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»Dieser Roman wird dich bis in deine Träume verfolgen.« Claire Fuller
In Osaka verpassen Jake und Mariko ihren Flug. Sie kennen sich nicht, aber entdecken beim Abendessen eine verstörende Gemeinsamkeit: sowohl Jakes beste Freundin als auch Marikos Zwillingsbruder starben unter den gleichen unheimlichen Umständen. 6.000 Meilen voneinander entfernt.
Beide sind in den Tagen vor ihrem Tod einer mysteriösen Fotografin begegnet. Die hinter sich her eine Spur von brutalen, erschreckend ähnlichen Todesfällen zieht und die von Japan nach Berlin, von London in die glühenden Weiten der amerikanischen Badlands führt. Jake folgt dieser Spur. Und er trifft auf die, die zurückgelassen wurden: verwirrt, ungläubig und doch fest überzeugt von dem, was sie gesehen haben. Gezeichnet von einem Grauen, das viel tiefer geht als der Tod. Ihre Geschichten führen Jake in die Wüste New Mexikos – zu einem Showdown, der tief ins Mark trifft.
Old Soul rührt an unsere panische Angst davor, dass das Leben endet, mit einem subtilen, beklemmenden Horror, der in der Dunkelheit seine wirkliche Form annimmt und uns Seite um Seite von innen auffrisst.
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Seitenzahl: 468
Veröffentlichungsjahr: 2025
Susan Barker
Old Soul
Roman
Aus dem Englischen von Volker Oldenburg
Suhrkamp
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Die Originalausgabe erschien 2025 unter dem Titel Old Soul bei Fig Tree, Penguin Random House, London.
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2025
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage des suhrkamp taschenbuchs 5474.
Deutsche Erstausgabe© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2025© Susan Barker, 2025
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Umschlaggestaltung nach Entwürfen von Tal Goretsky. Umschlagfoto: Tempura/Getty Images
eISBN 978-3-518-78229-3
www.suhrkamp.de
Für Glen
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Taos County . 1982
1. August
1. Zeugnis.
Mariko
Badlands . I
2. Zeugnis . Sigrid
Badlands. II
3. Zeugnis. Bedwyr
Badlands. III
4. Zeugnis. Jürgen
Badlands. IV
5. Zeugnis. Jake
»Marions« Bleistiftzeichnung von Lena
Verschiedene Flyer und Broschüren
Kassette: Lenas und Jakes Hit-Waaahnsinn 1989!!!
Foto von Lena und mir, 1983
Die Hülle einer Happy-Gilmore-
DVD
, darin die fehlende Blu-ray aus Sis vollständiger Sammlung mit Fassbinder-Filmen (!)
Ein silberner Steckkamm, drei Zähne, mit böhmischen Granatsteinen verziert
Lenas Mitarbeiterausweis von Pinsent Mason Cooper, mit Band
Grüner Plüschfrosch aus Southend-on-Sea
The Hammer.
Offizielles Programm zum Spiel West Ham United – Coventry City, 11. Dezember 1993
Ein Zehnerstreifen Zoplicon 7,5 mg (Verfallsdatum: 08/2012), fast leer
Ein weißer Umschlag, darauf in Kalligrafieschrift »Lena«. Aufgerissen. Leer.
Papierserviette aus dem Orford Bistro, stark zerknittert
Jez’ Stein
Lenas Blümchenkleid und Second-Hand-Wildlederjacke, in einem versiegelten Plastiksack aus dem Leichenhaus
Badlands. V
6. Zeugnis. Zsófi
Badlands. VI
7. Zeugnis. Theo
1982
20. Juni
22. Juni
23. Juni
Arbeitstagebuch für E
’
s Skulptur
24. Juni
25. Juni
26. Juni
2. Juli
8. Juli
14. Juli
18. Juli
24. Juli
30. Juli
2. August
8. August
1985
6. April
7. April
14. April
15. April
18. April
1988
16. Oktober
17. Oktober
20. Oktober
2022
17. August
18. August
Farmington, New Mexico
Taos County. 2022
Epilog
Danksagung
Informationen zum Buch
Old Soul
1982
Ich wachte vor Sonnenaufgang auf der leeren Matratze auf. Schlang mir ein Laken um & ging nach draußen. E saß auf der Bank zwischen den Bäumen und blickte reglos über die ausgetrocknete, kahle Ebene auf die Sangre-de-Cristo-Berge; eine gezackte Linie vor nachtblauem Himmel. Sie war nackt, leuchtete fast im Halbdunkel. Als sie meine Schritte hörte, sagte sie, ohne sich umzudrehen:
Ich kann nicht schlafen.
Die Holzbank knarrte, als ich mich zu ihr setzte. Ich spürte, dass sie nicht berührt werden wollte & unterdrückte trotz der Kälte das Bedürfnis, sie mit in das Laken zu hüllen, die Hand nach ihrem Gesicht oder dem dunklen, welligen Haar auszustrecken. E starrte weiter auf die Berge unter den verblassenden Sternbildern.
T: Was siehst du dir an?
E: Ich warte auf die Venus.
T: Göttin, herrlich thronende, meergeborene …
Ich verstummte verlegen. An mehr konnte ich mich nicht erinnern.
E: Es gibt keinen Grund, Venus zu vergöttern. Früher einmal war sie wie die Erde, aber jetzt gleicht sie der Hölle. Die Ozeane sind verdunstet, die Kontinente sind nur noch schwarzes Vulkangestein und Lavaströme. Ihre Atmosphäre besteht fast nur aus Kohlendioxid und ist so heiß, dass sie alles verbrennt. Kannst du dir das vorstellen?
T: Nicht so richtig.
In letzter Zeit beschränkt sich meine Fantasie auf den Block aus Oaxaca-Granit, den ich in meinem Atelier zehn Stunden am Tag mit Hammer & Meißel bearbeite.
E: Die Venus dreht sich von Ost nach West, entgegen der Drehrichtung der Erde und aller anderen Planeten. Und sie dreht sich langsam, im Schritttempo eines Menschen. Ein Tag auf der Venus dauert länger als hier ein Jahr. Da.
Mein Blick folgte ihrem Zeigefinger. Eine winzige Kugel aus Himmelslicht tauchte im Einschnitt zwischen zwei Gipfeln auf. Bleich. Gespenstisch. Ruhelos. Wir schauten eine Weile schweigend zu.
E: Manchmal träume ich, ich wäre dort. Ich bewege mich so langsam, wie die Venus sich dreht, auf den Sonnenuntergang zu, damit die Sonne nie verschwindet. Es wäre ein ewiger Sonnenuntergang.
Ich zog fröstelnd das Laken um mich.
T: Klingt einsam.
Venus leuchtete am unteren Rand des dämmrigen, von violetten Streifen durchzogenen Himmels.
E: Nein. Ist es nicht.
Mariko
Es begann auf dem Flughafen Kansai, am Gate von Flug KL378 nach Amsterdam. Ich war durch Terminal 1 gerannt, nachdem ich bei der Sicherheitskontrolle festgestellt hatte, dass der Flieger nicht, wie ich glaubte, um 19:05, sondern schon um 17:05 ging. Atemlos, verschwitzt und verzweifelt von den wiederholten Last-Call-Durchsagen mit meinem Namen erreichte ich das leere Gate, lief zu der niederländischen Angestellten am Schalter und hielt ihr flehend Pass und Bordkarte hin. Gate 27 sei leider schon geschlossen, erklärte sie.
Aber das Flugzeug ist noch angedockt, rief hinter mir eine Stimme.
Eine Frau mit Kabinentrolley eilte auf uns zu. Ihr schwarzes, glattes Haar changierte im Licht, das durch die geschwungene Deckenkonstruktion aus Glas und Stahl fiel, der graue Hosenanzug, die Seidenbluse und die lederne Schultertasche verströmten den Reichtum der Businessclass.
Das Gepäck wird auch noch verladen, fügte sie hinzu.
Ich blickte durch die Glaswand auf die Boeing 787. Die Frau hatte recht. Die Brücke war noch mit der Maschine verbunden, und Gepäckcontainer wurden in den Frachtraum geschoben. Hinter den Bullaugen drängten sich Passagiere durch den Gang oder verstauten Koffer in den Gepäckablagen. Die Angestellte mit dem blonden Dutt tippte etwas in den Computer, sah stirnrunzelnd auf den Monitor und schüttelte den Kopf.
Nein, nichts zu machen, sagte sie, Ihr Gepäck wurde schon wieder ausgeladen. Ich kann Sie auf den nächsten Flug nach Amsterdam morgen früh umbuchen. Und auch Ihre Anschlussflüge ändern, wenn Sie mit unserer Airline fliegen.
Mein Puls normalisierte sich allmählich, die Anspannung ließ nach, und ich fand mich mit der notgedrungenen Änderung meiner Reisepläne ab – immerhin war es meine Schuld, dass ich mich mit der Abflugzeit vertan hatte. Meine Mitreisende schien hingegen fest entschlossen, auf ihr Recht als Kundin zu pochen. Arroganz blitzte in ihren Augen, als sie in ruhigem, selbstbewusstem Ton sagte:
Ich fliege mehrmals im Jahr Businessclass mit Ihrer Gesellschaft. Ich habe über vierhunderttausend Meilen gesammelt und morgen ein wichtiges Meeting in Paris. Das Flugzeug ist noch angedockt, und ich sehe nicht ein, warum Sie uns nicht an Bord lassen können.
