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Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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© 2020 novum Verlag
ISBN Printausgabe: 978-3-99064-787-5
ISBN e-book: 978-3-99064-788-2
Lektorat: Marie Schulz-Jungkenn
Umschlagfoto: Andreas Knüpfer
Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh
www.novumverlag.com
1945
Ich habe das Bedürfnis, über eine ungewöhnliche Frau, meine Großmutter, zu schreiben. Aber ich weiß nicht so recht, wo ich beginnen soll. Ich denke mir, ich beginne mit einem prägnanten Ereignis in den letzten Kriegstagen.
Kurz vor Kriegsende hatten wir keinen Schulunterricht mehr, worüber wir Kinder keineswegs traurig waren. Damals war ich gerade erst neun Jahre alt und freute mich sehr über die zusätzlichen Ferien. Vom Krieg als solches verstanden wir Kinder überhaupt nichts. Wir wussten auch nicht wirklich, worum es dabei ging – flüsterten uns aber hinter vorgehaltener Hand ins Ohr: „Den Krieg haben wir verloren!?“ Aber das durfte man nicht laut sagen. Solche Worte hatten wir von Erwachsenen gehört und plauderten nach, ohne sie wirklich zu verstehen.
Ich bat meine Mutter, die geschenkten Ferien bei meiner Tante Frieda auf dem Land verbringen zu dürfen. Hier verbrachte ich auch sonst immer meine Schulferien.
Ich war in Ratzeburg zu Hause, und meine Tante wohnte auf der „Bäk“, knapp drei Kilometer von uns entfernt. Diese Strecke musste ich zu Fuß gehen, was mir überhaupt nichts ausmachte. Für mich war nur eines wichtig, so schnell als möglich dorthin zu gelangen.
Helga, die jüngste Tochter meiner Tante, war in meinem Alter, wir verstanden uns ungewöhnlich gut, und darum war ich auch so gerne bei ihr.
Meine Mutter erlaubte mir, zu ihr zu gehen. Überglücklich wollte ich mich mit einer kleinen Tasche, die mir meine Mutter mit dem Notwendigsten gepackt hatte, sofort auf den Weg machen. Doch sie überraschte mich liebenswürdigerweise und sagte, dass sie mich mit dem Fahrrad zur Tante fahren wolle, damit ich die Tasche nicht den langen Weg tragen müsse. Sie wollte auch mit der Tante besprechen, wie lange ich bleiben durfte.
Tante Frieda war ihre Schwägerin, sie verstanden einander schon immer sehr gut, und meistens waren wir in den Schulferien bei ihr auf dem Land.
Helga und ich nahmen uns kaum Zeit zur Begrüßung, wir konnten es kaum mehr erwarten, draußen unterwegs zu sein. Jede Minute war kostbar für uns. Wenn es das Wetter erlaubte, waren wir den ganzen Tag im Freien an der frischen Luft. Bevorzugt tummelten wir uns auf der Wiese hinter dem Haus, auf der eine alte Weide stand, die wir als Baumhaus nutzten. Sie war nicht allzu hoch, sodass wir leicht hinaufklettern konnten und im alten Geäst bequem Platz zum „Wohnen“ hatten.
Zusätzlich war der kleine Bach, der nicht weit entfernt von der Weide durch die Wiese floss, bei uns sehr beliebt. Darin gab es massenhaft Kleingetier, was immer großes Interesse bei uns weckte. Besonders die kleinen Stichlinge hatten es uns angetan, und unsere Fantasie kannte keine Grenzen, sodass wir auch sofort eine Idee hatten, wie wir in Besitz eines so süßen kleinen Fisches kommen konnten.
Gemeinsam gingen wir ins Haus zur Tante, baten sie um ein Einsiedglas und eine Schnur, um damit einen der herzigen kleinen Fische zu fangen. Ungern gab sie uns ein Glas mit nach draußen, weil sie Angst hatte, es könnte zerbrechen und wir könnten uns daran verletzen. Um in den Besitz des Glases zu kommen, versprachen wir, gut aufzupassen.
