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Als Jolanda Steve kennenlernt, ist sie fasziniert. Er sieht blendend aus, und seine Leidenschaft für Pflanzenzüchtungen lässt auf Tiefsinnigkeit schließen. Wenn diese unheimlichen Zwischenfälle nicht wären. Blumen entwickeln ein Eigenleben. Tier- und Pflanzenwelt scheinen bei Steves Experimenten irgendwie ineinander überzugehen. Auch Robert, der Nachbar des angrenzenden Grundstücks hat seine Zweifel an Steves Charakter, da verschiedene Lebewesen immer wieder von dessen Garten zu ihm herüber flüchten. Zur gleichen Zeit bekommen Drogenfahnder Ferry Stark und die forensische Biologin Kim Lorenz von ihrer Dienststelle den Auftrag, eine neue mächtige Droge, die aus Kolumbien kommen soll, vor Ort zu untersuchen. Dabei geraten sie in eine fremde Welt, aus der sie verändert zurückkehren. Der Erstlingsroman der Wienerin Karin Leroch ist eine Hommage an alle Frankenstein, Dr. Mabuse und Dr. Moreau Fans und führt uns in eine bis dato ungekannte Facette des Biogenetik-Horrors. Wenn dann allerdings Okeanos sein wahres Gesicht zeigt, gefriert nicht nur das Blut in den Adern.
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Seitenzahl: 322
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Trivocum Verlag präsentiert:
Karin Leroch
Okeános
Jolandas Kampf gegen den Seelenspalter
Roman
Zeit der Samen und Knollen
Zeit der Knospen
Zeit der Blüten
Zeit der ersten grünen Früchte
Zeit der Ernte
Karin Leroch
Impressum
Die Akteure
Jolanda Fritz – Vorstadtamazone mit Gefühl und Drive. Landet mit schlafwandlerischer Sicherheit bei den falschen Männern. Auch der nächste ist ein grober Fehlgriff, worauf ihr Kampfgeist mit voller Wucht aus ihr hervorbricht.
Steve Eibenfuchs – Gentechniker mit Gottkomplex.
Robert Stilz –Asylgeber wider Willen für alle gestrandeten Romanfiguren.
Ferry Stark – Drogenfahnder aus Wien, der im kolumbianischen Dschungel fast den Verstand verliert.
Kim Lorenz – Forensische Biologin im Auftrag der Wiener Polizei. Fester Bestandteil von Ferrys Tagträumen. Nicht ganz so festes Persönlichkeitsprofil.
Marie – Ihres Zeichens eine drogensüchtige Jane Bond.
Señor Santino – Drogenboss, erfüllt von der Liebe zu einem Monster.
Alfred – Steves Schwager. Von fiesem Charakter, aber von gutem Geschmack.
Woody – Dienstbarer Geist. Muss sein hölzernes Benehmen erst noch ablegen.
Doolie – Hängt an seiner Bong bis zum letzten Gong.
Scarlet – Blumenmädel mit Einsteins Gehirn und Senkrechtstarterin.
Prolog - Robert
Robert Stilz lehnte am Wartehäuschen einer Bushaltestelle in der Favoritenstraße, während der Morgenverkehr in Richtung des Wiener Stadtzentrums rollte. Mit ihm wartete ein Haufen Schüler, die bestimmt ins Laaerberg Gymnasium wollten, und die er mit mürrischem Gesichtsausdruck von sich fernzuhalten versuchte, was nicht gelang. Die Kinder, von ihren Eltern fürsorglich dick eingepackt, trugen bereits Mützen und Schals, obwohl es erst September war. Einige der Schülernasen waren rot und liefen. Ein kühler September, okay. Ein etwa Neunjähriger mitsamt seinem Schulrucksack lehnte an Roberts Schulter und nickte fast ein. Die anderen blinzelten verschlafen in ihre Mobiltelefone. Vorsichtig schob Robert das dösende Kind von sich weg, stand auf und entfernte sich ein paar Schritte.
Befreit von dem Kindergeruch nach Kaugummi und Kakao, den er sich zumindest einbildete zu riechen, sog er die frische Morgenluft durch die Nase. Über dem Park hinter der Haltestelle lag ein leichter Nebelschleier, Reste eines nächtlichen Regengeriesels. Im nahen Park zog ein Blumenbeet seinen Blick an, das kontrastreich mit dunklen Rosen, weißen Astern und orangeroten Löwenmäulchen bepflanzt war. Die frische Erde glänzte.
Robert schob den Jackenärmel von seiner Armbanduhr. Um Acht konnte er sein Wohnmobil von der Werkstatt abholen, mit neuer Batterie und neuen Bremsbelägen. Ohne das Gefährt, mit dessen Hilfe er seinen Lebensunterhalt verdiente, fühlte er sich nackt. Er hasste das Warten auf Busse.
Eine Bewegung in dem Löwenmäulchenbeet fiel ihm aus dem Augenwinkel auf. Er wandte den Kopf. Die Blütenblätter zitterten und bogen sich von einer Seite zur anderen. Er suchte nach einer morgenaktiven Katze, die vielleicht durchmarschierte, aber da war keine Katze. Die Bewegung kam von den Pflanzen selbst. Die Stängel krümmten sich scheinbar vor Anstrengung, die orangeroten und gelben traubenförmigen Blütenstände wanden sich in einem verbissenen Krampf. Fast glaubte er, Ächzen und Stöhnen zu hören.
Er trat näher, sah, wie die Löwenmäulchen sich höher reckten und vergaß den Bus. Eins, zwei, drei … immer mehr Löwenmäulchen zogen ihre grünen Stängel aus der Erde, mit einem Knoten am Ende, aus dem jeweils vier Wurzelbeinchen wuchsen, braun und dick mit knotigen Füßchen.
Robert nickte langsam vor sich hin. Es ist soweit, dachte er. Er hat die Kontrolle über sie verloren. Er hat seine Blumenzwiebeln in den Stadtparks vergraben, jetzt sind sie gewachsen und hauen ab.
Flink wie Insekten bewegten die Pflanzenwesen die dünnen Beine, rannten aus dem Park und krabbelten den Gehsteig der Favoritenstraße entlang. Neugierig drehten sie die Blüten in alle Richtungen, öffneten ihre Löwenmäuler, wahrscheinlich um über die große Welt zu staunen. Eine der Blumen entdeckte Robert und kam auf ihn zu. Von einem fetten Blatt blickten ihn zwei Augen an, schwarz, glänzend, leicht vorstehend. Er bückte sich, um das kleine Gesicht deutlicher zu sehen. Das Mäulchen schnappte nach ihm.
Sieh mal an, dachte er. Bisher habt ihr nur Wasser und Dünger geschlürft, aber das könnte sich jetzt ändern! Er trat nach dem Ding, es zuckte zurück und lief seinen Brüdern nach.
