Ölbeben - Heike Buchter - E-Book

Ölbeben E-Book

Heike Buchter

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Beschreibung

Energiedominanz USA: Mit Vollgas gegen den Rest der Welt Während wir hier über den Klimawandel diskutieren, führt Trump die größte Volkswirtschaft der Welt in ein neues Ölzeitalter und schafft schmutzige Tatsachen. Von Alaska bis zum Golf von Mexiko werden ganze Landstriche zu Industriebrachen – mit globalen Folgen. Den Kampf um den Öl-Thron hat Amerika für sich entschieden und geht ohne Rücksicht auf alte Bündnisse seinen Weg. Die in New York lebende Wirtschafts- und Finanzmarktexpertin Heike Buchter hat sich an den Schauplätzen der Ölindustrie ein Bild gemacht. -Was bedeutet die US-Energiedominanz für Deutschland und Europa? -Was bedeutet die Amerikas Vormachtstellung für unsere Umwelt, aber auch für unsere Sicherheit? Buchter zeigt, wie die Hintermänner an der Wall Street den Boom anheizen und wie das Öl der Fracker die Welt neu ordnet.

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Heike Buchter

ÖLBEBEN

Wie die USA unsere Existenz gefährden

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Energiedominanz USA: Mit Vollgas gegen den Rest der Welt Während wir hier über den Klimawandel diskutieren, führt Trump die größte Volkswirtschaft der Welt in ein neues Ölzeitalter und schafft schmutzige Tatsachen. Von Alaska bis zum Golf von Mexiko werden ganze Landstriche zu Industriebrachen – mit globalen Folgen. Den Kampf um den Öl-Thron hat Amerika für sich entschieden und geht ohne Rücksicht auf alte Bündnisse seinen Weg. Die in New York lebende Wirtschafts- und Finanzmarktexpertin Heike Buchter hat sich an den Schauplätzen der Ölindustrie ein Bild gemacht. - Was bedeutet die US-Energiedominanz für Deutschland und Europa? - Was bedeutet die Amerikas Vormachtstellung für unsere Umwelt, aber auch für unsere Sicherheit? Buchter zeigt, wie die Hintermänner an der Wall Street den Boom anheizen und wie das Öl der Fracker die Welt neu ordnet.

Vita

Heike Buchter berichtet seit 2001 von der Wall Street. Heute ist sie Wirtschaftskorrespondentin für Die Zeit in New York. Sie war die Erste, die ihrer Redaktion 2007 die Finanzkrise vorhersagte. 2015 war sie mit ihrem Buch BlackRock. Eine heimliche Weltmacht greift nach unserem Geld wiederum die Erste, die den amerikanischen Vermögensverwalter konsequent ins Licht der Öffentlichkeit gerückt hat.

Für meinen Vater Heinz Buchter

Und ein dickes Danke an meine »Jungs« Jens und Max, ohne deren Unterstützung ich dieses Buch nie zustande gebracht hätte.

INHALT

GRÜN IST DIE HOFFNUNG

Paris: Der Anfang vom Ende

Katastrophe 6.0?

1MIT VOLLGAS INS NEUE ÖLZEITALTER

Die Schieferrevolution

Das heißeste Ölfeld der Welt

Alles begann mit dem Rosenwunder

Einmal Boomtown und zurück

The Texan Way: Boom and Bust

2FRACKING, BIS DIE ERDE BEBT

S. H. Griffin Estate #4

Mit Torpedos in den Untergrund

Der Schieferkönig

Wall Streets neue Geldmaschine

Texaner gegen Saudis

Welcome to Superfracking

3ÖL – SCHMIERSTOFF DER MODERNE

Die erste erfolgreiche Erdölbohrung – in Deutschland!

Rockefeller: Der Vater der Kartelle

Der falsche Colonel und Onkel Billy

»Diese giftige Frau«

Deutschlands verzweifelte Suche nach dem wichtigsten Rohstoff der Welt

Der Napoleon des Öls

Very British Petroleum

Treibstoff für Hitlers Krieg

Peak Oil: Die Angst vor dem Ende

4TRUMPS BRANDHEISSE FREUNDSCHAFTEN

Eine Krawatte für den Ölkönig

Drill, Baby, Drill

Alles für die Kohle

Aufstand der Milliardäre

»The Kochtopus«

5RÖHREN, DIE DIE WELT BEHERRSCHEN

Hungerstreik gegen die Pipeline

Alles für das Öl

Weg der Tränen

Kanadas schmutziges Geheimnis

Der Sockel, auf dem die Götter sitzen

Vier Badewannen für eine Tankfüllung

Mit den Waffen eines Businessman

6KALTER (ENERGIE)KRIEGER

Krach um Nordstream 2

Angriff bei Orangensaft und Toast

Trump, der Ölflüsterer

Kein Ausweg für den Iran

7UNTER HOCHDRUCK – RISSE IM ÖLKARTELL

Das Haus Saud

Anfang vom Ende der OPEC

Der Dollar ist alternativlos – bis der Renminbi kommt

Lieber NOPEC statt OPEC

Liebesgrüße aus Moskau

Die Auferstehung von Corpus Christi

Jobs, Jobs, Jobs

8DEUTSCHLAND – INDUSTRIELAND OHNE KOHLE?

Schicht im Schacht

Gegen den Wind

Am Anfang war das Unglück

Im Reformstau

Autobauerdämmerung

9CHINAS ÖKO-EHRGEIZ

Auf der technologischen Überholspur

Chinas Teerseite

10FLAMMENDE VORBOTEN

Amerikas Klimaflüchtlinge

Risiko? Welches Risiko?

11WERBEN UM DIE WALL STREET

Die einstigen Börsenlieblinge müssen Klinken putzen

Stranded Assets: Die Hoffnung der Klimaschützer

Money makes the world go green?

ETF: Die erfolgreichste Innovation seit dem Geldautomaten

UND WAS JETZT?

2019

2050

ANHANG

ANMERKUNGEN

Grün ist die Hoffnung

1Mit Vollgas ins neue Ölzeitalter

2Fracking, bis die Erde bebt

3Öl – Schmierstoff der Moderne

4Trumps brandheiße Freundschaften

5Röhren, die die Welt beherrschen

6Kalter (Energie)Krieger

7Unter Hochdruck – Risse im Ölkartell

8Deutschland – Industrieland ohne Kohle?

9Chinas Öko-Ehrgeiz

10Flammende Vorboten

11Werben um die Wall Street

QUELLEN UND WEITERE LITERATUR

GRÜN IST DIE HOFFNUNG

Wer sich 2019 in Deutschland umschaut, kann leicht zu dem Schluss kommen, Deutschland sei ein grünes Wunderland. Auf allen Kanälen läuft die Klimawende. Von Stern bis Brigitte gibt es Tipps, »wie wir jetzt leben sollen«. Und sogar die Bild liefert hilfreich »Klima-Fakten zu Stoffbeutel, Bio, Ökostrom«. Ein YouTuber mit blau gefärbten Haaren und dem Namen Rezo mischt überraschend den Europawahlkampf auf, in einem Video geißelt er die CDU als »zukunftzerstörend, umweltzerstörend und damit lebensverachtend«. Die »Zerstörung der CDU« des 26-Jährigen wurde mehr als 11 Millionen Mal gesehen.

Bei der Europawahl erhielten die Grünen die zweitmeisten Stimmen in Deutschland – mehr als die SPD. Bei einer innerdeutschen Umfrage kurz darauf lag die Partei, die einst als zu radikal für den Bundestag galt, noch vor der CDU. Grünen-Vorsitzender Robert Habeck wird multimedial die Kanzlerfrage gestellt. Fast noch unglaublicher: Bei den Landtagswahlen in Bayern im Herbst 2018 waren die Grünen zweitstärkste Kraft. Dort gewann das Volksbegehren »Rettet die Bienen« zur Artenvielfalt über eine Million Unterschriften. Schließlich summte sogar CSU-Ministerpräsident Markus Söder mit, der zuvor – mehr ein Freund der Bauern – gegen den Gesetzesvorschlag gewesen war. Nach der herben Niederlage ihrer Partei bei der Europawahl schwört die Kanzlerin in einer Fraktionssitzung, es dürfe »kein Pillepalle« mehr geben, sondern Beschlüsse, die zu »disruptiven« Veränderungen führten.

Die deutschen Unternehmen haben das Thema schon längst für sich entdeckt. Vom Sportartikler Adidas, der laut Webseite eine »Nachhaltigkeits-Roadmap für 2020«1 voller »ehrgeiziger Ziele« für die Umweltbilanz des Unternehmens angefertigt hat, bis zum Onlineversandhändler Zalando, der zur Müllvermeidung bald Schuhe und Kleidung in Mehrwegverpackungen an den Kunden schicken will.2 Nivea-Hersteller Beiersdorf hat die – was sonst – »We care«-Nachhaltigkeitsstrategie verbunden mit der eingängigen Alliteration »Products, Planet, People« als Motto.3 Als Flugreisenanbieter sieht sich die Lufthansa vor besonders hohe Herausforderungen in Sachen CO2 gestellt, aber das Unternehmen wird laut Webseite »wertorientiert mit zentraler Verantwortung für Klima und Umwelt«4 gesteuert. Haribo will künftig offenbar nicht nur die Kinder froh machen und sucht eine/n »Assistent/in Corporate Social Responsibility, die sich nicht zuletzt um »Umwelt- und Klimaschutzstrategien«5 kümmern soll. Banken bieten grüne Anleihen, mit denen sich nachhaltige Projekte finanzieren lassen, und auch sonst finden von der kompostierbaren Windel bis zur Ökobestattung deutsche Verbraucher für so gut wie alle Bedürfnisse grüne Alternativen.

