Oma zieht es in die Ferne - Waltraud Kirschke - E-Book

Oma zieht es in die Ferne E-Book

Waltraud Kirschke

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  • Herausgeber: TWENTYSIX
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Hamburg im Frühjahr 2013. Im Harburger Binnenhafen legt ein Wohnschiff an, das Geflüchtete aufnehmen soll. Doch die so genannte "Gruppe Lampedusa" weigert sich, auf dem Schiff zu wohnen, aus Angst, über Nacht damit nach Italien zurückgefahren zu werden. Statt dessen interessieren sich eine ganze Menge anderer Leute für das Schiff. Zum Beispiel einige Senioren aus dem nahe gelegenen Altenheim, die schon lange auf eine Chance warten, endlich aus dem Heim auszubrechen. Allen voran die hochbetagte, aber immer noch unternehmungslustige Rita. Auch einige Geflüchtete verschiedenster Kultur und Religion und andere höchst unterschiedliche Leute gesellen sich - die einen absichtlich, und die anderen zufällig - zu der bunt zusammengewürfelten Truppe. Aber als das Schiff gekapert wird, wird aus dem Wohnungswechsel ein Abenteuer. Und als die Reisenden über einige Umwege an zwei wertvolle gestohlene Gemälde geraten und ihr Leben auf dem Schiff mit dem Verkauf von Marihuana finanzieren, beginnt ein spannender Wettlauf mit der Polizei.

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Seitenzahl: 442

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

in dem schwarzer Qualm aus einem Küchenfenster quillt, eine Menge Geld, Schmuck und ein Gebiss im Mittelmeer versenkt werden, ein Rollstuhl mit Räucheraroma imprägniert wird, aus kleinen Samen große Pflanzen wachsen, und Ahnen und andere Götter eine Menge zu tun bekommen

Kapitel 2

in dem neunzehn Senioren, achtzehn Flüchtlinge, ein Pastor, ein Psychologe, ein Arzt, ein Hund und eine Hanfplantage auf einem Schiff einziehen, ein Mitarbeiter der Behörde die Krise bekommt, und eine junge Journalistin ein Verbrechen enthüllen will und dabei unglaubliche Dinge erlebt

Kapitel 3

in dem ein Schiff entführt wird und gleich darauf vor einem Gefängnis strandet, der Leser einiges über eine vergangene Einbrecherkarriere erfährt, siebentausendfünfhundert Gramm hochwertiges Marihuana und zwei wertvolle Bilder gute Verdienste versprechen, und eine Vision Gestalt gewinnt.

Kapitel 4

in dem ein Fähnchen auf einem Spazierweg einen Hinweis gibt, ein alter Rechtsradikaler noch in der Vergangenheit lebt, die Polizei im Bürgerpark von Bremerhaven ausgetrickst wird, zwei Ohnmachtsanfälle aus gutem Grund passieren, und ein abenteuerlicher Plan gefasst wird

Kapitel 5

in dem die Fahrt von Bremerhaven nach Borkum weitergeht, ein alter Mann eine heilsame Begegnung mit einem verschütteten Bunker hat, eine alte Frau auf den Geschmack des Drogenverkaufens kommt, ein Leuchtturm eine bedeutende Rolle spielt, und die Polizei immer ratloser wird.

Kapitel 6

in dem ein Schleusenwärter eine halbe Stunde zu spät eine wichtige Information erhält, ein Dampfschiff Grachtenrundfahrten macht, ein alter Museumsdirektor eine Idee für die nächste Ausstellungssaison findet, ein Walross eine Flasche Sekt mitbringt, und die besten Eingebungen im Fitnessstudio kommen

Kapitel 7

in dem gute Kontakte zur korsischen Mafia geknüpft werden, das zweite Bild sich ganz anders verkauft als das erste, eine Versöhnung gefeiert wird, eine Meeresbrise dafür sorgt, dass die Pfleger im Handumdrehen eine Ausbildung bekommen, und eine ganze Menge E-Mails die Runde machen.

Kapitel 8

in dem ein alter Mann heimlich vom Schiff geholt werden soll, ein Übersetzungsprogramm Blödsinn produziert, ein Schlaganfall auch seine guten Seiten hat, ein Enkelsohn mit vierzig Jahren das schönste Geschenk von seinem Großvater bekommt, Familien zusammengeführt werden, und einige neue Leute an Bord kommen

Kapitel 9

in dem sich die Segnungen des Internets zeigen, einige bürokratische Stolpersteine erfunden werden, ein weiteres Schiff seinen Besitzer wechselt, ein Dachgarten geplant wird, eine Bürgerinitiative mit einem einzigen Mitglied gegründet wird, und die Elbphilharmonie in die Luft gesprengt werden soll

Kapitel 10

in dem Waschpulver geklaut wird, die SOKO ausgedient hat, aber trotzdem weiter existieren muss, geheimnisvolle Nachtwanderungen auf dem Schiff geschehen, ein Entsafter zu einer Zeitbombe umgebaut werden soll, und eine vergessliche alte Dame sich in der Zimmertür irrt – was weitreichende Folgen hat

Kapitel 11

in dem ein Tag schon heiß anfängt, eine Gutachterin weiche Knie bekommt, ein Horoskop ausnahmsweise einmal Recht hat, eine Besichtigung stattfindet, ein Auto in die Luft fliegt, die Polizei zu spät kommt, ein unerwarteter Seitenwechsel die Rettung in letzter Sekunde ist, und das Seniorenschiff zu neuen Ufern aufbrechen kann

Epilog

Kapitel 1

in dem schwarzer Qualm aus einem Küchenfenster quillt, eine Menge Geld, Schmuck und ein Gebiss im Mittelmeer versenkt werden, ein Rollstuhl mit Räucheraroma imprägniert wird, aus kleinen Samen große Pflanzen wachsen, und Ahnen und andere Götter eine Menge zu tun bekommen

Der sonnige Tag im Herbst, an dem sich die grundlegenden Veränderungen in Ritas Leben zum ersten Mal deutlich abzeichneten, war ideal zum Spazierengehen. Die Sonne schien schräg durch die Alleebäume und beleuchtete das unregelmäßige und unebene Kopfsteinpflaster – und auch die Gegenstände auf dem Weg, nach denen Rita suchte. Die Luft war neblig und etwas feucht, ein leichter Wind wehte Altweibersommerfäden durch die Luft, und auf den Büschen am Wegrand lagen silbrig glänzend die fein gesponnenen Kunstwerke von vielen kleinen fleißigen Spinnen.