Das Gate ist geschlossen, wiederholte die Angestellte mit unbewegter, professioneller Miene. Aus Kulanz erlasse ich Ihnen ausnahmsweise die Umbuchungsgebühr von 20000 Yen.
Sie teilte uns mit, wo wir unsere Koffer abholen sollten, scannte unsere Pässe und druckte unsere Tickets für den nächsten Morgen aus. Die Frau nahm seufzend ihr Ticket, warf einen verächtlichen Blick auf die neuen Flugzeiten, drehte sich wortlos um und zog ihren Rollenkoffer über den glänzenden Marmor Richtung Ausgang.
Ich fuhr mit dem Schnellzug eine Station bis Rinku, mietete mir in einem billigen Hotel ein Zimmer und rief über WhatsApp meinen Partner an, um ihm zu berichten, was für ein Idiot ich war. Dann spazierte ich zum Wasser und kam zu dem weißen Kieselstrand gegenüber der künstlichen Flughafeninsel im Seto-Binnenmeer. Die orangefarbene Sonne ging am dunstigen Himmel unter, färbte die Schleierwolken rosa und überzog die ans Ufer schwappenden Wellen mit goldenem Glitzer. Ich saß auf einem trostlosen Flecken Kies und sah den startenden Flugzeugen zu auf ihrem blinkenden Weg nach oben, mit dem sonderbaren Gefühl, zweigeteilt zu sein – und dass mein strukturiertes Ich die Maschine um 17:05 bekommen hatte und sich jetzt, eingepfercht in der Economy Class, zehntausend Meter hoch über China oder der Inneren Mongolei befand, während mein leicht verpeiltes, vom Pech verfolgtes Ich alleine zurückgeblieben war.
Das Wasser breitete sich langsam über den Strand aus, und ich rückte Stück für Stück Richtung Promenade, damit ich in meinen Chucks keine nassen Füße bekam. Es war kalt und schon fast dunkel, aber irgendetwas hielt mich an diesem Ort, und ich blieb sitzen, bis die Sonne in den schwarzen, schimmernden Wellen versank und mein Hintern in der Jeans halb taub war. Das gigantische Riesenrad im nahen Rinku-Park erstrahlte in grünem Licht, und als es sich mit seinen vielen Gondeln in Bewegung setzte, dachte ich an den grauen Nieselwettertag, als Lena und ich im Riesenrad in Southend-on-Sea festgesessen hatten. Wir waren fünfzehn Meter über dem Boden, als das Rad plötzlich stehen blieb – alleine in einem der Gitterkäfige, zitternd, Lenas langes, schwarzes Haar flatterte im eisigen Nordseewind. Sie trug nur ein dünnes Vintage-Kleid und eine Jeansjacke, also gab ich ihr meinen Pulli, und während der Käfig quietschend und ächzend schaukelte, schütteten wir billigen Birnen-Cider in uns hinein, rauchten Selbstgedrehte und tanzten, jeder mit einem Kopfhörer am Ohr, zu den Cramps in meinem Discman, um uns warmzuhalten. Schon nach kurzer Zeit stand Lena vorgebeugt mit überkreuzten Beinen da, weil sie pinkeln musste.
Bitte, Lena, sagte ich. Kannst du nicht einhalten?
Nein … lachte sie. Ich platze gleich.
Sie zog das Kleid hoch, hockte sich mit dem Slip unter den Knien hin und seufzte erleichtert, als ein Bächlein zwischen ihren Ballerinas hindurch in meine Richtung floss. Ich stieg schnell auf den Sitz und lachte mich über Lenas panisches Scheiße! kaputt, als sich das Riesenrad mit einem plötzlichen Ruck weiterdrehte.
Das war im Februar ’05, und jetzt, siebzehn Jahre später, während am Strand von Osaka die letzten orangefarbenen Sonnenstrahlen auf dem Meer glitzerten, dachte ich daran, wie sonderbar und traurig es war, dass mich noch immer alles an Lena erinnerte. Aber vielleicht hatte das einen tieferen Sinn. Sie war in den zweiunddreißig Jahren ihres Lebens so allein gewesen, dass ich bezweifelte, dass außer mir noch jemand an sie dachte.
Gegen sieben, acht Uhr ging ich in den FamilyMart im Bahnhof Rinku, um mir etwas zum Abendessen zu besorgen. Dort begegnete ich der anderen Reisenden, die ihren Flug verpasst hatte. Sie hatte den Hosenanzug gegen ein schwarzes Kaschmir-Sweatkleid eingetauscht, in ihrem Korb lagen ein glänzender roter Apfel und eine Flasche Evian. Unsere Blicke trafen sich, wir erkannten uns wieder, und ohne eine Begrüßung oder eine Bemerkung über unser zufälliges Wiedersehen sagte sie: Ich habe mich bei der Amsterdamer Zentrale der Fluggesellschaft über die Mitarbeiterin am Gate beschwert. Wenn Sie auch eine Beschwerde-Mail schreiben, verbessern sich die Erfolgsaussichten. Diese Frau gehört abgemahnt, und wir haben Anspruch auf Erstattung.
Ihr Gesicht wirkte in der hellen Beleuchtung des Konbinis makellos. Ich schätzte sie auf irgendwo zwischen fünfunddreißig und fünfundvierzig, ihr strahlender Teint erinnerte mich an die in Japan allgegenwärtigen Werbeplakate für hautaufhellende Cremes. Auf ihrem glänzenden schwarzen Haar lag ein rotbrauner Schimmer, als sie zu mir aufblickte, entschlossen, mich für ihre Sache zu gewinnen.
Finden Sie? Ich meine, wir waren wirklich zu spät. Und die Frau hat nur ihre Arbeit gemacht.
Sie wollte sich die Mühe sparen, sonst nichts. Ihre Faulheit hat mir eine Menge Scherereien verursacht. Ich habe geschlagene zwei Stunden gebraucht, um sämtliche Termine für die nächste Woche umzulegen.
Die Frau wirkte ziemlich gestresst. Für mich war es dagegen vermutlich einfach, flexibel und entspannt zu sein, da in London nichts Dringendes auf mich wartete.
Okay. Dann schreibe ich auch eine Mail. Wenn Sie glauben, das hilft.
Ihr Gesichtsausdruck blieb unverändert, aber ich spürte, dass ich ihr sympathischer wurde – ein Verbündeter. Sie streckte mir die Hand hin.
Ich bin Mariko.
Verlegen schob ich das Bento, das ich mir aus dem Kühlregal genommen hatte, von der rechten in die linke Hand, bevor ich ihre schüttelte.
Mariko blickte auf das Katsu-Curry in der Bentobox – es schwitzte unter dem Plastikdeckel. Ein entsetzter Ausdruck trat in ihr Gesicht.
Das wollen Sie doch nicht ernsthaft essen, oder?
Ich lachte. Entweder das oder einen der Corn Dogs am Tresen.
Mariko zögerte. Ich sah ihr an, dass sie über mich nachdachte – meinen Charakter einschätzte, mit sich verhandelte, ob sie einschreiten sollte.
Ich wohne gleich nebenan im Star Gate Hotel. Wenn man den Bewertungen glaubt, scheint das Restaurant ganz ordentlich zu sein. Wenn Sie wollen, können Sie mir Gesellschaft leisten.
Das Restaurant befand sich in einem der Fünfzigerstockwerke des höchsten Wolkenkratzers von Rinku. Wir waren die einzigen Gäste, und von unserem Tisch am Fenster hatte man einen umwerfenden Blick auf die nächtliche Bucht von Osaka: ein breites, geschwungenes Lichterband vor dem schwarzen Nichts der See. Direkt unter uns begann die Sky Gate Bridge, Linien aus Scheinwerferlichtern über der kilometerlangen Dunkelheit zwischen Osaka und der Flughafeninsel. Nachdem wir die Speisekarte studiert und bestellt hatten, fragte Mariko: Sind Sie alleine nach Japan gekommen?
Ich nickte.
Anfang der 2000er habe ich in Kyoto Englisch unterrichtet. Ich habe alte Freunde von damals besucht.
Und was machen Sie in London?
Ich bin Grundschullehrer.
Mariko war Senior International Client Relations Manager bei einer Tokioter Bank. Das hatte ich auf der Fahrstuhlfahrt nach oben erfahren, als sie mir auf dem iPhone ihre E-Mail an die Fluggesellschaft zeigte (wahrscheinlich um mich zu instruieren, wie ich meine eigene E-Mail formulieren sollte). Sie nickte mit höflichem Desinteresse.
Das macht sicher Spaß. Kinder sind so goldig.
Auf jeden Fall. Aber die Arbeit ist anstrengend. Ich habe mir gerade ein Jahr Auszeit genommen.
So eine Art Sabbatical?
Ich lächelte.
