. Dass man sich damit eine Verkrustung der Strukturen erkauft und notwendige Veränderungen verhindert, zeigt die jüngste Entwicklung in der Weltgeschichte sehr deutlich.
Die Verengung des Blicks auf ein einzelnes Ereignis widerspricht im Grunde auch der Entwicklung des Völkerrechts. Das Völkerrecht besitzt nämlich durchaus ein hohes Maß an Dynamik. Es entwickelt sich von Fall zu Fall. Völkerrecht ist immer auch Völkerrechtsgeschichte. Neue Herausforderungen lassen neue Lösungen entstehen, die in der Folge akzeptiert werden oder eben auch nicht. Es ist wie ein Haus, an dem ständig gebaut wird, wobei auch mal Teile wieder zurückgebaut werden und an einer anderen Stelle etwas hinzugefügt wird, ein Haus, an dem unfertige Teile gleich neben prächtig mit Stuck verzierten Festsälen liegen.
Dieses Bild verdeutlicht, wie sehr sich das Völkerrecht von einem nationalen Rechtssystem unterscheidet. Im nationalen Kontext erwarten wir ein stabiles Haus, das auf einem tragfähigen Fundament namens Verfassung steht, dessen Dach dafür sorgt, dass niemand nasse Füße bekommt, und das so isoliert ist, dass niemand frieren muss. Natürlich wird da auch an- und umgebaut, werden einzelne Räume mehr oder weniger aufwendig verziert oder Schmuck wieder abgetragen. Aber die Grundstruktur eines sicheren Wohnhauses bleibt erhalten.
Im Haus des Völkerrechts gibt es kein Dach über dem gesamten Haus. Allenfalls einzelne Teile sind vor Regen und Schnee geschützt. Ein kräftiger Sturm kann auch einen Teil des Hauses zum Einsturz bringen. Stabil ist lediglich das Fundament, bestehend aus der Souveränität und Gleichheit der Staaten als die geborenen Subjekte des Völkerrechts.
Aus dem oben beschriebenen dynamischen Charakter ergibt sich auch die Methodik, wie Völkerrecht »entsteht«. In der Völkerrechtswissenschaft sprechen wir von den »Quellen des Völkerrechts«.
Grundsätzlich sind drei Arten zu unterscheiden: Die wichtigste Form ist der Vertrag. Das können (bilaterale) Verträge zwischen zwei Staaten oder auch (multilaterale) Verträge einer größeren Zahl von Staaten sein, wie etwa die Charta der Vereinten Nationen.
Daneben gibt es zwei weitere Quellen des Völkerrechts. Zu nennen ist dabei zunächst das Völkergewohnheitsrecht. Dieses ergibt sich aus einer gewissen Übung (Gewohnheit, Praxis) und der damit korrespondierenden Überzeugung der Völkerrechtssubjekte, dass es sich dabei auch um eine rechtliche Regel (opinio iuris) handelt. Staatenpraxis und opinio iuris müssen vorliegen, damit man von einer Regel des Völkergewohnheitsrechts sprechen kann.
Völkerrecht kann sich auch aus allgemeinen Rechtsprinzipien ergeben. Gemeint sind damit rechtliche Normen und Prinzipien, die in so gut wie allen innerstaatlichen Rechtsordnungen anerkannt sind und sich auf die Ebene des Völkerrechts übertragen lassen. Im Statut des Internationalen Gerichtshofs, wo in Art. 38 die Völkerrechtsquellen genannt sind, wird hier von Rechtsgrundsätzen gesprochen, die von den »Kulturvölkern« anerkannt sind. Die Vorstellung, dass es »Kulturvölker« und unzivilisierte Völker gibt, entspricht der Auffassung der Sieger von 1945. Am Ende des Zweiten Weltkriegs waren sich die beteiligten Staaten darin einig, dass Deutschland und Japan nicht zu den Kulturvölkern zu zählen waren. Sie hatten sich selbst durch ihre Aggressionspolitik und ihre verbrecherische Kriegsführung aus dem Kreis der zivilisierten Völker herauskatapultiert.[14] Heute ist diese Unterscheidung natürlich nicht mehr haltbar. Dabei war die Vorstellung von »Kulturvölkern« und »unzivilisierten Völkern« auch schon 1945 falsch, denn sie widerspricht ganz offen dem Grundsatz der Gleichheit der Staaten.
