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Actionreicher Cold-Case-Thriller mit cooler Frauen-Power »Old Bones – Das neunte Opfer« ist der 4. Thriller der Bestseller-Autoren Preston & Child um FBI Agentin Corrie Swanson und Archäologin Nora Kelly. Ein Leichenfund in einer Höhle beschert FBI-Agentin Corrie Swanson ihren neuen Fall: Die beiden Toten gehören zu einer Gruppe von neun Wanderern, die 2008 auf ungeklärte Weise ums Leben kamen. Von einer winterlichen Rucksacktour in den Bergen von New Mexico kehrte keiner der neun zurück – doch man fand damals trotz intensiver Suche nur sechs Leichen. Und am letzten Lagerplatz der Wanderer stießen die Retter auf eine bizarre Szene: Offenbar war am Zelteingang etwas derart Furchterregendes aufgetaucht, dass die Männer sich ins Freie schnitten und barfuß in einen Schneesturm flohen, in ihren sicheren Tod. Der unheimliche Fall gilt bis heute als unlösbar. Dass einer der beiden Toten in der Höhle sich anscheinend auf grausame Weise selbst getötet hat, lässt Corrie Swanson Böses ahnen. Sie bittet erneut die Archäologin Nora Kelly um Hilfe, um dem Rätsel auf die Spur zu kommen und den neunten Toten zu finden. Doch ihre Suche weckt ein lang schlummerndes Übel, das Corrie und Nora mit aller Macht verfolgt und verhindern will, dass die letzte Leiche jemals ans Licht kommt. Pageturner mit genialem Mix aus unheimlichen Ereignissen, Archäologie und actionreichen Ermittlungen Die Thriller-Reihe um die beiden Power-Frauen Corrie Swanson und Nora Kelly punktet mit außergewöhnlichen Cold Cases und coolen Sprüchen. Die FBI-Agentin und die Archäologin haben auch in den Pendergast-Thrillern von Douglas Preston und Lincoln Child immer wieder Auftritte. Die Thriller-Bestseller aus den USA sind in folgender Reihenfolge erschienen: - Old Bones – Tote lügen nie - Old Bones – Das Gift der Mumie - Old Bones – Die Toten von Roswell - Old Bones – Das neunte Opfer
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Seitenzahl: 509
Veröffentlichungsjahr: 2025
Douglas Preston / Lincoln Child
Das neunte Opfer
Thriller
Aus dem amerikanischen Englisch von Michael Benthack
Knaur eBooks
2008 kehrten neun Wanderer von einer winterlichen Rucksacktour in den Bergen von New Mexico nie zurück. An ihrem letzten Lagerplatz fand der Rettungsdienst eine bizarre Szene vor: Etwas war an der Zelttür erschienen, das so furchterregend war, dass sie anscheinend barfuß in den sicheren Tod in einem Schneesturm flohen. Trotz intensiver Suche wurden nur sechs Leichen entdeckt, zwei davon brutal zerquetscht, und es fehlten auf unerklärliche Weise Körperteile. Der Fall wurde nie gelöst.
2023 werden unerwartet zwei weitere Leichen der verschollenen Expedition in einer Höhle entdeckt, eine davon ein grausamer Selbstmord. Mit der Hilfe der Archäologin Nora Kelly will nun FBI-Agentin Corrie Swanson aufklären, was auf dieser schicksalhaften Reise vor fünfzehn Jahren wirklich geschah – und das neunte Opfer finden. Doch ihre Suche weckt ein lang schlummerndes Übel, das Corrie und Nora mit aller Macht verfolgt und verhindern will, dass die letzte verschwundene Leiche jemals ans Licht kommt.
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Widmung
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
47. Kapitel
48. Kapitel
49. Kapitel
50. Kapitel
51. Kapitel
52. Kapitel
53. Kapitel
54. Kapitel
55. Kapitel
56. Kapitel
57. Kapitel
58. Kapitel
59. Kapitel
Epilog
Über die Autoren
Douglas Preston und Lincoln Child widmen dieses Buch der Authors Guild, dem ältesten und größten Berufsverband von Autoren
Brandon Purdue und sein Kumpel und Studienfreund Mike Kottke saßen auf einem Felsen unter einer großen Fichte, in der Nähe ihres Jeeps, der von einer Forststraße in einen Graben geschlittert war und dabei einen jungen Baum umgefahren hatte. Sie teilten sich eine Flasche Captain Morgan Spiced Rum und einen Joint. So weit oben in den Bergen gab es keinen Handyempfang, und es wurde dunkel. Aber sie waren schon zu betrunken und stoned, um zu Fuß losgehen zu können, außerdem waren es gut und gerne fünfzehn Kilometer bis zur nächsten asphaltierten Straße. Ausgeschlossen, dass jemand diese Strecke befahren würde, von der sie auf ihrer alkoholisierten Spritztour zufällig abgekommen waren – die Forststraße war gesperrt gewesen, sie hätten also gar nicht hier sein dürfen. Und darum bleibe ihnen nur eines übrig, erklärte Brandon seinem Kumpel Mike: sich unter einen Baum zu setzen und sich die Kante zu geben.
»Don’t bogart that joint my friend, pass it over to me«, sang Kottke mit brüchiger Stimme und streckte die Hand aus.
»Na komm, schieß dich ab.« Purdue reichte Kottke den Joint, der einen Zug nahm und im Gegenzug die Flasche zurückgab.
»Mann, du hast das Ding ausgehen lassen!«, beschwerte sich Kottke, hielt den Joint auf Armeslänge von sich und betrachtete ihn missbilligend.
Purdue reichte ihm sein Feuerzeug. Kottke hantierte damit herum und stieß einen Fluch aus, weil der auffrischende Wind die Flamme immer wieder ausblies. Schließlich hatte er den Joint angesteckt und den Rauch tief inhaliert.
»Wird allmählich kalt, Alter«, sagte Purdue und schraubte die Plastikflasche Rum zu.
»Was du nicht sagst, Einstein. Wir sind ja auch nur dreitausend Meter über Meereshöhe.« Kottke warf einen Blick auf den Joint. »Der ist finito.« Er warf ihn weg. »Hast du noch einen?«
»Kannst den hier haben.« Purdue kramte in seinem Tagestouren-Rucksack und holte eine Dicke Bertha heraus. Er steckte sie an und hielt sie seinem Freund hin. Mein Gott, war er high. Die großen Bäume ringsum schwankten im Wind, aber vielleicht bewegten sie sich auch gar nicht, sondern es war bloß sein Hirn, das wackelte. Fest stand allerdings: Es wurde minütlich kälter. Es war Halloween, da sank die Temperatur nachts schon mal unter null. Im Jeep konnten sie nicht übernachten, so schräg, wie der im Graben lag, die Windschutzscheibe zerborsten, das Wageninnere voller Glassplitter. Obendrein roch es nach Benzin, was Purdue vermuten ließ, dass der junge Baum den Tank leckgeschlagen hatte. Wenn sie den Jeep starteten, damit die Heizung ansprang, könnte es passieren, dass sie sich in die Luft jagten.
Also, was sollten sie machen? Hier im Freien, trinkend und rauchend, bis sie einpennten und erfroren, konnten sie nicht bleiben. Purdue verbannte den Gedanken und nahm noch einen Schluck aus der Pulle. Der Rum würde ihn wärmen, wenigstens vorübergehend.
»Brandon, merkst du das?«, rief Kottke.
Purdues Hirn fokussierte sich wieder. »Was denn?«
»Regen. Ich hab was im Gesicht abgekriegt. Einen Regentropfen.«
Purdue trank noch einen Schluck. Gleichzeitig spürte er etwas Kaltes auf der Wange.
Kottke griff in seinen Rucksack, holte eine Taschenlampe heraus, schaltete sie ein und leuchtete damit in den Himmel. »Es schneit!«
»O verdammt!« Purdue stöhnte auf. Schnee. Natürlich. Sie befanden sich in den Manzano Mountains, auf über dreitausend Metern Höhe. Ende Oktober. Sie waren am Arsch.
»Hey«, sagte Kottke. »Wir müssen ein Dach überm Kopf finden. Echt jetzt.«
Wieder stöhnte Purdue auf. Dach überm Kopf. Sie hatten kein Zelt dabei, keine Schlafsäcke, nichts. Nur leichte Jacken an. Lag im Jeep eine Decke? Er konnte sich nicht erinnern, glaubte aber nicht.
»Wollen wir ’n Feuer machen?«, fragte Purdue schließlich.
»Das wird den Schneefall auch nicht aufhalten. Wir müssen so was wie ein Dach überm Kopf finden, Mann.«
Plötzlich spürte Purdue das kalte Stechen von Schneeflocken im Gesicht. Der Wind frischte erneut auf. Kottke stand auf und leuchtete mit der Taschenlampe die unmittelbare Umgebung aus. Das Gelände führte schräg nach unten in einen Tannenwald. Kottke legte seinen Rucksack an, machte ein paar Schritte nach vorn, richtete den Lichtstrahl dabei nach rechts und links.
»Was machst du da?«, fragte Purdue.
»Was wohl? Komm, steh auf, wir müssen irgendwas zum Übernachten finden. Morgen früh gehen wir den Berg dann runter.«
Purdue rappelte sich auf – wobei ihm ganz schwindlig wurde. Strauchelnd und rutschend ging er hinter Kottke den Hang hinunter in den Wald. Die Temperatur war stark gesunken, die Schneeflocken wirbelten um die beiden herum. Tief unten erblickte Purdue die fernen Lichter des South Valley im Ballungsraum Albuquerque, die im Schneetreiben verschwammen.
»Siehst du die großen Felsbrocken dort unten? Vielleicht finden wir da ja einen Überhang.« Der Lichtstrahl der Taschenlampe schien in eine Schlucht, die Purdues Meinung nach gar nicht vielversprechend aussah. Der Hang wurde steiler. Der weiche, mit Kiefernnadeln übersäte Waldboden wich unebenen Steinen und kleineren Felsbrocken, die von dichtem Gebüsch und Wurzelwerk bedeckt waren. Tatsächlich sah das Ganze aus, als ob man sich beim Runtergehen die Knochen brechen würde.