Am Bach angekommen, banden wir die Schnur um den Rand des Glases, welches wir blitzschnell in die Höhe ziehen wollten, sobald sich ein Fisch darin befand. Wir legten uns am Rand des Baches auf den Bauch, versenkten das Glas im Wasser und warteten geduldig auf der Lauer, in der Hoffnung, dass ein Stichling hineinschwimmen würde. Zu unserer großen Freude brauchten wir nicht allzu lange zu warten, schon nach kurzer Zeit schwamm ein neugieriger kleiner Fisch ins Glas. Geschwind zogen wir es an der Schnur in die Höhe. Zu unserer großen Überraschung waren nicht nur der Fisch im Glas, sondern auch einige Kaulquappen, und wir waren sehr stolz über unseren gelungenen Fang.
Voller Freude liefen wir mit unserem „Aquarium“ zur Tante ins Haus, um ihr unseren großartigen Fang zu zeigen. Sie bewunderte den Stichling, meinte dann aber: „Es ist besser, wenn ihr ihn wieder freilasst, da er sonst nicht lange überleben wird.“ Helga und ich waren ein wenig enttäuscht über ihre Aussage, wir wollten ihn auf keinen Fall sofort wieder freilassen, und so kamen wir zu dem Entschluss, ihn tagsüber bei uns zu behalten, aber damit er nicht sterben musste, wollten wir ihn am Abend wieder in den Bach zu seiner Familie zurückbringen. Der Fisch hat den Tag tatsächlich überlebt.
Ständig waren wir auf der Suche nach neuen Abenteuern. Die meisten Leute in unserer näheren Umgebung kannten uns schon. Solange wir nichts anstellten, duldeten einige Nachbarn auch, dass wir durch ihre Gärten streiften. Es kam auch vor, dass wir verjagt wurden, aber das machte uns überhaupt nichts aus, wir gingen eben woandershin.
Ein Garten hatte es uns besonders angetan, weil sich darin noch ein alter, gemauerter Backofen befand, in dem in früheren Zeiten Brot gebacken worden war. Unsere Vorstellung war, hier könnte sich das Märchen von Hänsel und Gretel zugetragen haben. In unserer Fantasie sahen wir das Geschehen und wurden das sonderbare Gefühl nicht los, dass die Hexe sich hier sicher noch irgendwo im Gebüsch versteckt halten könnte – und uns beobachtete.
Ein anderes Mal spielten wir Familie. Dafür brauchten wir aber ein Kind, und hierfür musste Tante Friedas Hauskatze herhalten. Wir zogen ihr Puppenkleider an und banden ihr ein Hauberl auf den Kopf, was ihr überhaupt nicht gefiel. Zu allem Übel wurde sie auch noch in den Puppenwagen gesteckt. Nach dieser Aktion waren wir immer ganz schön zerkratzt, weil die Katze nicht freiwillig stillhielt. Und um die Katze im Wagen zu halten, drückte ich sie mit der einen Hand nieder, damit sie nicht herausspringen konnte, und mit der zweiten Hand schob ich den Wagen. So konnte ich nur in gebückter Haltung vorankommen.
Bei der kleinsten Unaufmerksamkeit nahm die Katze ihre Chance wahr, sprang aus dem Puppenwagen, um zu verschwinden. Es war schon ein lustiger Anblick, die Katze in Jäckchen und Hauberl durch die Gegend flitzen zu sehen, bis die Tante sie wieder aus ihrer misslichen Lage befreite. Die Katze nahm in weiterer Folge schon Reißaus, wenn sie uns nur von Weitem sah. Ich glaube, sie mochte uns nicht mehr, dabei meinten wir es so gut mit ihr.
Bei all unseren Aktivitäten vergaßen wir sogar das Essen. Nur wenn uns der Hunger zu sehr plagte, machten wir uns auf den Heimweg, um ihn zu stillen. Meine Tante kochte den besten Eintopf der Welt, den man sich nur vorstellen konnte. Außerdem war es ein Gericht, das man schnell aufwärmen konnte, da Tante Frieda ja nie sicher wusste, wann wir zum Essen vorbeikamen. Wir verschwendeten kaum Zeit damit, unseren Hunger zu stillen, und machten uns augenblicklich wieder auf den Weg – zu neuen Abenteuern.