Die Lehre von den Völkerrechtsquellen ist auf dem Papier somit rasch erklärt. In der Praxis stoßen wir indes immer wieder auf gewaltige Schwierigkeiten. Das liegt nicht am Völkerrecht selbst. Verträge mögen schwierig auszulegen sein, verschiedene Sprachfassungen mögen zu Problemen bei der Interpretation führen, mit dem »Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge« existiert seit 1969 aber eine anerkannte und gangbare Methodik.[15] Danach sind die Verträge objektiv, also nach dem Wortlaut, der Systematik und dem Sinn und Zweck auszulegen. Die Vorstellungen der Vertragsparteien bei Vertragsschluss sind ergänzend heranzuziehen.
So weit zur Klarheit von Verträgen. Wie aber stellt man fest, was Völkergewohnheitsrecht ist? Die Definition unterscheidet zwischen einem objektiven Element, der Staatenpraxis (consuetudo), und einem subjektiven Element, der Rechtsüberzeugung (opinio iuris). Würde man das objektive Element ernst nehmen, so käme man in vielen Fällen wahrscheinlich zu keinem Ergebnis. Klar ist, man darf die Staatenpraxis nicht quantitativ verstehen. Das ist keine Zählaufgabe. Es können auch nur wenige Staaten eine entsprechende Rechtspraxis ausmachen, wenn es eben die Staaten sind, die besonders betroffen sind. Geht es also etwa um den Festlandsockel in der Nordsee, um einen bekannten Fall des Internationalen Gerichtshofs zu bemühen, wird die Staatenpraxis durch die Nordseeanrainerstaaten geprägt.[16]
Auch stößt diese Herangehensweise an Grenzen, wenn es neue Fallkonstellationen zu bewerten gibt. Kann Völkerrecht nicht auch spontan entstehen? Reicht es möglicherweise aus, wenn ein Staat sich auf eine Weise verhält und kein anderer Staat widerspricht?
Die Beantwortung der Frage, ob eine Norm völkergewohnheitsrechtliche Geltung beanspruchen kann, liegt, so scheint es, häufig im Auge des Betrachters. Dabei gibt es hier viele umstrittene Fälle: Welche Geltung haben die Menschenrechte oder die Regelungen des humanitären Völkerrechts? Gibt es eine humanitäre Intervention als Ausnahme vom Gewaltverbot, wie die NATO das für den Kosovo-Fall behauptet hat? Sind Präventivkriege erlaubt, wie die Bush-Doktrin nach 9/11 das verstanden hat? Wir werden darauf zurückkommen.
Nicht weniger problematisch sind die Allgemeinen Rechtsgrundsätze. Viele dieser Prinzipien sind aus dem Privatrecht bekannt, was schon deshalb nicht überrascht, weil das Völkerrecht, wie das Privatrecht, von der Gleichheit und Souveränität der Rechtssubjekte ausgeht.[17] Aus dem hierarchischen Denken von Öffentlichem Recht und Strafrecht lässt sich das Verhältnis der Staaten untereinander eher nicht ableiten. Es sind also Prinzipien wie pacta sunt servanda (Verträge sind einzuhalten), clausula rebus sic stantibus (Wegfall der Geschäftsgrundlage), venire contra factum proprium (Widerspruch zu früherem Verhalten) oder der allgemeine Grundsatz von Treu und Glauben (bona fide). Aber lässt sich aus den allgemeinen Rechtsprinzipien nicht viel mehr ableiten? Zum Beispiel eine prinzipiengeleitete Rechtsordnung, die im Wesentlichen auf dem Grundsatz der Abwägung beruht?[18] Die Menschenrechte, die Nürnberger Prinzipien, das Gewaltverbot und Friedensgebot als allgemeine Rechtsprinzipien könnten, so verstanden, die Grundlage der Völkerrechtsordnung bilden. Das ist ein vielversprechender theoretischer Ansatz. Auch hierauf werden wir zurückkommen.
Eine Folge von Gleichheit und Unabhängigkeit souveräner Staaten ist Staatenimmunität. Kein Staat kann über einen anderen Staat zu Gericht sitzen, gemäß dem Grundsatz par in parem non habet iudicium. Ein Staat kann also einen anderen Staat nicht vor seinen eigenen, innerstaatlichen Gerichten verklagen. Das ist zunächst eine durchaus einleuchtende Regelung. Ohne diese Regelung kämen internationale Beziehungen sehr wahrscheinlich zum Erliegen, weil sich Staaten jeweils wechselseitig mit Gerichtsverfahren überziehen würden. Diese Immunitätsregelung hat der US Supreme Court in einer Entscheidung aus dem Jahr 1812 als Völkergewohnheitsrecht bezeichnet. In dem zugrunde liegenden Fall, er gilt als der erste in Sachen Staatenimmunität,[19] ging es um ein Segelschiff, die Exchange, welche von Napoleon Bonaparte beschlagnahmt und zum Kriegsschiff umgerüstet worden war. Als das Schiff unter dem Namen Balaou zwei Jahre später nach einem Sturmschaden in Philadelphia zur Reparatur andockte, klagten die früheren Eigentümer John McFaddon und William Greetham vor US-Gerichten auf Rückgabe des Schoners. Chief Justice Marshall stellte in der Entscheidung fest, dass die Gerichte in den USA keine Gerichtsbarkeit über fremde Staaten und deren diplomatische Repräsentanten haben.[20] Da es sich hier um ein französisches Kriegsschiff handelte, konnten die früheren Eigentümer keine Ansprüche geltend machen.