»Ich weiß nicht – sollen wir echt weitergehen?«, sagte Purdue.
»Ach was, komm schon!«
Widerwillig folgte Purdue ihm, schräg hinuntergehend, in die Bergschlucht. Inzwischen schneite es stärker, der Boden wurde zunehmend glatt. Purdue konzentrierte sich auf jeden Schritt, dennoch fühlte er sich unsicher auf den Beinen und glitt immer wieder aus; er fluchte und tastete nach etwas, an dem er sich festhalten konnte. Sein Hintern war schon ganz nass, weil er ausgerutscht und im Schnee auf dem Hosenboden gelandet war.
Der Weg führte weiter hinunter bis zum Boden der schmalen Schlucht, die voll war mit von Neuschnee bedeckten Felsbrocken. Purdue merkte, dass er schnell nüchtern wurde. »Ich geh da nicht runter. Da kriegen wir bloß unsere Ärsche schockgefroren.«
»Hey! Guck mal!«, schrie Kottke und streckte den Arm aus.
Purdue blickte dorthin. Der Strahl der Taschenlampe stach durch das Schneetreiben und erhellte ein wenig von der gegenüberliegenden Seite der Schlucht. Rund drei Meter oberhalb des Bodens zeichnete sich eine kleine, dunkle, dreieckige Öffnung ab – der Eingang zu einer Höhle.
»Siehst du das?«, fragte Kottke.
»Da passen wir nicht rein«, antwortete Purdue.
»Ach nein? Dann pass mal auf, was ich jetzt mache.«
Stolpernd und rutschend gelangten sie bis zum Boden der Schlucht und kletterten zum Eingang der Höhle hinauf. Der Fels bestand hier aus grobem Lavagestein, und es gab viele Stellen, die den Händen und Füßen Halt boten. Nach ein paar Minuten hatten sie den Höhleneingang erreicht. Kottke leuchtete mit der Taschenlampe hinein. Der Lichtkegel erhellte den dahinterliegenden Raum – eine Höhle mit sandbedecktem Boden.
Kottke kroch auf allen vieren durch die Öffnung, Purdue hinterher.
»O Mann!«, sagte Kottke, während er vorsichtig aufstand. Er hob die Arme. »Ist das geil hier. Und ich hab’s gefunden!«
Mit dem Strahl seiner Taschenlampe erkundete Purdue den Raum. Der bot, das musste er zugeben, auf ideale Weise Schutz. Er war hoch genug, um darin stehen zu können, im hinteren Bereich war er allerdings ziemlich niedrig.
»Ich frier«, sagte Kottke. »Komm, wir machen ein Feuer.«
»Klaro.« Purdue spähte durch den Höhleneingang nach draußen. Die Schlucht war mit abgestorbenen, umgestürzten Bäumen und Ästen und Zweigen übersät. Was bedeutete: Er musste wieder nach draußen.
»Du gehst wieder raus und reichst mir das Holz hoch«, sagte Kottke.
Widerwillig kletterte Purdue aus der Höhle. Während Kottke mit der Taschenlampe ins Dunkel leuchtete, sammelte Purdue eine Handvoll Reisig und Äste und reichte alles nach oben. Er trug zwar keine Handschuhe, und seine Hände waren nass und kalt, dennoch hatte er in einigermaßen kurzer Zeit einen kleinen Haufen Anzündholz gesammelt, der groß genug war, um damit Feuer zu machen.
Purdue kletterte in die Höhle zurück, Kottke machte sich an die Arbeit. Wegen des Schneefalls war das Holz etwas feucht, aber es waren trockenes Gras und Blätter in die Höhle geweht worden, und so hatten sie bald ein kleines Lagerfeuer entfacht. Der Rauch zog durch einen Felsspalt nahe dem Eingang ab. Es war nahezu perfekt – ein Wunder.
Purdue wärmte sich die Hände am prasselnden Feuer. »Hast du noch eine Tüte für uns? Nach all der Arbeit brauch ich was.«
»Kommt gleich.« Kottke öffnete den Reißverschluss seines Rucksacks und holte eine weitere Plastikflasche Rum heraus, ein kleines Gefäß mit etwas Gras, einen Crusher, Zigarettenpapier, einen Kitkat-Riegel, ein Snickers, einen kleinen Beutel M&M-Erdnüsse und eine große Dose Pringles.
»Du hast ja alles mitgebracht, Bruder.«
»Wenn ich Pot dabeihabe, nehm ich auch immer was Süßes mit. Eiserne Regel.«
Purdue griff nach der neuen Flasche, drehte den Verschluss auf und nahm einen ordentlichen Schluck. Dabei versuchte er, das angenehm warme Gefühl wiederzubeleben, das ihn kurz zuvor, ehe der Schnee gefallen war, noch durchströmt hatte. Er sah Kottke dabei zu, wie er das Gras in den Crusher stopfte und diesen einmal drehte, worauf sich ein angenehmer Kräutergeruch in der Höhle ausbreitete. Dann drehte er einen dicken Joint.
Inzwischen spendete das Feuer so viel Wärme, dass Purdue nicht mehr fror und er den Reißverschluss seiner Jacke herunterziehen konnte. Er nahm noch einen großen Schluck aus der Flasche. Wieder verspürte er diesen angenehmen Schwindel, ihm war wohlig warm, und sie hatten eine Höhle für sich gefunden. Draußen heulte der Wind, Schnee fiel. Der nächste Tag würde scheiße sein – aber das war morgen, bis dahin hatten sie einen Unterschlupf. Und sie waren high.
»Wow, das ist spitze!«, sagte Kottke und zündete die Tüte an. Sie ließen die Flasche Rum und den Joint kreisen. Purdue inhalierte tief, dann noch einmal, schließlich ein drittes Mal.
»Hey, guck mal!«, sagte Kottke.
Purdue wandte sich um und sah, worauf Kottke deutete. Im Lichtschein des Feuers, in der Nähe des schmalen, rückwärtigen Bereichs der Höhle, war eine hohe Felsplatte zu erkennen, auf der mehrere Zeichnungen eingeritzt waren. Felsmalereien.
Purdue kniff die Augen zusammen. Deutlich zu erkennen waren dort eine Spirale, mehrere Gesichter, ein Zickzack-Pfeil, ein Vogel sowie eine bucklige Gestalt, die Flöte spielte. Halloween. Es gruselte ihn, hier zu sein, in der Nacht der Nächte, trotz seiner leichten Dröhnung.
Doch Kottke war unbeeindruckt, er nahm einen kleinen Felsbrocken vom Boden. »Zwei Punkte, wenn ich die Spirale treffe.« Er warf den Stein – und verfehlte die Spirale, traf stattdessen eines der Gesichter. »Dafür gibt’s drei Punkte!«
»Dafür gibt’s gar keinen Punkt«, sagte Purdue, entschlossen, sich nicht wie ein Schlappschwanz aufzuführen. Er griff ebenfalls nach einem kleinen Felsbrocken. »Fünf Punkte für den Vogel.« Er schleuderte den Stein und traf den Vogel genau in der Mitte – was eine Scharte im Felsgestein hinterließ. »Treffer! Fünf Punkte!«
Kottke nahm sich einen größeren Stein. »Der hier bringt zehn Punkte.« Er schleuderte den Felsbrocken gegen die Spirale, worauf sich ein paar kleinere Steine von der Höhlendecke lösten. »Zehn Punkte!«
Das wollte Purdue nicht auf sich sitzen lassen, er packte einen größeren Stein, wackelte ihn locker. Dann trat er einen Schritt näher an die Felswand.
»Hey, du schummelst!«
»Ach was.« Er warf den Felsbrocken auf den Vogel, wo er mit einem lauten, hohlen Bums gegen die Felswand prallte. Wieder fielen mehrere kleine Steinchen von der Höhlendecke. »Fünfzehn Punkte!«, rief er laut lachend.
»Von wegen.« Kottke klaubte einen noch größeren Felsbrocken vom Boden, einen so schweren, dass er ihn kaum tragen konnte, dann schlurfte er ganz bis zur Rückseite der Höhle und warf den Brocken gegen den Flötenspieler. Das erschütterte die Felswand derart heftig, dass sie sich bewegte. Plötzlich ertönte von der Höhlendecke her ein Knirschen. Aufschreiend sprang Kottke zurück, gleichzeitig löste sich eine kleine Felslawine, worauf eine Staubwolke in der Höhle entstand. Kottke, den die Lawine beinahe am Kopf erwischt hätte, fiel in den Staub, der sich nach dem kleinen Felssturz gelegt hatte. Kottke brach in hysterisches Gelächter aus.
»Genug von dem Scheiß«, sagte Purdue. »Ich hab keine Lust, lebendig begraben zu werden.«
Kottke hörte nicht auf zu lachen. Purdue lehnte sich zurück und trank noch einen Schluck Rum. Die Flasche war fast leer. O Gott, wie viel hatte er getrunken? Einen Augenblick vergaß er, wo er war, während er auf dem Höhlenboden lag, zum Flackerlicht an der Höhlendecke aufblickend, unfähig, seine im Kopf herumwirbelnden Gedanken zu ordnen. Wieder hörte er ein hysterisches Lachen – kam das von ihm oder Kottke? Das Gelächter verwandelte sich in ein Geräusch, wie wenn sich jemand übergab, aber inzwischen war er derart müde, dass ihn das auch nicht mehr interessierte. Er wollte einfach nur die Augen schließen und einschlafen. Aber ihm war kalt. Es gelang ihm, näher ans Feuer heranzukriechen und sich wieder in den Sand zu legen. Dabei versuchte er, es sich bequem zu machen, auch wenn der sandige Höhlenboden einige Unebenheiten aufwies. Etwas bohrte sich ihm in den Rücken, genau da, wo er schlafen wollte.