Rita war eine zierliche Person. Sie gehörte zu den Frauen, die mit dem Alter nicht groß und dick, sondern eher klein und schrumpelig werden.

Vor ein paar Tagen hatte sie ihren neunzigsten Geburtstag gefeiert, und sie war stolz darauf, immer noch jeden Tag mit dem Rollator ihre Runden drehen zu können.

In ihren besten Jahren – also vor etwas mehr als einem halben Jahrhundert – war Rita Biologielehrerin gewesen. Sie hatte sich für den Erhalt seltener Pflanzen eingesetzt, und – in einer Zeit, als das Wort „Umweltschutz“ noch gar nicht erfunden war – dafür gekämpft, dass Müll nicht einfach auf Müllhalden gekippt wurde. Hätte es damals die Partei der Grünen schon gegeben, wäre sie höchstwahrscheinlich Parteimitglied geworden. Mittlerweile hatte sie ihre Aktivitäten aus Altersgründen eingeschränkt. Trotzdem war sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten immer noch in Sachen Umweltschutz aktiv. Auch heute, an diesem sonnigen Herbsttag. Im Grunde war das auch der eigentliche Anlass für ihren Spaziergang.

Die Reifen des Rollators waren nur unzureichend aufgepumpt.

Immer wieder blieb das mit zwei vollen Plastiktüten behängte Gestell stehen, weil die kleinen Räder sich querstellten und zwischen den Steinen verkeilten. Rita gab dem Rollator einen kräftigen Stoß, und er sprang mit einem Satz nach vorne. Für einen kurzen Moment verlor sie fast den Halt, und beinahe hätte sie sich der Länge nach hingelegt. Das hätte gerade noch gefehlt! Die alte Dame strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn, die genauso silbrig glänzte wie die Spinnweben auf dem Gebüsch. Als sie wieder sicher auf ihren Beinen stand und aufschaute, sah sie das Hundehäufchen am Rand des Weges – genau das Kaliber, das sie suchte, um ihre Botschaften an unachtsame Hundehalter zu verteilen.

Ein spitzbübisches Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Sie griff in eine der Plastiktüten und holte eine kleine Fahne heraus.

Dutzende davon hatte sie in den letzten Tagen gebastelt – aus Schaschlikspießen und buntem Papier. „PFUI“ stand in dicken schwarzen Großbuchstaben auf dem kleinen roten Papierwimpel, der jetzt fröhlich im Wind flatterte, nachdem Rita den Spieß in dem schon etwas angetrockneten Hunde-Exkrement versenkt hatte.

Genau genommen, dachte Rita, als sie sich wieder aufgerichtet hatte, war diese Beschäftigung sogar eine Art Gymnastik für sie. Mit neunzig Jahren ist mehrmaliges Bücken und Wiederaufrichten schon eine sportliche Höchstleistung.

Zufrieden setzte die alte Dame ihren holprigen Weg fort, vorsichtig einen ihrer abgewetzten braunen Schuhe vor den anderen setzend, den Blick weiterhin suchend auf den Boden gerichtet. Hinter ihr war die Allee – wenn man genau hinschaute – nicht nur von Bäumen gesäumt. Sondern auch von vielen kleinen bunten Fähnchen.

****

Es war später Nachmittag, als Rita in ihre Straße einbog. Mit langsamen Schritten steuerte sie ein graues Mehrfamilienhaus an, blieb vor der Eingangstür stehen, fummelte umständlich ihre Schlüssel aus der Manteltasche und öffnete die Haustür. Den Rollator ließ sie normalerweise immer im Hausflur stehen. Die Tür zu ihrer Wohnung war gleich rechts um die Ecke. „R. Thevs“ stand auf dem Türschild neben dem Klingelknopf.

Als Rita die Wohnungstür öffnete, schrillte das Telefon – wer weiß, zum wievielten Male schon. Aber nicht das war der Grund für die plötzliche Schnelligkeit, mit der Rita in die Wohnung stolperte, ohne vorher den Rollator abzustellen, sondern vielmehr die schwarze Rauchfahne, die ihr aus der Küche entgegenwehte. Im selben Augenblick, in dem Rita in die Küche trat, öffnete sich eine Haustür im ersten Stock, und eine Männerstimme rief:

„Gott sei Dank, dass Sie endlich da sind, Frau Thevs! Ich dachte schon, Ihnen sei etwas passiert. Ich versuche seit einer halben Stunde, Sie anzurufen…“

„Ja, ja!“ schrie Rita atemlos zurück, während sie ihre Topflappen suchte, um einen rußgeschwärzten Kochtopf mit verkohltem und völlig unidentifizierbarem Inhalt von der heißen Kochplatte zu nehmen.

„Aus Ihrem Küchenfenster kommt schwarzer Qualm!“ fügte die Stimme von oben völlig überflüssigerweise hinzu.

„Ja, ja!“

Rita hatte die Topflappen gefunden – im Kühlschrank, weiß der Geier, wie die dahin gekommen waren – nahm den Topf von der Herdplatte und stellte ihn in das Spülbecken.

Als sie den Wasserhahn aufdrehte, zischte ein Schwall heißen Wasserdampfs empor wie aus einem Geysir. Im Nu war die ganze Küche wieder voller Qualm – diesmal weiß. So ähnlich mussten die das im Vatikan bei der Papstwahl auch machen.

Rita, der es gerade noch gelungen war, zurückzuweichen und sich in Sicherheit zu bringen, lehnte sich erschöpft an die Kühlschranktür.

Das war etwas zu viel Aufregung für einen Nachmittag, an dem sie schon ein paar Stunden Arbeit hinter sich hatte.

Jetzt fehlt nur noch, dachte sie, dass Julia hier auftaucht und das mitbekommt. Sie musste sich beeilen und alles wieder schnell in Ordnung bringen.

Rita hörte Schritte im Hausflur, die sich langsam näherten. In den weißen Dampfwolken, die durch die Küche waberten, zeichnete sich schemenhaft die Gestalt des hilfsbereiten Nachbarn aus dem ersten Stock ab.

„Brauchen Sie Hilfe? Die Haustür stand offen, und da dachte ich… ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, dass ich einfach so reinkomme.

Aber man kann Sie ja nicht so alleinlassen, in diesem Durcheinander.“

„Danke, aber das schaffe ich schon“, antwortete Rita abweisend. So viel Hilfsbereitschaft ging ihr auf die Nerven.