Italien konnte also die Bundesrepublik Deutschland auch nicht vor einem italienischen Gericht auf Reparationszahlungen für Kriegsverbrechen während des Zweiten Weltkriegs verklagen. Der Internationale Gerichtshof sah in diesem Fall auch keine Ausnahme von der Immunitätsregel, obwohl fundamentale Menschenrechte verletzt worden waren.[21]
Ob Immunitätsregelungen, die eine Klage gegen einen Staat ausschließen, auch im Strafrecht gelten, ist eine andere Frage. Im Strafrecht wird nicht der Staat verklagt, sondern ein Individuum wird angeklagt. Eine natürliche Person wird beschuldigt, Straftaten, im Fall des Völkerrechts eben internationale Straftaten, begangen zu haben. Die verdächtige Person kann dabei aber auch für einen Staat gehandelt haben. Sind dann auch Immunitätsregeln zu beachten? Grundsätzlich sind Repräsentanten des einen Staates auch immun gegen Strafverfolgung durch einen anderen Staat, wenn sie für ihren Staat handeln (funktionelle Immunität). Hier aber hat sich eine Ausnahme für die seit Nürnberg anerkannten internationalen Kernverbrechen (Aggression, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und auch Völkermord) herausgebildet. Wie weit diese geht und ob es sie überhaupt geben kann, ist in der Völkerrechtspraxis umstritten. In der Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen sind zuletzt im Zusammenhang mit einem Entwurf zur Immunitätsregelung Diskussionen darüber aufgekommen. Dort wird seit 2007 über »Draft Articles on Immunity of State Officials« debattiert.
In Art. 7 dieses Entwurfs wird das Prinzip der Immunität im Fall von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, Apartheid, Folter und Verschwindenlassen ausgesetzt. Im letzten Entwurf ist nun auch richtigerweise das Verbrechen der Aggression enthalten.[22]
Der Grund für diese Ausnahme wird in einem sich entwickelnden Völkergewohnheitsrecht (discernible trend) gesehen.[23] Die Völkerrechtskommission wurde schwer kritisiert für diese Aktualisierung. Vor allem wird gegen die Ausnahme vorgebracht, sie sei missbrauchsanfällig. Schon mit der Behauptung, es seien Kernverbrechen verwirklicht, könnten dann vor einem nationalen Gericht Strafverfahren zum Beispiel gegen Diplomaten angestrengt werden. Mit der Behauptung etwa, Deutschland unterstütze mit Waffenlieferungen an Israel den an den Palästinensern vermeintlich begangenen Völkermord, könnten Mitarbeiterinnen des Auswärtigen Amtes festgesetzt und strafrechtlich verfolgt werden. Da nun mit genau dieser Behauptung von Nicaragua ein Verfahren gegen Deutschland vor dem Internationalen Gerichtshof angestrengt wurde,[24] ist die Kritik an einer solchen Auffassung vielleicht gar nicht so aus der Luft gegriffen. Entsprechend zurückhaltend hat sich die Bundesrepublik dann auch in der Diskussion bei den Vereinten Nationen verhalten.[25] Es wird in Zweifel gezogen, ob eine Ausnahme vom Grundsatz der funktionellen Immunität tatsächlich fest im Völkergewohnheitsrecht verankert ist.[26] Das wiederum wurde zu Recht als viel zu vage kritisiert, insbesondere für die Bundesrepublik Deutschland, die doch ein »Champion« des Völkerstrafrechts sein will.[27]
Jedenfalls hat der Bundesgerichtshof in einer Entscheidung über einen Offizier der afghanischen Armee, der gefangene Taliban-Kämpfer misshandelt hat, klar festgestellt, dass es keine funktionelle Immunität vor deutschen Gerichten bei Kernverbrechen gebe, und diese Ansicht in weiteren Entscheidungen gefestigt.[28] »Der Ausschluss dieser funktionellen Immunität fremder Hoheitsträger bei Völkerstraftaten gehört zum zweifelsfreien Bestand des Völkergewohnheitsrechts«, betont der Staatsschutzsenat des Bundesgerichtshofs in seiner jüngsten Entscheidung gegen einen syrischen Handlanger des vormaligen Diktators Assad.[29] Er beruft sich dabei – neben einer Menge fast ausschließlich deutschsprachiger Literaturstellen – auf den Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess sowie das Verfahren gegen Adolf Eichmann in Jerusalem und zitiert eine Entscheidung des Jugoslawienstrafgerichtshofs im Fall Blaškić.[30]