Für Grundschullehrer gibt es keine Sabbaticals. Ich habe achtzehn Jahre durchunterrichtet und fühlte mich einfach ausgebrannt. Außerdem ist mein Vater letztes Jahr gestorben. Durch den Verkauf seiner Wohnung war ein bisschen Geld da.
Mariko bekundete ihr Beileid wegen meines Vaters. Dann fragte sie: Was machen Sie in Ihrem freien Jahr? Reisen?
Eigentlich nicht, abgesehen von der Japanreise. Die meiste Zeit trödle ich so herum.
Trödeln?
Mariko neigte neugierig den Kopf zur Seite. Der U-Bootkragen ihres Kaschmirkleids entblößte ihren schlanken Hals und die zarten Schlüsselbeine. Sie saß anmutig und gerade wie eine Tänzerin, und ich gab mir alle Mühe, die Ellbogen vom Tisch zu lassen und nicht in meine übliche krumme Sitzhaltung zu verfallen.
Das heißt, ich mache nicht viel. Ein bisschen Gartenarbeit. Lesen.
Trödeln, wiederholte Mariko leise und mehr für sich selbst. Ich würde verrückt werden, wenn ich das ein ganzes Jahr lang machte. Schon nach einer Woche.
Sie zog die Stirn kraus, vielleicht weil sie an das tiefe Loch dachte, in das sie ohne ihre Stellung als Senior International Client Relations Manager fallen würde. Der Kellner brachte die Getränke – ein Bier für mich, ein Kännchen Chrysanthementee für Mariko –, und wir kamen auf London zu sprechen. Mariko war in den 90ern von ihrer Bank für einige Zeit dorthin versetzt worden (also war sie zwischen Mitte und Ende vierzig – älter, als ich gedacht hatte) und hatte in Spitalfields gewohnt. Seitdem kam sie jedes Jahr in die Stadt, um in den zahlreichen Boutiquen in Knightsbridge zu shoppen und mit ihren Londoner Kunden in Sternerestaurants zu essen. Offenbar hatte sie sich nie über die Zonen 1 und 2 hinausgewagt. Dann unterhielten wir uns über andere Städte, die sie jährlich besuchte – Paris, Rom, Madrid. Ihre Einkaufstipps und Hotelempfehlungen stammten alle direkt aus dem Condé Nast Traveller. Wenn ich versuchte, das Gespräch auf die Geschichte der jeweiligen Stadt oder die politischen Verhältnisse zu lenken, wurde ihr Blick glasig – an der sozialen Wirklichkeit außerhalb der Fünf-Sterne-Tourismus-Blase hatte sie kein Interesse. Sie zeigte mir auf ihrem iPhone Fotos von einem luxuriösen Öko-Resort auf Langkawi, wo sie Anfang des Jahres Yoga- und Wellnessurlaub gemacht hatte, und führte mich durch die Innenräume und den tropischen Garten wie eine Botschafterin der kultivierten Lebensart und des erlesenen Geschmacks.
Es funkte nicht zwischen uns, aber ich langweilte mich auch nicht oder musste ein Gähnen unterdrücken, wie es sonst der Fall ist, wenn ich mich mit Leuten unterhalte, mit denen ich wenig gemeinsam habe. Marikos Selbstsicherheit und ihre glatte Schönheit hatten etwas Fesselndes. Sie erinnerte mich an eine Nachrichtensprecherin oder einen humanoiden Roboter. Während sie erzählte, fragte ich mich, wie viel Zeit und Geld es sie wohl kostete, den rotbraunen Schimmer in ihr wohlfrisiertes Haar zu zaubern, ihre Haut straff und alterslos zu halten und ihre French Nails stets so perfekt zu maniküren, dass an der Hand, mit der sie die Teeschale hielt, nicht ein einziger Riss oder eine Unebenheit zu sehen war. Ihre Makellosigkeit wirkte derart unheimlich, dass ich eine gewisse Erleichterung verspürte, als der Kellner unser Essen brachte und Mariko sich mit dem geräuschvollen Schlürfen eines echten Menschen über ihre Buchweizennudeln hermachte.
Zwischendurch legte sie die Stäbchen beiseite, als wollte sie mir ihre volle Aufmerksamkeit schenken, und fragte: Was macht Ihr Partner beruflich?
Ich schluckte das Garnelen-Tempura in meinem Mund halb zerkaut hinunter und sagte: Er ist Sozialarbeiter. So haben wir uns auch kennengelernt. Bei einer Besprechung wegen einem meiner Schüler.
Wollte er Sie nicht nach Japan begleiten?
Er muss arbeiten. Jeder von uns beiden macht ab und zu sein eigenes Ding.
Mariko nickte anerkennend. Sie haben sich Ihre Unabhängigkeit bewahrt.
Ich betrachtete ihre Hand. Kein Ehering. Sie bemerkte meinen Blick und sagte: Ich bin Single. Die Leute schauen auf mich herab, weil ich unverheiratet bin. Weil ich keine Kinder habe. Aber wenn ich sehe, wie meine Kollegen ihre Ehefrauen behandeln, weiß ich, dass ich mich richtig entschieden habe.
Sie sagte es sachlich, aber mit einem Hauch von Bitterkeit. Sie blickte hinaus in die Dunkelheit, auf den westlichen Rand von Osaka, der einem langgezogenen Halbleiter mit Tausenden winziger Leuchtdioden ähnelte. Eine Fähre bewegte sich durch das nachtschwarze Wasser, Flugzeuge blinkten in der dunklen Grenzenlosigkeit des Himmels. Ich sah ihrem Spiegelbild in der Fensterscheibe beim Reden zu.
Meine Kollegen betrügen ihre Frauen mit Hostessen. Manche machen plumpe Annäherungsversuche, weil sie glauben, dass ich verzweifelt nach Aufmerksamkeit giere, egal in welcher Form. Natürlich irren sie sich.
Warum zeigen Sie die Kerle nicht wegen sexueller Belästigung bei Ihrem Arbeitgeber an?
Mariko lächelte über meine gutgemeinte Naivität, dann wechselte sie das Thema und erzählte von dem Reiturlaub auf einer Ranch in Patagonien, den sie für den Sommer plante. Ich aß mein Essen auf, und als der Kellner kam, um mein Tablett abzuräumen, gab Mariko ihm ein Zeichen, ihres auch mitzunehmen, obwohl noch die Hälfte der Nudeln, des Tofus und des Gemüses darauf lag.
Haben Sie keinen Hunger?, fragte ich.
Ich höre auf zu essen, wenn ich zu siebzig Prozent satt bin.
Wow. Das nenne ich Disziplin.
Ich brauche Disziplin, sagte sie. Kein Fleisch. Acht Stunden Schlaf und jeden Morgen Pilates.
Faulenzen Sie nie?
Nein!
Sie schüttelte sich mit scherzhafter Miene, doch in ihren Augen erkannte ich aufrichtiges Grauen davor, sich gehen zu lassen – die strengen Regeln und Rituale aufzugeben, die ihrem Leben Ordnung verliehen. Weshalb ich, als wir die Rechnung beglichen hatten, von ihrem Vorschlag überrascht war, noch in die Hotelbar zu gehen.
Nach einigem Zögern bestellte Mariko einen Whisky auf Eis – ihr erster alkoholischer Drink seit neun Jahren. Als ich mich nach dem Anlass erkundigte, war sie sich nicht sicher.
Ich fühle mich schon den ganzen Tag nicht wie ich selbst, sagte sie. Ich bin nie so desorganisiert, dass ich meinen Flug verpasse …
Ich trank von meinem Bier, unschlüssig, was ich von diesem Geständnis halten sollte. Ich war in einer merkwürdigen Stimmung. Je mehr Zeit ich mit Mariko verbrachte, desto mehr hatte ich das Gefühl, dass unsere Verbindung stärker wurde. Es war, als strebten wir unaufhaltsam auf irgendetwas zu, wie zwei Fremde, die schließlich zusammen im Bett landen (was in unserem Fall mehr als unwahrscheinlich war).
Der Whisky trieb Mariko die Röte in das porzellanweiße Gesicht, und ihre Stirn glänzte. Ihre Selbstbeherrschung ließ nach, und sie hatte wie ich die Unterarme auf dem Tisch. Wir waren bei einem völlig anderen Thema angekommen, als sie abrupt fragte: Wirke ich kalt auf Sie? Weil ich keine Beziehung will?
Nein. Dass Sie sich für das Singleleben entschieden haben, hat doch nichts mit Kälte zu tun.
Ehrlich gesagt finde ich Männer mendokusai – lästig.
Leben Sie so, wie es Ihnen gefällt, Mariko. Sie haben bestimmt viele Freunde.
Eigentlich nicht, sagte sie.
Der Barmann tauschte die leeren Gläser unauffällig gegen volle.
Aber es ist nicht so, dass ich kalt wäre oder keine Gefühle hätte, fuhr sie fort. Ich kann mich für vieles begeistern.