„Na, wenn Sie meinen… Ich habe übrigens Ihre Enkeltochter angerufen, als es anfing, aus Ihrem Fenster zu qualmen. Die kann Ihnen ja auch helfen. Ich geh dann mal wieder…“

Auch das noch. Dann würde Julia ja gleich vor der Tür stehen. Rita seufzte.

Julia traf gleichzeitig mit der Feuerwehr vor dem Haus ein. Hinter ihr tastete sich der achtjährige Lasse durch den dichten Nebel.

„Boah, Oma, wie hast du das denn gemacht? Jetzt können wir hier ja prima Verstecken spielen!“

„Bleib hier im Wohnzimmer, Lasse. Ömchen! Was ist denn hier los?

Warum steht die Haustür offen? Und was qualmt und stinkt hier so?“

„Komm rein Julia!” rief Rita aus der Küche. „Es ist überhaupt nichts los. Warte bitte im Wohnzimmer – ich komme gleich!“

„Kommt überhaupt nicht in Frage“, antwortete Julia.

Sie tastete sich durch den Nebel in die Küche, gefolgt von einem Feuerwehrmann. Hustend bahnten sich beide einen Weg zu den Küchenfenstern und rissen sie weit auf.

„Keine Gefahr mehr“, sagte Julia zu dem Feuerwehrmann, der, nachdem die Fenster geöffnet waren, etwas unschlüssig herumstand und darüber nachzudenken schien, ob dies nun ein Einsatz war oder nicht. „Sie können ruhig wieder gehen. Vielen Dank.“

Julia drehte den Wasserhahn ab. Der Topf hörte auf zu zischen. Der Qualm verzog sich durch die offenen Fenster. Rita stand immer noch an die Kühlschranktür gelehnt. Sie atmete schwer. Julia nahm ihre Großmutter in den Arm.

„So geht das nicht mehr weiter, Ömchen. Du hast mir einen Riesenschreck eingejagt. Zum Glück ist Dir nichts passiert…“

„Oma!“ tönte ein empörter Schrei aus dem Wohnzimmer. „Die Fähnchen sind ja fast alle weg! Hast du etwa schon ohne mich angefangen? Wir wollten das doch zusammen machen, Oma!“

„Womit hat Oma schon angefangen?“ erkundigte sich Julia, die mit Rita aus der Küche kam.

Lasse erzählte es ihr – und Julia verdrehte die Augen hilfesuchend zur Zimmerdecke.

****

Julia Jensen mochte ihre Großmutter, und Rita schätzte die resolute und praktische Art ihrer Enkeltochter. Deswegen hatte sie sich auch eine Wohnung in Harburg gesucht und nicht im Hamburger Osten, wo ihre Tochter Karin wohnte, die genug Probleme mit ihrem eigenen Leben hatte, seitdem sie sich von ihrem Mann getrennt hatte, und die immer so aggressiv auf die gut gemeinten Ratschläge ihrer Mutter reagierte. Wenn es überhaupt jemanden gab, der Rita gegenüber auch einmal kritische Worte benutzen durfte, dann war das Julia. Und auch wenn das nicht immer dazu führte, dass Rita Konsequenzen daraus zog, hatte Julia doch schon oft bewirkt, dass ihre Großmutter über bestimmte Sachen zumindest noch einmal nachdachte. Und das war für Ritas Verhältnisse schon eine ganze Menge, denn sie hatte ihre eigenen Vorstellungen und ließ sich auch nicht gerne da hineinreden. Mit dieser Art konnte nicht jeder umgehen - ganz besonders nicht Julias Mutter Karin Arndt.

Doch jetzt musste ihre Mutter mit entscheiden, was zu machen war, fand Julia.

Am späten Nachmittag dieses Tages rief sie bei Karin an, um ihr von der nicht abgeschalteten Herdplatte zu erzählen und das Problem von Ritas zunehmender Vergesslichkeit mit ihr zu besprechen.

Karin seufzte, als ihre Tochter ihr alles erzählt hatte. „Ich weiß nicht, was man da machen kann“, sagte sie hilflos. „Eigentlich müsste Mutti ins Heim, aber das wird sie nicht wollen.“

„Soll ich mal mit ihr reden?“, bot Julia an.

„Ach Kind, das wäre ganz wunderbar, wenn du das machst“, sagte Karin erleichtert. „Dir wird sie wenigstens zuhören. Bei mir wird sie ja immer gleich aggressiv…“

„Aber nur unter einer Bedingung“ schränkte Julia ihr Angebot ein.

„Ich möchte gern, dass du endlich einmal Urlaub machst und dich erholst. Seitdem Papa nicht mehr da ist, hast du alle Kraft und Energie verloren, die du früher einmal hattest. Du musst unbedingt einmal Auftanken.“

„Das geht doch nicht so einfach“, wandte Karin ein, „Wie kann ich denn in Urlaub fahren, wenn die Sache mit Mutti nicht geklärt ist…“

„Ich bin auch noch da“, stellte Julia klar. „Und ich kümmere mich nur um Ömchen, wenn du in Urlaub fährst. Andernfalls machst du das.“

Das war so deutlich, dass Karin kapitulieren musste.

„Dann bleibt mir ja nichts anderes übrig“, meinte sie resigniert.

An diesem Abend, nachdem Lasse und seine fünfjährige Schwester Lara ins Bett gebracht worden waren, öffnete Julia eine Flasche guten Dornfelder, schenkte sich selbst und Tim ein Glas ein und sagte: „Wir müssen reden – über meine Großmutter.“

Ihr Mann schaute über den Rand seiner Lesebrille vom Laptop auf, an dem er gerade mit einer neu erstandenen Software das 3D Modell eines Hauses entwarf. Tim war Architekt, und er nahm sich seine Arbeit oft mit nach Hause. „Was ist denn los mit ihr?“, fragte er.

Julia setzte sich neben ihn auf das Sofa und legte ihre Beine auf seine Knie. „Wir können sie nicht mehr so alleine in ihrer Wohnung lassen. Es ist Zeit, dass wir uns Alternativen überlegen. Und wir sollten uns auch mal ein paar Seniorenheime angucken…“

Julia hatte in ihrem Job als Polizeikommissarin in dem als Problemgebiet bekannten Hamburger Stadtteil Harburg fast täglich mit Situationen zu tun, wie die, in der ihre Großmutter jetzt war. Und nicht selten hatten sie und ihr Kollege schon Wohnungstüren aufbrechen müssen und alte Menschen auf dem Boden liegend vorgefunden, die aus den unterschiedlichsten Gründen in ihren Wohnungen still und unbemerkt gestorben waren. Sie hatte sich im Laufe der Zeit an den Anblick von verwahrlosten oder ausgebrannten Wohnungen, verletzten und gestürzten Senioren und in Hausfluren liegenden Leichen gewöhnt – aber das hier war etwas anderes. Jetzt ging es nicht um irgendwen, sondern es war ihre Großmutter, die langsam aber sicher auf so eine Situation zusteuern würde, wenn sie nicht rechtzeitig eingriff.