Wenn es uns zwischendurch einmal nach einer Jause gelüstete, schauten wir auf einen Sprung bei unserer Uroma vorbei, die in der nächsten Ortschaft wohnte, in einer längeren Häuserzeile, wo in allen Fenstern die gleichen Blumentöpfe mit roten Geranien standen, die uns schon von Weitem entgegenleuchteten.
Gerne kamen wir zwischendurch zu ihr auf Besuch. Sie buk nämlich, unserer Meinung nach, das allerbeste Milchbrot, was esauf der Welt gab. Es war auch sonst sehr gemütlich bei ihr, und sie ließ uns nur in die gute Stube, wenn wir vorher die Schuhe ausgezogen hatten. Wir nahmen brav auf dem alten roten Plüschsofa Platz. Uroma benutzte extra für uns ihre schönen Teller mit dem Veilchenmuster, um uns das Milchbrot darauf zu bringen, das wir so gerne bei ihr aßen, und dazu gab es ein Glas Milch.
Unsere Uroma war eine gebürtige Schwedin, die nach Deutschland ausgewandert war. Wir liebten sie beide sehr – und sie uns. Sie war ein sehr ruhiger ausgeglichener Mensch, und wir fühlten uns immer besonders wohl bei ihr. Wahrscheinlich, weil wir zwei unruhigen Geister das exakte Gegenteil waren.
Als wir alle drei gemütlich bei Tisch saßen, fragte sie uns, was wir denn heute schon alles unternommen hätten. Ich fragte an Stelle einer Antwort: „Uroma, was sind das für Männer da draußen in Uniform?“, die ich von meinem Fensterplatz aus vorbeifahren sah. „Sie fahren alle auf Fahrrädern!“, sagte ich. Uroma stand auf, um aus dem Fenster zu schauen, damit sie verstand, wovon ich sprach.
„Um Gottes willen!“, rief sie, „die Männer in den grauen Uniformen schauen aus wie russische Soldaten!“
„Was sind Russen?“, fragten Helga und ich wie aus einem Mund.
„Das sind Soldaten“, antwortete sie. „Und was machen die hier?“, fragten wir. Sie kam nicht mehr zum Antworten, denn im selben Augenblick klopfte es heftig an der Tür. Uroma öffnete, und meine Mutter stand im Türrahmen und sagte sehr aufgeregt: „Edith, du musst sofort mit mir nach Hause fahren, bevor die Grenze zur Bäk geschlossen wird.“ Sie war so aufgeregt, dass sie sogar das Grüßen vergessen hatte, und schilderte ihrer Oma sehr emotional, was geschehen war.
„Die Russen marschieren gerade ein! Bis zum Abend soll die Grenze zu euch geschlossen werden! Ich muss mit Edith unbedingt noch rechtzeitig zurück nach Ratzeburg!“, sagte sie aufgeregt. Meine Uroma erschrak, und ich fing laut an zu heulen, weil ich nicht mit meiner Mutter nach Hause wollte, wo es hier doch gerade so schön war. Helga stand stumm daneben und sagte kein Wort. Sie hatte auch nicht verstanden, worum es hier eigentlich ging.
Meine Mutter umarmte und küsste ihre Oma ganz fest und verabschiedete sich von ihr und Helga, sagte aber noch: „Wenn es eine Möglichkeit gibt, lassen wir von uns hören! Und grüße den Opa noch von mir!“ Danach sagte sie zu mir, dass auch ich mich verabschieden möge, weil uns die Zeit sonst zu knapp werden würde. Ich tat, wie mir geheißen, und trottete weinend hinter ihr her.
Meine Mutter war mit dem Fahrrad gekommen, und ich setzte mich hinter sie auf den Gepäckträger. Bevor wir losfuhren, drehten wir uns noch einmal um, um Urgroßmutter und Helga zu winken, die weinend in der Eingangstür standen.