Vage hörte er, wie sich jemand erbrach – Kottke, der schon wieder reiherte. Er legte sich auf den Bauch und griff mit der Hand in den Sand, um das Ding, das ihm in den Rücken stach, wegzuschieben. Während er kratzte und grub, stellte er fest, dass es sich gar nicht, so wie er angenommen hatte, um einen Stein handelte, sondern um etwas Weiches und Hellbraunes, ähnlich einer Halbkugel. In seinem Kopf drehte sich alles, und er konnte kaum irgendetwas scharf erkennen, trotzdem sah er, während er weiter wischte und tastete, wie sich zwei dunkle Augenhöhlen abzeichneten, gefolgt von gebleckten Zähnen und einem Büschel geflochtener Haare, die an einem vertrockneten Hautfetzen hingen.
»Ach du Scheiße!«, schrie Purdue. »Hier drin liegt ’ne Leiche!« Er kroch auf Händen und Füßen zurück, um von dem Ding wegzukommen, das ihm da aus schwarzen Augenhöhlen und mit entblößtem Gebiss aus dem Sand entgegenstarrte. »Mike! Mike!«
Doch Kottke lag, alle viere von sich gestreckt, auf der anderen Seite des Lagerfeuers, bewusstlos, das Hemd mit Erbrochenem verschmiert.
Purdue wollte aufstehen, verlor aber das Gleichgewicht und kroch stattdessen, sich mit den Füßen abstoßend, weiter rückwärts. Als er schließlich so weit von dem Ding weggekommen war, wie es die Höhle zuließ, legte er sich auf die Seite und rollte sich zusammen, schloss die Augen ganz fest und hoffte, dass das alles verschwand, dass es sich nur um einen Albtraum handelte, während er, betrunken und bekifft, in tiefer Bewusstlosigkeit versank.
Special Agent Corinne Swanson blieb am Schreibtisch vor der Tür – der geschlossenen Tür – des Büros des Special Agent in Charge stehen. Der junge Mann hob den Kopf.
»Sie können reingehen«, sagte er und drückte einen Knopf auf einem Endgerät auf dem Schreibtisch.
Corrie umfasste den Griff der Tür zum Eckbüro mit mehr als nur leichter Beklemmung. Seit ihrem letzten großen Fall waren fast vier Monate vergangen, ein Fall, bei dem es unter anderem um den Mord an Hale Morwood ging, dem hochrangigen Agenten, der sie seit ihrer Ankunft in der FBI-Außenstelle von Albuquerque vor einem Jahr betreut hatte. Das Trauma seines Todes belastete Corrie bis heute. Kein Tag verging, ohne dass irgendetwas sie an Agent Morwood erinnerte, ein dumpfer, hartnäckiger Schmerz, der nie ganz verschwand. Corrie benötigte eine gewisse Zeit, bis sie Menschen Respekt zollte, und noch mehr Zeit, bis sie ihnen Vertrauen schenkte … aber Morwood hatte sich vor seinem Tod beides verdient.
Ihr letzter großer Fall. In den vergangenen vier Monaten war sie vor diversen Untersuchungsausschüssen erschienen, hatte an überaus langen Nachbesprechungen teilgenommen und sich mehreren Lügendetektortests unterzogen. Wenn man bedachte, wie irre der Fall gewesen war, waren die Maßnahmen keineswegs überraschend gewesen. Corrie hatte die Ermittlungen zu einem erfolgreichen Ende geführt, wenngleich auf unkonventionelle Weise. Doch kaum waren sie beendet, waren sie als geheim eingestuft worden, was, wie Corrie zu spät klar wurde, bedeutete, dass sie weder viel öffentliche Anerkennung noch die Chance auf eine Belobigung erhalten würde. Noch beunruhigender war, dass Special Agent in Charge Garcia ihr noch keinen neuen Mentor zugewiesen hatte – genau genommen war sie immer noch Agentin in der Ausbildung –, ja, ihr nicht mal einen neuen Fall von einer gewissen Bedeutung übertragen hatte. Sie war zwar nicht abgemahnt worden – das hätte man ihr mitgeteilt –, doch Garcia hatte sie mit unauffälligen, risikoarmen Tätigkeiten wie Observierungen betraut, weshalb sie sich zwangsläufig fragte, ob sie einer Art versteckter Evaluation unterzogen wurde.
Sie schob die Gedanken beiseite und betrat das Büro.
SAC Julio Garcia erhob sich hinter seinem Schreibtisch, streckte die Hand aus und schüttelte ihre. Es lag einige Zeit zurück, seit sie in seinem Büro gewesen war, aber es sah absolut unverändert aus. Das Einzige, was zu variieren schien, war die Verkehrsdichte auf der Autobahn hinter den Fenstern.
»Agentin Swanson«, sagte er, »danke, dass Sie gekommen sind. Bitte nehmen Sie doch Platz.«
Wie immer wunderte sie sich, dass ein solch kräftiger, großer Mann so leise und ruhig sprach. Während sie auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch Platz nahm, setzte er sich wieder, zog eine Aktenmappe zu sich heran, klappte sie auf und blätterte kurz darin.
»Also, Corinne«, sagte er, ohne aufzublicken, »sind Sie bereit, sich wieder einmal die Hände schmutzig zu machen?«
»Ja, Sir«, sagte sie, wobei ihr die Wörter förmlich aus dem Mund fielen. Plötzlich war sie ihm extrem dankbar.
Er nickte, dann blickte er zu ihr hoch, weder freundlich noch unfreundlich, so wie es seine Art war, und musterte sie mit seinen braunen Augen. »In dem Fall möchte ich, dass Sie Ihren neuen Mentor kennenlernen.«
»Meinen neuen Mentor? Ja, Sir.« Wollte der Chef des Außenbüros sie etwa selbst »beschatten«? Aber nein, Garcia drückte die Taste auf der Gegensprechanlage. Die Tür ging auf, und ein schlanker Mann mittleren Alters betrat das Büro.
»Agentin Swanson, das ist Supervisory Special Agent Clay Sharp.«
Sie stand auf. Der Mann streckte ihr die Hand entgegen, sie schüttelte sie kurz. Die Hand war kühl, der Handschlag fest, aber nicht lächerlich fest – so wie bei manchen Agenten, die Spaß daran hatten, anderen die Finger zu zerquetschen. Agent Sharp war mittelgroß, Ende vierzig und hatte schläfrig wirkende Augen. Er hatte attraktive, ja zarte Gesichtszüge und war tadellos gekleidet: Er trug einen Anzug im typischen FBI-Blau, der jedoch enger als üblich geschnitten war und dem straffen und athletischen Körper eng ansaß, dazu trug er eine teure Seidenkrawatte, die akkurat zu einem kleinen Knoten gebunden war. Statt eines militärischen Kurzhaarschnitts trug er das etwas längere braune Haar zu einer weichen Frisur nach hinten gekämmt, was das Bild eines Mannes vervollständigte, der auf sein Äußeres Wert legte, ohne sich dabei sklavisch an den FBI-Stil zu halten. Corrie hatte Mühe zu entscheiden, ob das nun gut war oder nicht.
Sie hatte Sharp gelegentlich im Büro gesehen, aber nie mit ihm gesprochen. Er war ruhig und irgendwie geheimnisumwittert, die anderen Agenten schienen ihn mit einer Mischung aus Respekt und Vorsicht zu behandeln. Sie hatte den Eindruck gewonnen, dass er ein sogenannter »Brick Agent« war: kurz angebunden, kein Bullshit, ungeduldig und fähig.
»Agent Sharp hat eingewilligt, Sie durch die restliche Mentoring-Phase zu begleiten«, sagte Garcia rasch. »Da er so etwas noch nie gemacht hat – und da Sie Erfahrungen sammeln müssen, Swanson –, übertrage ich Ihnen einen unkomplizierten Fall.« Garcia klappte die Mappe zu und hielt sie ihnen entgegen. Sharp deutete an, dass Corrie die Mappe nehmen solle, nicht er – was sie auch tat, wobei sie sich sehr über seine Geste freute.
»Vorige Nacht«, sagte Garcia, »sind zwei Studenten von der South Valley Tech in den Manzano Mountains in einen Schneesturm geraten. Sie haben in einer Höhle Schutz gesucht und irgendwelche menschlichen Überreste gefunden.«
»Prähistorische oder historische?«, fragte Corrie.
»Genau das sollen Sie herausfinden. Die Informationen, die uns die Jungs geliefert haben, waren eher unzusammenhängend.«
»Es könnte sich also um eine Begräbnisstätte amerikanischer Ureinwohner handeln«, sagte Sharp – seine erste Wortmeldung. Er sprach in ruhigem Tonfall, mit einem Akzent, den Corrie nicht einordnen konnte. »Oder aber«, er hielt kurz inne, »um etwas … Interessanteres?«
»Durchaus«, sagte Garcia.
Corrie hatte den Eindruck, dass sich hinter Sharps Bemerkung etwas verbarg, das Garcia mitbekommen hatte, sie aber nicht. Sie warf Sharp einen Blick zu. Seine braunen Augen – fast bernsteinfarben im schräg einfallenden Sonnenlicht – wirkten noch schläfriger als sonst. Je schläfriger Sharp aussah, desto aufmerksamer war er ihrem Gefühl nach.
»Wie’s aussieht, könnten die beiden den Tatort auch verwüstet haben«, fügte Garcia hinzu. »Möglicherweise wird Anklage erhoben. Was zum Glück aber nicht unser Problem ist.«
Sharp nickte knapp. Er blickte auf die Aktenmappe in Corries Hand. An die Mappe war mit Büroklammer ein Zettel mit einer Adresse angeheftet. Dann wandte er sich zu Corrie. »Wollen wir loslegen, Agentin Swanson?«
»Ja. Natürlich.« Auf dem Weg zur Tür blieb Corrie kurz stehen und wandte sich zu SAC Garcia um. »Vielen Dank, Sir.«
Garcia erwiderte ihren Blick und rieb sich nachdenklich das Kinn. »Viel Erfolg.«
Was wissen Sie über die Manzano Mountains?«, fragte Agent Sharp, während sie auf dem Highway 337 in Richtung Süden fuhren, gefolgt vom Transporter der Tatortermittler des FBI.