Sie erzählte von dem Haus, das sie sich im Tokioter Bezirk Bunkyo gekauft und ein halbes Jahr lang umgebaut hatte – Teile des ersten Stockwerks waren herausgerissen worden, um einen Wohnbereich mit doppelt hoher Decke zu schaffen, der Innenhof war jetzt rundum verglast. Das Holz für die Fußböden stammte von tausend Jahre alten Sicheltannen von der Insel Yakushima, die Shoji-Türen hatte ein seit zwölf Generationen bestehender Kyotoer Handwerksbetrieb angefertigt. Zum Schluss hatte Mariko im Innenhof einen Zengarten angelegt, mit zu Wellenmustern geharktem Kies und jahrhundertealten, glücksverheißend angeordneten Tempelsteinen. Bonsaibäume umgaben einen Brunnen, aus dem Wasser in einen Lotusteich lief, und jeden Abend schaltete Mariko vom Haus aus die Steinlaternen an, setzte sich ins Wohnzimmer und betrachtete in stiller Einkehr ihren Garten. Sie fragte mich, ob ich Lob des Schattens von Junichiro Tanizaki gelesen hätte (hatte ich nicht). Die japanische Ästhetik, die Tanizaki darin entwerfe – Einfachheit, Strenge, Harmonie und zurückhaltende Eleganz – habe ihr bei der Gestaltung der Räume als Vorbild gedient. Jeder Gegenstand im Haus – jede antike Vase, jeder Ukiyo-e-Druck – sei sorgfältig im Hinblick auf Form, Oberflächenbeschaffenheit und das Wechselspiel mit seiner Umgebung ausgewählt worden.
Jeden Abend, wenn ich von der Arbeit komme, sagte sie, lege ich mich eine halbe Stunde bei Kerzenlicht in meine Badewanne aus Zypressenholz. Danach bereite ich eine einfache vegane Mahlzeit zu, lese ein Buch oder blicke hinaus in meinen Zengarten, um meinen Geist zu leeren, bevor ich ins Bett gehe. Ich brauche dieses Reinigungsritual. Sonst fühle ich mich kontaminiert. Zu dreckig, um schlafen zu können.
Dreckig?, fragte ich. Wovon?
Mariko zuckte die Achseln. Von Tokio. Der U-Bahn. Der Bank und den Männern, mit denen ich dort arbeite.
Fühlen Sie sich jetzt auch so? Hier in Osaka? Mit mir?
Mariko schüttelte den Kopf. Osaka sei nicht so schlimm wie Tokio, sagte sie. Und sie könne sehen, dass ich ein »anständiger Mann« sei. Einige ihrer Arbeitskollegen widerten sie an. Als ich fragte, warum, zögerte Mariko, dann sagte sie, sie sei einmal bei ihrem Chef hereingeplatzt, als er sich etwas auf seinem Laptop angesehen habe. Eine nackte Frau auf allen vieren, dahinter ein Rottweiler mit den Vorderpfoten auf ihrem Rücken. Sie habe sich bei ihrem Chef entschuldigt, als wäre sie diejenige, die sich etwas hatte zuschulden kommen lassen, und schnell den Raum verlassen.
Manche Menschen sind Ungeheuer, sagte sie.
Beim dritten Whisky fing Mariko an zu lallen und sich zu wiederholen. Der Ausschnitt ihres Kleides rutschte ihr über die Schulter, sodass ihr BH-Träger zum Vorschein kam. Sie senkte den Kopf und massierte sich die Schläfen.
Mir ist schwindlig, sagte sie. Ich sollte schlafen gehen.
Wir bezahlten unsere Drinks, dann stieg Mariko schwankend vom Barhocker. Als ich ihren Arm nahm, um sicherzugehen, dass sie auf dem Weg hinaus nicht umfiel, sah ich Panik in ihren Augen sowie Scham darüber, dass ihr die Kontrolle über etwas so Simples wie das Gehen entglitten war. Sie entschuldigte sich mehrmals und versicherte, wie unglaublich peinlich ihr das Ganze sei, doch das Barpersonal, für das betrunkene Gäste nichts Ungewöhnliches war, beachtete uns kaum.
Marikos Zimmer lag im 44. Stock. Auf der Fahrt nach unten sank sie gegen die Fahrstuhlwand, vor Zimmer 411 kippte sie auf der Suche nach der Schlüsselkarte buchstäblich ihre Balenciaga-Handtasche aus, sodass der Apfel und das Mineralwasser aus dem Konbini mit ihrer Puderdose und mehreren Chanel-Lippenstiften auf dem Teppichboden landeten. Mariko öffnete die Tür, ich sammelte ihre Sachen auf und folgte ihr ins Zimmer, wo sie sich, ohne die Schuhe auszuziehen, aufs Bett fallen ließ. Ihr Kleid war bis über die Schenkel hochgerutscht, die zerkratzten Absätze ihrer Pumps drückten sich in die strahlendweiße Bettdecke.
O Gott. Es dreht sich alles.
Sie legte die Hand über die Augen, als wollte sie sie schützen. Ich drehte die Nachttischlampe von ihr weg und machte das Deckenlicht aus.
Vielleicht wird es besser, wenn Sie sich auf die Seite legen, sagte ich.
Sie folgte meinem Rat und klammerte sich an die Matratze wie an ein Floß auf rauer See.
Wasser, stöhnte sie.
Als ich mich Richtung Bad umdrehte, fügte sie hinzu: Nicht aus der Leitung.
Ich goss Mineralwasser in das leere Glas auf dem Nachttisch, dann stellte ich den Papierkorb neben das Bett, in der Hoffnung, Mariko nicht zu kränken. Sie sah mich durch ihr zerzaustes Haar an.
Ich komme mir so würdelos vor.
Machen Sie sich deswegen keine Sorgen. Wir trinken alle mal zu viel.
Ich sah zur Tür. Das einzig Richtige wäre gewesen, zu gehen und Mariko ihren Rausch ausschlafen zu lassen. Aber sie fragte: Bleiben Sie noch ein bisschen bei mir?
Ich nickte und setzte mich in den Sessel am Fuß des Bettes. Im Zimmer herrschte penible Ordnung. Geschlossene Vorhänge, die Koffer weggeräumt, der graue Hosenanzug wahrscheinlich auf einem Bügel im Schrank. Mariko drehte sich wieder um und schob sich das Kissen in den Rücken. Ihr Blick ging zur Decke. Die tiefen Mulden über ihren Schlüsselbeinen wirkten wie Schatten, ihr Brustkorb hob und senkte sich unter dem schwarzen Kleid.
Ich habe Sie vorhin belogen, sagte sie.
Wirklich? Inwiefern?
Ich bin ein kalter Mensch.
Verlegen und nicht ganz aufrichtig erwiderte ich: Ich empfinde Sie nicht als kalt.
Meine Eltern sind gestorben, als ich in den Zwanzigern war. In ihren letzten Monaten habe ich sie nur selten besucht. Ich war zu sehr mit der Arbeit beschäftigt. Meinen Bruder habe ich auch im Stich gelassen. Jetzt ist er tot, und ich habe keine Familie mehr.
Ich sah sie an, unsicher, was ich darauf erwidern sollte.
Sie sind zu streng mit sich. Das ist nur der Whisky, der da spricht ...
Alkohol macht es schwieriger, der Wahrheit aus dem Weg zu gehen. Wenn ich nüchtern bin, erfinde ich Ausflüchte.
Sie sind ganz bestimmt nicht so schrecklich, wie Sie glauben, Mariko.
Ihr Blick wanderte von der Zimmerdecke zu mir. Die Schatten nahmen ihr den Glanz, hoben die Linien um ihren Mund hervor, machten sie älter. Sie führte ungeschickt das Glas zum Mund. Wasser lief ihr übers Kinn. Sie wischte es mit dem Handrücken weg.
Haben Sie Familie, Jake?
Ich bin Einzelkind. Meine Mutter hat uns verlassen, als ich drei war, es gab also nur meinen Vater und mich.
Ah.
Aber ich hatte eine schöne Kindheit.
Mein Bruder und ich waren Zwillinge, sagte Mariko. Als Kinder waren wir uns sehr nahe, aber das änderte sich in der Teenagerzeit, und wir redeten nicht mehr miteinander. Später verloren wir uns aus den Augen. Als Hiroji 2011 starb, kamen über zweihundert Leute zu seiner Beerdigung. Er war unwahrscheinlich beliebt. Aber mir fiel es sehr schwer, ihn zu lieben.
Familien sind kompliziert, sagte ich. Es gibt so viel gemeinsame Geschichte. So viele seelische Wunden, die nie ganz verheilen.
Ich zuckte bei meinen abgedroschenen Worten innerlich zusammen, doch bei Mariko stießen sie offenbar auf Resonanz.
Ja, murmelte sie. Seelische Wunden.
Sie begann von der Beziehung zu erzählen, die sie und Hiroji zu seinen Lebzeiten gehabt hatten, mit klarer Stimme, als wäre sie durch die Gewissensbisse wegen ihrer Eltern und ihres Bruders schlagartig nüchtern geworden. Sie habe ihn immer gespürt, sagte sie, wie ein Ziehen in ihrer Seele, auch in der Zeit, als sie schon seit Jahren nicht mehr miteinander redeten, oder wenn Tausende Kilometer zwischen ihnen lagen. In den Wochen vor seinem Tod hatte Mariko unter Schlaflosigkeit gelitten, und wenn sie schließlich doch einschlief, schreckte sie panisch aus einem Traum auf, in dem sie durch einen Bambuswald lief, verfolgt von einer bösen, unsichtbaren Macht. Ihr Arzt diagnostizierte arbeitsbedingten Stress und verschrieb ihr Tabletten. Aber Mariko wusste, dass Hiroji die Ursache war – obwohl er in Kyoto und sie in Tokio wohnte und sie keinen Kontakt mehr miteinander hatten. Sie ahnte, dass etwas Schlimmes mit ihm geschah. Trotzdem meldete sie sich nicht bei ihm.