Doch es gibt noch ein anderes Deutschland. Dieses Land hängt nach wie vor zu 80 Prozent von fossilen Brennstoffen ab. Ohne sie kein Strom aus der Steckdose, kein Sprit an der Zapfsäule und im Winter keine wohlige Wärme. Zwar ist der Anteil der erneuerbaren Energien bei der Stromerzeugung im Jahr 2018 auf 40 Prozent gestiegen6, doch Kohle und Kernkraft liefern nach wie vor rund 50 Prozent.7 Die besonders umweltschädliche Braunkohle, die nach Ansicht von Klimaforschern überhaupt nicht mehr verbrannt werden sollte, hat dabei einen Anteil von 24 Prozent.8 In einem Viertel der privaten Haushalte wird noch immer mit Öl geheizt.9

Beim Verkehr klaffen Anspruch und Wirklichkeit noch dramatischer auseinander. Es werden immer mehr Güter – Onlineshopping sei Dank – transportiert und immer mehr davon per Lkw. Wer regelmäßig auf der Autobahn im Stau steht, kann das bestätigen. Der Anteil der Elektroautos dümpelt bei einem Prozent und da sind Hybridfahrzeuge noch mit eingerechnet. Das Auto mit Verbrennungsmotor ist nach wie vor das wichtigste Exportprodukt Deutschlands. Es ist überhaupt das wichtigste Produkt. In der Branche arbeiten in Deutschland direkt oder indirekt über zwei Millionen Menschen, das entspricht etwa vier Prozent der Erwerbstätigen.

Und die von der Regierung versprochene drastische Senkung des CO2-Ausstoßes, um die ehrgeizigen Klimaziele zu erreichen? Fehlanzeige. Zwischen 2010 und 2018 kam es praktisch zu keiner Reduzierung.

Paris: Der Anfang vom Ende

Doch selbst wenn Deutschland es schaffen sollte, den versprochenen fundamentalen Wandel von Wirtschaft und Gesellschaft tatsächlich zu vollziehen, braucht es für den nachhaltigen Erfolg den Rest der Welt.

Im Dezember 2015 sah es danach aus, als ob die Klimakrise mit globaler Anstrengung zu meistern sein würde. Nach 20 Jahren vergeblicher Bemühungen kam in Paris ein Abkommen zustande, das die unterzeichnenden 195 Nationen zu einer Senkung ihrer Emissionen verpflichtete, um die Erderwärmung auf 1,5 Grad Celsius über den vorindustriellen Temperaturen zu begrenzen. Eine Erwärmung, die laut den Wissenschaftlern gerade noch verkraftbar wäre. Zudem versprachen die reichen Länder in dem Abkommen, 100 Milliarden Dollar jährlich an Hilfen für Entwicklungsländer bereit zu stellen, die bei der Bewältigung des Klimawandels helfen sollen. Anders als bei den Vereinbarungen etwa in Kyoto schien dieses Mal bei den beiden größten Verschmutzern der Welt der notwendige politische Wille vorhanden. Im September darauf ratifizierten US-Präsident Obama und sein chinesischer Amtskollege Xi Jinping beim G20-Treffen in Hangzouh den Vertrag. Obama nannte es einen »Wendepunkt für unseren Planeten«. Xi stand dem US-Präsidenten mit bedeutungsschweren Worten nicht nach. »Unser Kampf gegen den Klimawandel wird die Zukunft unserer Völker und der Menschheit bestimmen«, sagte der chinesische Staatslenker.

Das Pariser Klimaabkommen war der Höhepunkt einer Weltordnung, die von den USA und den westlichen Industrienationen aufgebaut worden war. Sie schien nun auch die Chinesen mit einzubeziehen, um das drängendste Problem der Menschheitsgeschichte, die Vernichtung der Natur und der eigenen Spezies zu verhindern. Von Umweltverbänden weltweit wurde der Durchbruch gefeiert. »Wenn die beiden größten Treibhausgasemittenten sich verbünden, um den Klimawandel zu bekämpfen, dann sind wir endlich auf dem richtigen Weg«, sagte etwa David Waskow, Direktor des Washingtoner Umwelt-Thinktanks World Resources Institute, gegenüber dem britischen Guardian. Niemals zuvor hätten diese beiden Nationen so eng zusammengearbeitet, um ein globales Problem anzugehen. »Keine Frage, diese historische Partnerschaft wird das Erbe von Obamas Präsidentschaft prägen«.10

Tatsächlich war es der Anfang vom Ende. Nur vier Jahre später scheint das Auseinanderbrechen der Welt in eine chinesisch dominierte und eine US-geführte Sphäre nicht mehr aufzuhalten.

Vor allem aber bereitete Obamas diplomatischer Triumph in Paris der Wahl seines Nachfolgers Donald Trump den Boden. Dessen Wähler hatten Paris als eine Niederlage ihres Amerikas erlebt. In ihren Städten und Gemeinden im Heartland, jenen Bundesstaaten, die von der selbsterklärten US-amerikanischen Küstenelite gerne als Fly-over-States bezeichnet werden, über die man am besten schnell hinweg jettet, waren die Jobs in den Stahlwerken und den Autofabriken schon lange verschwunden. Um die Pariser Ziele einhalten zu können, hatte Obama nun auch noch das Aus für die Kohlekraftwerke im eigenen Land verkündet. Zwar fiel die Nachfrage nach Kohle vor allem, weil Erdgas billiger wurde. Doch in den Augen der Kohlekumpels und ihrer Familien hatte ihr Präsident ihnen den Krieg erklärt. »Obama’s War on Coal«. Von den liberalen Politikern wurde das als Argument unaufgeklärter Hinterwäldler abgetan. Die entlassenen Minenarbeiter müssten sich eben nach Jobs umsehen, für die es im modernen Amerika Bedarf gibt: etwa Softwareprogrammierer oder Krankenpfleger. Es muss den Kumpels vorgekommen sein wie Marie Antoinettes angeblicher Rat, die hungernden Pariser sollten doch Kuchen essen, wenn es kein Brot gebe. Nicht genug damit, Obama machte ausgerechnet mit den Chinesen gemeinsame Sache, mit deren billigen Löhnen und staatlichen subventionierten Dumpingpreisen die US-amerikanischen Fabriken nicht mehr mithalten konnten.

Die Menschen in den betroffenen Regionen wussten sich schon lange abgehängt. Nun fühlten sie sich auch noch verachtet. Hillary Clinton, die bei den Küsteneliten und dem Rest der westlichen Welt als designierte Nachfolgerin Obamas galt, beschrieb sie 2016 bei einem Dinner in New York. Das Publikum: wohlhabende Spender für ihren Wahlkampf. 50 000 Dollar kostete das Gedeck an diesem Abend, eingeladen hatte Barbra Streisand. Ihren Gönnern erklärte Clinton, wie sie die Millionen Trump-Anhänger im Land sah. Diese bestünden zur Hälfte aus einem »Haufen von Erbärmlichen«. Sie seien »rassistisch, sexistisch, ausländerfeindlich, islamfeindlich und so weiter«.

Und die Kandidatin fügte noch hinzu, diese Menschen seien schlicht »nicht zu retten«. Ihr Publikum an jenem Abend lachte.

Zuletzt lachte dann allerdings der Mann, den Clinton und das Establishment als Made-for-Television-Boss und Pleitier abtaten. Donald Trump hatte die Gefühle der »Erbärmlichen« richtig erkannt – und nutzte sie geschickt aus: Der Klimawandel sei eine Verschwörung der Chinesen, um das große Amerika zu fesseln, behauptete er in seinen Wahlkampftiraden. Und er gab das Versprechen: »Make America Great Again!« Das Amerika der Stahlkocher, der kernigen Kohlekumpels, der rauchenden Schlote und der dicken Autos soll wieder auferstehen. Damals, so stellte es Trump dar, selbst zu der Zeit noch als jugendlicher Playboy unterwegs, dominierte die Supermacht mit dem Sternenbanner Freund und Feind. Und so soll es nach seinen Vorstellungen und Versprechen wieder sein. »Wir werden gewinnen und gewinnen. Wir werden so oft gewinnen, dass ihr sagen werdet, Mr. Präsident, hören Sie auf, ich habe schon Kopfweh vom vielen Gewinnen«, sagte er in einer Rede. Und die Mittel, mit denen er diese neue Dominanz erreichen will, sind: Öl, Gas und Kohle.

Katastrophe 6.0?