Die Gewächse hatten die Kinder an der Bushaltestelle entdeckt. Robert wusste, dass die meisten Kinder nicht auf Blumen achten. Blumen waren für sie einfach da, in Gärten, auf Verkehrsinseln und Parks. Die Schüler hielten die Nasen auf ihre Mobiltelefon-Bildschirme gerichtet. Keines von ihnen bemerkte die zwei Duzend Minimäuler, die bereits die Kinderschuhe erreicht hatten. Auch die Autos, die vorbeifuhren, blieben nicht stehen. Die Insassen starrten geradeaus, das Ziel Arbeitsplatz oder Schule vor Augen. Nichts, was links oder rechts vor sich ging, interessierte sie.
Die Pflanzen nutzten die Schnürsenkel der Kinderschuhe als Steighilfe, liefen Hosenbeine und Strümpfe hoch, kletterten auf Schultern. Orangerote Blüten klafften auseinander und entblößten winzige gelbe Zähnchen.
Der erste Schüler schrie. Er riss an einer Pflanze, die sich in seinem Pullover festgekrallt hatte und blickte in Knopfaugen, die ihn aus nächster Nähe anstarrten. Eine zweite Schülerin kreischte. Die Blüte fuhr eine gelbe Zunge aus, leckte an der Nase des Mädchens, fand sie schmackhaft und biss zu. Alle Kinder schlugen in Panik um sich, die Blumen flogen in weitem Bogen zu Boden, bildeten blitzschnell einen Kreis um die Kinder und suchten nach neuen Angriffsmöglichkeiten.
Der Bus kam an der Station an. Robert war als Erster drinnen und sicherte sich einen Sitzplatz. Die Löwenmäuler wichen geschickt aus, als die fliehenden Kinder über sie hinwegtrampeln und in den Bus drängten. Die Bustür schloss sich. Robert blickte zurück zur Haltestelle. Ein Teil der Pflanzenwesen waren zurückgeblieben und trippelten nervös auf dem Gehsteig hin und her. Robert blickte panisch um sich. Eine Pflanze hüpfte soeben an den Sitzreihen vorbei nach vorne. Er sprang auf, rief ein gehetztes „Ich steige wieder aus!“, der Fahrer öffnete mit missbilligendem Blick nochmals die Türen und Robert war draußen.
Der Bus fuhr ab. Er kam etwa fünfzig Meter weit, dann begann er, nach rechts zu schlingern.
Der Fahrer hat seine neuen Fahrgäste bemerkt, dachte Robert.
Der Bus geriet jetzt zu nahe an die am Straßenrand parkenden Fahrzeuge, amputierte im Weiterfahren ein paar Rückspiegel, fuhr auf die Gegenfahrbahn, wo ein PKW rechtzeitig bremsen konnte, rutschte knapp an ihm vorbei und krachte in das Schaufenster eines kleinen Supermarktes, in dem die ersten Kunden sich mit ihren Pausensandwiches und Coffees-to-go an der Kasse anstellten.
Robert beschloss, lieber zu Fuß zu gehen. Bei der nächsten Querstraße zuckte er zurück. Eine Armee aus winzigen Pflanzen mit hellgrünen jungen Blättchen bewegte sich, schnell wie ein Schwarm Ratten, von rechts nach links über die Fahrbahn. Viele von ihnen wurden von darüber rollenden Autoreifen zerquetscht, ein Fahrer bremste plötzlich, der hintere fuhr mit einem lauten Krach auf seinen Wagen auf.
„Eibenfuchs“, murmelte Robert. „Du sitzt sowas von in der Scheiße.“
Jolanda
Drei Monate zuvor.
Jolanda Fritz saß in ihrem Lieblingscafé an der Mariahilfer Straße. Die breite Fußgängerzone wurde von Geschäften und Einkaufzentren gesäumt, die ihre immer teurer werdenden Textilien, Kosmetika, Möbel oder Geschirr feilboten.
Das Café Likör war der Ort, an dem Jolanda sich zurückzog, wenn ihr Job in der Arztpraxis für diesen Tag erledigt war. Oder wenn sie ein Date hatte, so wie heute.
Zu hören war nur das leise Klicken der Gläser auf den Marmortischchen, das Klappern der Löffel in den Tassen und Gespräche, die rücksichtsvoll auf Murmellautstärke gedrosselt blieben.
Jolanda freute sich jedes Mal auf das Ritual. Kellner Max stellte den Stammgästen bei jedem Besuch einen Gratislikör auf den Tisch. Es gab entweder süßen Marillen- oder scharfen Anislikör. Jolanda wusste vorher nie, was sie bekommen würde: Brachte Max Marille, würde der Tag problemlos verlaufen. War es Anis, war ihre Wachsamkeit gefragt. Das Likör-Orakel funktionierte immer. Max wusste nichts von seiner Schicksalsrolle, er servierte die Likörsorten nach Zufallsprinzip.
Die Möbel stammten aus der Jugendstilperiode, und die Kaffeesorten aus der Zeit der Monarchie. Die Kaffeemaschine hustete diskret, sobald sie den besten Kaffee der Stadt fertiggebraut hatte.
Heute war ein guter Tag. Sie war dem nassen Wetter entkommen, das übrigens für Juli komplett unpassend war, konnte die Regentropfen auf den großen Fensterscheiben ineinanderlaufen sehen, hatte ihren Ecktisch bekommen, es roch nach Apfelstrudel und als sie ihr Notebook ausbreitete, brachte Max Marille.
Sie bestellte einen Kaffee Kronprinz Rudolf, ein doppelter Espresso mit einem Schuss Kirschrum, Schlagsahnehaube und zwei Cocktailkirschen. Von Ihrem Platz konnte sie alle Gäste in Augenschein nehmen, sobald sie das Café betraten.
Sie öffnete ihr Profil auf der Dating Website. Vor einer Woche war ein Kandidat mit hundert Prozent Matchpoints in ihrer Inbox gelandet. Auf dem Foto in seinem Profil sah er ein bisschen blass aber interessant aus, sein halbes Gesicht von einem Schatten verdeckt.
Jolandas Interesse war nicht nur von seinem Aussehen, sondern auch von seiner Wortgewandtheit und seiner korrekten Rechtschreibung geweckt worden, was leider keine Selbstverständlichkeit war. Auch sonst hatte sie bereits einiges erlebt. Männer, die auf den ersten Blick wie interessante Bücher wirkten, sich jedoch später höchstens als kariertes, verknittertes Blatt Papier herausstellten. Es lag wohl an ihr selbst. Vielleicht war sie auch alleine besser dran. Nur den einen wollte sie noch kennenlernen. Steve. In einer Viertelstunde sollte er hier im Café erscheinen.