Der Weg nach Ratzeburg war mit dem Fahrrad schnell bewältigt. Die drei Kilometer hätte meine Mutter in einer viertel Stunde schaffen können, wenn nicht auf halber Strecke ein ziemlich lang ansteigender Berg gewesen wäre, den wir zu Fuß gehen mussten. Eine lange Reihe fremder Soldaten ging an uns in entgegengesetzter Richtung vorbei. Sie flößten uns schon ein wenig Angst ein, die fremden Männer. Oben am Berg angekommen, setzten wir unsere Fahrt auf dem Fahrrad fort. Meine Mutter trat ganz fest in die Pedale, um schnell aus diesem etwas unheimlichen Gebiet herauszukommen. Es hätte ja sein können, dass wir aufgehalten worden wären und man uns ohne Weiteres dabehalten hätte. Genau davor fürchtete sich meine Mutter.
Aber wir hatten einen Schutzengel dabei und sind unbeschadet nach Hause gekommen. Wir fuhren direkt zu meiner Oma, wo auch mein jüngerer Bruder Dieter während unserer Abwesenheit voller Sorge auf unsere Rückkehr wartete.
Meine Mutter berichtete ihrer Mutter über den letzten Stand der Dinge. Nun machte meine Oma sich logischerweise Sorgen um ihre alten Eltern. Uropa habe ich noch nicht erwähnt, weil er bei dem, was geschehen war, nicht anwesend gewesen war.
Die Urgroßeltern waren beide noch rüstig für ihr Alter, aber dass nun jeder Kontakt zu ihnen durch neue Grenzen unterbrochen werden sollte, beunruhigte meine Oma sehr. Sie erzählte meiner Mutter, was sich tagsüber in Ratzeburg zugetragen hatte. „Hier sind die Engländer einmarschiert, wer weiß, was uns hier erwartet?“, sagte sie verängstigt.
Wir sollten es schon bald erfahren. Als Erstes wurde eine Ausgangssperre verordnet, die allerdings schon nach kurzer Zeit wieder aufgehoben wurde. An einem anderen Tag hieß es, dass sich alle Männer im Ort innerhalb kürzester Zeit auf dem Marktplatz zu versammeln hätten. Dazu gehörte auch mein Opa. Diese Männer sollten nach England in Gefangenschaft überstellt werden, hieß es.
Meine Oma war völlig außer sich, sie hatte ihre drei Söhne im Russlandfeldzug verloren, und nun wollte man ihr auch noch den Mann wegnehmen. Dafür hatte sie kein Verständnis. Sie versammelte einige Frauen, die in der gleichen Lage waren, um sich, und sie marschierten gemeinsam auf den Marktplatz, wo sie den Kommandanten weinend um Gnade für ihre Männer baten. Diese saßen bereits auf den Lastwagen und erwarteten ihren Abtransport in die Gefangenschaft.
Einige Soldaten wollten die lästigen Frauen sofort vertreiben. Aber diese waren hartnäckig, blieben standhaft und wichen keinen Schritt zurück, sodass die Situation für die Soldaten peinlich wurde. Sie wussten nicht recht, was sie mit den Frauen anfangen sollten. Der Kommandant zog sich mit einigen Soldaten in die Kommandantur zur Beratung zurück. Es dauerte nicht lange, bis sie wieder erschienen und ein Dolmetscher seinen Entschluss kundtat.
Männer, die ein gewisses Alter überschritten hatten, durften die Autos verlassen und nach Hause gehen. Mein Opa war Gott sei Dank auch dabei.
Nun brach die Zeit der ganz großen Veränderung für ein ganzes Volk an. Alles drehte sich ausnahmslos nur noch um die Beschaffung von Nahrungsmitteln, und der Schleichhandel begann zu blühen. In dieser extrem schlechten Zeit wuchs meine Großmutter über sich selbst hinaus. Sie war auf dem Gebiet eine echte Beschaffungskünstlerin – schließlich hatte sie eine größere Familie zu versorgen. Bei meinen Großeltern lebte ein älterer Cousin von mir namens Otto. Er war Vollwaise, wurde von ihnen aufgenommen und versorgt. Zusätzlich versorgte Oma meine Mutter, meinen Bruder, mich und meine Tante – die ältere Schwester meiner Mutter, die in Hamburg ausgebombt worden war. Immerhin waren wir sieben Personen, die sie ernährte.