Nun hat auch der Gesetzgeber – durchaus auf Druck aus der Wissenschaft – einen klarstellenden Satz ins Gesetz geschrieben. »Funktionelle Immunität hindert nicht die Erstreckung deutscher Gerichtsbarkeit auf die Verfolgung von Verbrechen nach dem Völkerstrafgesetzbuch« heißt es nun in § 20 Abs. 2 Gerichtsverfassungsgesetz in Umsetzung der Rechtsprechung.[31] Nun fehlt nur noch die Stimme des Bundesverfassungsgerichts, damit jegliche Zweifel an der völkergewohnheitsrechtlichen Ausnahme verstummen können.[32]
Diese Ausnahme gilt aber nicht für Staatenführer, die während der Ausübung ihres Amtes zusätzlich personelle Immunität genießen. Zu Staatenführern in diesem Sinne zählt man die sogenannte Troika aus Staatsoberhäuptern, Regierungschefs und Außenministern. Das erkennt auch der Bundesgerichtshof unumwunden an.[33] Der Internationale Gerichtshof hatte schon vor mehr als zwanzig Jahren in einem viel beachteten Verfahren zwischen Belgien und dem Kongo festgestellt, dass die Staatenführer, während sie im Amt sind, allenfalls durch internationale Strafgerichte strafrechtlich verfolgt werden können.[34] Nationale Gerichte sind wegen des Prinzips der personellen Immunität in jedem Fall daran gehindert, Staatschefs anzuklagen, während sie noch im Amt sind. Diese Gegenausnahme soll die Handlungsfähigkeit des betroffenen Staates gewährleisten und wiederum verhindern, dass sich die Staaten in der Folge wechselseitig mit Haftbefehlen überziehen. Denn dadurch würden die internationalen Beziehungen in eine ernsthafte Schieflage geraten.
Wladimir Putin und Benjamin Netanjahu können also nicht vor einem deutschen Gericht wegen Völkerstraftaten angeklagt werden. Sie sind durch den völkerrechtlichen Grundsatz personeller Immunität für Staatsoberhäupter und Regierungschefs geschützt, solange sie im Amt sind. Diese personelle Immunität kann nur ein internationales Gericht wie der Internationale Strafgerichtshof überwinden. Die dort erlassenen Haftbefehle gegen Putin und Netanjahu durchbrechen das Immunitätsdogma. Mitgliedstaaten des Internationalen Strafgerichtshofs sind qua Vertragsunterzeichnung verpflichtet, den Internationalen Strafgerichtshof bei der Erfüllung seines Auftrags zu unterstützen. Das bedeutet, dass die Bundesrepublik Deutschland die Haftbefehle auch durchsetzen müsste, sollte einer der Gesuchten deutschen Boden betreten. Ein politisches Dilemma?
»In Fällen, die von den geschriebenen Regeln des internationalen Rechts nicht erfasst sind, verbleiben Zivilpersonen und Kombattanten unter Schutz und der Herrschaft der Grundsätze des Völkerrechts, wie sie sich aus den feststehenden Gebräuchen, aus den Grundsätzen der Menschlichkeit und aus den Forderungen des öffentlichen Gewissens ergeben.«
Dieser Grundsatz, die Martens’sche Klausel, wurde von dem russischen Völkerrechtler und Professor an der Universität St. Petersburg Friedrich Fromhold Martens 1899 anlässlich der ersten Haager Friedenskonferenz formuliert. Er ging ein in die Präambel der Haager Landkriegsordnung von 1907. Der Krieg ist kein rechtsfreier Raum, das ist die Grundaussage dieses Programmsatzes.
Um die Entwicklung des Kriegsvölkerrechts oder besser des humanitären Völkerrechts zu verstehen, muss man sich zunächst klarmachen, dass hier der Umstand, dass Krieg herrscht, nicht infrage gestellt wird. Die Regeln finden Anwendung unabhängig davon, wie es zu der bewaffneten Auseinandersetzung gekommen ist. Diese Aufspaltung in das ius ad bellum, also das Recht zur Kriegsführung, und das ius in bello, also das Recht, das im Krieg gilt, mag zwar heute schwer nachvollziehbar sein, ist aber nach wie vor eine der Grundlagen des internationalen Sicherheitsrechts.