Sie trug ein enges ärmelloses Top und Jeans, die aus ihren Kurven keinen Hehl machten. Wozu irgendetwas verbergen? Sie war noch nie magersüchtig gewesen. Wer regelmäßig seine Mahlzeiten aß, setzte nun mal Fleisch an.
Jolanda nippte ihren Likör. Vorerst betraten das Café nur Hellboy, Lord Voldemort und der Froschkönig, offensichtlich begleitet von seinem Prinzen. Die Minuten vergingen.
Dann passierte etwas Unerwartetes: Max kam an Jolandas Tisch, murmelte: „Ein Geschenk des Hauses! Die Flasche wurde gerade frisch geöffnet!“ und dabei stellt er ihr ein Glas Anislikör hin.
Sie wollte ihn anfahren: „Nein danke, tragen Sie das weg!“ hatte aber keine Zeit dazu, denn gerade eben kam ein schlanker hochgewachsener Typ in Lederjacke und schwarzer Hose mit Aktentasche unter dem Arm zur Tür herein und blickte suchend von Tisch zu Tisch. Durch alle weiblichen Gäste ging ein Ruck. Er sah aus wie Tom Hiddleston in seiner Rolle als Loki, blasses Gesicht, durchdringender Blick, nur die Frisur war eindeutig besser. Sein brünettes gewelltes Haar fiel in seine Stirn und eine Locke verdeckte ein Auge. Das andere Auge, dunkel und aufmerksam, scannte den Raum und kam erst zur Ruhe, als es Jolanda erblickte. Der linke Mundwinkel deutete ein Halblächeln an.
Während Jolanda noch dachte, dass er noch attraktiver aussah als auf seinem Foto, hatte er schon ihren Tisch angesteuert. „Jolanda?“ Tiefe Stimme, selbstbewusster Tonfall.
„Steve?“
Er setzte sich. Sein Kinn war dunkel, wo Barthaarstoppeln schwarz schimmerten und die Haarlocke fiel tiefer über seine linke Gesichtshälfte. Jolanda merkte an der Bewegung seiner Wimpern, die einen Schatten auf seine Wange warfen, dass er sie schnell von oben bis unten musterte. Sie spürte auch die Aufmerksamkeit, die von den umliegenden Tischen auf sie beide gerichtet war.
„Ich habe dich gleich erkannt.“ Er ließ sie sein halbes Lächeln nochmal sehen. Seine Stimme schien aus der Tiefe eines nur für den Moment ruhenden Vulkans zu kommen, dann über Lavasteine hinwegzurollen, begleitet von schwarzem Rauch.
„Ach ja?“ Ihre eigene Stimme verhakte sich in ihrer Kehle.
„Dein rosa Notebook!“ Er zeigt auf den Tisch.
Sie klappte es schnell zu. „Und sonst?“
„Du siehst schlanker aus als auf dem Foto.“ Sein Blick fuhr diesmal langsamer ihre Taille entlang.
Ihr fiel ein, dass Tom Hiddleston in „Only Lovers Left Alive“ einen Undergroundmusik spielenden Vampir darstellte, hatte eine plötzliche Vision von Steves Lippen an ihrem Hals und fühlte ihren Unterleib warm und flüssig werden. Sie rettete sich über diesen Moment, indem sich nach ihrem Anislikörglas griff und den gesamten Inhalt hinunterstürzte.
„Wow, trinkst du immer so schnell?“ staunte Steve.
„Nein, nur wenn es Anislikör ist“, sagte sie schnell. „Ich mag keinen Anis.“
Langsam entspannte Jolanda sich. Nachdem sie Steve von ihrem Job in der Arztpraxis und ihrer Vorliebe für Horrorfilme, was beides möglicherweise zusammenhing, erzählt hatte, begann Steve, von sich und seiner Leidenschaft für seltene Pflanzen zu berichten. Er züchtete Hybridsorten, um sie schöner, widerstandsfähiger und auch wertvoller zu machen und nahm an Wettkämpfen teil, die er meist gewann. Jolanda war das Thema fremd, aber er weckte mit seinen bunten Schilderungen und seiner offensichtlichen Begeisterung ihre Neugier.
Er beschrieb sein Haus am Stadtrand in einer stillen Straße, von Feldern umgeben. Niemand weit und breit, nur ein Nachbargrundstück grenzte an seines. Es gab ein geräumiges, selbst gebautes Gewächshaus in verspieltem viktorianischem Stil mit selbst gegrabenem Kellerraum darunter, in dem er seine Experimente durchführte.
Jolanda versuchte, sein zweites Auge unter dem dunklen Haar zu entdecken, während sie zusah, wie seine schlanken blassen Hände mit langsam zärtlichen Bewegungen die Blätter und Blüten seiner Pflanzen beschrieben. Sie spürte, wie ihr Körper sie zu Steve hinzog und hielt sich vorsichtshalber an ihrer Kaffeetasse fest.
„Und dein Job im Chemielabor?“ fragte sie, um wieder Boden unter den Füßen zu bekommen.
„Ich arbeite glücklicherweise in der Führungsetage der Verwaltung. Niemand kommt in mein Büro und sieht nach, ob ich überhaupt anwesend bin. Ist außerdem nur meine Geldquelle, bis ich mich ganz meinen Züchtungen widmen kann.“ Seine Handbewegung beschrieb einen davonfliegenden Vogel.
„Hast du Biologie studiert?“ fragte Jolanda. In seinem Dating Profil hatte er seinen Beruf nur vage beschrieben.
„Nein. Ich habe ein Kurzstudium mit dem Schwerpunkt Entrepreneurship besucht. Das Wissen über Biologie und Genetik, das ich für meine wissenschaftlichen Experimente brauche, habe ich mir selbst beigebracht.“ Seine selbstbewusste Art zu sprechen kontrastierte attraktiv mit seiner legeren Frisur und dem Bartschatten am Kinn, fand Jolanda. Was, wenn er nur ein Auge hat? Der plötzlich einschießende Gedanke ließ einen Schauer über Jolandas Rücken rieseln.
In einer Gesprächspause griff Steve in seine Aktentasche, nahm zu Jolandas Verblüffung ihre rechte Hand, hob sie hoch und legte etwas hinein. Es war eine Blüte. Das Besondere daran war, dass sie aussah wie das Gesicht eines kleinen Raubtieres. Die dunkellila Zeichnung in der Mitte zeigte zwei große augenförmige Flecken, das dreieckige Ding in der Mitte war die Nase, darunter gähnte ein Maul. Alles umrahmt von unschuldig weißen flauschigen Blütenteilen, darüber ein Kranz von kleineren grünlichen Blättern.