»Außer dass ich sie aus großer Ferne sehe, nicht viel«, antwortete Corrie. »Ich lebe noch nicht sehr lange in New Mexico.« Sie hatte sich bei der ersten Begegnung mit Sharp reserviert benommen. Außerdem war ihr etwas bang zumute gewesen, und dieses Gefühl musste sich erst noch legen. Sie wurde nicht recht schlau aus Sharp, was durch seine schleppende Sprechweise und das undurchschaubare Gebaren noch verstärkt wurde. Ihr vorheriger Mentor, Agent Morwood, war auch distanziert gewesen, aber sie hatte eine persönliche Beziehung zu ihm aufbauen können. Sie versuchte, die beiden Männer nicht miteinander zu vergleichen und zuzulassen, dass der Vergleich ihre Wahrnehmung beeinflusste – doch wünschte sie, ihr neuer Mentor wäre nicht ganz so zurückhaltend. Wenigstens redete er jetzt mit ihr.
»Ihre Personalakte lässt darauf schließen, dass Sie ziemlich viel zu tun hatten. Ein Teil ist sogar unter Verschluss … nicht einmal ich habe Zugang zu dem Teil. Faszinierend.«
Auch Corrie hatte einen Blick in seine Akte geworfen, zumindest auf das, was sie daraus zusammentragen konnte, ohne Stirnrunzeln auszulösen. Sharp arbeitete seit fast sechzehn Jahren für das FBI und war, anders als Morwood, der sich nach einer Verletzung im Dienst auf die Tätigkeit als Mentor zurückziehen musste, als einsamer Wolf in der Hierarchie aufgestiegen. Ehe Sharp beim FBI anfing, war er beim Militär gewesen, in Positionen mit solch hoher Sicherheitsstufe, dass nur jene Länder, in denen er stationiert gewesen war, bekannt waren: Jemen, Irak und Türkei.
»Das Manzano-Hochgebirge ist Teil des Rio Grande Rift – das sind Felsschichten, die, beginnend vor zwanzig Millionen Jahren, zerbarsten und nach oben gedrückt wurden. Entlang des Rio Grande türmt sich westlich davon eine steile Gebirgskette auf, die östliche Seite steigt sanfter an. Die höchsten Gipfel der Gebirgskette sind über dreitausend Meter hoch.«
»Verstehe, Sir«, sagte Corrie.
»Der Luftwaffenstützpunkt Kirtland nimmt den gesamten nördlichen Teil des Gebirges ein. Kirtland ist die weltweit größte Lagereinrichtung für Atomwaffen und untersteht dem Hauptkommando der United States Air Force.«
»Die größte?« Das war Corrie neu.
Sharp nickte. »Südlich von Kirtland liegt ein Streifen indianischen Landes, Teil des Isleta Pueblo. Wiederum südlich davon befinden sich hunderttausend Hektar Nationalwald und unberührte Natur, eine der am wenigsten besuchten Regionen im Südwesten.«
Corrie wusste nicht recht, was sie sagen sollte. Sharp hatte offenbar Freude daran, diese Informationen weiterzugeben. Deshalb würde es vermutlich einen guten Eindruck hinterlassen, ein paar Fragen zu stellen. »Was will man denn mit diesen ganzen Atomwaffen anstellen? Hat man nicht schon genug davon auf Lager?«
»Die meisten sollen diejenigen Waffen ersetzen, die nach einer Auseinandersetzung mit Raketen und Bombern bereits eingesetzt wurden – in einem Krieg.«
»Sie meinen, man will die Bomber neu bestücken, nachdem die Welt komplett zerstört worden ist?« Corrie bereute ihre Bemerkung sofort. Wie würde Sharp die wohl aufnehmen? Er sah sie neugierig an. Seine Augenlider, die sich, wie ihr aufgefallen war, kaum einmal bewegten, blinzelten jetzt, langsam und absichtsvoll, ähnlich einer Eidechse. Dann lachte er leise. »Das ist die Idee, Agentin Swanson, so unlogisch es klingen mag.«
Schweigend fuhren sie weiter. Corrie nahm all ihren Mut zusammen, die Frage zu stellen, die ihr schon seit dem Treffen mit Garcia durch den Kopf ging. »Sir, nicht, dass wir uns missverstehen: Bin ich nun offiziell die leitende Agentin dieser Ermittlungen, oder sind Sie das? Nur damit ich weiß, wer das Sagen hat«, fügte sie unsicher hinzu.
Er blickte sie mit seinen schwerlidrigen Augen an. »Sie sind das, Agentin Swanson. Ich dachte eigentlich, Sie hätten das begriffen.«
»Vielen Dank, Sir. Ich hoffe, mir Ihre Anerkennung zu verdienen.«
O Gott, klang das nicht zu sehr nach Speichelleckerei? Corrie wünschte, sie könnte mit dem Mann besser klarkommen.
Sharp bog nach rechts auf die Route 55, und bald hatten sie das kleine, in den Ausläufern des Gebirges gelegene Pueblo Tajique durchquert und fuhren auf einer Reihe unbefestigter Forstwege bergauf. In der Ermittlungsakte befand sich eine Landkarte, jetzt bat Sharp Corrie zu navigieren, was sie auch tat, wobei sie ihr Handy und die Karte einsetzte. Irgendwer hatte auf der Karte mit Bleistift die Stelle markiert, an der der Wagen von der Straße abgekommen war, sowie den Ort der Höhle. In der Nacht hatte es in den Hochlagen geschneit, aber der Blizzard war inzwischen vorübergezogen. Es war ein kalter Spätherbsttag mit wolkenlosem Himmel. Bald befanden sie sich oberhalb der Schneegrenze und befuhren eine furchtbar schlechte Straße voller Schlaglöcher, die wegen des Schneematsches noch übler als sonst war. Der Chevrolet Tahoe kam einigermaßen mit den Straßenverhältnissen zurecht, der Transporter der Tatortermittler hingegen hatte Mühe, weshalb sie nicht besonders schnell vorankamen.
An die Stelle der Pinyon-Kiefern und Wacholder waren Ponderosa-Kiefern getreten, die wiederum Tannen und Fichten wichen. Es zweigten derart viele Forststraßen ab, es gab derart viele Kurven, und die Fahrt dauerte schon so lange, dass Corrie sich allmählich Sorgen machte, sie könnten irgendwo die falsche Abzweigung genommen haben. Doch sie behielt ihre Zweifel für sich. Immerhin konnte sie die frischen Reifenspuren anderer Fahrzeuge erkennen, was ermutigend war.
Schließlich gelangten sie zu einer Stelle, an der eine Erdböschung den Forstweg blockierte, um die allerdings Reifenspuren herumführten. Hierbei musste es sich um die gesperrte Straße handeln, die die beiden jungen Männer befahren hatten. Sharp lenkte den Tahoe um die Böschung herum und wartete dann auf den Transporter. Nach weiteren achthundert Metern erreichten sie den Unfallort, dort parkten mehrere Fahrzeuge: zwei grüne Pick-ups der Staatsforstpolizei, der SUV des Sheriffs des Distrikts Torrance County sowie ein Tieflader-Abschleppwagen, auf dem der Unfallwagen stand.
Corrie stieg auf der Beifahrerseite aus, das FBI-Mobiltelefon und einen Schreibblock in der Hand. Sie fand das vom FBI ausgegebene iPad unhandlich, bevorzugte die Solidität von Stift und Papier. Ihr schien, als kämen beim FBI Notizen auf Papier wieder in Mode, da die elektronischen Notizen leichter manipuliert werden konnten und die Geschworenen diesen zunehmend misstrauisch begegneten.
Sharp schloss die Fahrertür, währenddessen kam der Transporter herangefahren. Die Tatortermittler stiegen aus und luden ihr Equipment aus. Ein Mann in Sheriff-Uniform kam mit ausgestreckter Hand herüber. »Willkommen. Deputy Sheriff Baca. Torrance County.«
»Special Agent Clay Sharp.« Er ergriff die Hand des Deputys.
»Special Agent Corinne Swanson.« Corrie hatte Mühe, knapp und professionell zu klingen. Baca trug einen Cowboyhut, hatte einen großen schwarzen Schnurrbart, war etwa vierzig Jahre alt. Sein Lächeln wirkte freundlich. Das wiederum ließ sie an ihren Freund Sheriff Homer Watts denken. Was er wohl gerade machte? Watts’ County, Socorro, grenzte unmittelbar an Torrance County – die beiden Männer mussten sich also kennen.
Sharp hob die Augenbrauen und machte eine Handbewegung in Richtung Corrie.
»Ach so. Ja, richtig.« Findlay, der Tatortermittler, drehte sich erwartungsvoll zu ihr um. »Ma’am? Wir sind bereit.«
Ma’am war das FBI-Äquivalent von Sir, aber Corrie hasste diese Form der Anrede. Konnten die sich nicht ein Wort ausdenken, das bei ihr nicht das Gefühl weckte, eine alte Frau zu sein? »Vielen Dank, Mr Findlay, sehen wir uns die Sache einmal an.« Sie wandte sich um. »Deputy Baca, könnten Sie uns bitte zum Unfallort begleiten?«
»Natürlich.« Er zögerte. »Das Gelände ist aber nicht ganz leicht zu begehen.«
Als niemand darauf einging, stieg er o-beinig den Abhang hinunter. Der Schnee lag etwa zehn Zentimeter hoch und war durch das Kommen und Gehen der Ermittler stellenweise niedergetrampelt. Schnell wurde der Hang steiler und felsiger. Es wunderte Corrie, dass zwei betrunkene junge Männer hier herumgekraxelt waren, ohne sich den Hals zu brechen. Nachdem sie vierhundert Meter vorsichtig abgestiegen waren, gelangten sie an den Rand einer kleinen Bergschlucht. Unten in der Schlucht standen mehrere Polizeibeamte, die eine Thermosflasche mit heißem Kaffee herumreichten. An der gegenüberliegenden Seite der Schlucht befand sich eine Leiter, deren oberes Ende an einem Höhleneingang lehnte.
Wieder war Corrie verblüfft. Die Jungs hatten Glück gehabt – es hätte durchaus passieren können, dass sie die Höhle übersehen hätten und erfroren wären.