Vor elf Jahren, in der Nacht seines Todes, rief Hiroji mich um drei Uhr morgens an, sagte Mariko. Zuerst wollte ich nicht abnehmen, aber dann ging ich doch ans Telefon. Er sagte, er sei in den Geist einer Gottheit aus einer höheren Dimension eingetreten …
Wie bitte?
Das waren seine Worte – eine Gottheit aus einer höheren Dimension. Er sagte, er habe jeden Augenblick seines Lebens von der Zeugung bis zum Tod gesehen. Und auch uns beide, als Föten im Bauch unserer Mutter. Ich fragte ihn, ob er Drogen genommen habe, und er fing an zu weinen. Er sagte: Es tut mir leid, was ich dir angetan habe, Mariko. Ich bin schuld, dass du nicht lieben kannst.
Klingt nach einer Psychose, sagte ich.
Mariko schien mich gar nicht zu hören. Ein Schuh war ihr vom Fuß gerutscht, und sie sah nicht mich an, sondern die Szenen aus der Vergangenheit, die sich vor ihrem inneren Auge abspielten.
Hiroji sagte, dieses Götterwesen habe ihn auserwählt. Es hätte seine inneren Organe verschoben, sodass sie nicht mehr ihm gehörten. Dann sagte er, auch ich sei auserwählt …, weil wir Zwillinge wären und sein Fleisch mein Fleisch sei und umgekehrt … Solange er lebe und wir beide miteinander verbunden seien, wäre dieses Wesen hinter mir her.
Marikos Worte kamen mir so bekannt vor, dass mein Magen kippte, als hätte sich unter mir eine Falltür geöffnet. Ich erhob mich fassungslos aus dem Sessel und ging, weil ich sie nicht unterbrechen wollte, zwischen Bett und Flachbildfernseher hin und her.
Mariko redete weiter, ohne mir Beachtung zu schenken: Hiroji sagte, er werde in unseren Bambuswald gehen, um ein weiteres Opfer darzubringen. Ich fragte, was er mit »weiteres Opfer« meine. Seine Antwort war, dass er, wenn die Tat misslinge, morgen früh tot sein werde. Du machst mir Angst, erwiderte ich, was redest du da für wirres Zeug? Darauf sagte Hiroji: Mach ihr nicht die Tür auf. Wenn ich tot bin, lässt sie dich in Ruhe. Dann legte er auf.
Mariko fuhr fort, sie habe völlig durcheinander in ihrer Wohnung im Tokioter Stadtteil Asakusa gestanden. Nachdem sie sich gesammelt hatte, rief sie Hirojis besten Freund, den sie seit ihrer Kindheit kannte, in Kyoto an, aber ihr Telefon hatte plötzlich keinen Empfang. Sie versuchte es über Skype, doch ihr Laptop verband sich nicht mit dem WLAN. Die Lämpchen an ihrem Router blinkten, also trennte sie ihn kurz vom Strom. Während der Router neu startete, ging sie durchs Wohnzimmer und hielt das Telefon auf der Suche nach Netz in alle Richtungen. Sie hatte Angst um ihren Bruder. Aber sie hatte auch Angst um sich selbst, denn sie spürte, dass die Eigenartigkeit, der unheilvolle, fremde Einfluss, unter dem Hiroji stand, bereits in ihre Wohnung eingedrungen war.
Das WLAN-Lämpchen ging aus. Mariko zog ihren Mantel über den Schlafanzug, um es mit ihrem Handy auf dem Etagenflur oder unten in der Eingangshalle zu versuchen, als es an der Haustür klingelte. Das Hochhaus war mit einer Video-Sprechanlage gesichert, und auf dem kleinen Bildschirm an der Wand erschien eine Gaijin. Weiß, Ende dreißig, dunkles, halblanges Haar und von einer Erscheinung, die Mariko nur als »durchschnittlich« beschreiben konnte. Mariko nahm den Hörer ab, und obwohl die Kamera nur in einer Richtung funktionierte, schien die Frau, die dreiundzwanzig Stockwerke weiter unten vor der Haustür stand, Mariko durchdringend anzusehen, als sie in fast akzentfreiem Japanisch sagte:
Takahara-san, ich würde gerne mit Ihnen über Hiroji sprechen. Darf ich hinaufkommen?
Die Stimme der Frau klang ruhig und vernünftig, doch Mariko dachte an die Warnung ihres Bruders und legte auf.
Draußen auf dem Etagenflur hatte sie schließlich Empfang. Die Mailbox von Hirojis Freund sprang an, und sie hinterließ eine Nachricht. Unten setzte sich mit einem maschinellen Geräusch der Fahrstuhl in Bewegung. Mariko ließ das Telefon sinken. Auf der Anzeigetafel leuchteten die Stockwerknummern auf: 19 … 20 … 21 … 22. Der Fahrstuhl hielt im 23. Stock. Mariko wartete nicht ab, wer herauskommen würde. Als die Tür mit einem Ping aufging, rannte sie in ihre Wohnung und schloss zweimal ab. Langsame Schritte näherten sich.
Mariko schaltete den Fernseher ein, in dem eine koreanische Rom-Com lief, und stellte den Ton laut. Dann setzte sie sich auf ein Sitzkissen und zog die Knie vor die Brust. Über den lärmenden Fernseher hinweg hörte sie es klopfen, und eine Stimme rief: Takahara-san … Takahara-san. Mariko fragte sich, ob sie vielleicht überreagierte. Was sollte schon Schlimmes passieren, wenn sie sich anhörte, was die Frau zu sagen hatte? Doch Hirojis Worte klangen ihr in den Ohren: Mach ihr nicht die Tür auf. Mariko widerstand der Versuchung, durch den Spion zu sehen. Sie verharrte wachsam auf dem Kissen, auch nachdem die Frau längst fort zu sein schien, und schließlich schlief sie ein.
Am nächsten Morgen klingelte das Telefon, sagte Mariko. Es war Kenji, der Freund meines Bruders, der mir mitteilte, dass Hiroji tot sei.
Ich blieb stehen und drehte mich zu ihr um. Unsere Blicke trafen sich zum ersten Mal, seit sie von dem Anruf ihres Bruders erzählt hatte.
Was war die Todesursache?
Ein Herzfehler.
Hat die Obduktion irgendetwas Ungewöhnliches ergeben?
Im Halbdunkel, das Marikos Gesicht einhüllte, sah ich, dass sie abwehrend den Kiefer anspannte. Aber ich bohrte weiter.
Waren seine inneren Organe falsch angeordnet? Seitenverkehrt?
Mariko sah mich an. Woher wissen Sie Bescheid über meinen Bruder?
Bevor Sie ihn vor zwanzig Minuten zum ersten Mal erwähnt haben, wusste ich nicht mal, dass es ihn gibt. Haben Sie jemandem von der Frau erzählt?
Ich bin bei der Polizei gewesen. Doch auf den Aufnahmen der Videokamera war sie nicht zu sehen.
Das Doppelbett quietschte, als ich mich auf den Rand setzte und ihr das Gesicht zuwandte.
Mariko, sagte ich. Die Dinge, die Ihr Bruder bei Ihrem letzten Telefonat gesagt hat … über seine verschobenen Organe … und dass sie nicht mehr ihm gehören würden … Das habe ich schon mal gehört. Meine Freundin Lena starb auch 2011, und sie sagte in der Woche vor ihrem Tod ganz ähnliche Dinge. Und auch damals gab es eine Frau wie die an Ihrer Wohnungstür …
Mariko verzog das Gesicht und schwang die Beine aus dem Bett. Der Papierkorb fiel um, und sie wankte ins Bad. Die Tür wurde abgeschlossen, und der Klodeckel schlug gegen den Spülkasten. Kurz darauf hörte ich sie würgen, und es platschte in die Schüssel. Ich lief unruhig durchs Zimmer, während Mariko sich übergab. Seit elf Jahren verfolgten und verwirrten mich die Umstände von Lenas Tod. Und jetzt, zehntausend Kilometer weit weg von London, war mir zufällig eine Frau begegnet, die anscheinend auf die gleiche Weise jemanden verloren hatte. Die, so flüchtig auch immer, mit demselben unergründlichen Phänomen in Berührung gekommen war.
Schließlich bollerte die Spülung, und die Badezimmertür wurde aufgeschlossen. Mariko war verschwitzt und roch nach Erbrochenem. Ein leidender Ausdruck lag in ihren dunklen, glanzlosen Augen, als hätte das Magenentleeren ihre Übelkeit nur verschlimmert. Sie legte sich in ihrem Kleid und mit nur einem Schuh bäuchlings aufs Bett und vergrub das Gesicht im Kopfkissen, als sollte alles um sie herum verschwinden.