Das Riff scheint ein endloser Wald von Korallen. Quallen pulsieren, am Boden wimmelt es von Schwämmen, Seesternen und Anemonen. Hinten meint man, einen Hai lauern zu sehen. Elegant schweben Nautilus in ihren Schneckenhäusern vor dem Betrachter. So hat es ausgesehen vor rund 250 Millionen Jahren, als Westtexas noch der Boden eines Ozeans war. Das liebevoll rekonstruierte Riff befindet sich im Permian Basin Petroleum Museum. Im Geschenkeshop verkauft die freundliche Museumswärterin Miniaturfördertürme und Untersetzer mit Ölpumpenmotiv.11 Dass der Permian in Westtexas heute eine der ölreichsten Regionen der Welt ist, hängt mit dem uralten Riff zusammen. Die damalige Welt ging in einem der größten Massensterben der Erdgeschichte unter, der größte Teil der damals existierenden Spezies verschwand. Als Ursache im Verdacht stehen Vulkane in Sibirien, aber auch ein Meteoriteneinschlag.12

Heute pressen die Fracker hier die Fossilien aus dem einstigen Riff. Das Öl, das sie fördern, trägt entscheidend dazu bei, dass wir wieder auf ein Massenaussterben zusteuern. Es wäre das sechste in der Erdgeschichte. Aber dieses Mal wäre es vom Menschen gemacht.

Wie bei dem Riffschaubild im Petroleum Museum besteht dieses Buch aus vielen Protagonisten, Anekdoten, Ereignissen und Statistiken. Zusammen genommen ergeben sie ein Diorama, das anschaulich machen soll, wie es soweit gekommen ist und was das für unser Klima, unsere Sicherheit und unsere Zukunft bedeutet.

1MIT VOLLGAS INS NEUE ÖLZEITALTER

Amerika schwingt sich zur neuen Energiesupermacht auf. Das verdankt das Land dem geologischen Zufall, aber mehr noch der Halsstarrigkeit der Texaner.

Am 1. Juni 2017 tritt US-Präsident Donald Trump im Rose Garden des Weißen Hauses ans Rednerpult. Es ist ein sonniger Frühsommertag, eine leichte Brise weht. Es sei seine heilige Pflicht, Amerika und seine Bürger zu beschützen, erklärt Trump, hinter ihm die Stars and Stripes. Und um diese Pflicht zu erfüllen, werde sich die USA aus dem Pariser Klimaabkommen zurückziehen. Pittsburgh – das einstige Herz der US-Stahlindustrie – statt Paris, ruft er. An dieser Stelle muss der Präsident kurz eine Pause einlegen, weil die versammelten Vertreter seiner Regierung in heftigen Applaus und zustimmende Rufe ausbrechen. Das weltweite Klimaabkommen von 2015, das sein Vorgänger Obama zu seinen größten Errungenschaften gezählt hatte, ist nach Trumps Ansicht nichts als ein schlechter Deal, der ausschließlich anderen Ländern zugutekommt, »während Amerikas Arbeiter – die ich liebe – und die amerikanischen Steuerzahler die Kosten dafür durch verlorene Jobs, niedrigere Löhne, geschlossene Fabriken und eine deutlich verminderte Wirtschaftsleistung tragen müssen«, so Trump. Und er lässt keinen Zweifel, um was es ihm eigentlich geht. »Wir haben die größten Energiereserven des Planeten, doch mit dem Abkommen würden wir sie praktisch wegschließen, wir würden auf unseren Reichtum verzichten«, sagt er an jenem Tag im Rosengarten.1 Bei einem Wirtschaftswachstum von einem Prozent, da würden vielleicht erneuerbare Energien reichen, doch nicht die drei bis vier Prozent Wachstum, für die er, Trump, von nun an sorgen würde. »Dafür brauchen wir alle Energie, die uns zur Verfügung steht.«

Wie Deutschland hat auch Trump eine Energiewende eingeleitet, nur führt sie mit Vollgas ins fossile Brennstoffzeitalter zurück. Die Folgen dieses Ölbebens sind weitreichend. Zum einen löst es eine tektonische Verschiebung der Geopolitik aus. Eine Verschiebung, die Deutschlands Sicherheit und Energieversorgung gefährdet. Zum anderen wird das neue Zeitalter, das der Präsident einläutet, den Klimawandel anheizen. Mit katastrophalen Folgen für den Rest der Welt.

Mit Trumps Absage verliert das historische Klimaabkommen von Paris den entscheidenden Partner. Nicht nur, weil Amerika der zweitgrößte Verschmutzer der Welt ist, sondern weil nach dem US-Ausstieg auch andere große Volkswirtschaften wie China und Indien, die Nummern eins und drei, dem Beispiel folgen und ihre Bemühungen, den Klimawandel aufzuhalten, zugunsten kurzfristiger Wachstumsgewinne aufgeben oder zumindest einschränken könnten. Mit seinen Zweifeln am vom Menschen verursachten Klimawandel ist Trump alles andere als allein. Doch für seine Politik ist das Leugnen eines Zusammenhangs zwischen fossilen Brennstoffen und einer sich abzeichnenden Umweltkatastrophe zwingend. Nur wenn es diesen Zusammenhang nicht gibt, lässt sich Trumps wichtigstes Vorhaben rechtfertigen – die mit fossilen Brennstoffen angetriebene Reindustrialisierung der USA.

Nie zuvor hat sich eine US-Regierung derart der Förderung von fossilen Brennstoffen jeglicher Art verschrieben. Trumps Strafzölle mögen die Staatschefs von Berlin bis Peking umtreiben. Seine Obsession mit dem Milliardenbau »einer schönen Mauer« gegen Mexiko, um »bad hombres« abzuhalten, mag die Opposition im eigenen Land in Wallung bringen, und seine möglichen Verstrickungen mit Russland, seine Affären mit Playboy-Model und Pornostar, seine chaotische Amtsführung mögen Reporter zu immer neuen Schlagzeilen animieren. Das alles wird in ein paar Jahren in der kollektiven Erinnerung verblasst sein. Doch die grundlegendste Veränderung, die der 45. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika hinterlassen wird, sind die unumkehrbaren Folgen seiner Energiepolitik.

Mit ihr stellt er die bisherige Weltordnung auf den Kopf. Waren die Europäer einst die engsten Verbündeten der USA, sind sie nun zu Vasallen degradiert. Das gilt besonders für die Industrienation Deutschland, die von Energieimporten abhängig ist. Seit 1990 hat sich die deutsche Gewinnung von Energierohstoffen wie Kohle und Erdgas um 40 Prozent reduziert. Heute werden nach Angaben des Umweltbundesamtes etwa 4 000 Petajoule inländisch gewonnen. Damit kann das Land gerade ein Drittel des Primärenergiebedarfs decken. Deutschland importiert Erdgas, Uran, Steinkohle und Öl – die drei letzteren kommen zu 100 Prozent aus dem Ausland.2 Bis vor wenigen Jahren schienen die USA dieses Schicksal zu teilen, auch die Supermacht jenseits des Atlantiks war von Öl- und Gasimporten, vor allem aus dem Nahen Osten, abhängig. Der ungehinderte Zugang der westlichen Industrienationen zu diesen Energiequellen – vor allem Öl – war ein gemeinsames Interesse. Ein Interesse, dem die USA im Gegensatz zu Deutschland notfalls militärisch Nachdruck verleihen konnten – und es auch immer wieder taten. Politisch lagen Washington und Bonn, später Berlin, zwar nicht immer auf einer Linie. In Sachen Energiesicherheit aber war man auf demselben Tanker.

Die Schieferrevolution

Das Ölbeben, das Trump nun für seine Ziele nutzt, hat lange vor ihm begonnen. Noch zehn Jahre vor seiner Wahl hatte es so ausgesehen, als ob die USA sich damit abfinden müssten, in absehbarer Zeit die eigenen Ölreserven verbraucht zu haben. 1970 – da war Nixon Präsident – belief sich die Tagesproduktion auf knapp zehn Millionen Barrel. Schon als J. R. Ewing, der fiese Öltycoon aus Dallas, seine Intrigen und dreckigen Tricks ausspielte, hatte in Wirklichkeit der Abstieg begonnen. Schließlich waren es nur noch fünf Millionen Barrel am Tag. Jetzt, in einer dramatischen Wendung, die aus einem Dallas-Drehbuch stammen könnte, sind die USA wieder ganz vorne in der Ölförderung. Eine Revolution in der Fördertechnik, das Fracking, hat die USA innerhalb weniger Jahre zum größten Ölproduzenten der Welt gemacht. Rund 12 Millionen Barrel am Tag pumpten die Amerikaner Anfang 2019. Nach Schätzungen der US-Energiebehörde EIA werden bis 2020 täglich über 13 Millionen Barrel aus den Bohrlöchern zwischen North Dakota und New Mexiko sprudeln.3 Damit liegen die Amerikaner deutlich vor den bisherigen Champions Saudi-​Arabien und Russland. Und es ist nicht nur Öl. Hatten US-amerikanische Energieexperten noch vor kurzem besorgt debattiert, aus welchen Ländern sich künftig der wachsende Bedarf an Erdgas decken lassen würde, legen nun fast täglich Tanker mit Flüssiggas von den US-Häfen in Texas und Louisiana ab. Ihr Ziel: Asien und Europa. So billig ist Erdgas in den USA inzwischen, dass Förderunternehmen es abfackeln, weil es sich nicht lohnt, es aufzufangen.