»Deputy, wo befinden sich die Personen im Moment? Halten sie sich noch in der Nähe auf?«
»Nein, sie wurden ins Krankenhaus gebracht, dort sollten sie medizinisch untersucht werden. Sie hatten einen ziemlich harten Morgen, sie hatten am Vorabend ja einiges getrunken. Danach haben wir sie laufen lassen.«
»Wir – Sie meinen das Sheriff Department?«
»Ja.«
»Warum wurden die beiden Personen nicht verhört?«
»Das machen wir, wenn’s nötig wird, nachdem wir den Unfallort untersucht haben und sehen, ob es einen Grund gibt, Anklage zu erheben.«
»Okay.« Corrie stieg bis ganz nach unten in die Schlucht, dabei musste sie ständig rutschigen, eisbedeckten Felsbrocken ausweichen. Sharp und die Tatortermittler gingen hinter ihr. Unten war nicht viel Platz. »Ich sehe kein Absperrband«, wandte sich Corrie an den Deputy.
»Wir haben uns gedacht, dass das FBI das lieber selbst erledigen möchte.«
Sie nickte. »Bringen wir etwas Band an, hier und hier.« Sie wies Findlay an, die Schlucht unterhalb der Höhle abzusperren, dann wandte sie sich den anderen Tatortermittlern zu. »Sie können jetzt anfangen und die Anzüge anlegen. Und ich möchte auch einen.«
»Natürlich, Ma’am«, sagte Findlay.
Plötzlich steckte jemand den Kopf aus dem Höhleneingang. »Hey, Baca, wir haben hier oben ’ne zweite Leiche.«
Corrie blickte nach oben. »Und wer sind Sie?«
Der Mann schaute nach unten. »Ich bin Sheriff Hawley – und wer sind Sie?«
Corrie hielt ihm ihren Ausweis am Umhängeband hin. »Special Agent Swanson, FBI.« Hinter Hawley, weiter hinten in der Höhle, ertönte eine Stimme.
»Sheriff, könnten Sie und Ihre Männer bitte den Tatort verlassen?«
Der Sheriff hatte fleischige Gesichtszüge, die Flieger-Sonnenbrille hatte er sich auf den rasierten Schädel geschoben. »Wir arbeiten hier. Wir geben Ihnen Bescheid, sobald wir fertig sind.«
Wer hatte an diesem Tatort eigentlich das Sagen? Der Sheriff des Countys, das FBI oder die Jungs von der Staatsforstpolizei? Das war einfach nicht klar. Corrie traf eine Entscheidung: Sie würde die Führung übernehmen. Sollte sich das als falsch erweisen, sah das immer noch besser aus, als sich gedrückt zu haben, obwohl sie zuständig war – vor allem gegenüber Sharp.
»Sheriff Hawley, Sie und Ihre Leute halten sich an einem potenziellen Tatort ohne Schutzkleidung auf.«
Er schaute zu ihr herunter, seine Miene verdüsterte sich. »Sagen Sie mir nicht, wie ich meine Arbeit zu machen habe.«
Corrie fürchtete sich ein bisschen, zu Sharp hinüberzublicken – sie musste die Angelegenheit selbst regeln. Sie atmete tief durch und legte einen Respekt einflößenden Ton in ihre Stimme. »Sheriff Hawley, laut üblichem polizeilichen Vorgehen dürfen Sie sich erst dann ohne Schutzkleidung in der Nähe eines potenziellen Tatorts aufhalten, nachdem ein Spurensicherungsteam den Bereich untersucht hat. Ich möchte Sie daher respektvoll bitten, den Tatort zu verlassen, damit unser Team die Höhle betreten und seine Arbeiten durchführen kann.«
Der Sheriff starrte sie einfach nur weiter an. Er wirkte nicht besonders intelligent. Sie hatte ihm vermutlich zu schnell zu viele schwierige Wörter an den Kopf geworfen.
Wie dem auch sei, er hatte begriffen, was sie wollte. »Wer zum Teufel sind Sie, junge Dame, dass Sie mir und meinen Deputys sagen, was wir in unserem Revier zu tun haben?«
Für einen Moment verschlug es Corrie die Sprache. Dann spürte sie Wut in sich aufsteigen. Junge Dame. Doch ehe sie etwas erwidern konnte, ging Sharp dazwischen.
»Sheriff? Sie werden sehr ernste Schwierigkeiten mit dem FBI bekommen, wenn Sie da nicht herunterkommen. Sofort. Haben wir uns verstanden?«
Sharp hatte die Stimme nicht gehoben, aber irgendwie einen erstaunlich drohenden Ton angeschlagen. Fast auf der Stelle zog der Sheriff den Kopf ein, redete mit der anderen Person in der Höhle, kam hervor, mit dem dicken Hintern voraus, und stieg die Leiter runter, dahinter ein Deputy. Schweigend duckten sie sich unter das Absperrband und stellten sich mit verschränkten Armen dahinter auf. Corrie senkte den Blick. Es war ihr peinlich, dass Sharp sich einschalten musste – aber der hochrangige Agent hatte sich wieder zurückgezogen und stand inzwischen geradezu untertänig hinter ihr.
Unterdessen reichte Findlay Corrie einen Schutzanzug. Sie zog ihn an, dann die Überschuhe, setzte Haube und die Maske auf. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, gehe ich zuerst rein.« Sie stieg die Leiter hinauf, gefolgt vom Team.
In der Höhle waren Lampen aufgestellt worden, die an eine Batterie angeschlossen waren. Der Raum sah schlimm aus. Auf einer Seite ein erloschenes Lagerfeuer, an der Decke Rußflecken. In einem sandigen Bereich in der Nähe zwei frei liegende menschliche Schädel, drum herum irgendwelche losen Knochen. Offenbar hatte irgendwer – möglicherweise der Sheriff, vielleicht die Studenten – die sterblichen Überreste teilweise ausgegraben. Es roch sauer nach Erbrochenem, die ekelerregenden Häufchen waren auf der anderen Seite des Lagerfeuers zu sehen. Überall lagen Glasscherben herum, dazu Zigarettenkippen, Marihuana-Joints und irgendwelches Toilettenpapier. Überall auch Schuhabdrücke, so zahlreich, dass man niemals würde ermitteln können, welche von den Studenten, dem Sheriff, dem Deputy oder von wem sonst, der in der Höhle gewesen war, stammten. Hinten in der Höhle war das Dach teilweise eingestürzt, hier und da lagen Steine und kleinere Felsbrocken herum, rechts davon befand sich eine Felswand mit offenbar prähistorischen Felsmalereien samt frischen Scharten, Kerben, Furchen und Kratzern, verursacht von den kleineren Felsbrocken, die gegen die Wand geworfen worden waren und jetzt unterhalb davon auf dem Höhlenboden lagen.
»Unfassbar, diese Deppen«, murmelte Findlay.
»Ja, echt idiotisch«, sagte Corrie.
Sie widmete sich den menschlichen Überresten. An der tiefen Mahagonifarbe der Gebeine war sofort zu erkennen, dass sie alt waren, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit prähistorisch. An einem Schädeldach klebte ein Fetzen vertrockneter Haut, an der ein Teil eines Haarzopfes hing: ein weiteres Indiz für das große Alter der sterblichen Überreste.
Ein Stück Stoff ragte so eben aus dem Sand. Corrie machte Findlay ein Zeichen. »Können Sie mir bitte einen Pinsel geben?«
Mit knappen, behutsamen Pinselstrichen legte Corrie ein Stück gewebten Stoffes frei, der zu einer Decke gehörte, wie sie feststellte, als sie mehr freigelegt hatte. Nachdem sie noch ein wenig mehr Sand weggewischt hatte, kamen die Rückseiten der beiden Schädeldächer zum Vorschein. Sie waren rituell abgeflacht, ein unmissverständlicher Hinweis darauf, dass es sich um eine Begräbnisstätte prähistorischer Pueblo-Indianer handelte. Untermauert wurde dies durch die uralten Felsmalereien. Corrie pinselte noch mehr Sand weg. Bald hatte sie den Rand eines sehr alten, bemalten Topfes freigelegt – der erst kürzlich zerbrochen war.
Sie sah Findlay an. »Prähistorisch.«
Er nickte.
»Da wir schon mal hier sind«, sagte sie, »sollten wir die Beweise für Vandalismus sammeln, um die lokalen Strafverfolgungsbehörden zu unterstützen – Fotos, Dokumente, einzelne Müllgegenstände, Schuhabdrücke, was immer als Indizien dienen könnte, sofern sich der Sheriff entscheidet, Anklage zu erheben.«
»Verstanden«, sagte Findlay.
Corrie ging zurück zum Höhleneingang, stieg die Leiter hinunter und zog den Schutzanzug aus. Zu ihrer Freude sah sie, dass der Sheriff und sein Deputy gegangen waren. Ich habe einen guten Grund, dachte sie, Sheriff Watts anzurufen: Hallo sagen und sich nach Hawley erkundigen.
Sie merkte, dass Sharp sie ansah. »Es handelt sich um eine prähistorische Begräbnisstätte.«
Überraschenderweise wirkte der lethargische Sharp ernüchtert, ja sogar verblüfft. »Definitiv prähistorisch? Können die Gebeine nicht jüngeren Datums sein?«
»Nein, das ist nicht möglich. Die jungen Leute haben uralte Felsmalereien beschädigt. Und wie es aussieht, haben sie mit ihren Faxen vielleicht sogar einen kleinen Felssturz ausgelöst. Ich habe unseren Tatortermittlern gesagt, sie sollen Beweismittel sammeln, um die lokalen Polizeibehörden zu unterstützen.« Sie zögerte. »Ich hoffe, das war richtig.«
Er nickte. »Ja.«
»Unterm Strich bedeutet das«, schloss Corrie, »dass es nicht nach einem Fall fürs FBI aussieht.« Sie hielt kurz inne. »Danke, dass Sie die Dinge gegenüber dem Sheriff klargestellt haben.«
Er sah sie lange prüfend an. »Wenn Zuständigkeitsfragen unklar sind, hat das FBI das Sagen. Immer.«
Corrie errötete. »Ja, Sir.«
»Sie sagen, es sei nicht unser Fall. Vermutlich zu Recht. Aber wir sind nun mal hier, und jetzt steht unser Ruf auf dem Spiel. Außerdem kann es sein, dass die Grabstätte amerikanischer Ureinwohner entweiht wird. So etwas neigt dazu, sich zu einer ungemein heiklen Streitfrage auszuwachsen.« Er machte eine Pause. »Also, Agentin Swanson, haben Sie eine Empfehlung, wie wir weiter vorgehen sollen?«
»Meines Erachtens sollten wir die beiden Studenten befragen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich dem Sheriff Department vertrauen kann, die Befragungen korrekt durchzuführen.«
Er neigte zustimmend den Kopf.