Auch Tim schaute sehr nachdenklich, als Julia ihm von den Ereignissen des Tages berichtet hatte.

„Wir müssen auf jeden Fall erst mal mit ihr reden“, befand er.

„Irgendeine Lösung werden wir schon finden.“

„Ich liebe deinen Optimismus. Hoffentlich hast du Recht.“ Julia hob ihr Rotweinglas. „Zum Wohl!“

„Auf uns, mein Schatz. Und auf das Leben – mit allen seinen Herausforderungen.“ Tim nahm einen Schluck und fügte hinzu: „Wir holen uns morgen mal ein paar Informationen von der Seniorenresidenz hier an der Hauptstraße. Und auch noch von ein paar anderen. Und wenn wir kein schönes Heim für Rita finden, dann organisieren wir eben für sie eine Senioren-WG. Da können sich dann alle gegenseitig unterstützen und haben außerdem noch ein paar mehr Kinder und Enkelkinder zur Verfügung, die helfen können.

Das kann ich mir für deine Großmutter richtig gut vorstellen…“

Julia, die bei diesen Worten eher die Vorstellung von rollatorfahrenden Omas und Opas hatte, die gemeinsam mit ihren Enkeln oder Urenkeln Fähnchen in Hundescheiße steckten und zusammen auf noch mehr verrückte Ideen kamen, musste trotz der ernsten Situation grinsen. „Du alter Spinner“, sagte sie zärtlich.

„Ohne deine Phantasie würde ich wahrscheinlich manchmal vor lauter Realitätssinn und Ernsthaftigkeit am Leben verzweifeln.“

Lasse, der hinter der Tür gelauscht hatte, tapste auf bloßen Füßen leise ins Kinderzimmer zurück. „Jetzt knutschen sie wieder“, sagte er kichernd zu seiner Schwester. „Und Mama hat gesagt, dass Oma aus ihrer Wohnung ausziehen soll, weil sie manchmal so komische Sachen macht.“

Lara setzte sich im Bett auf. „Und wo soll Oma dann schlafen?“ Doch schon im nächsten Moment ging ein Strahlen über ihr Gesicht „Ich weiß schon was: Dann kann Oma hier bei uns im Kinderzimmer schlafen!“

****

Ab einem bestimmten Alter werden gewisse Dinge beschwerlicher.

Klar, denn der Körper verändert sich. Die Gelenke schmerzen an Stellen, die man früher überhaupt nicht gespürt hat, und was die Konstitution und Körperform angeht, schlägt die Schwerkraft erbarmungslos zu. Plötzlich hängt alles, was vorher noch prall war – was vor allem Frauen leidvoll erfahren. Männer verlieren ihren knackigen Po, und als Ausgleich für den Muskelschwund hinten gibt es Zuwachs vorne am Bauch. Bei beiden Geschlechtern wachsen plötzlich Haare, wo keine hingehören und fallen dafür an Stellen aus, an denen sie eigentlich bleiben sollten. Doch das alles muss überhaupt nichts bedeuten, wenn man dem Alter gelassen gegenübersteht – und wenn man sich traut, auch mit Achtzig nicht auf die Dinge zu verzichten, die auch früher schon Spaß gemacht haben. Und so waren Julia und Tim in dieser kalten Hamburger Herbstnacht nicht die einzigen, die sich unter einer warmen Decke aneinander kuschelten.

In einem Seniorenheim ganz in der Nähe – eben dem, das Tim erwähnt hatte – hatten sich zwei Menschen zusammengefunden, die trotz hinderlichen Bauches, Hexenschuss im Rücken und Arthrose in Schultern und Knien immer noch die richtige Stellung fanden – mit viel Phantasie und ohne große Hemmungen. Auch wenn es von Zeit zu Zeit passierte, dass einer von beiden im schönsten Moment aus dem Bett springen musste, weil ein Krampf in der Wade dazu zwang, erst mal eine Weile im Zimmer herumzulaufen. Oder dass plötzlich die Blase zwickte und einen aus dem Bett trieb. Das waren alles die kleinen Tribute, die man an das Alter zahlte, die aber nicht wirklich störten. Karola und Hans genossen sich gegenseitig – und sie genossen auch die Aufregung, mit der ihr Zusammensein jedes Mal verbunden war.

Denn für ein solches Stelldichein war es nötig, über den Flur in das Zimmer des anderen zu schleichen – vorbei am Schwesternzimmer, in dem die diensthabende Krankenschwester darauf wartete, nächtlich umherirrende Heimbewohner mit einer Beruhigungsspritze wieder ins Bett zu befördern. Dieser gefährliche Weg über den Flur war sozusagen eine besondere Art von Vorspiel, das bei beiden regelmäßig das Herz schneller schlagen ließ. Und das lag nicht nur daran, dass sie die blutdrucksenkenden Tabletten wegen der lustdämpfenden Nebenwirkungen vorher wegließen.

Hans und Karola waren sich einig: Eigentlich gehörten sie nicht in ein Seniorenheim, sondern in eine gemeinsame Wohnung. Leider hatten sie, was das anbetraf, nicht die geringste Unterstützung ihrer jeweiligen Kinder – und so waren sie auf ihre eigene Tatkraft und Phantasie angewiesen. Beiden war jedoch klar: Ein Auszug aus diesem Heim war eher unüblich und würde mit Sicherheit schwieriger werden als der Einzug.

Und die ungeklärteste Frage von allen war immer noch: Selbst wenn es ihnen gelang, hier wegzukommen - WOHIN sollten sie denn gehen?

Hans und Karola hatten ihre Zimmer im ersten Stock des Gebäudes.

Die Wände waren gelb gestrichen und mit Landschaftsbildern dekoriert, und neben jeder Zimmertür, die von dem gelben Flur abging, gab es ein Namensschild mit einem Foto des Bewohners. An einigen Türen klebten zusätzlich noch auffällige Kärtchen in Herz-, Blumen- oder Sternform, um den Wiedererkennungswert der Zimmertür zu steigern. Das waren die Zimmer der Bewohner mit leichter Demenz, die noch nicht dement genug waren, um in den zweiten Stock umzuziehen.