Während die Deutschen darum ringen, ihre Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen zu verringern und sich weiter den Klimazielen der internationalen Gemeinschaft verpflichtet fühlen, hat Trump diesen Konsens verlassen. Das gibt Amerika zumindest kurzfristig einen Wettbewerbsvorteil. Der ungehemmte Einsatz von Öl, Gas und Kohle senkt die Kosten für Unternehmen. Allein in den vergangenen Jahren haben Unternehmen aus der Petrochemie, die einen hohen Bedarf an Energie, Öl und Gas haben, 300 neue Projekte mit einem Investitionsvolumen von mehr als 200 Milliarden Dollar in den USA angekündigt.4 Zwei Drittel haben ausländische Beteiligung, so der Washingtoner Branchenverband. Milliarden Investorengelder sind in den US-Energiesektor geflossen. Für die Branche bedeutet Trump das letzte Hurra. Entsprechend werden Tatsachen geschaffen – buchstäblich in Stahl und Beton gegossen. Sind die Rohre erst einmal eingegraben, die Raffinerien genehmigt, die Förderrechte gesichert, dann wird es für Trumps Nachfolger schwer sein, dies wieder rückgängig zu machen. Trump, der sein Amt im Weißen Haus in der gleichen Weise führt, wie er einst seine Immobiliendeals im New Yorker Trump Tower durchzog, erkennt in dem Energieüberfluss, was die New Yorker »leverage« nennen: Einen Hebel, den er ansetzen kann, um einen Vorteil herauszuhandeln.

Besonders Deutschland mit seiner Exportstärke empfindet der Präsident als unfairen Konkurrenten für »seine« Unternehmen. Schon sein Vorgänger Obama forderte, die Bündnispartner der NATO – allen voran Deutschland – sollten für die Schutzleistung der Amerikaner mehr bezahlen. Doch der Ton, den vor allem Richard Grenell, Trumps Gesandter in Berlin, anschlug, war von sengender Schärfe. »Heuchlerisch«, schimpfte er die Bundesregierung etwa. Weil er sich wie ein »rechtsextremer Kolonialoffizier« (Ex-SPD-Chef Martin Schulz) aufführe, solle man den undiplomatischen Diplomaten nach Hause schicken, foderten viele Berliner Politiker. Grenell und seinem Präsidenten ein besonderer Dorn im Auge ist die Nord Stream 2, ein Projekt, an dem deutsche Unternehmen und der russische Gazprom-Konzern beteiligt sind. »Deutschland ist Russland hörig wegen der Energielieferung«, nörgelte Trump immer wieder. Unverblümt forderte er von Bundeskanzlerin Angela Merkel, Deutschland solle seinen Energiebedarf aus US-Quellen decken. Und die Kanzlerin gab nach.

Der Bund wird den Bau von Terminals für US-Flüssigerdgas unterstützen. An den Kosten sollen nicht nur deutsche Steuerzahler, sondern auch Gaskunden beteiligt werden, so berichtete im März 2019 der Spiegel, dessen Reporter einen internen Entwurf des Wirtschaftsministers eingesehen hatten. Der Plan sorgte umgehend für Proteste von Umweltschützern, die die Fördermethode für das Gas ablehnen. »Schmutziges Fracking-Gas importieren und dafür die Gaskunden zahlen lassen – das geht nicht«, sagte Sascha Müller-Kraenner, Bundesgeschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe, den Spiegel-Journalisten.5

Geht es nach Trump, werden die Deutschen jedoch bald nicht nur gas pumped in USA verbrennen, sie werden auch mit Autos aus Detroit herumfahren. Bisher sind die US-Modelle hierzulande wenig beliebt, nicht zuletzt, weil sie einen vergleichsweise hohen Spritverbrauch haben. Deshalb sieht Trump die im Vergleich zu den USA hohen Benzinsteuern als unfaires Handelshemmnis für US-Autohersteller. »Sie machen es unmöglich, unsere Autos dort zu verkaufen. Großes Ungleichgewicht beim Handel«, klagte der Präsident bereits 2017. Das will er ändern. Peter Navarro, Trumps wichtigster Einflüsterer in Handelsfragen, erklärte: »Es wird nicht mehr länger so sein, dass für jedes Auto, dass wir [den Deutschen] verkaufen, sie drei an uns exportieren. Detroit wird boomen. Und das ist gut so. Präsident Trump wird weltweit führend im Handel.«6 Navarro – vor seinem Aufstieg zum Trump-Intimus ein nahezu unbekannter kalifornischer Professor, der Anlagetipps wie »Wenn es regnet, kauf Starbucks« erteilte, war es auch, der Trump dazu drängte, zum Ausgleich Zölle auf europäische Autos zu erheben. Eine Maßnahme, die vor allem die deutschen Hersteller trifft. Im Februar 2019 erklärte das US-Wirtschaftsministerium die Importwagen zum nationalen Sicherheitsrisiko. Bundeskanzlerin Angela Merkel machte aus ihrer Besorgnis keinen Hehl. Für Deutschland sei diese Einschätzung »erschreckend«, sagte sie kurz darauf auf der Münchner Sicherheitskonferenz.

Sollte Trumps fossile Brennstoffoffensive ungebremst so weiter gehen, wird die Erderwärmung weit über die Zunahme von 1,5 Grad Celsius hinausschießen, bei der sich laut den Klimaforschern gerade noch das Schlimmste verhindern ließe. Schon jetzt sind die Folgen in Amerika deutlich zu sehen: Fluten, die bisher nach statistischer Wahrscheinlichkeit nur alle 500 Jahre vorkommen sollten, setzen regelmäßig den Mittleren Westen unter Wasser, Hurrikane fegen mit nie dagewesener Zerstörungskraft über Floridas Küste, in Kalifornien toben monatelang Waldbrände. Die Wirtschaft könnte bis 2090 im besten Fall jährlich 280 Milliarden Dollar durch Klimaverheerungen einbüßen, im schlimmsten Fall werden es 500 Milliarden Dollar jährlich. Daneben nimmt sich die Finanzkrise wie eine Trockenübung aus. Doch die Katastrophe wird nicht auf Nordamerika beschränkt bleiben. Sie wird den Rest des Planeten erfassen. Und damit geht sie uns alle an.

In den kommenden Kapiteln geht es um die neue Geografie der Macht und die Gefahren nach dem Ölbeben. Aber es geht auch um die Protagonisten, die es ausgelöst haben. Das waren nicht die großen Konzerne wie Exxon oder Chevron, sondern eine Bande von Glücksrittern. Hartgesotten wie Cowboys, fieberhaft wie Goldsucher durchlöchern die Fracker die Prärie und ändern dabei unsere Zukunft. Wer verstehen will, was mit unserem Planeten passiert, muss sie verstehen. Und wer sie verstehen will, muss sie besuchen.

Das heißeste Ölfeld der Welt

31.9453611,-103.0093889. Die GPS-Koordinaten führen auf immer schmaleren Straßen immer tiefer in eine karge steinige Landschaft, spärlich bewachsen mit Mesquitesträuchern und Yucca. Das Permian Basin im Westen von Texas ist selbst für Texaner eine respekteinflößende Gegend. »Unbarmherzige Himmel, Backofenhitze und Regenlosigkeit«, beschrieb sie einmal Larry McMurtry, Westernromancier und Drehbuchautor von Brokeback Mountain und selbst Texaner.7 Jetzt ist es kurz nach sechs Uhr früh und die Sonne noch nicht aufgegangen. Doch eine Batterie von Blitzen lässt die weite Ebene aufleuchten. Der Regen kommt überraschend, ein Sturzbach, der die Sicht nimmt und die Scheibenwischer sinnlos werden lässt. Selbst die tonnenschweren Trucks, deren Fahrer das Gaspedal sonst durchgedrückt halten, werden für einen Moment langsamer. Kaum wird der Regen jedoch schwächer, ziehen sie davon, den Tacho wieder stramm auf 120 Stundenkilometer haltend. Sie haben keine Zeit für das urweltliche Spektakel. Das Permian Basin, in dem einst ein Urmeer schwappte, ist heute das »heißeste Ölfeld der Welt«, so das Wirtschaftsmagazin Forbes.8 Zeit ist hier $$$.