Corrie fragte: »Wie weit sind wir vom Land des Isleta Pueblo entfernt?«
»Acht, vielleicht zehn Kilometer nördlich davon.«
»Demnach sind die Isleta die vom Kulturschutzgesetz, dem Native American Graves Protection and Repatriation Act, NAGPRA, bestimmten Stammesverwalter dieser Gebeine?«
Sharp nickte.
»Dann sollten wir uns umgehend mit ihnen in Verbindung setzen. Außerdem sollten wir einen Archäologen hinzuziehen, der die Grabstätte dokumentiert und offiziell bestätigt, dass es sich hier um prähistorische menschliche Überreste handelt.«
Erneutes Nicken.
»Ich kann da eine Empfehlung aussprechen. Dr. Nora Kelly, Leiterin der Archäologischen Abteilung am Archäologischen Institut in Santa Fe. Ich habe schon mit ihr zusammengearbeitet.«
Kurze Pause. »Sie scheint mir ziemlich überqualifiziert zu sein für eine solch leichte Aufgabe.«
»Das ist richtig, aber ich glaube, es ist an uns, das zu entscheiden. Wenn Zuständigkeitsfragen unklar sind, haben wir das Sagen.«
Worauf Sharp lächelte. »Machen Sie weiter so.«
Was soll ich mit denen hier machen?«, fragte Bob Rotherhithe und deutete auf die beiden gerahmten Salvador-Dalí-Reproduktionen, die bis vor fünf Minuten noch die Wand von Nora Kellys neuem Büro geschmückt hatten. Nora hatte nichts gegen Dalí, fragte sich aber, warum Connor Digby gemeint hatte, dass Bilder mit schmelzenden Uhren für das Büro eines Kurators für die Archäologie des amerikanischen Südwestens angemessen waren – vor allem, wenn sich ganz in der Nähe so viele schöne dekorative Kunstwerke finden ließen.
»Fragen Sie Connor, ob er die Drucke haben will«, sagte sie. »Wenn nicht, spenden Sie sie Goodwill.«
»Ja, Dr. Kelly.«
Sie hatte mehrmals versucht, Rotherhithe dazu zu bewegen, sie mit Nora anzureden, doch er hatte jedes Mal höflich abgelehnt. Angesichts ihres ausgeprägten Sinns für Gleichberechtigung hatte das schließlich dazu geführt, dass sie ihn mit Mr Rotherhithe anstatt Bob anredete, wie das alle anderen im Institut taten.
Ihr neues Büro war nicht besonders groß, aber total reizend: von Hand gegipste Adobe-Wände, ein Kiva-Kamin, mit der Handaxt gehauene Türstürze sowie eine Stakendecke. Dr. Marcelle Weingrau, die Leiterin des Instituts, hatte ihr ein sehr viel größeres Büro angeboten, vorn im Hauptgebäude des Campus. Das Zimmer war zwar eindrucksvoll und verfügte über eine breite Fensterfront mit Blick auf einen Innenhof mit Rosengarten samt Springbrunnen, doch Nora hatte sich für etwas Kleineres, Ruhigeres entschieden – und etwas, das nicht so leicht zu finden war.
Als Teil der Politik der offenen Sammlungen – die Exponate wurden im Depot ausgestellt, sodass die Besucher sie betrachten konnten, anstatt dass die Kunstwerke im Dunkeln weggesperrt wurden – wurden die Kuratoren auch dazu ermuntert, einzelne Werke in ihren Büros auszustellen. Nora hatte die Idee umgesetzt und einen schönen, großen Olla der Acoma ausgesucht, einen bemalten Wasserkrug aus den 1910er-Jahren, den sie in einer Nische nahe dem Kamin aufgestellt hatte, daneben sollte ein Navajo-Teppich hängen, eine echte Augenweide. Für die gegenüberliegende Wand hatte sie zwei Gemälde aus den 1930er-Jahren des Taos-Künstlers Albert Looking Elk ausgesucht. Die beiden sollten die Dalís ersetzen. Ansonsten wollte sie das Büro sparsam und minimalistisch einrichten. Unordnung war nicht Noras Sache.
Rotherhithe fing damit an, die beiden Looking-Elk-Gemälde zu hängen, während Nora ihn beriet.
Als Nächstes kam der Teppich an die Reihe. Das war schon etwas komplizierter. Sie sah Rotherhithe dabei zu, wie er die Wand ausmaß, Markierungen setzte, zwei Löcher bohrte und eine Hängestange anbrachte, die er durch eine Schlaufe im Teppich schob.
»Wäre das alles, Dr. Kelly?«, fragte er, als er seine Arbeit beendet hatte.
»Ja, danke, Mr Rotherhithe.«
Er verließ das Zimmer. Nora setzte sich in den alten, knarrenden Ledersessel und genoss den Augenblick der Ruhe und Besinnung. Wie dankbar sie war, am Institut zu arbeiten, in einem so hübsch eingerichteten Büro. Der wunderschöne Teppich war spektakulär, und sie ahnte, dass sie sich niemals an ihm sattsehen würde. Es war November, die Grabungssaison war zu Ende, doch Nora hatte schon Pläne fürs nächste Jahr geschmiedet. Große Pläne, finanziert von der neuen Feldforschungs-Stiftung, die Lucas Tappan gegründet hatte. Die Expedition im kommenden Jahr würde an einen der geheimnisvollsten Orte im Südwesten der USA führen. Nördlich von Abiwuiu, in den Jemez Mountains, lag eine atemberaubende Pueblo-Ruinenanlage namens Tsi-p’in-owinge, die auf die 1300er-Jahre datierte. Nora hatte erstmals als Kind eine Wanderung nach Tsi-p’in-owinge unternommen, gemeinsam mit ihrem Vater und Skip. Er hatte es geliebt, die beiden Kinder zu entfernt gelegenen Ruinen in New Mexico mitzunehmen, weit weg von den Touristenpfaden. Tsi-p’in zählte zu den besonders beeindruckenden Ruinenstätten. Die Anlage war auf einer Mesa erbaut worden, umgeben von Steilhängen, und besaß nur einen Zugang. Aus behauenen Steinblöcken errichtet, waren die Gebäude einst vier Stockwerke hoch gewesen und beherbergten mindestens zweitausend Räume, hinzu kamen Behausungen, die in die darunter befindlichen Steilhänge geschlagen worden waren. Neben einem großen Versammlungsraum gab es dreizehn weitere Kivas, die in das Grundgestein der Hochebene gehauen worden waren. In den Ruinen waren noch nie Grabungen vorgenommen worden, lediglich eine Vermessung hatte stattgefunden – und die war unzureichend und mangelhaft durchgeführt worden und lag ein halbes Jahrhundert zurück. Weil die Ruinenstätte so abgelegen und nur schwer zugänglich war, außer durch einen Serpentinenpfad in einer steilen Bergwand, war Tsi-p’in von Archäologen weitgehend ignoriert worden. Der einzige Weg zu der Zitadelle führte an einem schmalen Berggrat entlang, oberhalb dessen die Bewohner nicht weniger als drei mächtige Steinmauern mit Schießscharten errichtet hatten, wodurch sie einen labyrinthischen Pfad geschaffen hatten, den sich Invasoren hätten hinaufschlängeln müssen, bevor sie die mächtigen Außenmauern der Stadt erreichten. In ihrer Blütezeit war Tsi-p’in eine äußerst mächtige und bevölkerungsreiche Festung gewesen. Doch gab sie viele ungelöste Rätsel auf. Erstens: Warum war die Stadt fast wie eine Burg errichtet worden, obwohl es keinerlei Berichte über Gewalttätigkeiten oder Kriege während der 1300er-Jahre gab? Wovor hatten die Bewohner so viel Angst, dass sie ihre Stadt weit, weit oberhalb ihrer bewässerten Felder bauten, was erforderte, täglich schwierige Auf- und Abstiege zu bewältigen? Wurden die Einwohner bedroht – oder stellten sie selbst eine Bedrohung für alle anderen in der Region dar? Und was das Rätsel noch vergrößerte: Um 1475 war die Stadt jäh aufgegeben worden. Offenbar waren sämtliche Einwohner einfach fortgegangen und hatten alles hinter sich gelassen. Keine überzeugende Theorie hierfür war je vorgelegt worden.
Tsi-p’in-owinge ist ein Ort der vielen Geheimnisse, dachte Nora. Allerdings würde eine gewissenhafte, gut finanzierte archäologische Untersuchung der Ruinenanlage – durchgeführt, ohne Grabungen an der Stätte vorzunehmen – sehr viel Licht ins Dunkel bringen. Die Untersuchung, die sie vorgeschlagen hatte, war bereits genehmigt und das Team vorläufig zusammengestellt worden. Sie sollte Ende Mai beginnen, sobald die Berge schneefrei waren. Solche Feldforschungen liebte Nora am meisten an der Archäologie – in die unberührte Natur hinausziehen, wegkommen von Mobiltelefonen und dem Internet, im Zelt wohnen, jeden Tag mehr von der Vergangenheit in ihrer ganzen faszinierenden Komplexität aufdecken.
»Klopf-klopf.«
Noras Träumereien wurden unterbrochen von einem Kopf, der zur Tür hereinschaute, bedeckt von einem dichten Haarschopf samt Haartolle. »Hallo, Schwesterherz.«
Das war ihr Bruder, Skip. Er bekleidete seit Kurzem die Stelle des Sammlungsmanagers des Instituts, besser gesagt: Er hatte den Posten wieder eingenommen, nachdem er bei einem Spezialprojekt vorübergehend für Lucas Tappan gearbeitet hatte.