Die gesamte Bevölkerung bekam jetzt Lebensmittelkarten zugeteilt, mit denen man mehr schlecht als recht überleben konnte, aber nie wirklich satt wurde. Hunger kann ganz schön wehtun, und dem sind wir dank der aufopfernden Unterstützung unserer lieben Oma einigermaßen entgangen.
Eine zusätzliche Sorge blieb noch der Kontakt zu ihren alten Eltern auf der Bäk. Die Grenze verlief oberhalb des Ratzeburger Waldes, wo sich an einem Spitz die Straße teilte. Die linke ging in die Bäk und die rechte nach Mechow. An besagtem Spitz befand sich ein kontrollierter Schlagbaum, von wo aus man jetzt nicht mehr über den gewohnten Weg zu meiner Uroma gelangen konnte. Es gab nur einen Weg zu ihnen – den um den See im Schilfgürtel.
Dazu muss ich sagen, dass meine Großeltern in einem Haus der Domgemeinde wohnten, das ganz dicht am See lag, gegenüber der Bäk. In diesem Haus waren auch Flüchtlinge aus Pommern sowie meine ausgebombte Hamburger Tante untergebracht. Jetzt trennte uns faktisch der Ratzeburger See von einem Teil unserer Verwandtschaft. Das Haus sollte noch wegen seiner extrem günstigen Lage zu einer wichtigen Anlaufstelle für Flüchtlinge aus der sowjetischen Besatzungszone werden.
Wer von der Familie würde nun den riskanten Weg um den See im Schilfgürtel in die russisch besetzte Zone wagen? Schließlich wollten wir in Kontakt mit unseren Urgroßeltern bleiben und wollten wissen, wie es ihnen ging. Meine Mutter erklärte sich sofort für diesen Gang bereit, was meiner Oma natürlich missfiel. Das Risiko, erwischt zu werden, war immer gegeben, und was ihrer Tochter dann passieren würde, wollte sie sich lieber nicht ausmalen.
„Ich kann sie ja begleiten und beschützen!“, mischte sich Otto ins Gespräch, und meine Mutter fand die Idee großartig. Aber meine Oma war anderer Meinung. „Was ist ein noch nicht ganz elfjähriger Bub für ein Schutz?“, fragte sie etwas lautstark. Alle waren still. Doch Otto war hartnäckig und wahrscheinlich auch ein wenig abenteuerlustig. Er meinte: „Wir sind im Schilf gut versteckt. Doch sobald wir aus dem Schilf herauskommen, dürfen wir nicht die Hauptstraße nehmen, sonst würden sie uns sofort erwischen. Aber auf dem Feldweg werden sie uns nicht sehen! Die Tante soll einfach alte Kleider anziehen und ein Kopftuch umbinden, damit sie nicht zu jung aussieht!“
Nach langen Debatten ließ sich meine Großmutter in der Hoffnung überreden, dass alles gut gehen würde.
Sie hatte inzwischen vom Hörensagen erfahren, dass ein gewisser Mangel an Salz und Essig auf dem Lande herrschte. Gott weiß, warum – aber es war so. Ausgerechnet dort, wo diese beiden Haltbarmacher am meisten gebraucht wurden – zum Einkochen und Pökeln von Fleisch.
Also organisierte meine Oma Essig und Salz für die Verwandten auf dem Lande, sodass meine Mutter und Otto dieses auf dem Weg zu den Urgroßeltern mitnehmen konnten. Was sie selber nicht brauchen würden, sollten sie an andere Verwandte im Ort weitergeben.
In sehr unauffälliger Kleidung machten sich Otto mit einem Rucksack und meine Mutter mit einer nicht allzu großen Tasche mit Essig und Salz an einem späten Sonntagvormittag aufden Weg mit dem Hintergedanken, dass die Wachposten in der Mittagszeit ein wenig unaufmerksamer oder träger vom Essen sein würden. Diese Strategie hatten sie sich zurechtgelegt in der Hoffnung, dass es funktionieren sollte. Und wir warteten ungeduldig und nervös auf ihre baldige Rückkehr.