„Das ist eine Orchidee, eine Affengesichthybride. Meine eigene Züchtung.“
„Wunderschön!“ Jolanda starrte immer noch auf ihre rechte Hand, und mit dem kleinen Finger ihrer linken berührte sie die Blüte. Sofort schoss etwas aus dem winzigen Maul heraus. Jolanda fühlte einen stechenden Schmerz. Sie schrie auf und ließ das Ding fallen. Steve, seine Finger flink wie eine Eidechse, fing es ab, bevor es auf dem Boden landete, und Jolanda glaubte zu hören, wie er der Pflanze etwas zuflüsterte, bevor er sie wieder in seiner Aktentasche verstaute.
Kellner Max näherte sich mit hochgezogenen Brauen und zischte: „Muss ich hier einschreiten?“
„Nein, nein! Alles in Ordnung!“ versicherte Jolanda.
Als Max abzog, griff Steve wieder nach Jolandas Hand. „Zeig deinen Finger! Tut es weh?“ Er führte ihren kleinen Finger an seine Lippen. Sofort vergaß sie den Stich, fühlte, wie kühl sein Mund war und wie sekundenlang seine Zunge über ihre Wunde leckte, während er mit seinem einen Auge in ihre Augen blickte.
Danach verließen sie das Lokal.
Es regnete noch immer, in dünnen Fäden, die die Kleidung nass machten und für Rinnsale auf den Gehsteigen sorgten.
„Kann ich dich nach Hause bringen?“ fragte er. Jolanda betrachtete seinen kleinen schwarzen Lieferwagen älteren Baujahrs mit der Aufschrift „Blumen“ an der Seitenwand und verscheuchte den Gedanken an Krimis, in denen Opfer in Lieferwagen mit Blumenlogo gestoßen und entführt wurden.
Er fuhr genau in die Richtung, die sie ihm ansagte. Kein Kidnapping. Sie sprachen über Wiens Abendverkehr, der wie immer für Staus sorgte. Er benahm sich völlig vertrauenswürdig.
Vor den Hochhäusern in Alterlaa im Süden Wiens parkte Steve auf der gegenüberliegenden Straßenseite und schaltete den Motor ab. Die drei Wohnblocks ragten weiß und gigantisch in die Höhe. Jolanda wohnte im mittleren Block.
Steve stützte eine Hand auf das Lenkrad und wandte sich Jolanda zu. „Woraus genau besteht eigentlich dein Handicap? Das, von dem du schreibst, dass du es nur guten Freunden erzählst?“
Jolanda hätte sich gerne aus der Frage herausgewunden und fühlte sich wie eine Wurm die man gegen ihren Willen aus dem Erdloch zog. „Ich kenne dich doch erst seit einigen Stunden!“
Steves Gesicht kam plötzlich nahe an ihres. Er griff nach ihr, bog ihren Kopf zurecht und drückte seine geschlossenen Lippen auf ihre vor Verblüffung offenen.
„Kennst du mich jetzt besser?“
Der Blick seines rechten Auges war bestimmt, fragend, bohrend. Sie ließ die Atemlosigkeit des Kusses abebben, schluckte noch einmal und sprach durch die Windschutzscheibe nach vorne: „Ich schlafwandle.“
Er zuckte mit den Achseln. „Das ist alles?“
„Du weißt nicht, was das heißt! Ich gehe nachts durch die Wohnung…“
„Auf die Straße?“
„Auf die Straße. Vorher mache ich mir ein Sandwich und nehme es mit. Dann gehe ich zum Laden, der zur Tankstelle gehört, und kaufe Senf dazu.“
„Alles im Schlaf?“
„Friedlich schlafend! Ich führe Konversation mit dem Verkäufer und lasse mir noch weitere Artikel aufschwatzen. Im Schlaf sage ich nie nein!“
„Interessant!“ grinste Steve.
Jolanda rang die Hände. „Du hast keine Ahnung! Die Geldbeträge, die ich schon ausgegeben habe! Bei der Tankstelle kennt man mich schon. Manchmal werde ich sanft heimgeführt.“
„Und wenn nicht?“
„Finde ich allein heim. Meine Mutter hat mich, als das alles begann, im Bett festgebunden.“
„Und?“ Steve amüsierte sich prächtig.
„Im Schlaf werde ich zu einer Art Houdini und befreie mich irgendwie. Natürlich hat sie keine Ketten verwendet. Ich war ja noch ein Kind.“
„Ist das alles?“
Sie überlegte, wieviel sie ihm verraten wollte. Wie würde das klingen? „Ich leide unter der neurotischen Störung, die ‚erweiterte Luzidität ohne Bewusstheitsöffnung‘ heißt. Ich finde Dinge, die ich im Wachzustand nicht sehen würde und erinnere mich später nicht, wie mir das gelungen ist.“ Nein. Sie wollte nicht schon jetzt als Freak gelten. Sie sagte nur: „Reicht das nicht?“
Steve lachte leise vor sich hin. „Abgefahren.“ Er überlegte. „Ich würde gerne erleben, wie du schlafwandelst.“
Jolanda sah ihn an. „Dazu musst du eine Nacht mit mir verbringen.“
Steve legte den Kopf schief. „Ich lade dich hiermit zu einer Nacht in meinem Haus ein. Adresse Wollgrasweg 7. Nächsten Samstag?“
Jolanda grinste herausfordernd: „Jetzt bist du dran. Was ist unter diesem Haar versteckt?“ Sie zwang ihn, sie anzusehen, indem sie seinen Kopf mit den Händen fasste. Sein Gesicht zuckte.
„Halt still, Phantom!“ Sie lachte und schob die Locke von der linken Gesichtshälfte weg. Das Auge, zum Unterschied von dem rechten braunen, war grün. Grün mit gelben Sprenkeln.
Robert
Roberts Gesicht war weiß geschminkt. Wo Schweißtropfen von seiner Stirn liefen, war die Schminke fleckig und rosa Haut schimmerte durch. Seine Nase hatte einen roten Punkt an der Spitze, sein Mund war ein übergroßes rotes Grinsen und seine Augenbrauen befanden sich weit oben an der Stirn. Rote Haarbüschel standen zu beiden Seiten von seiner Gummiglatze ab. Gegenwärtig hing er kopfüber von der Decke im Wohnzimmer, in dem die Geburtstagsparty für ein Kind namens Matteo stattfand. Die Akrobatiknummer verlangte, dass er an seinen Beinen in einer am Lüsterhaken aufgehängten Schlaufe schaukelte, während er einen Ball von einer Hand in die andere warf und „O Mein Papa“ sang.