»Sie haben Ihr Ziel erreicht«, meldet die Computerstimme schließlich. An der Abfahrt steht ein großes Schild: »Atlas Sand«. Eine frisch asphaltierte Trasse verschwindet zwischen Sanddünen. Wer ihr folgt, glaubt auf eine Fata Morgana zu stoßen. Sieben Silos ragen plötzlich wie stählerne Wachtürme auf. Daneben laden Schaufelbagger Sand auf Förderbänder. In der Morgensonne, die das Unwetter abgelöst hat, blinken blanke Stahlrohre, Schornsteine und Hallen. Jordan Sevy, Mitte Zwanzig, ist der Logistikmanager der Anlage. Angetan mit Schutzhelm und Warnwesten kurven wir in seinem drei Tonnen schweren schwarzen Longhorn 2500 Ram über das Gelände. Normalerweise hat Sevy keine Zeit für Besucher. »Das Geschäft brummt«, sagt er. Heute hat das Gewitter für eine unfreiwillige Pause gesorgt.

So surreal, wie die Anlage mitten in der Wüste auftaucht, so bizarr klingt ihr Zweck. In den Hallen, erklärt Sevy, wird Sand gewaschen, getrocknet und nach Körnergröße sortiert. Nahezu vollautomatisch.

Nun, da das Unwetter abgezogen ist, rollen im Fünfminutentakt die Laster, die vorher über die Straßen gejagt sind, hier durch die Abfüllvorrichtung unter den Silos. Der ganze Vorgang läuft computergesteuert. Der Fahrer wird durch Ampelsignale eingewiesen, sobald der Laster unter dem Einfüllstutzen in Position ist, rauschen 25 Tonnen Sand in die Tanks. Voll beladen brettern die Trucks wenig später mit fast 40 Tonnen über die Landstraßen. Der Sand ist nicht für Dreijährige und ihre Backe-Backe-Kuchen-Förmchen oder für den Betonmischer bestimmt. Atlas liefert einen entscheidenden Rohstoff für das Fracking, das rund um die Sandmine herum stattfindet. Fracking ist die saloppe Bezeichnung für »Hydraulic Fracturing«. Dabei wird mit Hilfe von Hochdruck Wasser und Sand in Bohrlöcher gespritzt, um so Öl oder Erdgas aus Schieferformationen zu gewinnen.

Die Anlage von Atlas Sand nahm im Sommer 2018 den Betrieb auf. Es war ein vielversprechender Auftakt. Nicht grundlos hatten die Reporter des Houston Chronicle 2018 zum »Jahr des Frackers« ausgerufen.9 Zeitweise suchten fast 500 Bohrtürme unter der steinigen Ebene, über die einst die Komantschen ritten und später Cowboys ihre Longhorns trieben – damals allerdings noch Rinder und nicht Pickups –, im Permian Basin nach Öl. Um die Dimension zu verdeutlichen: Das entsprach zu dem Zeitpunkt fast der Hälfte aller aktiven Bohrtürme. Weltweit.

Dank des Öls, das die Fracker aus dem Permian pumpen, überholten die USA im September dann Russland und Saudi-Arabien und wurden zum größten Rohölproduzenten der Welt. Noch wenige Jahre zuvor sah es so aus, als ob die USA ihre Reserven in absehbarer Zeit vollends ausgeschöpft haben würden. Es war nicht zuletzt das Permian Basin, das die Wende brachte. Inzwischen pumpen die Amerikaner mehr als je zuvor: 2018 lag die Produktion bei über 11 Millionen Barrel täglich, davon stammten allein drei Millionen aus dem Permian. 2019 sollen rund vier Millionen Barrel täglich dort gefördert werden, so die Schätzungen der staatlichen Energieagentur US Energy Information Administration, kurz EIA. Das Gebiet, dreimal so groß wie Bayern, war auch ausschlaggebend dafür, dass die USA im »Jahr der Fracker« einen weiteren historischen Meilenstein passierten. Von den Häfen der Golfküste der USA seien zum ersten Mal seit 75 Jahren wieder mehr Ölexporte losgeschickt worden als Tanker importiertes Öl dort ausluden, so berichtete die EIA im Dezember.10 Um das zu erreichen, entfesselten die Fracker eine Materialschlacht: 35 Milliarden Kilogramm Sand pumpten sie 2018 im Permian mit Hochdruck ins Gestein. Um eine einzige Ölquelle auf diese Weise anzuzapfen, benötigten sie 95 Millionen Liter Wasser. Soviel verbrauchen die Einwohner von Kaiserslautern oder Cottbus in einer Woche. Generatoren, die meist rund um die Uhr sieben Tage die Woche laufen, mussten 19 Millionen PS liefern, um die Fracksites, die Bohranlagen, mit der nötigen Elektrizität zu versorgen.11

Der Boom hinterlässt Spuren. Wer tagsüber mit dem Flugzeug über den Permian fliegt, sieht eine Landschaft, die mit einem Muster aus Linien und Quadraten überzogen ist. Man könnte an Stätten glauben, die eine geheimnisvolle Kultur in die Erde gekratzt hat. In Wirklichkeit sind es die Bohrflächen und ihre Zufahrtsstraßen. Fliegt man nachts, lassen flackernde Lichter die Wüste wie ein Spiegelbild eines unbekannten Sternenhimmels aussehen. Die Lichter sind »Flares«, mit denen Erdgas abgefackelt wird, das aus den Quellen aufsteigt und mangels entsprechender Infrastruktur – vor allem Pipelines – nicht aufgefangen wird. Zehntausende Ölquellen wurden im Permian bereits erschlossen. Nach Schätzungen von Geologen haben sie seit Anfang des 20. Jahrhunderts bereits über 30 Milliarden Barrel Öl erzeugt. Das hätte genügt, um 33 Jahre lang Deutschlands Ölbedarf zu decken. Rund 4 000 Quellen waren 2018 bereits gebohrt, nur noch nicht angeschlossen.12 Manchmal warten die Fracker auf einen höheren Ölpreis, um mit der Produktion zu beginnen. Immer wieder haben die Experten ihre Schätzungen, wie viel im Permian noch zu holen ist, nach oben angepasst. Im November 2018 gab der US Geological Survey, die offizielle geologische Behörde, sonst nicht gerade für Überschwang bekannt, in einer Presseerklärung bekannt, den »größten potenziellen Öl- und Gasbestand aller Zeiten« identifiziert zu haben. Die Wolfcamp- und Bone-Spring-Schichten, beides Formationen im Delaware Basin und Teil des Permian, enthalten demnach noch mehr als 46 Milliarden Barrel Erdöl, rund 8 Billionen Kubikmeter Erdgas und 20 Milliarden Barrel Flüssiggase.13 Die Geologie ist die Voraussetzung dafür, dass ausgerechnet diese abgelegene und menschenleere Gegend heute den Lauf der Weltpolitik beeinflusst. Doch kaum weniger entscheidend ist die ganz eigene Mentalität der Westtexaner und ihre »Koste es, was es wolle«-Kultur.

Alles begann mit dem Rosenwunder

Die inoffizielle Hauptstadt des Permian ist Midland. Ihr Motto lautet »The sky is the limit«. Es gab eine Zeit, da waren die Ambitionen nicht ganz so himmelhoch und der Slogan hieß: »Midland, mitten im irgendwo.«14 2010 zählte das US Census Bureau 140 000 Einwohner. Laut den jüngsten Schätzungen sind es 170 000. Damit gehört Midland zu den am schnellsten wachsenden Städten der USA.15 Die Gründung im Juni 1881 verdankt die Stadt der Texas and Pacific Railway. Es war das Depot, das sich auf halber Eisenbahnstrecke zwischen El Paso und Fort Worth bei Dallas befand. Folgerichtig nannte man die Station Midway. Weil sich herausstellte, dass mehrere andere Eisenbahnstationen ebenfalls so hießen, beschloss man drei Jahre später, als die erste Poststation eröffnet wurde, den Ort umzutaufen. Das wäre eine Gelegenheit gewesen, dem Ort einen markanteren Namen zu verpassen. Doch die Bewohner ließen sie verstreichen. Statt Midway heißt es jetzt Midland. Wahrscheinlich wäre Midland heute wenig mehr als ein vergessener Halt einer längst auf dem Abstellgleis der Geschichte entsorgten Eisenbahn, hätte nicht das Rosenwunder stattgefunden.