Hier, auf der zweiten Etage, waren die Flure grün gestrichen, und nicht nur einige, sondern alle Türen waren auffällig markiert. Das hinderte die Bewohner des grünen Flurs aber trotzdem nicht daran, sich regelmäßig zu verirren, die Kleidungsstücke des Zimmernachbarn anzuziehen, oder sich im Zimmer gegenüber die Zähne zu putzen. Es war ein fröhliches Chaos auf der grünen Etage, in das aber aus pädagogischen Gründen nicht eingegriffen werden durfte. Pflegerinnen hielten es deshalb hier auch nicht lange aus – aber auch die Bewohner nicht. Von Zeit zu Zeit kam es vor, dass eine der genervten Betreuungskräfte beim Verlassen der Station vergaß, die Tür hinter sich abzuschließen. Dann konnte es schon mal passieren, dass ein Bewohner oder eine Bewohnerin des grünen Flurs in einer Anwandlung von plötzlicher Orientiertheit den Rollator nahm, durch die Tür rollte, und mit dem Fahrstuhl ins Erdgeschoss fuhr. Kam er oder sie dann noch unbeobachtet an der Empfangsdame in der Rezeption vorbei, so stand dem Ausflug in die Freiheit nichts mehr im Wege.

Die Seniorenresidenz war von einem großen Park umgeben, der auf der einen Seite von der Hauptstraße, und auf der anderen Seite vom Harburger Binnenhafen begrenzt war. An die beiden übrigen Seiten grenzten Gärten und ein Containerlager, vom Park der Seniorenresidenz durch hohe Mauern abgetrennt. Kleine Spazierwege führten im Park unter den alten Bäumen entlang. Von hier gesehen machte das Seniorenheim einen wirklich netten Eindruck. Wer es aus dem grünen Flur einmal bis hier unten geschafft hatte, interessierte sich jedoch nicht für die Spazierwege, sondern steuerte sogleich die kleine, weithin sichtbare Bushaltestelle mit Wartehäuschen vor dem Haupteingang an, um mit dem nächsten Bus nach Hause fahren zu können. Dass hier niemals ein Bus kam, hatte sich auf dem grünen Flur noch nicht herumgesprochen.

Stattdessen kam nach spätestens einer halben Stunde eine Pflegeperson – womit der Ausflug dann beendet war.

Verglichen mit dem dritten Stockwerk des Seniorenheimes aber war selbst der grüne Flur noch ein Jungbrunnen. In die dritte Etage kam man, wenn man entweder einen Schlaganfall, einen Oberschenkelhalsbruch oder irgendetwas anderes hatte, was einen an das Bett fesselte. Hier oben, auf der Pflegestation, lief niemand mehr herum, und die Gesichter der meisten Bewohner waren so weiß wie ihre Bettdecken und wie überhaupt alles hier. Noch nicht einmal die Wände hatten auf dieser Etage irgendeine Farbe.

Stockwerk drei war die letzte Station vor dem Sterben.

Auch wenn Karola und Hans sich über die genaue Aufteilung des Hauses nicht im Klaren waren – manchmal ist Nichtwissen auch eine Gnade – ahnten sie doch, dass sich hier ihr Leben zumindest nicht zum Besseren wenden würde. So hielten sie die Augen stets offen, um eventuelle Chancen zur Verwirklichung ihres Planes rechtzeitig zu erkennen. Und ihre Wachsamkeit sollte sich schon bald auszahlen.

****

Nouhoum Kouyaté saß in der Dunkelheit in seinem Wohncontainer.

Es war eine von vier provisorischen Unterkünften, die in einer Ecke des Containerports hinter der Mauer zum Park des Seniorenheims errichtet worden waren. Da sie sich kaum von den anderen dort gelagerten Containern unterschieden, fielen sie auch nicht weiter auf, obwohl sie schon seit drei Wochen dort standen. Nur gelegentlich wunderten sich Passanten über das gehäufte Auftreten fremdländisch aussehender Männer in der Nähe des Zaunes, der das Containerlager umgab.

Nouhoum war so ziemlich in Allem genau das Gegenteil von Hans und Karola: Er war nicht alt, sondern jung – er war nicht weiß, sondern schwarz, und er kam nicht aus Hamburg, sondern aus einem Dorf in der Nähe von Bamako, der Hauptstadt Malis. Und doch gab es eine entscheidende Gemeinsamkeit: Auch er fühlte sich dort, wo er jetzt gerade war, nicht wohl. Dieser Zustand dauerte bei ihm allerdings schon genau siebzehn Jahre.

Nouhoum hatte eine weite Reise hinter sich. Genauer gesagt, waren es eigentlich mehrere weite Reisen hintereinander. Zunächst hatte er 4500 Kilometer von seinem Dorf im Süden Malis nach Libyen zurückgelegt, teils mit dem Bus, teils mit dem Eselskarren, und teils zu Fuß. In der Wüste Algeriens war er fast verdurstet, nachdem er und zwanzig weitere Männer in einem alten VW-Bus mitten in der Wüste liegengeblieben waren, weil sie kein Benzin mehr hatten. Sie hatten den letzten Rest Benzin mit ihrem letzten Trinkwasser gestreckt und während der Fahrt zu Gott und zu Allah gebetet, dass der Motor nicht ausgehen möge. Nach zwei Tagen hatte Gott oder Allah ihnen eine Gruppe Tuareg über den Weg geschickt, die sie nach Tamanrasset brachten, die größte Oase im Süden Algeriens.

Dort hörte Nouhoum, dass man gutes Geld in Libyen verdienen konnte. Er bezahlte 2000 algerische Dinar für die Weiterfahrt an die libysche Grenze, und dann noch einmal 2000 Dinar für den Schlepper, der ihn über die Grenze brachte, versteckt auf der Ladefläche eines Lieferwagens.

Das war Ende 2011 gewesen – und kaum war Nouhoum einer Polizeikontrolle davongelaufen, in die der Lastwagen mit ihm auf der Ladefläche jenseits der Grenze prompt geriet, da brach auch schon der Bürgerkrieg aus. Jeder, der schwarz war, wurde von den ehemaligen Oppositionellen hingerichtet, weil er grundsätzlich im Verdacht stand, einer der schwarzafrikanischen Söldner Muammar al-Gaddafis zu sein.