Alles in Ordnung?, fragte ich.
Bitte gehen Sie. Ich will schlafen.
Mariko, ich muss mehr darüber erfahren, was mit Ihrem Bruder passiert ist ...
Ich will nichts damit zu tun haben.
Haben Sie die Telefonnummern von Hirojis Freunden? Von irgendwem in Kyoto, der ihn um die Zeit seines Todes kannte?
Nein.
Was ist mit dem Freund, den Sie in der Nacht damals angerufen haben?
Lassen Sie mich in Ruhe.
Mariko …
Lassen Sie mich in Ruhe. Lassen Sie meinen toten Bruder in Ruhe. Bitte gehen Sie einfach.
Unser Flug nach Amsterdam ging am nächsten Morgen um viertel nach zehn. Ich wartete nervös am Gate, bis ich der Letzte in der Economy-Schlange war, und ging in der Hoffnung, dass Mariko jeden Augenblick aus der Businessclass-Lounge treten würde, schnell noch einmal durch, was ich sagen würde. Als ich der Angestellten am Schalter meinen Pass gab – es war die Frau mit dem blonden Dutt, die uns am Vortag den Zutritt zur Maschine verweigert hatte –, griff sie unter ihr Pult.
Das ist für Sie.
Auf dem Umschlag standen mein Name und die Flugnummer.
Von wem ist das?
Das weiß ich nicht. Das System hat mir angezeigt, dass ich Ihnen diesen Umschlag aushändigen soll. Jemand am Check-in oder am Schalter unserer Fluggesellschaft hat ihn wohl herübergeschickt.
Auf dem Weg ins Flugzeug öffnete ich den Umschlag. Ich zog einen Zettel mit dem Logo des Sky Gate Hotel heraus, darauf standen ein Name und eine Telefonnummer. Der Name war Sigrid, die zehnstellige Nummer hatte eine internationale Vorwahl. Ich fand meinen Platz, schloss den Gurt und döste während der Sicherheitshinweise und des rumpelnden Starts vor mich hin. Als das Anschnalllämpchen erlosch, ging ich in die Businessclass, um Mariko zu suchen. Wie vermutet, war sie nicht an Bord.
I
Die dunkelhaarige Frau tritt mit zwei vollen Tüten vor der Brust aus dem Tankstellenshop hinaus ins blendende Sonnenlicht. Sie geht auf den alten Toyota an der Zapfsäule zu. Auf dem Beifahrersitz wickelt das Mädchen mit beunruhigtem Blick in den Seitenspiegel ihre Locken um den Finger, zupft sie in Form. Die Frau geht zum Kofferraum, stellt die braunen Papiertüten mit Würstchen, Marshmallows, Insektenspray, Schmerztabletten, Tampons und anderen Dingen, die man für eine Nacht benötigt, hinein. Sie gräbt eine kalte Cola Light und Juul-Pods für das Mädchen aus einer Tüte, dann schlägt sie den Kofferraum zu und lässt die Leere auf sich wirken, die sich in alle Richtungen ausdehnt. Meilenweit nur dürres, flaches Land, darüber der strahlendblaue Himmel und die erbarmungslose Sonne. Sie steigt auf der Fahrerseite ein. Das Mädchen wendet sich von seinem Spiegelbild ab und jammert: Meine Haare sehen echt beschissen aus. Ausgerechnet heute.
Deine Haare sind perfekt, beruhigt sie die Frau. Manche Frauen würden für deine Naturlocken über Glasscherben robben.
Das Mädchen strahlt dankbar unter der Lockenpracht. Es hat ein rundes, ungewöhnliches Gesicht. Engelsgleich, mit einem schmalen, spitzen Kinn. Vorhin im Hotelzimmer hat die Frau zugesehen, wie das Mädchen sich für den Ausflug zurechtmachte, seiner Haut mit Billigkosmetik aus dem Drugstore einen »taufrischen Look« und »Glow« verlieh, sich die Lippen rosa anmalte, die Augenbrauen mit einem winzigen Pinsel und verschiedenen Brauntönen voller schminkte. Die Frau gibt dem Mädchen die kalte Cola und die Pods.
O mein Gott, danke! Was bekommst du von mir?
Wieder dieses strahlende Lächeln. Ihre weit auseinanderstehenden grauen Augen haben einen dunklen Ring um die Iris. Natürlich weiß sie, dass die Frau nicht einen Cent von ihr verlangt.
Das Mädchen heißt Rosa. Rosa. Rosy. Rosy-lee. Der Name passt zu ihrer fülligen Figur und den federnden Locken. Der Stoff ihres blauen Baumwollsommerkleids spannt über den Brüsten, die Spaghettiträger schneiden an den Schultern ein. Man würde sie als pummelig beschreiben, wäre da nicht diese tiefe Zufriedenheit mit dem eigenen Körper, die sie ausstrahlt. Wenn die Frau die Kamera auf sie richtet, wirft sie sich aus einem exhibitionistischen Reflex heraus in eine neckische, zweifellos durch unzählige Selfies perfektionierte Pose: Duckface, schief gelegter Kopf, verführerischer Blick. Und die Frau lässt sich hinter der Kamera verführen, findet das Mädchen zu ihrer eigenen Verärgerung so unwiderstehlich, dass sich Begierde in ihr regt (die sie durch langjährige Erfahrung zum Glück im Zaum zu halten weiß).
Die Frau schnallt sich an. Bist du so weit?
Das Mädchen hüpft förmlich auf dem Sitz. Ihre Begeisterung ist Teil ihres Charmes.
Ich freue mich wahnsinnig auf unseren Ausflug. Ich bin noch nirgends gewesen, seit ich hier bin.
Hat deine Schwester dir nicht die Sehenswürdigkeiten gezeigt? Den Shiprock-Vulkan? Die Azteken-Ruinen?
Machst du Witze? Das Einzige, was Lizzy mir gezeigt hat, ist der Supermarkt, damit ich mir selber Essen kaufen kann und nicht ihres klaue. Sie fährt mich nicht mal zur Arbeit, wenn ich zu spät dran bin.
Die Frau macht ein mitfühlendes Gesicht und lächelt.
Das machen wir heute mehr als wett.
Sie fahren von der Tankstelle auf den einsamen Highway 371. Entlang am östlichen Rand des Navajolands, durch eine Wüstenlandschaft mit verdorrten Gräsern, Steppenbeifuß und Kreosotbüschen, trocken genug, um in Flammen aufzugehen. Das Mädchen dampft sein Mango-Liquid, und ein synthetischer, ekelhaft süßer Geruch breitet sich im Wagen aus. Sie trinkt einen Schluck aus der Coladose, die zwischen den nackten Knien klemmt, plaudert über Astrologie, Tarot und psychometrische Tests. Sie erklärt der Frau, inwieweit ihr Sternzeichen Skorpion mit Aszendent Waage und Mondzeichen Widder den Verlauf ihres bisheriges Leben beeinflusst hat. Erzählt von den drei Tarotkarten, die sie heute Morgen gezogen hat, und was die Hohepriesterin, der Hierophant und die umgekehrte Zehn der Schwerter bedeuten. Von den Multiple-Choice-Tests im Internet, die alle ergeben haben, dass sie eine Empathin, eine Entdeckungsreisende, eine ENFP-Persönlichkeit ist. (Du bist eine INFJ-Persönlichkeit, sagt sie zu der Frau, das habe ich gleich gemerkt.) Die Frau schwankt zwischen Zuneigung, Unverständnis und Gereiztheit, während sie nickt, Erstaunen simuliert und lächelt, obwohl ihre Beschwerden stärker geworden sind (das Fieber, ausgelöst durch eine Harnwegsinfektion, die heftig juckende Kandidose tief in ihrer Vagina).
Rosa bläst Mangodampf in den Wagen und kommt zu ihrer neusten großen Leidenschaft: dem Gesetz der Anziehung. Ob die Frau weiß, wie es funktioniert? Also, auf Quantenebene? Die Frau gibt zu, dass sie keine Ahnung hat, und das Mädchen zeigt mit der E-Zigarette wie ein in Räucherstäbchenrauch gehüllter Guru auf das Armaturenbrett und sagt:
Siehst du das Armaturenbrett?
Na klar.
Also, eigentlich ist es gar nicht da.
Ach?
Weil es so etwas wie feste Materie gar nicht gibt! Nur elektromagnetische Kräfte, die winzig kleine Quantenteilchen zusammenhalten. Und Quantenteilchen existieren nur, wenn man sie sucht. Sie werden erst sichtbar, wenn wir sie beobachten.
Durch den Beobachter werden sie … real?
Bingo. Genauso funktioniert das Gesetz der Anziehung. Nur makroskopisch. Unsere Gedanken sind Wellen aus elektromagnetischer Energie, die wir ins Universum schicken. Und diese Signale ziehen Dinge an, die auf derselben Frequenz schwingen. Wenn du also einen positiven oder negativen Blick auf die Welt hast, ziehst du eine positive oder negative Realität an.
Gleiches zieht Gleiches an?
Das Mädchen nickt grinsend.