Sein Rücken schmerzte. Er hörte ein leises Knirschen, als der Haken sich erst langsam, dann mit einem plötzlichen Schnappgeräusch aus dem Verputz an der Decke löste. Obwohl er versuchte, sich mit den Schultern abzurollen, knallte sein Kopf auf den Teppich. Sekundenlang lag er orientierungslos da. Die Schmerzen begannen erst, als er wieder einigermaßen klar sehen konnte.
Die Party war sowas von vorbei. Matteos Vater schrie ihm Worte zu, die zunächst nur wie durch Watte in Roberts Schädel drangen: „Keine Bezahlung! Aber sicher nicht! Meine schöne Zimmerdecke! Reparaturkosten! Blutflecken auf dem Teppich!“
Robert rappelte sich auf. Seine Stimme war ein Krächzen. „Der Vertrag, den Sie unterschrieben haben, sieht vor, dass Sie stabile Vorrichtungen für die Clownsnummer zur Verfügung stellen! Und für die Reinigung selbst aufkommen!“
„Nicht, wenn Sie ein Trümmerfeld hinterlassen! Verklagen sie mich doch! Von mir kriegen Sie keinen Cent!“
Ein Kind begann zu weinen, es war ein kleines Mädchen namens Sophie. „Mir ist schlecht! Der böse Clown!“
Matteos Mutter eilte herbei und hob das Kind auf. Mit giftigem Blick auf Robert zischte sie: „Da sehen Sie, was Sie angerichtet haben!“
„Mir ist auch schlecht!“ schrie Matteo.
„Mir auch!“ kam es von den drei anderen Kindern.
„In die Badewanne mit euch!“ Die Mutter sammelte ein Kind nach dem anderen auf und rannte mit ihnen aus dem Wohnzimmer. „Helfen Sie mir!“ rief sie.
Obwohl sein Kopf pochend schmerzte, packte Robert zwei der Kinder an ihren Hosenbünden und schleppte sie wie junge Hunde ins Badezimmer, bevor er in die Diele floh.
Matteos Vater, anstatt sich am Katastrophenschutz zu beteiligen, folgte Robert auf Schritt und Tritt. „Ich werde Sie nie mehr anheuern und auch nicht weiterempfehlen! Bitten Sie mich bloß nicht um eine Google-Bewertung Ihrer miesen Vorstellung!“
Als Robert die Wohnung für immer verließ, merkte er, dass ihm ein rotes Haarbüschel fehlte. Ausgerissen von den Kindern, während er ohnmächtig gewesen war. Die hatten immer zu viel Zucker im Blut, von den Geburtstagstorten, das machte sie unkontrollierbar.
Sein altes Wohnmobil Marke Citroen Jumper sprang auch nach dem fünften Startversuch nicht an. Er hatte es vor einem Jahr für zweitausend Euro von einem jungen Ehepaar gekauft. Notverkauf hatten sie es genannt. Längst wusste er, warum. Nichts funktionierte mehr so richtig, Schimmel war durch unsichtbare Löcher ins Innere vorgedrungen und färbte die Sitzbank und den Boden in den Ecken schwarz. Sein gelegentlicher Husten kam sicher davon.
Trotzdem liebte er das rotlackierte Gefährt mit der gelben Aufschrift „Robert Rumpelstilz – Partyclown“. Es war sein Kumpel, auf den er sich bei jedem Wetter verließ. Der Laderaum des Wagens wurde zu seiner Wohnung, wenn er als Clown Rumpelstilz zu den Engagements fuhr. Geburtstage, Hochzeiten, Scheidungen, Volksfeste. Wo immer er gebraucht wurde. Er schlief auf dem schmalen Bett und kochte morgens Kaffee auf dem Propangasherd. An Schnüren hingen Kleiderhaken für seine Kostüme. Ein Waschbecken und ein Chemieklo in Nachtzugabteilgröße toppten die Luxussuite. Das Entleeren des Klos war nicht seine bevorzugte Tätigkeit, deshalb suchte er, wenn möglich, Campingplätze für die Übernachtung aus, wo es Toiletten und Fließwasser gab. Im Winter, wenn seine Standheizung wieder einmal nicht funktionierte und er fror, oder wenn sonst eine Panne ihm den Magensaft versäuerte, wünschte er seinen Job als selbständiger Clown zum Teufel und fieberfantasierte von einer festen Anstellung als Zeichenlehrer.
So wie heute. Robert machte einen sechsten Startversuch. Endlich. Auch die Batterie war im Arsch, zusätzlich zu den Bremsbelägen. Erst das Kinderkotzkränzchen, jetzt das. Der Tag konnte nur besser werden, denn gerade jetzt war er dort, wo seine Bremsen und seine Batterie waren. Außerdem regnete es Hundepisse, und die Reifen seines Wohnmobils waren glattgefahren; jede Kurve ein neues Wagnis.
Er gelangte zu seinem Haus am äußersten Rand des zehnten Bezirks, wo keine hohen Gebäude mehr den Blick auf die Hügel des Umlandes verstellten. Eine idyllische Gegend mit Dorfcharakter. Felder, Pferdekoppeln und Scheunen. Ein paar Straßen weiter gab es kleine Einfamilienhäuser, Heurigenlokale. Die Ausläufer der Großstadt.
Als er das Wohnmobil durch sein Gartentor rollen lassen wollte, um auf der mit kleinen Betonplatten gepflasterten Fläche zu parken, fand er den Platz nicht mehr. Ein Dschungel hatte sich gebildet, wo am Morgen nur Rasen und ein paar Löwenzahnblüten gewachsen waren. Robert hämmerte mit den Fäusten auf sein Lenkrad ein.
„Nicht schon wieder, Eibenfuchs du Affenkopf!“
Robert mied den Kontakt zu dem Nachbarn, dessen Garten hinten an Roberts Grundstück angrenzte. Es war ihm egal, wenn Steve Eibenfuchs die wild wuchernden Pflanzen nicht entfernte, sodass das Dickicht immer dicker wurde und die Grundstücksgrenzen überschritt. Aber dieses Kraut hier war aggressiv, schenkelhoch und versperrte den Weg zu seiner Haustür. Außerdem war es giftig, seine Hände hatten gebrannt, als er es berührte. Es würde den Lack seines Lieferwagens angreifen, das Blech würde rosten und verrotten, und Robert wäre seiner Lebensgrundlage beraubt.
Seit es so viel regnete, wucherten alle Pflanzen in der Stadt besonders dicht, aber dieser Wildwuchs in seinem Garten war nicht mehr zu tolerieren.
Die Pflanzen hatten durchsichtige wurmartige Stängel, die sich leicht aus dem Boden ziehen ließen, palmenartig angeordnete spitze Blätter und grellrosa Blüten mit gelb hervorstehenden Zungen. Eine gefühlte Million Exemplare riss er mitsamt den Wurzeln aus, aber das Mistkraut schien sich eigenständig aus der Biotonne zu befreien und wieder einzupflanzen. Typisch Eibenfuchs, nichts war bei ihm wie es schien. Seine Pflanzen waren Kreaturen, die, wenn man nicht hinsah, Dinge taten, zu denen sie niemals fähig sein sollten.