»Willst du dir mein neues Büro anschauen?«
»Ja.« Er betrat das Zimmer. »Hübsch. Gemütlich.« Ohne zu fragen, setzte er sich auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch, lehnte sich zurück und legte die Füße hoch. »Ich könnte mich dran gewöhnen.«
»Runter mit den Füßen, Bruderherz.«
Er nahm die Füße vom Schreibtisch. »Hat Lucas das Büro schon gesehen?«
»Nein. Er ist in Massachusetts, kümmert sich um die Algenumarmer in Marblehead.«
»Algenumarmer?«
»Du weißt doch, die Umweltschützer, die unsere Sucht nach fossilen Brennstoffen beenden wollen –«
»Was ist daran falsch?«, unterbrach Skip.
»Nichts ist daran falsch. Ganz im Gegenteil. Nur dass die jetzt, nach dem Vorschlag, saubere Energie offshore zu produzieren, zu totalen Sankt-Florians-Jüngern werden.« Tappan versuchte, einen Windpark im Atlantik zu bauen, fünfundzwanzig Kilometer entfernt von Marblehead und dessen Millionen Dollar teuren Strandhäusern, und das Projekt hatte keinen guten Start gehabt.
Skip lachte. »Algenumarmer. Das ist gut. Wann kommt er zurück?«
»In ein paar Wochen, hoffe ich. Aber man weiß ja nie. Er hat eine Anhörung nach der nächsten, und diese Leute sind nicht auf den Mund gefallen.«
»Na, Tappan kann auch ziemlich gut reden.« Skip legte die Arme auf die Stuhllehnen und erhob sich. »Ich muss zurück an die Arbeit, ich wollte mir nur mal dein neues Büro ansehen. Also bis heute Abend zum Essen.«
Die Tür schloss sich, es war wieder still im Zimmer. Nora ruhte sich noch kurz aus, dann stand sie auf. Auch sie musste sich wieder an die Arbeit machen. Sie ging zum Aktenschrank, der kurz zuvor aus ihrem ehemaligen Büro herübergebracht worden war, zog die Schublade mit der Aufschrift Tsi-p’in-owinge auf und nahm ein zusammengerolltes Blatt Papier heraus. Sie legte es auf den Schreibtisch, strich es glatt und betrachtete es. Es zeigte eine grobe Landkarte, die sie selbst zu einer auffälligen archäologischen Stätte auf einer den Ruinen nahe gelegenen Mesa angefertigt hatte. Dabei handelte es sich um einen steinernen Kreis, um den sich vier größere, aufrechte Steinblöcke gruppierten, seither umgestürzt, von denen Nora annahm, dass sie womöglich aufgestellt worden waren, um die Sonnenwenden zu markieren. Nora hatte Kompassmesswerte und Untersuchungen der Stätte vorgenommen und plante zu bestimmen, ob die großen Steinblöcke, wenn man sie aufrichtete, ihre Theorie bestätigten.
Das Handy klingelte. Sie hätte es am liebsten ignoriert, warf dann aber doch einen Blick darauf und stellte fest, dass es Corrie Swanson war, die von ihrem Büro aus anrief.
»Corrie, wie geht es Ihnen?«
»Gut! Alles bestens! Und Ihnen?«
Corries Stimme klang ein klein wenig zu aufgekratzt. »Ich richte mich gerade in meinem neuen Büro ein. Kommen Sie doch vorbei und schauen es sich an.«
»Mach ich. Vielleicht schneller, als Sie glauben.« Sie stockte.
Nora seufzte. »Ich sehe, dass Sie von Ihrer FBI-Nummer anrufen, Sie können also gleich zur Sache kommen.«
Corrie lachte. »Okay. Zwei prähistorische Gräber in einer Höhle in den Manzano Mountains. Verwüstet. Wir benötigen kurzfristig eine Untersuchung, um die Schäden zu bewerten und die Ergebnisse an das Isleta Pueblo zu übermitteln, die Sachwalter nach dem Kulturschutzgesetz. Sie müssen keine Grabungen vornehmen, nur eine rasche Inspektion vornehmen. Das kann man an einem Tag erledigen – versprochen.«
Nora musste lächeln. Das kann man an einem Tag erledigen. Corries Lieblingssatz. Genau das hatte sie auch voriges Jahr gesagt, als sie eine fünfundsiebzig Jahre alte mumifizierte Leiche in einer Geisterstadt gefunden hatte. Ein Arbeitstag, aus dem schließlich Wochen wurden und bei dem sie beide fast ums Leben gekommen wären.
»Wie verwüstet?«
»Zwei betrunkene Studenten sind gestern Abend in den Bergen herumgekurvt, haben ihren Wagen geschrottet und dann Schutz in einer Höhle gefunden, in der es menschliche Überreste und irgendwelche Felsmalereien gibt. Und sie haben die Höhle dabei natürlich verwüstet.«
Nora dachte einen Augenblick nach. »Ich kenne da einen tollen Archäologen, jemanden, der gerade zu uns in die Abteilung gekommen ist, Doktorgrad von der University von New Mexico. Sein Name ist Stan Morrison. Er ist hochintelligent und hat enorm viel Energie. Er wäre ideal für die Sache.«
Dieses Angebot quittierte Corrie mit Schweigen. Nach einem Augenblick fragte sie: »Und wieso machen nicht Sie das?«
Kommunikatives Fingerspitzengefühl zählte nicht gerade zu Corries starken Seiten. »Stan könnte die Berufserfahrung gut gebrauchen.«
»Also«, sagte Corrie, »für mich sieht die Situation folgendermaßen aus: Ich habe einen neuen Mentor, der Agent Morwood ersetzt hat.« Kurze Stille. »Die Sache ist die: Ich möchte eine Top-Expertin hinzuziehen, um einen guten Eindruck zu hinterlassen. Und diese Expertin wären Sie.«
Nora verstand sofort, worum es ging. Ein Tag Arbeit – sie könnte die Zeit erübrigen, und sie würde einer Freundin aushelfen. »Einverstanden. Ich mach’s.«
»Danke, Nora! Sie müssen Stan unbedingt mitbringen. Ich maile Ihnen gleich ein paar Fotos.«
Noras Computer plingte, die Fotos erschienen auf dem Bildschirm. Corrie musste sie alle schon startbereit in der Mail gehabt haben. Nora scrollte durch die Fotos, derweil Corrie ihr die Höhle und deren genaue Lage beschrieb.
»Einen Moment«, sagte Nora. Jetzt war ein Foto, das den gebrochenen Rand eines Topfes zeigte, auf dem Bildschirm zu sehen. Sie vergrößerte das Bild. »Dieser zerbrochene Topf – haben Sie mehr davon ausgegraben?«
»Nein. Die Fotos zeigen die Höhle so, wie wir sie verlassen haben. Wieso?«
»Ich glaube, dass es sich um einen Goldglimmer-Topf handelt.«
»Ist das wichtig?«
»Die Goldglimmer-Töpferkunst ist zufällig eines meiner Spezialgebiete, Beispiele für einen solchen Topf wurden noch nie in dieser Region gefunden – nur in Utah. Die Gegenstände werden aus Lehm hergestellt, mit zahllosen winzigen Stücken von Katzensilber darin, die vom Brennvorgang nicht angegriffen werden und dem Objekt einen goldenen Schimmer verleihen. Wann soll ich zu der Höhle kommen?«
»Hm, morgen früh? Wir können die Sicherstellung der Beweismittel erst abschließen, wenn Sie Ihre Arbeit gemacht haben – also je früher, desto besser.«
»Morgen ist kein Problem. Wo wollen wir uns treffen?«
»Kommen Sie um neun zu unserer Außenstelle in Albuquerque, wir fahren dann von dort weiter.«
»Gut, also bis morgen dann.«
Nora legte auf. Ein Goldglimmer-Topf, der so weit südlich des üblichen Verbreitungsgebiets gefunden worden war? Das könnte interessant werden …
Corrie blickte auf die zwei vor ihr liegenden Identifikationsformulare, dann zu den beiden jungen Männern, die unbeholfen an dem am Boden festgeschraubten Metalltisch ihr und Agent Sharp gegenüber Platz nahmen. Sie befanden sich in einem der Verhörzimmer im FBI-Außenbüro in Albuquerque, einem kargen, grau gestrichenen Raum mit Wänden aus Betonziegeln. Die Identifikationsbögen waren eilig zusammengestellt worden, auf beiden fehlte das Foto.
»Brandon Purdue und Michael Kottke?«, fragte Corrie. »Wer ist wer?«
»Brandon«, sagte einer der jungen Männer und hob den Finger.
»Kottke«, sagte der andere.
»Ich bin Special Agent Swanson, und das hier ist Special Agent Sharp.«
Die beiden jungen Männer rutschten unruhig auf den Stühlen herum.
Corrie nahm sich einen Augenblick Zeit, um sich die beiden genauer anzuschauen. Sie hatten offenkundig geduscht und sich umgezogen, und es war drei Uhr mittags, aber sie sahen immer noch brutal verkatert aus. Brandon hatte hellbraune, kurz geschnittene Haare, schmale Lippen und war kaum im rasierfähigen Alter – bestimmt einer, der alles mitmachte. Mike war das Alpha-Männchen: schwarzes, gelocktes Haar, muskulös, mit geröteten Augen und ohne Zweifel pochenden Kopfschmerzen. Den Formularen zufolge waren beide neunzehn. Sie waren verängstigt – was sie ja auch sein sollten. Vor den einführenden Worten war Corrie unentschlossen gewesen, welchen Kurs sie einschlagen sollte – einfühlsam und verständnisvoll oder knallhartes, Furcht einflößendes Miststück. Doch während sie die beiden so ansah, wurde ihr klar, dass sie genügend verängstigt waren und dass sie, wenn sie die Befragung forcierte, dichtmachen würden, einen Anwalt wollten oder – schlimmer noch – ihre Eltern hinzuzögen. Noch konnte man nicht wissen, ob sie eine Straftat begangen hatten. Vieles würde von Noras Untersuchung der Gräber abhängen – ob diese bewusst verwüstet und geöffnet oder unabsichtlich durchwühlt worden waren.