Ich wusste, dass du das verstehst. Total INFJ eben. Unser Geist erschafft unsere Realität. Wenn du Angst hast, dich mit Covid anzustecken, bekommst du es wahrscheinlich auch. Alles reine Quantenphysik.
Die Frau lächelt. Das Mädchen ist gar nicht so dumm. Aber wie so viele andere ist sie im Netz in den Strudel pseudowissenschaftlichen Unsinns geraten und als treue Jüngerin wieder aufgetaucht.
Wow. Klingt irre kompliziert.
Das Mädchen sieht die Frau aus seinen rauchgrauen Augen freundlich und aufmunternd an.
Ja, das ist alles schwer zu verstehen. Aber wenn du erst mal durchblickst, ist es der Wahnsinn. Es hat mein Leben verändert.
Dann macht das Mädchen mit schüchternem Lächeln ein Geständnis: Sie hat das Gesetz der Anziehung benutzt, um die Frau zu manifestieren. Vor drei Tagen war sie noch verzweifelt über die riesige Kluft zwischen ihrem Traum von einem eigenen YouTube-Kanal und der beschämenden Wirklichkeit. Wie sollte aus der siebzehnjährigen Schulabbrecherin, die bei ihrer Schwester auf dem Sofa schlief, »Aurora Rose« werden, eine spirituelle Influencerin, die den Menschen das Gesetz der Anziehung erklärt und sie erleuchtet? Wie sollte sie mit der Loserkamera ihres iPhones Videos drehen? Aber dann hatte sie sich zurechtgewiesen: Verhalte dich nicht wie ein beschissenes Opfer, und ein Mantra gesprochen: Ich bin kein Opfer. Das Universum wird mich beschützen, und ich werde mit dieser Situation fertig. Ein Mantra wie ein Wiegenlied, das sie schließlich einschlafen ließ. Dann, gleich am nächsten Tag, als sie ein Hotelzimmer saubermachte und schwungvoll ein frisches Laken über die Matratze warf, kam diese extravagante, dunkelhaarige Frau im Frotteebademantel aus dem Bad, und sie hatte sofort eine Verbundenheit, eine magnetische Anziehung verspürt.
Ich habe diese Anziehung auch gespürt, sagt die Frau. Ich sah deinen einzigartigen Look und wusste sofort, dass du etwas ganz Besonderes bist.
Zuerst dachte ich, du verarschst mich, sagt Rosa lachend. Eine Fotografin aus Berlin, die mich fotografieren will, so eklig verschwitzt in meiner Zimmermädchenuniform.
Überhaupt nicht. Und die Fotos haben nur bestätigt, wie hinreißend du bist. Für mich stand sofort fest, dass wir zusammenarbeiten müssen, darum habe ich dich zum Mittagessen eingeladen. Und als du dann von deinem hellseherischen YouTube-Kanal …
Spirituellen, berichtigt das Mädchen.
… deinem spirituellen YouTube-Kanal erzählt hast, wusste ich, dass ich deine Videos drehen will. Jetzt begreife ich, dass ich auf die Nachricht geantwortet habe, die du ins Universum geschickt hast. Um dir dabei zu helfen, deine Träume zu verwirklichen.
Rosa strahlt sie dankbar an, und sie fahren weiter durch die heiße, durstige Landschaft. Der Wind biegt die verbrannten Gräser und lässt die pergamenttrockenen, nach Regen lechzenden Blätter der Wüstensträucher rascheln. Die Frau blickt zur Seite und sagt: Du freust dich bestimmt, dass du heute Nacht nicht in Lissys Trailer schlafen musst.
Das Mädchen trinkt die Cola aus. Wendet der Frau das hübsche Gesicht und die üppige Lockenpracht zu.
O Mann, und wie! Lissy hat total die Kontrolle über sich verloren. Sie steckt in ihrer Opferhaltung fest und macht die Vergangenheit für alles verantwortlich, was in ihrem Leben schiefläuft. Sie kommt einfach nicht über den ganzen Scheiß mit unserer Mum und unserem Arschloch von Stiefvater hinweg und benutzt sie als Ausrede, um Drogen zu nehmen, als Camgirl zu arbeiten und wahllos mit Typen zu ficken, die sie in Bars aufreißt.
Das Mädchen seufzt verzweifelt.
Ich will ihr immer sagen: Ich hab dasselbe durchgemacht, weißt du? Verhalte ich mich etwa wie ein Opfer? Lasse ich mich davon aufhalten?
Ich bin noch nie jemandem begegnet, der so wenig Opfer ist wie du, pflichtet die Frau ihr bei.
Rosa blickt nach vorne auf die Straße und schiebt das Kinn vor, wild entschlossen, nicht Opfer, sondern Siegerin zu sein, ihrer Vergangenheit zu trotzen.
Das klingt jetzt bestimmt verrückt, sagt sie, aber bis Ende des Jahres manifestiere ich mit dem Aurora-Rose-Kanal hunderttausend Abonnenten. Und im nächsten Jahr eine Million. Ich will auf Platz eins der Podcast-Charts, dann meine eigene Netflix-Serie.
Das klingt überhaupt nicht verrückt, ruft die Frau enthusiastisch. Ich fühle die elektromagnetischen Energiewellen, die du in diesem Moment ausströmst, ganz deutlich. Die Quantengötter werden dir zu Füßen liegen und dich mit Manifestationen all deiner Wünsche überschütten …
Rosa wirft ihr von der Seite einen Blick zu, und die Frau erkennt ihren Fehler. Sie hat zu dick aufgetragen.
Ich meine, fügt sie schnell hinzu, das erste Aurora-Rose-Video, das wir morgen drehen, wird der erste Schritt zum großen Erfolg sein.
Sie biegen von Highway 371 auf eine Schotterpiste, die hinunter in die Badlands führt; gelbbrauner Sand und Gräser weichen langsam einer kargen Landschaft aus übereinandergeschichteten Sedimenten. Die Stimmung im Wagen ändert sich, während sie über Erdklumpen und Steine rumpeln. Das Mädchen blickt durchs Beifahrerfenster still hinaus auf die sich wandelnde Kulisse. Eingeschüchtert, vermutet die Frau, von den dunklen Energien, die sich um sie herum zusammenbrauen – eine flirrende Unruhe, die sich kaum bewusst wahrnehmen lässt, aber bei empfindsamen Seelen mitunter Unbehagen auslöst. Jetzt, wo sie den Highway hinter sich gelassen haben, weicht die Aufregung des Mädchens der Besorgnis, dass sie die Nacht mit der Frau – dieser fast Fremden – in der Wildnis verbringen muss, weit weg von der Zivilisation und anderen Menschen.
Sie halten auf dem staubigen, windigen Parkplatz. Von hier aus ist die Bisti Wilderness wenig spektakulär: weites, flaches Gelände aus knochentrockenem, rissigem Lehm mit eisenoxidroten Tafelbergen in der Ferne. Doch wenn man über die Hügel wandert, gelangt man in eine urzeitliche Steinlandschaft; Felsbrocken, Bögen, scharfkantige Grate und gespenstische Hoodoos aus der Kreidezeit, kahl, furchteinflößend und fünfundsiebzig Millionen Jahre alt. Zum ersten Mal hatte die Bildhauerin der Frau von den Badlands erzählt – ’82, als sie in einer Schaffenskrise steckte und oft zwischen den surrealen Gesteinsformationen spazieren ging. Sie hatten sich vorgenommen, einmal zusammen hinzufahren. Aber natürlich wurde nichts daraus.
Rosa starrt durch die Windschutzscheibe auf den leeren Parkplatz. Sie klammert sich an die große Tasche mit Schminkzeug und Aurora-Rose-Outfits auf ihrem Schoß, und die Frau überlegt wieder, warum das Mädchen sich unwohl fühlt. Manche Menschen wittern ihre Bösartigkeit sofort wie Hunde einen Tumor. Andere brauchen Stunden, sogar Tage. Aber die meisten Menschen, denen sie begegnet, nehmen überhaupt nichts Ungewöhnliches an ihr wahr. Die Frau hatte das Mädchen der letzten Kategorie zugeordnet, aber vielleicht war das ein Irrtum.
Wir sind ganz alleine hier, sagt das Mädchen.
Keine Sorge, beruhigt sie die Frau. Das ist nur eine von mehreren Zugangsstellen. Auf den Wanderwegen treffen wir jede Menge Leute.
Rosa dreht der Frau das pausbäckige Gesicht zu. Die Klimaanlage ist mit dem Motor ausgegangen, und Schweiß glänzt auf dem getönten Make-up. Eine zarte, blaue Ader pocht in ihrer Schläfe, die geschminkten Lider schillern. Rosa scheint die Frau zum ersten Mal seit der Tanke richtig anzusehen. Sie runzelt die Stirn und sagt: Schaffst du die Wanderung überhaupt, Therese? Ich will dich nicht beleidigen, aber du siehst irgendwie … fertig aus.
Ich habe mich die ganze Nacht übergeben, sagt die Frau. Wahrscheinlich das Chili in TJ’s Diner.
Echt? Scheiße!
Heute Morgen war ich noch ein bisschen wackelig auf den Beinen, aber jetzt geht’s wieder.