Rupert Paul Rickers Familie kam noch mit dem Planwagen ins Permian.16 Man schrieb das Jahr 1906. Nachdem sie als Rancher scheiterten, arbeiteten Rupert und sein Vater stattdessen bei der Texas and Pacific Railway. Doch Ricker hatte Ehrgeiz. Er studierte Jura an der University of Texas und nach seiner Rückkehr aus dem Ersten Weltkrieg ließ er sich in Big Lake, einem kleinen Marktflecken im Südwesten des Basin nieder. Was den jungen Mann nicht los ließ: An der Universität hatte er von Studien des Geologen Johan Udden, einem gebürtigen Schweden, erfahren, der unter dem kargen Boden von Westtexas Öl vermutete. Die Universität selbst hatte damals Land in der Gegend, es war der Institution bei der Gründung gestiftet worden. 1917 gab es ein neues, entscheidendes Gesetz in Texas: öffentliches Land, wie das der Universität, konnte von privaten Unternehmern zur Ölförderung genutzt werden. Ricker, ohne Geld, aber mit umso mehr Ideen, entwickelte einen Plan, um reich zu werden, ohne selbst Land zu besitzen oder das Risiko teurer und vergeblicher Bohrungen einzugehen. Bis heute gehört das Spekulieren zum Geschäft in Texas. Ricker bot seiner Alma Mater an, das bis dahin wenig attraktive Land für 20 Cent pro Hektar zu pachten. Er selbst würde Ölsuchern wiederum Nutzungs- und Schürfrechte für bis zu zehn Dollar pro Hektar vergeben. Gesagt, getan. Ricker schloss einen Pachtvertrag mit der Universität für 260 Quadratkilometer oder 35 000 Fußballfelder. Gemeinsam mit einem Partner versuchte er dann, an der Ostküste und im Mittleren Westen Investoren zu finden, die ihm das Kapital für die anstehende Pachtzahlung an die Universität sowie seine erhofften Gewinne geben sollten. Doch die Investoren hatten die Lust an Ölspekulationen verloren. Der Zeitpunkt hätte für Ricker nicht ungünstiger sein können: Die Zeitungen waren voll von Ernest Jacobson Cox, genannt »Alphabet«, einem Schwindler, der Anleger mit dem Versprechen schnellen Reichtums durch das schwarze Gold ausgenommen hatte. Schließlich fand Ricker in Haymon Krupp, einem reichen Händler und Kleiderfabrikanten aus El Paso, einen Retter. Krupp kaufte Ricker für 2 500 Dollar aus seinem Vertrag heraus. Aber auch er blieb zunächst mäßig erfolgreich bei dem Versuch, weitere Investoren zu finden. Mit einem Partner, Frank Pickrell, beschloss er deshalb schließlich, selbst nach Öl zu bohren. Eine Gruppe katholischer Frauen in New York, die Geld bei den beiden angelegt hatten, fragten ihren Priester um Rat. Der empfahl, die heilige Rita anzurufen, die Helferin in aussichtslosen Fällen. Der Legende nach hatte die Heilige auf dem Sterbebett um eine Rose aus dem Klostergarten gebeten und obwohl es mitten im Winter war, blühte dort tatsächlich der Rosenstrauch. Die frommen New Yorker Anlegerinnen gaben Pickrell eine Rose, die ihr Priester gesegnet hatte. Zurück in Texas kletterte Pickrell auf den Bohrturm. »Ich tat, worum sie mich gebeten hatten, und ließ die Rosenblätter auf die Holzkonstruktion und die Winde regnen«, berichtete er später. Die Männer tauften die Bohrung Santa Rita No. 1.17 Die Arbeiten kamen allerdings nur langsam voran. 646 Tage lang quälten sich die Ölarbeiter durch den harten Sandstein. Um sechs Uhr früh am 28. Mai 1923, sechs Tage nach dem Gedenktag der heiligen Rita, hörte die Frau des Vormanns ein lautes Zischen. Als sie aus ihrer Hütte sah, schoss ein Gemisch aus Öl und Gas aus dem Bohrloch. Der Gusher bedeckte alles im Umkreis mit Erdöl. So spektakulär war das Schauspiel, dass Besucher sogar aus dem entfernten Fort Worth kamen, um es zu sehen. Noch 67 Jahre lang wurde aus Santa Rita Öl gepumpt, erst 1990 wurde die Quelle versiegelt.

Es war zwar nicht die erste erfolgreiche Bohrung in Westtexas. Doch Santa Rita etablierte den Permian. Bis heute ist diese Bohrung Legende. Die University of Texas hat eine Rekonstruktion des Bohrturms auf ihrem Gelände in Austin ausgestellt. Für die Universität, die bis dahin kaum mehr als eine Ansammlung von Hütten gewesen war, brachte Santa Rita die Wende. Nicht zuletzt verdankt die Institution ihre heutige anerkannte Stellung und Stiftungsvermögen den Tagträumereien ihres ehemaligen Studenten Ricker. Das Zusammenspiel von Glücksrittern, Spekulanten, Geologen und Ingenieuren, das schließlich Santa Rita sprudeln ließ, sollte das Muster bleiben, das bis heute die Suche nach Öl in Texas erfolgreich macht.

Einmal Boomtown und zurück

Seit Santa Rita No. 1 an jenem Tag im Mai einen teerig-schwarzen Geysir spuckte, blieb das Schicksal Midlands mit dem Auf und Ab des Ölmarkts verbunden. Die ersten Hochhäuser lösten die Windmühlen ab, die bis dahin die Brunnen antrieben. Unter ihnen das Petroleum Building, im neugotischen Stil, rundherum mit spitzen Türmchen und maurischen Bögen verziert, das praktisch heute Old Midland darstellt. Bald war die Stadt weit über die Ebene zu sehen. Mit Stolz trug man damals den Spitznamen »Königin der Prärie«. Die Große Depression in den 1930er Jahren beendete allerdings Midlands ersten Anlauf, Bedeutung zu erlangen. Nach 1945 sorgten neue Ölfelder jedoch für erneute Begeisterung. Kriegsheimkehrer, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges einen Neuanfang suchten, lieferten die notwendige Arbeitskraft.

Bis heute ist zu erkennen, dass Midland den Marktkräften ausgeliefert ist. »Manisch-depressiv« nannte eine Reporterin des Magazins The New Yorker einmal die Stadt.18 Einen Moment würden die Einwohner das Geld nur so zum Fenster hinauswerfen, nur um im nächsten verzweifelt Not zu leiden. Das Zentrum, das sich um das Petroleum Building herum gebildet hat, besteht aus funktionalen Bürotürmen aus den Achtzigern, der Wind bläst durch die leeren Straßen, die nach US-Bundesstaaten benannt sind. Cafés oder Läden sucht man vergeblich. Die Wunden des letzten Abschwungs sind noch sichtbar: An einer staubigen Schaufensterscheibe klebt ein verblichenes Plakat, das die Eröffnung von Läden, Büros und Luxusapartments »bis Dezember 2016« verspricht. Ein Ereignis, das nie stattfand. Ganze Gebäude stehen verlassen. Doch dieses Mal ist alles anders, sagt Midlands Bürgermeister Jerry Morales. Seine Familie war schon vor den europäischen Zuwanderern hier, als Texas noch zu Mexiko gehörte. Morales ist Geschäftsmann und Gastronom, sein Büro mit den schweren Möbeln im Kolonialstil will nicht recht in den unscheinbaren Bau an einer der Ausfallstraßen passen, wo sich Fast-Food-Filialen, Motels, Autoteilehändler und Tankstellen aneinander reihen. Das Familienrestaurant »Gerardo’s Casita«, bekannt für seine Tacos, gehört ihm ebenso wie Gerardo’s Bistro und Gerardo’s Catering. Zu sagen, dass Morales optimistisch für seine Heimatstadt ist, wäre untertrieben. Auf dem Höhepunkt der Krise 2016 eröffnete er ein weiteres Café. Der Bürgermeister stellt sich auf Tausende Neubürger ein. Er plant ganze Stadtviertel, mit Kindergärten und Parks, die die Men Camps, die Wohncontainer, in denen die Ölarbeiter entlang der staubigen Ausfallstraßen hausen, in nicht allzu ferner Zukunft ersetzen sollen. Dieses Mal, davon ist Morales überzeugt, folgt auf den Boom nicht wieder die Enttäuschung und der Abschwung. »Wir werden die neue Energiehauptstadt werden.«

Die Sorgen, die Morales plagen, haben stattdessen damit zu tun, dass seine Stadt nicht mit dem Aufschwung mithalten kann. Es fehlt an Lehrern, Polizisten, Ärzten, Bauarbeitern, Kellnern. Vor allem aber fehlt notwendige Infrastruktur. Auf den Straßen stauen sich die Pick-ups nicht selten stundenlang. Draußen auf den Highways herrscht der Wilde Westen. Dagegen kämpft James Beauchamp an. Der ist Präsident bei Motran, einem Verband umliegender Gemeinden zur Verkehrsplanung. Der große schwere Mann empfängt Besucher in seinem Büro gleich neben dem Flughafen, voller Bücher, anheimelndem Teppichboden und allerlei Nippes. Es wirkt ein wenig so, als ob sich der Sheriff aus einem Hollywoodfilm aus Versehen ins Wohnzimmer der Golden Girls verirrt hätte. Das Buch, das neben einer Zimmerpflanze liegt, wäre allerdings ungewöhnlich für die Damen: Das moralische Argument für fossile Brennstoffe. Eine Mischung aus Bulldogge und Fledermaus schießt unter dem Schreibtisch hervor und begrüßt den Neuankömmling enthusiastisch. Nachdem wieder Ruhe eingekehrt ist, zieht Beauchamp eine Landkarte hervor, auf der die aktiven Fördertürme eingetragen sind. 600 000 Lkw-Fahrten sind monatlich notwendig, um Material und Frischwasser für sie heranzukarren. Daneben hat Beauchamp eine Karte mit all den Entsorgungsstationen, an denen die Fracker ihr toxisches Abwasser loswerden können. Dafür legen Tanklaster weitere Tausende Meilen jährlich zurück. Und dann eine Karte mit den Sandminen, auf die noch einmal zusätzlich 1,7 Millionen Lkw-Ladungen jährlich entfallen. Diese Art Schwerverkehr würde überall auf der Welt zum Verkehrsinfarkt führen. Hier findet er auf einem Straßennetz statt, das ursprünglich zur Versorgung von ein paar versprengten Ranchern diente. Midlands Straßen zählen zu den tödlichsten der Nation. Highway of Death nennen sie die Route 285, eine Hauptverbindung über die Ebene. 173 Verkehrstote gab es 2017 bei 9 758 Unfällen und einer Bevölkerung von 370 000.19 Was sich Beauchamp am meisten wünscht, sind Umgehungsstraßen. Aber der Bundesstaat müsste dafür erhebliche Investitionen vornehmen. »Man sollte meinen, dass unsere Verkehrsstatistik allein die Volksvertreter dazu bewegen würde, die nötigen Investitionen zu tätigen«, sagt Beauchamp. So ist er schon glücklich, wenn er für Einfädelspuren und Überführungen den Etat bekommt. Dabei füllten die Öl- und Gaseinnahmen aus dem Permian auch die Staatskasse in Austin, der Hauptstadt des Bundesstaates. Auch dafür hat Beauchamp eine Präsentation, die er aus seinem Stapel zieht. Allein im Jahr 2017 überwiesen die Fracker 1,7 Milliarden Dollar an den Fiskus. Beauchamp sieht allerdings auch die positive Seite des Chaos: »Bei uns gibt es noch Chancen, mit nichts anzufangen und sich etwas aufzubauen.« Als Lkw-Fahrer zum Beispiel verdienten schon Anfänger 100 000 Dollar im Jahr, erfahrene Trucker bis zu 160 000 Dollar. »Führerschein und ab auf den Bock«, sagt er.