Robert parkte sein Wohnmobil draußen auf der Straße, die Beifußweg hieß, warf die Wagentür zu und bündelte seinen auf dem Kindergeburtstag langsam aufgebauten Zorn. Er dachte an den arroganten Blick aus dem einen Auge Steve Eibenfuchs‘ und das knappe „Tach“, mit dem er immer im Vorbeigehen begrüßt wurde. Der Typ war überdies undurchsichtig. Einmal hatte Robert Schreie aus dem Nachbarhaus gehört und angeläutet, um zu fragen, ob er der Frau helfen sollte, die sich offenbar in höchster Not befand. Eibenfuchs hatte jegliche Hilfe knapp abgelehnt und geknurrt, er brauche keinen Spanner nebenan, der sich in Dinge einmischte, die er nicht verstand.
Robert besaß eine Sense im Schuppen. Er holte sie. Büschelweise packte er die Pflanzen und riss sie hoch, bevor er sie mit einem Hieb absäbelte. Blüten und Blätter flogen durch die Luft, als er einen Weg vom Gartentor zur Haustür freimähte. Die Bewegung tat gut. Er blinzelte durch die dichten Sträucher zum Nachbargrundstück hinüber. Das wandelnde Springkraut war nicht das Einzige, das von drüben in seinen Garten gedriftet war.
Endlich war der Weg frei. Er ging ins Haus. Auf dem Boden der Küche stand die Kiste mit dem Heu. „Merlin? Karotte?“
Das Meerschweinchen fiepte. Auf den Hinterbeinen balancierend hielt es sich mit den Vorderpfoten an der Kistenwand fest. Behutsam hob er das Tier auf seinen Schoß. Letzte Woche war es aus dem Eibenfuchs-Garten geflohen, zitternd und verwirrt.
Robert Rumpelstilz war auf vieles gefasst, das aus dem Nachbargrundstück zu ihm herüber wuchs, kroch oder tönte, aber an Tagen wie diesen hing seine Geduld an einem verdammt dünnen Faden.
Jolanda
Jolanda und Steve trafen einander mit zwei Regenschirmen, die den schon wieder einsetzenden Nieselregen abhalten sollten, am Parkring, gegenüber dem Stadtpark. Sie wollten ins Gartenbaukino, wo eine Retrospektive mit dem Titel „Grenzüberschreitungen im Film“ lief.
Steve hatte den Film „Funnyfarm“ vorgeschlagen. Ein Psychiater und sein Team errichten mit Hilfe eines reichen Mäzens auf einer einsamen Insel eine psychiatrische Klinik für Patienten mit Wahnvorstellungen. Sie bringen sie alle gemeinsam unter, und zwischen zwei Insassen entsteht eine explosive Liebesbeziehung. Der Mann hört die Stimme eines engelhaften Wesens namens der Weiße Morgenbringer, die Frau hält sich für den Schweißhund Satans. Die Wissenschaftler behandeln die Patienten nur mit Gesprächstherapie und greifen sonst nicht ein. Sie beobachten den Fall, protokollieren die Geschehnisse. Bis die Situation gefährlich wird, da die übrigen Insassen für jeweils einen Teil des Paares Partei ergreifen. Eine Schlacht zwischen Himmel und Hölle beginnt. Keine Seite gewinnt. Die Klinik wird vollkommen zerstört.
Als der Film endete, saß Jolanda immer noch da, ihre Hand um Steves Arm gekrampft.
„Irish Pub auf der Wollzeile?“ schlug Steve vor.
Ein dicker Holztisch, schummrige Beleuchtung und der Geruch nach Guinness und Steak. Retro Blechschilder mit Whiskywerbung an den Wänden. Das Lokal war laut und voll. Jolanda war das nur recht, sie musste diesen Film erst verarbeiten.
Sie bestellten Bier.
Bisher hatten sie nur miteinander geschmust. Sie hatte beschlossen, der durchaus nagenden Sehnsucht noch nicht nachzugeben und mit der ersten Nacht zu warten. Sie kannte bereits einige seiner Gesichter, seiner Reaktionen und Stimmungen, aber nur wie in einem interessanten Bilderbuch. Durchschaut hatte sie ihn nicht. Er blieb spannend.
Der Kellner brachte die Getränke.
Jolanda hatte noch einige Filmszenen im Kopf. „Absolut bescheuert von den Psychiatern, die Patienten aufeinander loszulassen.“ Sie trank von ihrem Bierschaum.
„Warum sagst du das?“ Steve sah sie aufmerksam an.
„Die Katastrophe war vorauszusehen“, sagte sie.
Steve zuckte mit den Achseln. „Sie wollten die menschlichen Grenzen ausloten. Ich verstehe das gut.“
Jolanda sah ihn mit gerunzelter Stirn an. „Du verteidigst diese skrupellosen Ärzte? Die die Patienten nicht zu heilen versuchen, sondern gewalttätigen Ausbrüchen in der Klinik nur zusehen?“
„Experimente enthalten immer ein gewisses Risiko. Die Psychiater im Film hätten nur die Kontrolle über das Geschehen behalten müssen.“
„Aber, die Patienten!“
„Ich finde den Gedanken faszinierend, mit Lebewesen zu experimentieren.“
„Ach, du sprichst von deinen Pflanzen. Hier ging es um Menschen!“
„Pflanzen sind nur der erste Schritt auf dem Weg zu Versuchen an höheren Lebewesen. Die Gentechnik hält interessante Möglichkeiten bereit.“
„Bis jetzt gibt es nur genmanipulierte Kartoffel und Weizen. Und illegal geklonte Versuchsmäuse oder Rennpferde.“
Steve stützte den Kopf auf und sein Blick wurde träumerisch. „Wie wäre es wohl, den Tod zu besiegen, indem man die Eigenschaften eines Wesens extrahiert und danach in ein anderes, jüngeres einpflanzt?“
„Klingt nach Science Fiction.“
„Oder davon, zwei Lebewesen zu einem zu vereinigen, die Eigenschaften beider in einem Wesen zusammenzufassen.“
„Sonnenblumen mit blauen Veilchenblättern?“ spottete sie.