Rosa wirkt nicht vollständig überzeugt. Die Frau spürt ihren Widerwillen, aus dem Wagen auszusteigen, und sagt: Wollen wir ein paar positive Gedanken ins Universum schicken? Uns die atemberaubenden Videos vorstellen, die wir machen, und die Millionen Abonnenten, die du damit anziehst?
Das Mädchen lächelt flüchtig, aber die Falte zwischen ihren Augenbrauen bleibt. Die Frau probiert es weiter.
Komm, wir stellen uns vor, wie dein Stern immer höher steigt, Rosa. Visualisieren, dass alle, die je gemein zu dir waren oder dich abgeschrieben haben, vollkommen unwichtig werden. Wenn du erst ein Internetstar bist, wirst du dich nicht mal mehr an ihre Namen erinnern.
Das scheint zu funktionieren. Rosas Augen leuchten bei dieser Prophezeiung, bei der Aussicht auf Aufstieg, Rache, Reichtum durch Klicks, bei der Aussicht, als Aurora Rose eine berühmte Marke zu werden. Denn Ruhm zählt für Rosa wie für die meisten Menschen zu den glitzerndsten Belohnungen des Lebens. Eine Folge der Sterblichkeit, vermutet die Frau. Der Wunsch, nach dem eigenen Tod weiter zu strahlen.
Rosa schließt die Augen, atmet ein paarmal tief durch. Öffnet die Augen wieder und lächelt die Frau an. Positive Gedanken abgeschickt, sagt sie.
Die Frau klatscht in die Hände. Bravo! Dann lass uns loslegen mit der großen Influencer-Show.
Das Mädchen öffnet die Beifahrertür und beschirmt beim Aussteigen die Augen gegen die gleißende Sonne. Das blaue Baumwollkleid ist zerknittert und klebt an ihren Schenkeln. Sie fasst nach hinten, um den Stoff von ihrer Haut zu lösen, hängt sich die große Tasche um und macht ein paar zögerliche Schritte in Richtung des Zauns und der meilenweiten, einsamen Wildnis dahinter.
Die Frau blickt in den Rückspiegel, sieht darin das halbdunkle Innere des Wagens, die Rückbank mit den durchgesessenen, gammeligen Polstern. Einen Augenblick lang ist das Bild scharf, dann verzerrt es sich an den Rändern. Fröstelnd öffnet sie die Fahrertür, steigt aus, blickt hinauf zum Himmel. Aber trotz der Schmerzen in ihrem meuternden Körper schickt sie keine positiven Gedanken, keinen Hilferuf ins Universum. Sie schlägt einfach die Fahrertür zu und geht zum Kofferraum, um ihren Rucksack und den Proviant zu holen.
Sigrid
Sie stand draußen vor dem S-Bahnhof. Groß, kurzgeschnittenes blondes Haar, grauer Hoodie, weite Jeans. Im ersten Moment war ich eingeschüchtert von ihrer Schönheit – klare Züge, hohe Wangenknochen wie ein Model, tiefblaue Augen. Aber die direkte Art, mit der Sigrid auf mich zuging und mir die Hand gab, ließ erahnen, dass sie keinen Wert darauf legte, ihre Weiblichkeit herauszukehren oder ihre Wirkung auf andere zu testen.
Willkommen in Marzahn, Jake.
Wir plauderten ein wenig über meinen Flug aus London. Sigrid hatte einen abgehackten deutschen Akzent mit harten Konsonanten. Als ich sagte, ich sei noch nie in Marzahn gewesen, lächelte sie trocken.
Dann nehmen wir die malerische Route.
Auf dem fünfzehnminütigen Weg durch staubige, schmutzige Straßen zu ihrer Plattenbausiedlung zeigte sie mir das Frauenhaus, in dem sie arbeitete, den Skatepark ihres Sohnes Tomo, ihr vietnamesisches Lieblingscafé und verdrehte unter einer Brücke mit Neonazi-Graffiti die Augen. Als wir hinter einem Flachbau aus DDR-Zeiten abbogen, fragte ich sie, warum sie in ein Viertel von Berlin gezogen war, das mein Reiseführer als »sozialen Brennpunkt mit hoher Kriminalität« beschrieb.
Weil ich pleite war natürlich. Als wir Japan 2011 verließen, stand ich mit leeren Händen da. Eigentlich wollten wir nur so lange bleiben, bis wir uns eine Wohnung in Treptow oder Neukölln leisten konnten. Aber dann bekam ich die Stelle im Frauenhaus, und Tomo gefiel es in seiner Schule.
Sie warf einen Blick auf die Betonwüste vor uns. Die Siedlung wirkte eigentlich ganz ansprechend, aber es war ein Frühlingsabend Ende April, und ich konnte mir gut vorstellen, dass es hier bei kaltem, grauem Wetter ziemlich trostlos und bedrückend war.
Ich kann deine Frage gut verstehen, sagte Sigrid. Meine Kreuzberger Freunde haben mich öfter besucht, als ich noch in Japan lebte.
In Sigrids Wohnung stellte ich meinen Rucksack in das Zimmer ihres Sohnes (Tomo studierte inzwischen in München), setzte mich auf das schmale Bett, in dem ich schlafen sollte, und sah mir die Poster von deutschen Fußballmannschaften und Profi-Skateboardern an. Der Jetlag vom Rückflug aus Japan steckte mir noch in den Knochen, und ich war ein bisschen desorientiert. Nach der Ankunft in London vor drei Tagen hatte ich gleich die Nummer auf dem Zettel aus dem Sky Gate Hotel angerufen. Sigrid war fassungslos gewesen, als ich ihr den Grund meines Anrufs schilderte. Sogar wütend. Voller Misstrauen gegenüber dem fremden Engländer, der erst von ihrer japanischen Schwägerin faselte und dann von den Todesumständen ihres verstorbenen Mannes. Ich nahm ihr die Drohung aufzulegen nicht übel.
Dann erzählte ich ihr von Lena. Lena, sagte ich, sei da gewesen, solange ich denken könne. Sie hatte in dem Wohnblock am Ende der Straße gewohnt, und da wir beide Einzelkinder waren, klammerten wir uns aneinander. Jeden Tag holte einer den anderen ab, um draußen zu spielen oder zusammen zur Schule zu gehen. Lena war ständig bei uns zu Hause, sah sich mit mir im Fernsehen Zeichentrickserien an, aß mit uns zu Abend (Lenas Mutter Corina setzte sie oft bei meinem Vater ab, bevor sie »einkaufen ging« oder »eine Freundin besuchte«, um ihre Tochter dann Stunden später sturzbetrunken wieder abzuholen). Als Lena in ihrer Teenagerzeit mit ihrer Familie brach, wurde ich ihr Kontakt für Notfälle und ihr nächster Angehöriger: derjenige, der sie in ihren Zwanzigern bei ihrem Kampf gegen die Drogen und bei ihren psychischen Problemen unterstützte. Sigrid hörte still zu, als ich von den grauenhaften Dingen erzählte, die Lena vor ihrem Tod zugestoßen waren. Von dem Tag, als sie sich mir anvertraut hatte und ich ihre Sorgen einfach nicht ernst nahm – ungeachtet der Dinge, die ich mit eigenen Augen gesehen hatte. Von den Schuldgefühlen, die seitdem an mir nagten.
Ich blickte auf die Uhr. Eine Stunde war vergangen, in der Sigrid kaum etwas gesagt hatte. Was dachte sie? Dass ich ein Spinner war? Unter Wahnvorstellungen litt?
Sigrid …?
Es gab eine Schweigepause, und ich befürchtete schon, sie hätte aufgelegt. Dann sagte sie: Kannst du nach Berlin kommen?
Wir aßen unser Abendessen – Thailändisch vom Imbiss – auf dem L-förmigen, gelben Sofa im Wohnzimmer, tranken Wein und verglichen unsere Erinnerungen an Kyoto, wo ich zwei Jahre gelebt hatte und Sigrid acht. Während des Gesprächs fiel mein Blick auf ein Foto an der Wand, von einem Japaner mit rasiertem Kopf und breitem, schiefem Lächeln.
Ist das Hiroji?
Ich erkannte die Ähnlichkeit mit Mariko (auch wenn sein Lächeln anders als bei seiner Zwillingsschwester echte Freude ausdrückte). Sigrid sah zu dem Foto.
Es wurde drei Jahre vor seinem Tod gemacht.
Er wirkt sehr charismatisch.
O ja, Hiroji war eine Urgewalt – voller Energie und Optimismus. Er war der lustige Elternteil und ich der strenge, der Tomo ins Bett schickte und die Süßigkeiten rationierte. Natürlich mochte Tomo seinen Vater lieber.
Sigrid griff nach ihrem Glas, trank mehr Wein.
Wie alt war Tomo, als Hiroji starb?
Sieben. Nach der Ankunft in Deutschland war er viele Monate lang in Therapie und litt jahrelang unter Albträumen. Ich hoffe wirklich, dass er durch die schrecklichen Erlebnisse nicht vergessen hat, wie sein Vater wirklich war.
Ganz bestimmt nicht, sagte ich.
Sigrid lächelte angespannt.