Das Glück war ihnen hold, und schon kurz nach Einbruch der Dunkelheit waren sie unbeschadet wieder nach Hause zurückgekehrt. Unsere Freude war unvorstellbar, besonders die meiner armen Oma, die sich so unendlich große Sorgen um ihre Eltern gemacht hatte, sodass sie sogar des Öfteren schlaflose Nächte gehabt hatte. Nun erhielt sie endlich die erlösende Nachricht und war heilfroh zu hören, dass sie gesund waren und es ihnen gut ging.
Die andere Überraschung war, dass sie Tasche und Rucksack prall gefüllt mit Lebensmitteln – Eier, Schinken und Speck – retour brachten. Wir konnten unser Glück kaum fassen, diese wunderbaren Schätze konnte man nicht mit Gold aufwiegen. „An Hunger scheinen die drüben nicht zu leiden, wenn sie uns solche Mengen an Lebensmitteln schenken können!“, meinte meine Oma.
„Ihr könnt euch aber nicht vorstellen, wie wichtig das Salz für sie war“, antwortete meine Mutter. „Also ergibt sich aus der Situation für uns ein Tauschgeschäft“, sagte Oma. „Aber nun möchte ich noch von euch wissen, wie es euch auf eurem Schleichweg ergangen ist?“, fragte Oma. „Das Unangenehmste auf dem Weg im Wasser waren die nassen Füße, wir konnten sie erst bei Uroma ein wenig trocknen, und sie hat uns sofort mit heißem Tee versorgt. Ansonsten geht es den Urgroßeltern gut – wie immer. Sie haben genug zu essen, und deine Nichte, die ja in ihrer Nähe wohnt, schaut regelmäßig nach ihnen“, sagte meine Mutter. „Das beruhigt mich sehr“, freute sich meine Oma. „Wie hat es drüben mit Soldaten ausgesehen?“, wollte Oma noch wissen. „Zum Glück sind uns keine Soldaten direkt begegnet, weder beim Hin– noch beim Herweg. Aber wenn sie erst einmal die gesamte Gegend erfasst haben, wird es nicht mehr so leicht wie augenblicklich sein, die Grenze unbemerkt zu umgehen. Momentan kennen sie die einzelnen Leute in den Ortschaften sicher noch nicht so genau. Aber sind sie erst einmal länger anwesend, fällt ihnen natürlich jedes fremde Gesicht sofort auf“, meinte meine Mutter etwas besorgt. „Darum können Otto und ich den Grenzgang noch einmal wagen, bevor es zu spät ist“, fand meine Mutter. „Wollt ihr dieses Risiko wirklich noch einmal eingehen?“, fragte meine Oma zögerlich. „Besorge noch einmal Essig und Salz und wir bringen es ein zweites Mal zu den Urgroßeltern“, sagte meine Mutter, und Otto war ganz ihrer Meinung.
Nur zwei Tage später machten sie sich schon wieder auf den Weg in die Bäk. Sie wollten die Chance noch einmal nutzen, bevor da drüben Ordnung herrschte. Aber schon nach der kurzen Zeit von zwei Tagen war alles anders. Es begegneten ihnen des Öfteren Soldaten, und sie hatten ein recht mulmiges Gefühl bei ihrem Anblick. Im Gegensatz zum ersten Mal machte sich ein Unbehagen bei ihnen im Innern breit, und sie waren froh, als sie wieder problemlos zu Hause ankamen mit ihren angefüllten Taschen sowie dem Rucksack.
Nachdem meine Mutter und Otto Oma von der brenzligen Situation der Anwesenheit von Soldaten erzählt hatten, sagte Oma energisch: „Jetzt ist Schluss, und ich will nicht mehr, dass ihr diesen Weg geht, es ist zu gefährlich, und für eine Frau überhaupt!“ Meine Mutter verstand die Sorge ihrer Mutter und war ganz ihrer Meinung, weil sie selber nicht mehr wollte. Ihr Gefühl hatte ihr gesagt, dass es besser wäre, kein unnötiges Risiko einzugehen oder etwas herauszufordern.