Die Entwicklung des humanitären Völkerrechts kennt zwei Ursprünge. Noch vor den Haager Friedenskonferenzen wurde 1863 in Genf das »Internationale Komitee vom Roten Kreuz« gegründet. Einer der Gründerväter dieser Organisation war der Schweizer Geschäftsmann Henry Dunant (1828–1910). Er wurde eher zufällig am 24. Juni 1859 in der Ebene bei Solferino, südlich des Gardasees, Zeuge der Zustände auf dem Schlachtfeld nach der Schlacht zwischen den verbündeten Truppen des sardischen Königs und des französischen Kaisers Napoleon III. auf der einen Seite und der Armee des Kaisers von Österreich auf der anderen. Mehr als 300000 Menschen standen sich in Waffen gegenüber. Fünfzehn Stunden lang wurde gekämpft. Unter dem Titel Un Souvenir de Solférino (Eine Erinnerung an Solferino) veröffentlichte Dunant 1862 seine Erinnerungen und seine Bemühungen um ärztliche Hilfe für Verwundete beider Seiten. Er forderte darin auch die Gründung privater Hilfsorganisationen, die absolut neutral den Konfliktparteien gegenüber sich allein um die Versorgung der im Feld Verwundeten kümmern sollten. Das Buch ließ er auf eigene Kosten in einer Auflage von 1600 Stück drucken und an einflussreiche Persönlichkeiten verschicken. So gewann sein Bericht große Beachtung. In der Folge wurde bereits 1863 das »Internationale Komitee der Hilfsgesellschaften für die Verwundetenpflege«, das 1876 in »Internationales Komitee vom Roten Kreuz« umbenannt wurde, gegründet. Am 22. August 1864 wurde die erste Genfer Konvention verabschiedet mit grundlegenden Regeln für die Versorgung der Kranken und Verwundeten in Feldlazaretten. Zusammen mit dem französischen Pazifisten Frédéric Passy wurde Henry Dunant für sein Engagement im Jahr 1901 mit dem Friedensnobelpreis geehrt.
Diese Anfänge verdeutlichen bereits die Grundpfeiler des humanitären Völkerrechts: Reziprozität in der Anerkennung neutraler medizinischer Versorgung. Das bedeutet, dass die Staaten sich wechselseitig verpflichten, die Pflege der Kranken und Verwundeten zu dulden und zu schützen. Dabei steht der einzelne Mensch im Vordergrund, der verletzte, der verwundete Kombattant, der versorgt werden muss und dem medizinische Unterstützung, egal welcher Partei er angehört, staatlicherseits nicht verwehrt werden darf.
Wenige Jahre später versammelten sich Vertreter der europäischen Staaten, der USA, Japans und Chinas im Sommer 1899 in Den Haag zu einer ersten großen Friedenskonferenz. Die Initiative dazu war vom russischen Zaren Nikolaus II. ausgegangen. Eingeladen hatte die niederländische Königin Wilhelmina. Auf einer zweiten Konferenz 1907 waren insgesamt 44 Staaten vertreten. Zar Nikolaus warnte vor einer Katastrophe, die drohen würde, wenn man keine Anstrengungen unternähme, friedliche Lösungen zur Streitbeilegung verbindlich vorzuschreiben.[35] Doch die Konferenz scheiterte, nicht zuletzt am Veto des Deutschen Reichs, das sich dem Grundsatz der Verbindlichkeit widersetzte. Und die Katastrophe folgte fast auf dem Fuße: 1914 brach der Erste Weltkrieg aus.
Einigen konnte man sich im Verlauf der beiden Haager Konferenzen allerdings auf gewisse Verhaltensregeln im Konfliktfall. Die Haager Landkriegsordnung, die auf dieser Konferenz endgültig verabschiedet wurde, enthielt die »Gesetze und Gebräuche des Landkriegs« und die eingangs zitierte Martens’sche Klausel als Ausgangspunkt. Der Krieg ist demnach kein rechtsfreier Raum, es gibt Beschränkungen bei der Wahl der Mittel der Kriegsführung, und Zivilpersonen und zivile Einrichtungen sind so weit wie möglich zu schonen.