Sie blickte Sharp an. Er wirkte so abwesend wie immer, hatte die Augen halb geschlossen.
»Also gut, meine Herren. Wir nehmen diese Befragung auf. Haben Sie verstanden, dass Sie freiwillig hier sind, um Fragen zu beantworten, und dass Sie auf das Recht auf einen Anwalt verzichtet haben?«
Sie bejahten.
»Wir sammeln zu diesem Zeitpunkt lediglich Informationen.«
»Okay«, sagte Kottke. »Uns geht’s gut. Wir haben nichts verbrochen.«
Corrie nickte. »Also, was ist passiert? Fangen Sie mit dem Autounfall an.«
Kottke warf Purdue einen kurzen Blick zu. »Na ja, wir sind so im Nationalforst rumgefahren, und da haben wir wohl eine falsche Abzweigung genommen.«
»Hatten Sie Alkohol getrunken?«
Schweigen. »Nein.«
Das war gelogen, aber Corrie ließ es durchgehen.
»Wie auch immer, wir sind falsch abgebogen, von der Straße abgekommen, und da ist der Wagen in den Graben geschlittert. Es gab da oben keinen Handyempfang, und es war nach Sonnenuntergang, also haben wir beschlossen, nach einem Dach überm Kopf zu suchen.«
»Und wie haben Sie die Höhle gefunden?«
»Total zufällig. Als es zu schneien anfing, sind wir den Berg runtergegangen, um nach einem überhängenden Felsen oder so was zu suchen. Schließlich sind wir in eine kleine Schlucht gekommen, haben die Höhle gesehen, die etwas höher im Fels lag, sind da raufgeklettert und haben ein Feuer gemacht.«
»Und dann haben Sie angefangen, Alkohol zu trinken?«
»Wir hatten ein bisschen Rum dabei, um uns aufzuwärmen.«
»Marihuana?«
»Das ist nicht illegal. Ich besitze ein Rezept dafür.«
»Bitte beantworten Sie nur meine Frage. Wir werden keine Anzeige wegen Drogenbesitzes erstatten. Haben Sie beide Marihuana geraucht?«
»Ja.«
»Was haben Sie sonst noch gemacht?«
»Nichts.«
Corrie wandte sich Purdue zu. »Stimmen diese Erinnerungen mit Ihren überein?«
»Ja.«
»Wie ist es dazu gekommen, dass die Felszeichnungen im hinteren Bereich der Höhle beschädigt wurden?«
Die beiden jungen Männer wechselten Blicke. Kottke sagte: »Keine Ahnung.«
»Haben Sie die Felsmalereien mit Steinen beworfen?«
»Ich kann mich nicht erinnern.«
Corrie ließ einen kurzen Moment verstreichen. Wieder rutschten die beiden jungen Männer unruhig auf den Stühlen herum. Schließlich sagte sie: »Ich habe Ihnen versichert, dass wir Sie nicht wegen Drogenbesitzes anzeigen werden. Aber vergessen Sie nicht: Es ist eine Straftat, das FBI zu belügen. Dazu gehört auch, zu behaupten, sich an nichts zu erinnern, wenn man sich in Wahrheit doch erinnert. Also, mögen Sie sich bitte etwas mehr anstrengen, sich zu erinnern?«
Blasse, verängstigte Gesichter erwiderten Corries Blick. Hätte sie nicht die Beschädigungen in der Höhle gesehen, sie hätte vielleicht Mitleid mit den beiden jungen Männern gehabt.
»Möglicherweise haben wir ein paar Steine geworfen«, sagte Kottke. »Am Ende des Abends waren wir beide ganz schön blau.«
»Haben Sie den Felssturz ausgelöst?«
»Das war kein Felssturz, überhaupt nicht, das waren … nur ein paar Steinchen, die von der Höhlendecke runtergefallen sind.«
Corrie hielt kurz inne. »Sie haben die Höhle gefunden, haben sich betrunken und wurden stoned, und dann haben Sie angefangen, die Felszeichnungen mit Gesteinsbrocken zu bewerfen.«
»Kann sein«, sagte Purdue. »Aber ich hab nicht gewusst, dass die irgendwie wichtig sind – ich hab gedacht, das sind bloß Graffiti, die irgendwer auf die Höhlenwand gemalt hat.«
»Wie weit sind Sie in der Höhle nach hinten gegangen?«
»Nicht weiter als bis zu der Stelle, wo die Steine runtergefallen waren.« Offenbar war er sich da nicht ganz sicher.
»Wie haben Sie die Begräbnisstätte entdeckt?«
Bei der Frage grimassierten beide junge Männer unwillkürlich.
»Brandon hat sie entdeckt«, sagte Kottke. »Ich habe geschlafen.«
Corrie wandte sich um. »Brandon?«
»Ich habe versucht einzuschlafen, und da hat mich irgendwas in den Rücken gestochen. Ich hab hingeschaut, und da hab ich gesehen, dass da ein menschlicher Schädel liegt.«
»Und dann?«
»Bin ich ausgerastet. Ich habe mich zu einer Seite der Höhle hinbewegt und … na ja, da bin ich wohl eingepennt. Als ich aufgewacht bin, war es Morgen.«
»Sie haben also nicht versucht, den Schädel auszugraben?«
»Nein, nein, bestimmt nicht. Ich wollte nichts damit zu tun haben.«
»Und Ihr Freund … er hat den Schädel nicht angerührt?«
»Nein, er war auch eingeschlafen.«
»Hat er sich übergeben?«
Brandon blickte seinen Freund an. »Jaa.«
Corrie nickte. Sie war froh, dass die Entscheidung beim Sheriff lag, ob er Anklage erheben wollte. Sie nahm den beiden jungen Leuten ab, was sie gesagt hatten: dass sie die Begräbnisstätte nicht mutwillig zerstört hatten, und das wäre ein geringfügiges Vergehen. Mutwillige Beschädigung von Felszeichnungen – da war sie nicht sicher, was das Strafrecht vorschrieb. Es fiel vermutlich unter das Gesetz zum Schutz archäologischer Ressourcen.
Sie drehte sich um. »Agent Sharp, haben Sie noch Fragen?«
»Danke, Agentin Swanson.« Er blickte die beiden an, wartete ab, bis sich eine gewisse Stille aufgebaut hatte, dann ergriff er das Wort. »Mr Kottke, warum haben Sie die Felszeichnungen verschandelt?«
»Keine Ahnung. Wie Brandon gesagt hat: Ich habe nicht gewusst, worum es sich handelt. Sie müssen verstehen, wir waren ziemlich betrunken.«
»Sie haben nicht gewusst, dass es sich um Felszeichnungen handelt?«
»Nein, Sir. Die sahen nicht alt aus. Ich nehme an … ich meine, ich weiß, dass wir nicht besonders klar im Kopf waren.«
»Keine weiteren Fragen«, sagte Sharp nach einer weiteren Pause.
Corrie sagte: »Danke, meine Herren, Sie können gehen.«
Keiner der beiden stand auf. »Und was passiert jetzt mit uns?«, fragte Kottke. »Stecken wir in Schwierigkeiten?«
»Wir übermitteln unsere Informationen an das Sheriff Department von Torrance County. Was als Nächstes passiert, liegt beim Sheriff und der Staatsforstpolizei.«
Jetzt erhoben sich die beiden und schlichen von dannen, immer noch blass und verängstigt.
Als sie gegangen waren, drehte sich Agent Sharp zu Corrie um. »Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber mir ist deutlich bewusst, dass wir beide keine Mittagspause hatten. Hätten Sie Lust, mit mir hinunter in die Cafeteria zu gehen, auf einen Kaffee und einen Snack?«
Auch Corrie hatte Hunger – und außerdem konnte sie wohl kaum Nein sagen. »Ja. Natürlich.«
Und? Was glauben Sie?«, fragte Sharp, als sie Platz nahmen. Corrie hatte zum Kaffee einen Donut bestellt, Sharp ein Eiersalat-Sandwich.
»Ich glaube, dass wir die Befragung sehr korrekt durchgeführt haben«, antwortete Corrie, »und dass wir die ganze Sache jetzt dem ungemein fähigen Sheriff Hawley übergeben können.«
Sharp lachte. »Erkennen Sie im Verhalten der beiden jungen Männer etwas Strafbares?«
»Schwer zu sagen. Absichtlich in der Begräbnisstätte herumzuwühlen ist möglicherweise eine Straftat, aber ich nehme ihnen ab, dass sie sie nicht in Unordnung bringen wollten. Wenn dort irgendwo gegraben wurde, dann sicherlich von Sheriff Hawley oder seinem Deputy. Man könnte vielleicht Anklage erheben wegen Sachbeschädigung von bundesstaatlichem Eigentum, aber das ginge vermutlich zu weit – vor allem, weil sie behauptet haben, zu glauben, bei den Felszeichnungen handle es sich um Graffiti.«
Sharp nickte. »Ich stimme Ihnen in allen Punkten zu. Sie haben sehr verantwortungsvoll gehandelt und gründliche Arbeit geleistet, Agentin Swanson.«
»Danke.« Es war komisch – Sharp war ein echtes Rätsel, aber sie merkte schon jetzt, dass sie sich in seiner Nähe wohlfühlte, sich weniger Sorgen wegen ihrer nächsten Ermittlungsschritte machte. Bei Morwood hatte das viel länger gedauert.
Sharp sagte erst wieder etwas, als er sein Sandwich aufgegessen hatte. Er nippte an seinem Kaffee und blickte sie dabei an. »Als ich von den sterblichen Überresten in der Höhle erfuhr, dachte ich, wir hätten vielleicht endlich einige weitere Dead-Mountain-Opfer gefunden.«
Corrie sah ihn verständnislos an. »Dead Mountain?«
»Sie wissen nicht, wovon ich spreche?«
»Nein.« Dead Mountain … Irgendwie kam ihr der Begriff bekannt vor, aber mehr auch nicht.
»Merkwürdig. Neben dem Roswell-Vorfall – mit dem Sie, wie ich weiß, nur allzu vertraut sind – handelt es sich um die wohl größte Lagerfeuer-Legende in New Mexico.«
»Worum geht’s dabei?«