Aber Otto war anderer Meinung und sagte: „Alleine kann ich zwar nicht so viel tragen, aber wenn ich alle paar Wochen hinübergehe, bringt es für beide Seiten immer noch genügend Vorteile, und der Kontakt zu den Urgroßeltern bleibt so auch erhalten. Ein Junge in meinem Alter allein fällt kaum auf.“ „Darüber muss ich erst nachdenken“, meinte meine Oma ein wenig zögerlich.
Otto hatte meine Oma von seinem Vorschlag überzeugt, und schon zwei Wochen später war er mit einer kleineren Tasche – gefüllt mit Salz – alleine unterwegs. Meine Mutter hatte Wort gehalten und war nicht mehr auf den Schmuggelpfad mitgegangen. Es wäre einer Herausforderung des Schicksals gleichkommen, und das wäre es trotz der guten Lebensmittel nicht wert gewesen.
Also ging Otto den Weg zum ersten Mal alleine, und er machte sich schon ganz zeitig in der Früh auf den Weg. Er hatte die Absicht, schon am frühen Nachmittag wieder zu Hause zu sein. Aber leider war dem nicht so, und unsere Ängste waren berechtigt.
Tatsache war, dass dieses Mal alles anders verlaufen sollte, als er erwartete. Otto ging seinen üblichen Schleichweg entlang der Felder, bis er sich dem Waldstück näherte, in das er unbemerkt wieder verschwinden wollte. Von dort wollte er den Weg zum See nehmen, um danach im Schilf unterzutauchen.
Er war ganz in Gedanken, als plötzlich, wie aus dem Nichts, einige Soldaten an ihm vorbeipatrouillierten. Ein Schreck fuhrihm durch die Knochen, aber er ging ganz ruhig weiter und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Doch einer der Soldaten hatte wahrscheinlich seinen Schreckensmoment mitbekommen, er drehte sich um und winkte Otto mit dem Zeigefinger zu sich heran. Was blieb ihm anderes übrig, als zu tun, was von ihm verlangt wurde. Dann deutete der Soldat auf seine Tasche und wollte hineinschauen. Otto tat, wie ihm geheißen, und öffnete sie, und der Soldat strahlte übers ganze Gesicht über den leckeren Fang und nahm ihm die Tasche mit den Eiern weg. Dann versuchte er, ihm einige Fragen zu stellen: „Woher du kommen, wo du wohnen, woher Eier?“
Otto stellte sich dumm und tat, als ob er ihn nicht verstünde. Aber dieser glaubte ihm natürlich nicht und meinte, dass er erst einmal mitkommen solle. Also trottete Otto gezwungenermaßen hinter ihm her. Unterwegs deutete der Soldat mit der Hand auf Ottos Kopf und sagte: „Du dumm, du Locken, wir kennen dich immer wieder, besser Glatze schneiden“, und machte sich lustig über ihn. Überlegen spielte er mit Otto ein wenig Katz und Maus.
Nach kurzem Weg ging er direkt auf einen Stall zu – es war ein Schweinestall, in den er Otto kurzerhand einsperrte. Dann sagte er noch zu ihm: „Komme wieder – komme dich holen – später, verriegelte die Tür und ging.
Als sich Otto von dem ersten Schreck erholt hatte, ließ er seine Blicke umherschweifen, wo er sich genau befand, was dem Gestank nach nicht schwer zu erraten war – im Schweinestall! Er hatte nur den einen Gedanken, aus diesem Stall so schnell als möglich zu entfliehen. Aber warum hatte der Soldat ihn ausgerechnet hier im Stall eingesperrt, anstelle ihn sofort zu verhören, fragte er sich. Dann kam ihm der glorreiche Gedanke – weil er die Mittagsglocken läuten hörte, wollte der Soldat seine Mittagspause seinetwegen wahrscheinlich nicht opfern, und schon überhaupt nicht wegen eines dummen Jungen. Den konnte er ja immer noch nach der Mittagspause verhören, der lief ihm sicher nicht davon.
Aber dieser Gedanke sollte ein Fehler sein.