In der Logik des humanitären Völkerrechts von Den Haag steht allerdings nicht der Einzelne im Vordergrund. Es geht allein um militärische Operationen von Staaten, die gewissen Einschränkungen unterworfen werden sollen, um die Mittel und Methoden der Kriegsführung. Einzelne profitieren zwar mittelbar von den Regelungen, etwa von dem Gebot der Schonung der Zivilbevölkerung. Daraus lässt sich aber kein Recht des Einzelnen ableiten.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, das die schlimmsten Katastrophen der Menschheitsgeschichte noch erleben sollte, gab es also bereits ein relativ ausgereiftes Konzept des humanitären Völkerrechts. Mit dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz gab es sogar eine international anerkannte, mit dem Status eines Völkerrechtssubjekts versehene Institution, welche für die im Krieg Verwundeten und Gefangenen Sorge tragen sollte. Die Staaten hatten sich selbst verpflichtet, militärische Operationen Rechtsregeln zu unterwerfen und eine Organisation anzuerkennen, die neutral gegenüber den Konfliktparteien zum Schutz von Verwundeten und Gefangenen tätig werden kann.
Den Friedenskonferenzen in Den Haag zum Trotz ließ der deutsche Kaiser Wilhelm II. nach dem Attentat von Sarajevo auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand am 28. Juni 1914 mobil machen und trat an der Seite Österreichs in einen Krieg gegen Serbien, Russland und Frankreich ein, der bald den ganzen Kontinent überziehen sollte. Nach vier Jahren Krieg war Europa kaum wiederzuerkennen. Das Zarenreich war mit der Oktoberrevolution 1917 untergegangen, Österreich-Ungarn zerfiel, das Osmanische Reich war am Ende, und in Deutschland dankte der Kaiser ab. Am 9. November 1918 wurde die Republik ausgerufen.
Wie die Politik war auch die Kriegsführung, anders als kurz zuvor vereinbart, gnadenlos: Der Einsatz von Giftgas, der totale U-Boot-Krieg und der Völkermord an den Armeniern sind drei offensichtliche Verstöße gegen die Vereinbarungen von Genf und Den Haag, die im Zusammenhang mit dem »großen Krieg« begangen wurden.
Im Versailler Vertrag wurden diese Verletzungen benannt. Sie sollten nicht widerspruchslos hingenommen werden. Bislang waren zwar Schuldzuweisungen und Kompensationszahlungen in Friedensverträgen durchaus vorgesehen. Über die Kriegshandlungen selbst wurde aber eher der Mantel des Schweigens gelegt. Auch weil in der Regel alle Kriegsparteien sich gegen die Gesetze und Gebräuche des Krieges versündigt hatten. Die Unterhändler von Versailles wollten die deutsche Kriegsführung aber nicht so einfach hinnehmen. Der Versailler Vertrag umfasste deshalb in Teil VII Strafbestimmungen. Zunächst den deutschen Kaiser unmittelbar betreffend:
»Artikel 227
Die alliierten und assoziierten Mächte stellen Wilhelm II. von Hohenzollern, vormaligen Kaiser von Deutschland, wegen schwerer Verletzung des internationalen Sittengesetzes und der Heiligkeit der Verträge unter öffentliche Anklage.
Ein besonderer Gerichtshof wird eingerichtet, um über den Angeklagten unter Wahrung der wesentlichen Bürgschaften des Rechts auf Verteidigung zu Gericht zu sitzen. Der Gerichtshof besteht aus fünf Richtern, von denen je einer von folgenden fünf Mächten, namentlich den Vereinigten Staaten von Amerika, Großbritannien, Frankreich, Italien und Japan, ernannt wird.
Der Gerichtshof urteilt auf der Grundlage der erhabensten Grundsätze der internationalen Politik; Richtschnur ist für ihn, den feierlichen Verpflichtungen und internationalen Verbindlichkeiten ebenso wie dem internationalen Sittengesetze Achtung zu verschaffen. Es steht ihm zu, die Strafe zu bestimmen, deren Verhängung er für angemessen erachtet.
Die alliierten und assoziierten Mächte werden an die Regierung der Niederlande das Ersuchen richten, den vormaligen Kaiser zum Zwecke seiner Aburteilung auszuliefern.«
Des Weiteren richteten sich diese Strafbestimmungen gegen hochrangige Militärs:
»Artikel 228
Die deutsche Regierung räumt den alliierten und assoziierten Mächten die Befugnis ein, die wegen eines Verstoßes gegen die Gesetze und Gebräuche des Krieges angeklagten Personen vor ihre Militärgerichte zu ziehen. Werden sie schuldig befunden, so finden die gesetzlichen Strafen auf sie Anwendung. Diese Bestimmung greift ohne Rücksicht auf ein etwaiges Verfahren oder eine etwaige Verfolgung vor einem Gerichte Deutschlands oder seiner Verbündeten Platz.