Die Chancen sind auch in Midland allerdings nicht gleich verteilt. Steven Pruett etwa ist nicht über die Fahrerkabine eines Trucks eingestiegen. Der gebürtige Texaner ist Ölmann. Aber einer im grauen Anzug. Aufgewachsen in Corpus Christi, der texanischen Hafenstadt am Golf von Mexiko, studierte er Ingenieurwissenschaften mit Schwerpunkt Öl an eben jener University of Texas, die Ricker und das Rosenwunder einst reich gemacht hat. Der Chef von Elevation Resources, einer Frackingfirma in Midland, ist während seiner jahrzehntelangen Laufbahn viel in der Welt herumgekommen. Doch jetzt hat er sich mit seiner Familie in Midland niedergelassen. »Man kann hier sehr angenehm leben«, versichert er. Viele Häuser hätten Pool. Von Pruetts Büro im 10. Stock sieht man sie als blaue Vierecke zwischen den Häusern aufblitzen.

Angenehm bedeutet für wohlhabende Midlander wie Pruett, über ein Flugzeug zu verfügen, um zu Geschäftsterminen nach Dallas oder übers Wochenende in die Rocky Mountains zu jetten, wo man im eigenen Chalet dem Wüstenklima ausweichen kann. Ein berühmter Scherz, den Besucher in Midland gerne erzählt bekommen: »Wir sind hier mitten in den besten Jagd- und Fischgründen – egal in welche Richtung man fährt, man braucht fünf Stunden, bis man dort ist.« Beim Business-Lunch im Wall Street Grill ärgert sich die örtliche Ölelite über Trump. Der Präsident könnte zwar nicht freundlicher ihrer Branche gegenüber sein. Doch der New Yorker sei einfach peinlich, sagt ein Manager, der eigentlich ein überzeugter Konservativer ist, wie die meisten hier. Wer Trump-Anhänger sucht, trifft sie eher in der »Bar«. Dort sitzen Männer wie Chris, der dort allein mit einer Flasche Coors seinen 47. Geburtstag feiert. Seine Familie ist in Dallas, er sieht sie nur alle zwei Wochen. Früher war er in der Autoindustrie. Aber sein Job bei einer Frackingfirma gefällt ihm besser, da könne man noch richtig anpacken. In den Steinen der Wüste hat er viele Fossilien entdeckt. »Es war hier mal voller Leben«, sagt er. Beim Fracking glaubt er eine Verbindung zu diesem Texas von vor Millionen Jahren zu spüren. »Das fasziniert mich immer wieder.« Dann kommt die Kellnerin und singt: Happy Birthday, Chris!

Wie verbunden Midland mit der republikanischen Partei ist, zeigt die Tatsache, dass die Stadt George W. Bushs Heim seiner frühen Kindheit in ein Museum verwandelt hat. Es ist ein bescheidenes graues Häuschen aus den 1940er Jahren – 130 Quadratmeter Wohnfläche – im etablierten Teil der Stadt, wo große Bäume die Straßen säumen. Bush Senior hatte es für 9 000 Dollar gekauft, als er mit Frau und den sechs Kindern 1951 nach Abschluss seines Studiums an der Eliteuniversität Yale nach Midland gekommen war, um sich als Selfmademan zu bewähren. Hilfreich war dabei sicher, dass er der Spross einer Ostküstendynastie war, die in ihren Reihen Industriekapitäne und Banker zählte. Die Bushs waren das, was man in den USA »Old Money« nennt, die Geldaristokratie, die lange das Land dominierte. (Ein anderes Beispiel sind die Kennedys.) Dank der Geschäftsverbindungen seines Vaters, Prescott Bush, der bei der Wall Street Traditionsbank Brown Brothers Harriman im Aufsichtsrat war, kam H. W. Bush bei Dresser Industries, einem Anbieter von Fördertechnik in Midland, als Vertreter unter. Angeblich bekam er nur 300 Dollar im Monat. In seiner Autobiografie schrieb er, er habe nur begrenzt Unterstützung von zuhause erhalten: »Wir waren jung, wollten unseren eigenen Weg gehen, unsere eigenen Fehler machen und unsere Zukunft schaffen.« Trotzdem schadete ihm sicher nicht, dass sein Vater und sein Onkel als Großinvestoren mit 350 000 Dollar (heute entspräche das drei Millionen) den Start von Bushs eigener Ölgesellschaft finanzierten. Sie sollte ihn zum Millionär machen.

Der Tango von Texas-Öl und Politik sollte sich in der nächsten Generation fortsetzen. Sohn George W. erinnerte sich später gerne an Midland. Als 31-Jähriger kehrte er zurück. Sein Versuch, ganz wie Bush Senior mit dem Öl des Permian Geld zu machen, scheiterte allerdings. Seine Firma Arbusto Energy – arbusto ist das spanische Wort für Busch – war wenig erfolgreich. Zur Abwechslung versuchte es George W. mit einer Kandidatur für das Repräsentantenhaus, womit er ebenfalls scheiterte. Er kehrte zurück ins Ölgeschäft. Aber auch das Umtaufen seines Unternehmens in Bush Exploration nutzte nichts. 1984 drohte Bush Junior das Geld auszugehen. Da sprang ihm eine Firma namens Spectrum 7 bei. Die beiden Unternehmen fusionierten und Bush wurde Geschäftsführer mit einem für damalige Verhältnisse stattlichen Jahresgehalt von 75 000 Dollar sowie einen Anteil an der neuen Gesellschaft. Laut einem Bericht der New York Times war das Interesse von Spectrum 7 allerdings weniger auf das Finden von Öl gerichtet als auf steuerlich absetzbare Verluste.20 Pech war nur, dass sich die Steuergesetze änderten. Bald suchte Bush erneut nach einem Retter. Eine Gesellschaft namens Harken meldete sich. Sie verwaltete zu dem Zeitpunkt die Öl-und Gasinvestments eines Investors namens George Soros. Erst acht Jahre später sollte der mit seiner Wette gegen die Bank von England, bei der er eine Milliarde Dollar kassierte, weltberühmt werden. George W. bekam einen Beratervertrag bei Harker, der zunächst mit 80 000 Dollar, später mit 120 000 Dollar dotiert war. Darüber hinaus erhielt er Aktien und einen Sitz im Aufsichtsrat. Obwohl George W. ab 1987 Vollzeit für die Wahlkampagne seines Vaters arbeitete, blieb sein Beratervertrag mit Harker bestehen. 1990 verkaufte er seine Anteile, um Miteigentümer der Texas Rangers zu werden. Sein Engagement bei dem populären Baseballteam legte den Grundstein für seine Wahl zum Gouverneur von Texas und später seine Präsidentschaftskandidatur. Der Verkauf der Harker-Aktien wurde allerdings von der US-Börsenaufsicht SEC wegen des Verdachts auf Insiderhandel untersucht, weil Harker nicht lange nach Bushs Aktienverkauf einen massiven Verlust melden musste, der die verbliebenen Anteilseigner überraschte. George W. wurde von den Ermittlern allerdings nie befragt. Die Untersuchung wurde mangels Beweisen eingestellt.