Steve blieb ernst. Sein Haar hing über dem grünen Auge. „Oder die Reaktionsschnelligkeit einer fleischfressenden Pflanze, gepaart mit der Langlebigkeit einer Eiche.“
Jolanda sah Steve genauer an: „Frankensteins Gärtner?“
Steve lachte. „Ein Mensch braucht Ziele!“
Ein seltsamer und verfrühter Gedanke tauchte ohne Vorwarnung in Jolanda auf. Die Kontrolle über das Endprodukt behalten, hatte Steve gesagt. Galt das auch für seine zukünftigen Kinder? Sie schalt sich im Geiste sofort eine Närrin. Wie kam sie nur darauf, zu diesem Zeitpunkt schon an Steves Kinder zu denken? Geschweige denn, an ihre gemeinsamen! Sie kippte ihr Bier hinunter und bestellte kein Neues.
Steve brachte sie nach Hause und verabschiedete sich mit einem langen Kuss, während der Regen wie ein Wasserfall die Windschutzscheibe seines Wagens hinunterfloss.
Am nächsten Tag war Jolanda dabei, vor dem Spiegel den Knopf ihrer lila Jeans zu schließen, wobei sich ihre Hüften gegen die Einengung wehrten, als ihr Mobiltelefon die Bohemian Rhapsody spielte.
„Mam?“ Sie hatte nicht viel Zeit, mit ihrer Mutter zu sprechen. Steve wartete auf sie.
„Jolanda! Wie war euer Date im Kino?“
„Ach, Funnyfarm.“
„Das tut mir leid!“
„Nein, so hieß der Film. Es war okay mit Steve. Endlich ein interessanter Mann.“
„Ist das der Laborant?“
„Er ist in seiner Freizeit Pflanzenzüchter.“
„Pflanzen… Er ist aber nicht homosexuell?“
„Mam.“
„Hat er genügend Zeit für dich? Männer mit aufwändigen Hobbies vergessen alles um sich herum.“
„Guter Einwand. Muss ich checken. Kommt auf meine Liste.“
„Hast du seine Wohnung gesehen?“
„Mam, du bist indiskret. Und Haus. Nicht Wohnung“
„Ich meine nur. Entscheide nichts, bevor du nicht sein Haus gesehen hast. Achte besonders auf die Bettwäsche. Aber geh nicht zu früh mit ihm ins Bett. Mach nicht die Fehler, die ich gemacht habe!“
„Wie soll ich seine Bettwäsche überprüfen, ohne mit ihm, äh …?“
„Und sieh dir diese Pflanzen an, die er züchtet.“
„Ich weiß nicht, ob er mich bei seinen Experimenten zusehen lässt.“
„Dann zwing ihn dazu!“
„Klar, Mam. Ich werde ihn zwingen. Guter Tipp.“
„Und geh es langsam an! Zieh nicht das durchsichtige Top an. Lieber etwas Hochgeschlossenes, Blickdichtes.“
„Soll ich vielleicht ein Kettenhemd tragen?“
„Ich mache mir nur Sorgen. Und ich habe doch sonst kaum Zerstreuung als deine Männergeschichten!“
„Ich weiß.“ Jolanda schickte Blicke zum Himmel, lächelte aber dabei.
„Melde dich wieder und halt mich am Laufenden! Hab dich lieb.“
„Kuss, Mam.“
Jolanda schnappte ihre Tasche und verließ die Wohnung.
Ferry
Die Landespolizeidirektion und das Bundeskriminalamt befinden sich in einem sechsstöckigen Gebäudekomplex am Josef Holaubek Platz im 9. Wiener Bezirk Alsergrund. Das Gebäude ist ein Teil der Überbauung der Gleisanlagen, die zum Franz Josefs Bahnhof gehören. Unterhalb des pompösen Komplexes aus weißem Beton rattern zu Stoßzeiten Pendlerzüge in das Waldviertel Niederösterreichs und nach Prag. An der Westseite führen die U-Bahn und der vielbefahrene Gürtel vorbei; dieser mündet im Norden in die Gürtelbrücke, welche den Donaukanal überquert und die Autoschlangen in Richtung Norden aus Wien hinaus befördert.
Im Besprechungszimmer der Abteilung für Organisierte und Allgemeine Kriminalität im sechsten Stock hatte soeben Chefinspektor Opatek, der hinter seinem Rücken von den Mitarbeitern ‚Der Silberrücken‘ genannt wurde, ein Meeting einberufen.
Um den Besprechungstisch saßen Oberinspektor Ferry Stark und sein Team aus sechs Beamten der Drogenfahndung.
Ferry Stark war Mitte vierzig, wirkte jedoch jünger, wenn man die Fältchen um die Augen und vereinzelte graue Haare nicht unter die Lupe nahm. Seine Augenfarbe war türkis, seine Nase etwas groß geraten, aber das trug nur zu seinem virilen Aussehen bei, wie er sich gerne bestätigen ließ. Seine Figur war schlank und drahtig.
Ferry fragte sich gerade, wann das Meeting beginnen würde, aber Opatek schien zu warten, blickte auf seine Armbanduhr und schritt vor der Videowall auf und ab.
Bald war klar warum, denn die Tür öffnete sich und Doktor Kim Lorenz, Spezialistin für forensische Biologie trat ein und nahm am Besprechungstisch Platz. Sieben Köpfe drehten sich zu Kim, Füße scharrten, Stuhllehnen knackten.
Der Silberrücken ergriff das Wort. „Ich habe Doktor Lorenz zu dem Meeting gebeten, weil forensische Genetik mit zu ihren Fachgebieten gehört. Es besteht der Verdacht, dass genmanipuliertes Kokain im Umlauf ist.“
Im Besprechungszimmer wurde es still.
Opatek sprach weiter. „Security Guards haben gestern auf dem Flughafen Schwechat eine Tasche mit einer verdächtigen Substanz auf dem Damen WC gefunden. Dr. Lorenz hat die Tasche samt Inhalt untersucht. Bitte um Ihren Bericht.“
Ferry wusste bereits von dem Fund. Während er dem Silberrücken zuhörte, ließ er seine Augen zu Kims schlanken Beinen im geschlitzten Rock schweifen. Als sie hersah, blickte er schnell aus dem Fenster und musterte eingehend den bunten Schornstein der von Hundertwasser gestalteten Spittelauer Müllverbrennungsanlage, der in unmittelbarer Nähe in den Himmel ragte.
Kim tippte in ihren Laptop, den sie vor sich auf dem Besprechungstisch stehen hatte. Auf der Videowall erschien eine Powerpoint Seite, die die Buchstaben und Striche einer chemischen Formel zeigte.
„Hier sehen wir die Struktur von normalem Kokain“, sagte Kim Lorenz. „Die bekannte Zusammensetzung aus Kohlen- Wasser- Stick- und Sauerstoffatomen. Und hier das Pulver, das auf dem Flughafen Klo gefunden wurde.“
Sie zeigte die nächste Seite, die dieselbe Formel zeigte, nur dass ein Fragezeichen auftauchte, das durch die gleichen Striche mit der Formel verbunden war, als wäre es ein zusätzliches Atom.