Die deutsche Regierung hat den alliierten und assoziierten Mächten oder derjenigen Macht von ihnen, die einen entsprechenden Antrag stellt, alle Personen auszuliefern, die ihr auf Grund der Anklage, sich gegen die Gesetze und Gebräuche des Krieges vergangen zu haben, sei es namentlich, sei es nach ihrem Dienstgrade oder nach der ihnen von den deutschen Behörden übertragenen Dienststellung oder sonstigen Verwendung bezeichnet werden.
Artikel 229
Sind die strafbaren Handlungen gegen Staatsangehörige einer der alliierten und assoziierten Mächte begangen, so werden die Täter vor die Militärgerichte dieser Macht gestellt.
Sind die strafbaren Handlungen gegen Staatsangehörige mehrerer alliierter und assoziierter Mächte begangen, so werden die Täter vor Militärgerichte gestellt, die sich aus Mitgliedern von Militärgerichten der beteiligten Mächte zusammensetzen.
In jedem Fall steht den Angeklagten die freie Wahl seines [sic] Anwalts zu.«
Der Versailler Vertrag schrieb also die Verantwortung des deutschen Kaisers Wilhelm II. eindeutig fest und forderte ein internationales Strafverfahren. Das ist schon eine Überraschung. Am Ende des Kriegs hatten sich aber auch die anfänglichen Skeptiker mehr und mehr überzeugen lassen. Vor allem die Öffentlichkeit war an einer Bestrafung interessiert. »Hang the Kaiser« war schließlich auch der Slogan, der David Lloyd George im Dezember 1916 zum Wahlsieger und Hausherrn in 10 Downing Street gemacht hatte.[36]
Mehr als ein Lippenbekenntnis war das aber nicht. Es war ein Kompromiss zwischen dem amerikanischen Präsidenten Wilson, der gegen die Strafverfolgung war, und Premierminister Lloyd George. Die in Art. 227 formulierte »Strafnorm« des schweren Verstoßes gegen das Sittengesetz und die Verletzung der Heiligkeit der Verträge ließ sich schlechterdings nicht durchsetzen. Es war also von Anfang an nicht wirklich ernst gemeint.[37]
Versuche, den Hohenzollernkaiser doch vor Gericht zu bringen, scheiterten aber schließlich endgültig am Widerstand der Niederlande. Nach seiner Abdankung floh Wilhelm II. 1918 ins Exil in die neutralen Niederlande, deren Bevölkerung davon völlig überrascht wurde. Königin Wilhelmina hatte ihm Asyl gewährt. Im Landhaus Huis Doorn bei Utrecht sollte der 61-Jährige noch über zwanzig Jahre lang seinen Lebensabend in Ruhe verbringen können. Eine Auslieferung war schon aus formalen Gründen schwierig, schließlich gab es weder ein Gericht, an das hätte ausgeliefert werden können, noch gab es für die Überstellung an ein internationales Gericht eine gesetzliche Grundlage, und schließlich war die Auslieferung wegen politischer Straftaten damals wie heute ein Problem.[38] Eine Auslieferung an Deutschland wäre möglich und sogar vorrangig gewesen. Die Weimarer Republik hatte aber keinerlei Interesse an einer Rückkehr des früheren Kaisers und wollte eine mögliche Konterrevolution vermeiden, im Gegenteil: Man tat alles, um Wilhelm den Aufenthalt im Schloss Doorn so angenehm wie möglich zu gestalten.
Anders verfuhr man mit den weiteren Kriegsverbrechen nach Art. 228 des Versailler Vertrags. Die alliierten Regierungen stellten eine Namensliste mit circa 890 Personen zusammen, die an das Ausland ausgeliefert werden sollten. Die deutsche Regierung versuchte das zu vermeiden. Die Auslieferung hochrangiger Militärs an ein alliiertes oder internationales Gericht zur strafrechtlichen Verfolgung wegen Kriegsverbrechen war gesellschaftlich in Deutschland nicht durchzusetzen. Quer durch alle gesellschaftlichen und politischen Schichten wäre dies als Erniedrigung empfunden worden. Zudem konnte darauf verwiesen werden, dass nach § 9RStGB von 1871 ein Deutscher nicht an eine ausländische Regierung zur Strafverfolgung ausgeliefert werden durfte. Man versprach die Prozesse selbst durchzuführen. Von alliierter Seite wurde das schließlich unter der Prämisse akzeptiert, dass die Verfahren vor eigenen Gerichten wiederholt werden durften, sollte die Strafverfolgung in Deutschland nicht befriedigend ausfallen.[39]