Nouhoum war aus seinem Heimatdorf losgezogen, weil er ein besseres Leben suchte, und er hatte keine Lust, sein jetziges Leben schon in Libyen auszuhauchen, noch bevor er das bessere Leben gefunden hatte. Also machte er sich mit einigen anderen, die so wie er auf der Suche nach einem besseren Leben waren, auf den Weg zur Hafenstadt Zuwara. Dort fuhren Schiffe über das Mittelmeer nach Lampedusa in Italien. Das waren noch einmal 154 Seemeilen, umgerechnet 291 Kilometer, die sich an seine erste Reiseetappe von 4500 Kilometern anschließen würden. Aber es war die kürzeste Strecke nach Europa.

Bis Nouhoum einen Platz auf einem der überladenen Boote bekam, musste er viel Geduld aufbringen.

Am Pier lagen fünf kleine halb verrostete Schiffe, und am Ufer drängelten sich mehrere Tausend Menschen. Schließlich hatte er Glück und bekam einen Platz an Deck inmitten von etwa einhundert weiteren Reisenden. Bewegungsfreiheit war auf diesem Platz nicht vorgesehen und er musste seine langen Arme und Beine weitgehend zusammenfalten. Unter Deck waren noch etwa achtzig Frauen und Kinder zusammengepfercht. Und wieder musste Nouhoum zahlen: 3000 Dinar für die Überfahrt.

Kurz nach dem Ablegen erklärten die beiden libyschen Schiffsführer den 180 Flüchtlingen, wo Italien liegt und wie man steuerte. „Ihr braucht zwei Tage“ sagten sie noch, und dann machten sie sich in einem Beiboot davon.

Am zweiten Tag war jedoch weit und breit kein Land zu sehen.

Stattdessen fiel der Motor aus, und durch ein Leck im Boden stieg das Wasser. Die Frauen und Kinder kamen schreiend an Deck, und einige Männer gingen nach unten, um mit einem löchrigen alten Kanister, den sie in einer Kette nach oben weiterreichten, das Wasser aus dem Schiff zu schöpfen. Es stieg trotzdem weiter.

Einem der Männer auf Deck kam der Gedanke, dass Dämonen im Meer waren, die sie an der Weiterfahrt hindern wollten, und er fing an, sein gesamtes Geld ins Wasser zu werfen, um sie zu besänftigen. Im Nu taten es ihm die anderen nach. Die Frauen nahmen ihren Schmuck ab und warfen ihn ebenfalls ins Wasser.

Und ein alter Mann, der sonst nichts hatte, nahm sein Gebiss aus dem Mund und warf es hinterher.

Ob es nun das Geld, der Schmuck, oder das Gebiss war – die Dämonen schienen ihre Meinung zu ändern. Zwar drang weiterhin Wasser in das Boot ein und es reichte den immer noch wasserschöpfenden Männern mittlerweile bis zur Hüfte, aber in der Ferne hörte man ein Rauschen, das sich schnell zu einem lauten Knattern steigerte. Und dann stand plötzlich ein Hubschrauber über dem Boot, und vom Himmel kam per Megaphon eine Stimme, die die Reisenden aufforderte, ruhig zu bleiben und auf Hilfe zu warten, die in zehn Minuten da sein würde. Und tatsächlich erschien ein Schiff der italienischen Küstenwache und setzte Rettungsboote aus, in die die afrikanischen Flüchtlinge verfrachtet wurden. Keine Sekunde zu früh.

Als der Letzte von Bord war, versank der rostige Kahn gluckernd im Mittelmeer.

Das Auffanglager auf Lampedusa war hoffnungslos überfüllt.

Nouhoum und die anderen wurden erst desinfiziert, dann fotografiert, und dann identifiziert. Wobei letzteres bei allen misslang – denn ihre Papiere waren ihnen abgenommen worden, bevor sie in Libyen auf das Boot gingen.

Ein Tag verging im Lager wie der andere.

Sie waren wie Tiere in einem Käfig, denen man zu essen gab und einen Platz zum Schlafen.

Essen – Schlafen – Warten: Damit erschöpften sich die Inhalte des Tages.

Nachts musste die Mehrzahl der Geflüchteten im Freien schlafen, weil in den Räumen nicht genug Platz war. Das waren alles keine Umstände, unter denen man seine Menschenwürde bewahren konnte.

Nouhoum fragte sich, ob das jetzt das bessere Leben war, nach dem er gesucht hatte – und er kam zu dem Ergebnis, dass es noch Besseres geben musste.

Seine Reise war noch nicht zu Ende.

Und doch gab es auch im Lager von Zeit zu Zeit interessante Neuigkeiten und Informationen. Nouhoum lernte, was die EU ist, was Asylverfahren und Aufenthaltserlaubnis bedeutet, und er hörte von Ländern, von denen er bisher noch nie gehört hatte – zum Beispiel Deutschland. Als eine italienische Aufsichtsbehörde Wind davon bekam, wie es im Lager zuging, musste es geschlossen werden.

Den Afrikanern sagte man, dass die EU groß genug sei, und sie irgendwo schon unterkommen würden. Nouhoum bekam fünfhundert Euro und eine Aufenthaltserlaubnis für den Schengenraum in die Hand gedrückt. Als er gefragt wurde, wohin er denn jetzt wolle, sagte er: „Deutschland“.

Mit der Fähre fuhr er bis Sizilien, und nach 700 weiteren Kilometern, die er größtenteils per Anhalter zurücklegte, stand er eines Morgens in Neapel am Hauptbahnhof und wollte eine Fahrkarte nach Deutschland lösen.

„Berlin? München? Hamburg?“ fragte der Mann am Fahrkartenschalter.

Hamburg ließ sich am leichtesten aussprechen. Damit war die Entscheidung für Nouhoums zukünftige Heimat gefallen.

Der ICE fuhr einen Tag und eine Nacht fast 2000 Kilometer weit.

An einem kalten und regnerischen Tag im Februar 2013 stand Nouhoum Kouyaté fröstelnd im Hamburger Hauptbahnhof und war wie erschlagen von dem Treiben um ihn herum. Es war jetzt siebzehn Jahre her, dass er sich auf den Weg gemacht hatte. Auf einen Weg, von dem er nie wusste, wohin er als Nächstes führte.

Immer auf der Suche nach einem besseren Leben, das es ihm ermöglichen würde, seine Familie zu Hause zu unterstützen.