„Ein unbekanntes Element“, sprach Kim weiter, „das dem Molekül hinzugefügt wurde. Ob es die Wirkung der Droge verstärkt, oder eine andere körperliche Reaktion hervorruft, kann ich nicht sagen. Ich müsste die ursprüngliche Kokapflanze untersuchen.“
„Irgendwelche Informationen, die uns die Tasche liefern könnte, die das Kokain enthielt?“ fragte Ferry.
Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe die Fasern untersucht. Eine simple Umhängetasche aus Jeansstoff, billig, alt, abgegriffen, Produkt aus Südamerika, ohne brauchbare Fingerabdrücke.“
Kim schaltete ihre Powerpoint Präsentation aus.
„Wer wirft Kokain auf dem Klo weg?“ rätselte Willy, einer der Beamten. Er war dünn, blond und der Zwerg der Truppe. Gutmütige Witze wegen seines Kleinwuchses parierte er stets mit schlagfertigen Antworten. Er war ein guter Polizist, mutig, loyal, nur manchmal wirkte er unausgeglichen, mit sich selbst unzufrieden, ständig auf der Suche nach etwas. Ferry war mit ihm ein paarmal auf ein Bier gewesen, und hatte immer das Gefühl gehabt, ihn in Richtung mehr Selbstakzeptanz schubsen zu müssen.
„Jeder, dem die Sache zu heiß wird“, antwortete der Silberrücken mit belehrendem Blick zu Willy. „Nach der Person wird noch gefahndet.“
„Wir überwachen alle üblichen Drogenumschlagplätze“, sagte Willy, „Soweit wir wissen, ist noch keine neue oder stärkere Droge aufgetaucht.“
Der Silberrücken hob den Zeigefinger. „Noch nicht! Wann haben Sie die üblichen Plätze zuletzt überprüft?“ Er tippte in die Tasten seines eigenen Laptops, der vor ihm auf dem Tisch lag und auf der Videowall erschien eine Straßenkarte Wiens. „Was ist mit der Schnellbahnstation Wien Mitte? Oder die U-Bahnstation Margartengürtel?“ Mit einem Laser Pointer fuhr er die genannten Plätze ab, obwohl alle Anwesenden die Stadt besser kannten als er selbst. „Nicht eine Festnahme in den letzten zwei Monaten!“
Ferry schritt ein. „Chefinspektor? Wir haben alle Schnellbahnstationen zwischen Wien Mitte und Matzleinsdorfer Platz unter Beobachtung. Und alle U-Bahnstationen entlang des Naschmarktes. In den letzten Monaten haben wir nur Kleinstmengen an Suchtgift die Hände wechseln gesehen, deshalb gab es keine Festnahmen.“
„Und warum nicht, wenn ich fragen darf?“
„Weil die Kleindealer mir Bescheid geben, wenn ein größerer Fisch auftaucht“, antwortete Ferry geduldig. Wie einem Vorgesetzten, der als Akademiker nie hautnah die menschlichen Tiefen der Drogenszene kennengelernt hatte, die Gesetze der Straßen Wiens erklären?
Willy fügte hinzu: „Es war hauptsächlich Kokain, und meist um die 0,2 Gramm, zu geringem Preis und in wirklich beschissener Qualität.“
„Haben Sie den Stoff wenigstens beschlagnahmt“, keifte Opatek, „um nicht wieder haufenweise Süchtige in den Parks auflesen zu müssen, die sich mit – wie sagten Sie, Willy? - beschissenem Stoff ihr beschissenes Leben verkürzen?“
„Wir haben den Stoff beschlagnahmt“, versicherte Ferry.
Ein weiterer Beamter, Joe, mit Glatze und Wohlstandsbauch, aber verdammt ausdauernd am Rudergerät im Fitnesscenter, wie Ferry neidisch hatte feststellen müssen, sagte: „Beim letzten Einsatz haben wir alle Stationen der U6 von Jägerstraße bis Michelbeuern gecheckt. Bei der Nußdorfer Straße haben wir einen Dealer in die Zange genommen und ihm klargemacht, dass er sich in kürzester Zeit auf dem Weg zurück nach Marokko befinden wird, sollte er nicht Alarm schlagen, sobald jemand Neuer auftaucht und dealen will.“
Ferrys Gedanken schweiften ab. Kim Lorenz arbeitete seit einem halben Jahr in der Abteilung für Forensik. Seit genauso langer Zeit fragte er sich, welche Farbe ihre Unterwäsche wohl gerade am jeweiligen Tag hatte. Er war der Antwort noch nicht auf den Grund gekommen. Ihre spöttische Distanz und Professionalität hatte noch keine eingehende Untersuchung zugelassen. Kim hatte ein klassisch schönes Gesicht mit gerader Nase, hohen Backenknochen und großen braunen, meist ernsthaft blickenden Augen, in denen sich jedoch das Potential für kreativen Unfug abzeichnete, wenn sie lächelte. Ihr Mund war groß, fand Ferry. Einen Donut konnte sie sicher in einem Stück in den Mund stecken. Ihre Lippen waren schön und sinnlich geschwungen und würden sich beim Zerkauen attraktiv aneinander schmiegen.
Ferry schrak hoch, als er merkte, dass die Augen seiner sechs Kollegen auf ihn gerichtet waren, wobei die Gesichtsausdrücke der Beamten zwischen feixendem Grinsen und unverhohlenem Neid schwankten.
Er klinkte sich wieder in die Rede des Silberrückens ein:
„Ferry, hören Sie zu? Sie werden mit Dr. Lorenz nach Kolumbien fliegen, um mit Hilfe der lokalen Polizei die Kokablätter zu finden, die zurzeit angebaut werden und Proben der Blätter mitzubringen. Sargento Rodriguez im Polizei Departement Morelia wird Ihnen zur Seite stehen. Kommen Sie mit Dr. Lorenz nachher in mein Büro für die Besprechung des Reisebudgets.“ Er räusperte sich, worauf sich alle Köpfe endlich wieder ihm zuwandten. „Alle anderen, die bedauerlicher Weise in Wien zurückbleiben müssen, werden vollauf damit beschäftigt sein, weiterhin die Umschlagplätze in der Stadt im Auge zu behalten.“
Wenig später fuhr Ferry mit Kim im Aufzug einen Stock tiefer.
„Polizeilabor - Dr. Kim Lorenz“, stand auf dem Schild neben ihrer Tür.
„So wie es aussieht“, grinste sie, „werden wir zusammen jede Menge Fritanga essen können, und das direkt in authentischer Location, in Kolumbien.“ Sie sperrte die Tür auf und er folgte ihr in das Labor.