Denn Otto hatte nur eines im Kopf – die Flucht. Darum wollte er die Pause zum Entkommen nutzen. Dass es kein leichtes Unterfangen war, war ihm bewusst, wenn er sich im Stall umschaute. Darum stand er auch unter höchster Anspannung und konnte kaum einen klaren Gedanken fassen, weil er zusätzlich noch unter Zeitdruck stand. War die Mittagspause vorüber, dachte er, würde der Kerl sicher bald wieder auftauchen und sich seinen Spaß mit ihm erlauben, deshalb auch der immense Zeitdruck.
Er schaute sich den Stall noch einmal genauer an, wo er einen Ausweg entdecken konnte. Die Tür hatte er schon einige Male geprüft, aber leider war sie zu gut verriegelt und es gab keine Möglichkeit, sie aufzubrechen ohne passendes Werkzeug dafür. Zwischendurch grunzten die Schweine in ihren Ferchen, die sich von ihm gestört fühlten, weil er ihnen fremd war. Otto ließ sich davon nicht beeindrucken und suchte weiter nach einer Chance, zu entkommen.
Sein Blick fiel wieder auf die beiden kleinen Fenster, die sich an der einen Außenwand befanden, aber nicht allzu hoffnungsvoll erschienen. Doch waren sie wahrscheinlich der einzige Weg nach außen. Also musste er sich mit dem Gedanken anfreunden, wie er sich durch das kleine Fenster zwängen sollte. Eine andere Möglichkeit, zu entkommen, gab es leider nicht.
Er sah sich die Fenster erst einmal genauer an, weil sie auch noch ein wenig erhöht lagen und das Durchzwängen erschwerten. Otto war der Verzweiflung nahe, weil ihm die Zeit davonlief und er dadurch die Angst immer im Nacken hatte. Aber nur eines der beiden Fenster war der Weg in die Freiheit. Außerdem musste er auch noch zuerst die Scheibe einschlagen, um sich dann geschwind durch die kleine Öffnung zu zwängen, und er hatte noch keine Ahnung, wie er das anstellen sollte. Natürlich würde das Einschlagen der Scheibe einen Lärm verursachen, der wahrscheinlich von der Mannschaft gehört werden und diese dann sofort auf ihn Jagd machen würde. Wenn das Risiko auch noch so groß war, leider gab es keinen anderen Ausweg.
Um die Mittagszeit war es rundherum totenstill, und da würde jedes ungewöhnliche Geräusch noch viel leichter wahrgenommen werden als sonst. Auch die Schweine im Stall verhielten sich ruhig, und es war nicht zu erwarten, dass sie eventuell lautere Geräusche von sich geben würden. Ihm war bewusst, dass er sehr schnell handeln musste und nicht mehr allzu lange überlegen durfte, weil er damit rechnen musste, dass die Mittagspause sonst um war und er dann zum Verhör abgeholt werden würde.
Sein Entschluss stand fest, jetzt oder nie!
Der passende Gegenstand zum Zertrümmern der Fensterscheibe fehlte ihm aber noch und er machte sich sogleich auf die Suche danach. Er entdeckte an der Wand gelehnt eine Mistgabel mit einem starken Stiel. Er dachte: „Die müsste reichen zum Einschlagen der Scheibe, genau, was ich für diesen Zweck brauche.“
Damit er höher stand, stellte er sich auf einen Rand der Ferche, die zur Trennung der Schweineabteile diente. So war er dem Fenster ganz nahe, damit der Ablauf des Vorganges schnellstmöglich vonstattengehen und er so geschwind als möglich sich durch das kleine Fenster zwängen konnte.
In Gedanken hatte er sein Vorhaben einige Male durchdacht, bevor er es in die Tat umsetzte. Schnell schlug er die Scheibe halbwegs sauber aus dem Rahmen, um eine Verletzungsgefahr möglichst gering zu halten. Natürlich machte das Einschlagen der Scheibe einen Höllenkrach. Dann zwängte er sich so schnell er konnte, mit Händen und Kopf voran, durch den engen Fensterrahmen. Schlank, wie er war, gelang es ihm halbwegs, durchzurutschen, und er fing den Gleitsturz so gut er konnte mit den Handballen ab, was ihm aber im Handrücken heftige Schmerzen verursachte, um die er sich jetzt nicht kümmern konnte.