George W. Bush hätte sich allerdings auch keinen schlechteren Zeitpunkt für seine Rückkehr nach Midland aussuchen können. Nicht lange davor, in den 1970er Jahren, hatte es so ausgesehen, als ob Texas und der Permian nicht zu stoppen seien. Ölarbeiter kreuzten durch Midland im Cadillac, ihre Manager rollten im Rolls Royce daher. Ironischerweise verdankten sie den Wohlstand indirekt der Konkurrenz. Die OAPEC, die Organisation der arabischen erdölexportierenden Staaten, drosselte im Herbst 1973 die Produktion. Damit wollten sie die westlichen Nationen unter Druck setzen, die Israel im Jom-Kippur-Krieg unterstützten. Am 17. Oktober 1973 schoss der Ölpreis von drei Dollar pro Barrel auf fünf Dollar – ein Anstieg von 70 Prozent. Im Jahr danach sollte Öl auf 12 Dollar per Barrel klettern. Für die Weltwirtschaft war es ein Schock, für Texas eine Vitaminspritze in den Arm. 1979 stürzte die Revolution in Teheran den Schah, ein Ereignis, dessen Auswirkungen bis heute reichen. Es trieb den Preis auf neue Rekordhöhen. Für die Texaner bedeutete es mehr Geld für ihr Öl. Doch die Krise der Wirtschaft ließ die Nachfrage nach Energie sinken. Gleichzeitig begannen die betroffenen westlichen Abnehmerländer mit Maßnahmen wie dem autofreien Sonntag, um den Verbrauch zu senken. 1981 meldete die New York Times auf ihrer Titelseite eine »Ölschwemme«. Der Preis begann erst zu sinken, dann zu stürzen. Allein im Jahr 1986 halbierte er sich. Die Folgen für Midland und ganz Texas waren verheerend.

The Texan Way: Boom and Bust

Bis heute hat sich der Einbruch von 1986 in das kollektive Gedächtnis der Texaner eingegraben. Nur ihre Niederlage in El Alamo gegen General Santa Anna 1839 im Unabhängigkeitskrieg gegen Mexiko sitzt noch tiefer. In Houston verloren innerhalb weniger Monate 225 000 Menschen ihren Job, bald standen 200 000 Häuser leer, berichtete der Houston Chronicle. Hunderte Banken brachen zusammen. Fördertürme wurden verkauft, nur um den Schrottwert ihres Stahls zu erlösen. Gut zu tun hatten nur noch die Konkursrichter. In Midland fanden sich Arbeiter obdachlos und in Zelten wieder. Ein Mann habe in dem Karton gehaust, in dem noch nicht lange vorher sein neuer Kühlschrank geliefert worden war, berichteten die Zeitungen. Ein erfolgreicher Ölmann, der es zum Millionär gebracht hatte, sei nach Kalifornien ausgewandert, um dort als Schuhverkäufer seinen Lebensunterhalt zu verdienen.

Das abrupte Platzen des Booms war schlimm genug. Es wurde aber noch übertroffen von der Tatsache, dass die Ölmacht der USA scheinbar unaufhaltsam schwand. Seit 1970, als die USA mit über 10 Millionen Barrel pro Tag einen Höhepunkt erreichten, waren die Fördermengen stetig gesunken. Experten prognostizierten, dass die Vorkommen im Land sich in wenigen Jahrzehnten erschöpfen würden. Die Vorhersage schien sich zu bestätigen: 1986 produzierten US-Quellen sieben Millionen Barrel am Tag, zehn Jahre später waren es 6,5 Millionen Barrel am Tag. Der Niedergang setzte sich weiter fort und erreichte 2008 mit nur noch 4,95 Millionen Barrel pro Tag den Tiefpunkt.

Öl schien als lukratives Kapitel in Texas’ Geschichte unwiderruflich dem Ende entgegen zu gehen. Ein Schicksal, das den Bundesstaat mit dem stolzen einsamen Stern im Banner nicht zum ersten Mal heimsuchte. Vor dem Öl hatte die Rinderzucht Abenteurer und Investoren angelockt. Nachdem mit den Komantschen 1875 die letzten einheimischen Volksstämme besiegt, vernichtet und vertrieben worden waren, nahmen sich weiße Siedler das Land. Die Gerüchte von »freien« Weiden im Westen zogen Einwanderer aus Europa an, vornehmlich Engländer, die wohl nicht zuletzt das Versprechen von endlos blauem Himmel und strahlendem Sonnenschein lockte. Es war eine gute Zeit für Pioniere. Auf die Krise nach den Verheerungen des blutigen Bürgerkriegs, der 1865 zu Ende gegangen war, folgten in den USA die Expansion und die zweite Welle der Industrialisierung, die letztlich die Grundlagen für den Aufstieg zur Weltmacht legten. Der steigende Wohlstand ließ den Fleischkonsum steigen. Entsprechend zogen die Rinderpreise an. Bald grasten Millionen von Longhorns auf den Ebenen. Sie stammten von Büffeln ab, die einst spanische Siedler nach Texas mitbrachten. Sie hatten zwar vergleichsweise wenig Fleisch auf den Rippen, dafür kamen sie mit wenig Wasser und spärlichen Weiden aus. In den rasch errichteten Städten fand sich ein buntes Volk zusammen. »Es hieß, trinken und lustig sein, gib Geld aus und hol dir mehr«, schrieb Don Hampton Biggers, ein zeitgenössischer Journalist. »Der englische Adlige, hierher geschickt im Auftrag einer englischen Firma, der einheimische Millionär und der Cowboy waren Kameraden fröhlicher Ausschweifungen, saßen am selben Tisch, tranken in der selben Bar, spielten beim gleichen Spiel mit und allesamt tauchten sie später ins gleiche Unglück.« 21 In Texas kostete ein Longhorn drei bis sechs Dollar, Hunderte Meilen weiter in Kansas kostete ein Rind 38 Dollar und in New York, wo es kaum Vieh gab, zahlten die Schlachter 80 Dollar. Joseph McCoy, der sich später »The Real McCoy« nannte, erkannte das Potenzial und baute die ersten Viehwaggons. Doch um die Tiere zu verladen, mussten sie erst einmal die Eisenbahn erreichen. McCoy kaufte einen kleinen Ort an der Union Pacific Railway, taufte ihn Abilene, und ließ in ganz Texas Werbung für seinen Verladebahnhof machen. Bald zogen Herden, angetrieben von Cowboys, mit Tausenden Rindern über den Chrisholm Trail gen Norden. Hollywood machte die Trecks durch Western wie Red River mit John Wayne in der Hauptrolle zur Legende. Auf dem Höhepunkt des Texas Cattle Boom grasten zehn Millionen Longhorns in dem Bundesstaat. Unter den Cowboys waren viele Veteranen des Bürgerkriegs, so wie später viele Weltkriegsveteranen in die Ölfelder zogen. In der harten Arbeit fanden sie Herausforderungen und Kameradschaft, die sie sonst im zivilen Leben etwa als Buchhalter oder Baumwollfarmer nicht finden konnten. Viele hatten auch keine Heimat mehr. Nach dem Krieg waren ganze Landstriche verheert. Doch dann brach das Cattle Kingdom, das Rinderreich von Texas, zusammen. Grund war nicht zuletzt die Überlastung der Umwelt. Da war der brutale Kampf um Wasser. Mit der Erfindung des Stacheldrahts begannen Rancher ihre Territorien einzuzäunen – und so Konkurrenten den Zugang zu Quellen zu verwehren. Die Überweidung tat ihr Übriges. Kleinere Rancher konnten sich die Zufütterung nicht leisten und mussten aufgeben. Für ein paar Jahre herrschten die Rinderbarone wie Captain King – ein ehemaliger Dampfschiffahrtskapitän, der in den Wirren des texanisch-mexikanischen Krieges zu Land gekommen war –, nahezu unangefochten. Dann kam der Winter 1886–1887. Blizzards tobten. Augenzeugen sprachen von einer Katastrophe biblischen Ausmaßes. Tausende Rinder verendeten qualvoll durch Erschöpfung, Kälte und Hunger. Über Meilen fanden sich ihre Kadaver in den abgegrasten Weideflächen. Die Katastrophe ging als »The Big Die-up«, das große Sterben, in die texanische Geschichte ein.

Alles in allem dauerte der Boom der Rinderzüchter knapp 20 Jahre. In dieser Zeit wurden enorme Vermögen wie das von King angehäuft. Und viele gleich wieder verloren. Biggers berichtet von einem Texas-Rancher, dem kapitalstarke Greenhorns 1882 rund 1,5 Millionen Dollar für seine 45 000 Rinder, die Pferde und die Weiderechte boten. Der Mann schlug aus. Keine vier Jahre später, 1886, musste er doch verkaufen – und blieb auf 50 000 Dollar Schulden sitzen. »So erging es den allermeisten«, notierte Biggers. »Nur die sehr Reichen und die, denen nichts gehörte, entgingen diesem Schicksal.« Die zwei Jahrzehnte des Cattle Kingdom prägen nicht nur bis heute unsere Vorstellung von Texas. Sie formte auch die Mentalität der Texaner. Die Mischung aus Risikofreudigkeit, Einfallsreichtum und Zähigkeit schuf die Voraussetzungen, die Achterbahnfahrt zu überstehen, die der Lone Star State dank seiner heute wichtigsten Industrie meistern muss: Öl.

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