Aber – musste sich Nouhoum eingestehen, als er jetzt in der Dunkelheit in seinem Wohncontainer saß – noch war Hamburg keine Heimat für ihn geworden.

Er hatte zwar eine dreimonatige Aufenthaltsgenehmigung, aber arbeiten durfte er in Deutschland nicht, und er hatte auch kein Anrecht auf Unterstützung oder Unterkunft. Dass er einen Platz in diesem Container gefunden hatte, war ein reiner Glücksfall gewesen.

Nach Ablauf der drei Monate drohte ihm die Abschiebung – und noch wusste er nicht, wie er das verhindern konnte.

Leise, um seine Mitbewohner nicht zu wecken, die in verschiedenen Ecken und Winkeln des Wohncontainers auf ihren Matratzen lagen und schliefen, stand Nouhoum auf, öffnete die Tür und ging in die Dunkelheit hinaus. Vom Binnenhafen funkelten die Lichter herüber.

Aber es waren nicht so viele Lichter wie sonst. Denn direkt am Kai lag irgendetwas Riesiges, Dunkles, was vorher noch nicht dort gelegen hatte, und das den größten Teil der Lichter verdeckte.

Nouhoum war neugierig. Und er machte sich auf den Weg, um das genauer zu erforschen.

****

Das Wohnschiff AURORA hatte ebenfalls einen weiten Weg hinter sich, wenn auch keinen so weiten wie Nouhoum: Von Rotterdam war es über die Nordsee nach Hamburg geschleppt worden. Nun lag es im Harburger Binnenhafen vor Anker, fest an der Kaimauer am Kanalplatz vertäut, und ragte weithin sichtbar neun Meter über dem Wasser in die Höhe. Demnächst sollte es zur Unterkunft für einhundertfünfzig Flüchtlinge aus Syrien, Afrika, dem Libanon und wer weiß von wo noch umgebaut werden.

Die AURORA hatte schon bessere Zeiten gesehen. Vor dreißig Jahren hatte sie als Hotelschiff gedient, und die fünfundsiebzig Kabinen, die sich auf drei Decks verteilten, wurden damals überwiegend von jungen Leuten bewohnt, die als Rucksacktouristen in Holland unterwegs waren. In jeder Kabine standen zwei Betten, ein Tisch und ein Schrank – der Komfort einer guten Jugendherberge.

Mittlerweile war das Linoleum in den Duschräumen brüchig geworden, die Geräte in der Gemeinschaftsküche angerostet und teilweise kaputt, und das Mobiliar morsch. Ein endgültiger Bezugstermin für die Flüchtlinge – die sich teilweise in Wohncontainern und teilweise auch noch auf ihrer Fahrt über das Mittelmeer befanden - stand deswegen auch noch nicht fest.

Zunächst musste geprüft werden, was umgebaut werden musste, welche baurechtlichen Vorschriften und Sicherheitsbestimmungen eingehalten werden mussten, ob die Bade- und Duschräume den Hygienevorschriften entsprachen, und welche Gruppen von Flüchtlingen man überhaupt gemeinsam hier einquartieren konnte, ohne dass Kriege und Stammesfehden an Bord ausbrachen.

Aus dem Garten des Seniorenheims gesehen, sah es – einen Tag, nachdem die AURORA im Binnenhafen angelegt hatte – so aus, als hätte über Nacht jemand direkt nebenan einen großen Wohnblock errichtet.

Da die meisten Senioren, die durch den Park wanderten, die Gewohnheit hatten, beim Gehen nach unten auf ihre Füße zu gucken, fiel es zuerst niemandem auf. Nur Hans und Karola, die vor der Gymnastikstunde, die in einem der Gruppenräume auf dem gelben Flur stattfand, noch einen Spaziergang machen wollten, blieben wie angewurzelt und mit offenem Mund stehen.

Dieses Haus war gestern noch nicht da gewesen!

„Das müssen wir uns genauer ansehen“, sagte Hans.

Die Bewohner des Seniorenheimes durften selbstverständlich gehen, wohin sie wollten. Es gab nur – zu ihrer eigenen Sicherheit – die eine oder andere verschlossene Pforte in dem Zaun, der das Gelände umgab. Vor einer dieser verschlossenen Pforten standen Karola und Hans eine gute Viertelstunde später, nachdem sie zielstrebig die Wege entlang, und zum Schluss auch abseits der Wege, in Richtung des imposanten mehrstöckigen Gebäudes gewandert waren, das da wie aus dem Nichts aufgetaucht war. Auf der anderen Seite des Zaunes, das sahen sie jetzt, verlief ein Fußweg, auf dem einige Passanten entlangeilten und den beiden Senioren keine Aufmerksamkeit schenkten. Hinter dem Fußweg war eine schmale Straße. Hinter der Straße war die Kaimauer – und hinter der Kaimauer war das Haus… ein Schiff! Langgestreckt und klotzig lag es im Wasser - es sah aus wie ein Hochhaus, das auf die Seite gekippt war. Eine Unmenge von Fenstern zierte die Fassade, die nach vorne zur Straße hin zeigte. Und hinter jedem dieser Fenster war es dunkel. Offensichtlich wohnte hier niemand. Eine Gangway verband das Schiff mit der Kaimauer. Sie war mit einem rot-weißen Band abgesperrt, ganz eindeutig als Zeichen, dass man dieses Schiff nicht betreten sollte.

„Gott hat mein Gebet erhört“, sagte Karola - sie war nämlich im Grunde ihres Herzens eine durch und durch fromme Frau - „Hier wird unsere neue Wohnung sein!“

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Die Gymnastikstunde mit Schwester Kirsten hatte schon angefangen, als Hans und Karola dazukamen – immer noch ein wenig aus der Puste und mit vor Aufregung glänzenden Augen.

Schwester Kirsten war eine kleine, rundliche Blondine, die trotz ihrer Leibesfülle sehr beweglich war und immer ein wenig an einen hüpfenden Gummiball erinnerte. Ihre Stimme war laut – das musste sie sein in einem Seniorenheim – und von berufsmäßiger Fröhlichkeit.

„Wie schön, dass Sie noch kommen, Frau Kaiser und Herr Himmelstößer“, rief sie, als Hans und Karola durch die Tür traten.