Auf der Grundlage des Kriegsverbrecherverfolgungsgesetzes[40] von 1919 wurden schließlich in den Jahren 1921/22 zwölf Personen vor dem Reichsgericht in Leipzig in erster und einziger Instanz angeklagt. Diese Verfahren sind als die Leipziger Prozesse in die Geschichte eingegangen.[41] Der geringen Zahl der tatsächlich Verfolgten entsprach die richterliche Milde bei der Strafzumessung; schließlich kam es zu lediglich acht Verurteilungen.[42] Eine ernsthafte Strafvollstreckung fand nicht statt. Den Bemühungen der Alliierten, den Verfolgungsanspruch aus dem Versailler Vertrag durchzusetzen, begegnete Deutschland mit beharrlicher Weigerung, die vermeintlichen Kriegsverbrecher auszuliefern. Zwangsmittel hatten die Alliierten nicht. Einen neuerlichen Krieg in Europa wollte man vermeiden, sodass die Regierungen nicht weiter auf der Auslieferung beharrten, ohne das Ersuchen allerdings förmlich zurückzunehmen.[43]
Die Leipziger Prozesse, die auch als »Verliererjustiz« bezeichnet wurden, stehen daher als Synonym für ein Versagen juristischer Aufarbeitung von Kriegsverbrechen. Die nationale Justiz hatte sich als unfähig erwiesen, Kriegsverbrecher zu verfolgen.[44] Die Deutschen sahen in den Angeklagten auch keine Verbrecher, sondern Helden, die sich bedingungslos für das Vaterland aufgeopfert hatten. Die Aburteilung deutscher Kriegsverbrecher wird »vom Volksempfinden mit Recht als eine brutale Verhöhnung und Vergewaltigung jeden Rechtsgefühls empfunden«, schrieb Reichsjustizminister Schiffer in einer vertraulichen Note an den württembergischen Staatspräsidenten Hieber.[45]
Grundlage der Leipziger Prozesse war das nationale Strafrecht. Angewendet wurden die Straftaten des Reichsstrafgesetzbuchs. Von internationalen Kriegsverbrechen ist keine Rede. Ein einziger Fall schaffte es in die internationale Völkerrechtsliteratur. Im Llandovery-Castle-Fall ging es um das deutsche U-Boot U 86, das das kanadische Lazarettschiff, die Llandovery Castle, am 27. Juni 1918 angriff und versenkte. Nach der Torpedierung befahl der Oberleutnant zur See Helmut Patzig seinen beiden Wachoffizieren, das Feuer auf die hilflos in Rettungsbooten oder im Wasser treibenden Besatzungsmitglieder zu eröffnen. Von den 234 Menschen überlebten nur 24.[46] Vor dem Reichsgericht mussten sich die beiden Wachoffiziere verantworten. Patzig sollte ausgeliefert werden, war aber untergetaucht.[47] Die Rechtsfrage, die sich nun stellte, war, ob sich die beiden Angeklagten auf den Befehl berufen konnten und deshalb nicht selbst verantwortlich waren. Hier aber urteilte das Reichsgericht, dass es wie nach der Haager Landkriegsordnung auch im Seekrieg nicht gestattet sei, wehrlose Feinde zu töten. Ein solcher Befehl sei für jedermann, auch den Untergebenen, zweifelsfrei als verbrecherisch erkennbar. Die beiden Angeklagten wurden zu je vier Jahren Gefängnis verurteilt. Wenige Wochen später wurde von der »Organisation Consul« ein erster Befreiungsversuch unternommen. Mit zahlreichen Helfern gelang es schließlich tatsächlich, beide Gefangene aus dem Strafvollzug zu befreien und ihnen die Flucht ins Ausland zu ermöglichen. Sechs Jahre später wurde das Verfahren insgeheim wieder aufgenommen, die Urteile wurden aufgehoben und die Angeklagten freigesprochen. Sie erhielten zudem eine Entschädigung für die erlittene Haft.
Auch im Vertrag von Sèvres, einem weiteren der Pariser Vorortverträge, waren Strafverfahren vorgesehen. In diesem Vertrag diktierten die siegreichen Entente-Mächte die Auflösung des Osmanischen Reichs. Kriegsverbrechen hatte es dort genug gegeben. Der Völkermord an den Armeniern war der grausame Höhepunkt türkischer Hegemonialbestrebungen. Internationale Verfahren gab es auch hier keine. Einige nationale Verfahren wurden zwischen April und Juni 1919 durchgeführt, sie wurden als Istanbuler Prozesse oder Unionistenprozesse bekannt. Angeklagt waren hochrangige Politiker, die sich aber fast alle durch Flucht der Strafverfolgung entzogen hatten. Es wurden etliche Todesurteile – meist in Abwesenheit – verhängt, aber nur drei vollstreckt.[48]
Wie man als betroffene Nation, in diesem Fall Armenien, die Dinge in die eigene Hand nimmt, zeigt der Fall Talật Pascha.[49]