„Nehmen Sie doch bitte Platz im Kreis. Und nun recken wir alle mal unsere Arme gaaanz weit nach oben.“

An dieser Stelle machte Schwester Kirsten immer ihren Lieblingswitz, über den auch immer wieder alle Teilnehmer lachten, und den sie nur machen konnte, wenn Hans anwesend war: „Nun, Herr Himmelstößer, dann stoßen Sie mal Ihre Arme in den Himmel…“

Hans grinste gequält, während er sich mühte, seine Arme möglichst hoch zu heben. Die Art dieser Frau nervte ihn – aber er fand diese Gymnastik trotzdem sinnvoll für sich und für seine Karola. Gerade jetzt war es wichtig, fit zu bleiben.

Es klopfte an der Tür zum Gymnastikraum und Frau Falck, die Heimleiterin, steckte ihren Kopf herein.

„Schwester Kirsten, wir haben hier ein paar Gäste, die gerne zugucken möchten. Geht das?“

„Aber gerne!“ rief Schwester Kirsten euphorisch. „Kommen Sie herein! Setzen Sie sich!“

Ein junges Paar schob sich durch die Tür in den Raum, gefolgt von einer ziemlich alten, weißhaarigen Dame mit einem Rollator. Sie setzten sich auf eine Bank neben der Tür.

„Sie können gerne in den Kreis kommen und mitmachen“, lud Schwester Kirsten sie ein.

Die alte Dame schüttelte den Kopf.

Als die Gymnastikstunde zu Ende war, machten Tim und Julia zusammen mit Rita noch eine Runde durch den Park. „Wie schön, diese alten Bäume“, sagte Julia. „Hier wirst du wunderbar spazieren gehen können, Ömchen.“

„Das war doch eine nette Gymnastikrunde da drin“, meinte Tim. „Die Leute hier sind alle noch sehr fit – und ich schätze, die meisten sind noch keine achtzig Jahre alt. Hier wirst du nette Kontakte knüpfen können.“

Rita wollte eigentlich weder nette Kontakte knüpfen, noch wollte sie in diesem Park spazieren gehen, aber sie sagte: „Ja, ja…“

Plötzlich blieb Julia abrupt stehen. „Das ist ja ein Ding“, sagte sie, „von hier aus hast du einen tollen Blick auf die AURORA“.

Tim folgte ihrem Blick. „Ist das dieses Flüchtlingsschiff?“ fragte er interessiert.

„Ja. Der Senat will es aber noch nicht freigeben. Es müssen noch einige Dinge instandgesetzt und verändert werden. Wir fahren in den letzten Wochen Tag und Nacht am Binnenhafen Streife, damit niemand unkontrolliert auf das Schiff geht.“

„Ihr Ärmsten“, meinte Tim, „kommt ihr da überhaupt noch zu irgendetwas anderem?“

„Na ja, manchmal stellen wir auch einfach nur einen Polizeiwagen am Kai ab“, gab Julia zu. „Das ist Abschreckung genug.“

Bei ihren letzten Worten kamen aus einem Seitenweg des Parks ein älterer Herr und eine Dame auf sie zu. Julia erinnerte sich, beide in der Gymnastikgruppe gesehen zu haben. Sie stellten sich als Hans Himmelstößer und Karola Kaiser vor und schüttelten allen freundlich die Hand.

„Wissen Sie etwas über dieses Schiff?“ fragte Karola. „Ich finde es ja soooo interessant, dass so ein Schiff hier direkt neben unserem Heim liegt!“

Julia überlegte kurz, wie viel sie sagen durfte, entschied sich dann aber, dass bei alten Leuten aus dem Heim, die diese Information wahrscheinlich am nächsten Tag schon wieder vergessen haben würden, keine Vorsicht angebracht war. Außerdem war es für Rita sicherlich wichtig, wenn sie jetzt ein wenig nette Konversation machten. Immerhin gab es hier die Chance für sie, schon einmal Kontakt zu Heimbewohnern aufzunehmen.

Deshalb setzten sich alle fünf nach einem kleinen Spaziergang im Park in das „Café Glücklich“, das zur Seniorenresidenz gehörte, und Tim gab eine Runde Kaffee und Kuchen für alle aus. Nach zwei Stunden, in denen Hans und Karola mehr über das Wohnschiff erfahren hatten, als sie es jemals erwartet hätten, und in denen sie erste freundschaftliche Gefühle für die etwas konfuse, aber offensichtlich sehr kreative, originelle und sympathische alte Dame entwickelt hatten, verabschiedeten sie sich von den Besuchern, und Julia, Tim und Rita machten sich auf den Heimweg.

„Was für ein nettes Paar“, sagte Julia, als sie wieder in ihr Auto stiegen, um Rita nach Hause zurückzubringen. „Findest du nicht, Ömchen?“

„Ja, ja“, murmelte Rita, „ganz nett.“

„Und so wach und interessiert an der Hamburger Flüchtlingspolitik“, fügte Julia hinzu. „Das erwartet man gar nicht bei so alten Leuten.“

Zehn Minuten später hielt der Wagen vor dem grauen Mehrfamilienhaus und Tim stieg aus, um den Rollator aus dem Kofferraum zu holen. Julia öffnete die Wagentür und half ihrer Mutter beim Aussteigen. Als Rita sicher auf ihren Beinen stand, die Griffe des Rollators fest in den Händen, sagte sie: „Hört mal zu. Ich will da nicht hin. Auch wenn es sicher eines von den besseren Heimen ist.

Aber ich will mein Leben immer noch selbst bestimmen und nicht bevormundet werden.“

Für Rita, die heute den ganzen Tag noch nicht viel gesagt hatte, war das eine sehr lange Rede. Und eine knappe und auf den Punkt gebrachte noch dazu.

„Ihr könntet euch ja auch mal ein wenig mehr um mich kümmern.

Kann ich denn nicht bei euch einziehen?“ fügte sie hinzu.

Julia und Tim schauten sich betroffen an. Vor dieser Frage hatten sie schon die ganze Zeit Angst gehabt.

„Ömchen, so gern wir das machen würden – aber es geht einfach nicht“, sagte Julia schließlich. „Die Kinder sind noch klein, und wenn da sowas passiert wie bei dir letztens mit der heißen Herdplatte…“

Julia beendete den Satz nicht, sondern ließ offen, was wäre, wenn das passieren würde. Rita drehte sich um und ging auf die Wohnungstür zu.

„Versteh‘ doch, das ist einfach zu gefährlich!“ rief Julia ihr hinterher.

„Ja, ja“, sagte Rita.

Julia und Tim sahen ihr unglücklich nach.

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Ibrahim al-Zanati zog seine Vormittags-Runden auf dem Campus der Technischen Universität Harburg. Er war von kleiner Statur – ein Mann, der auf den ersten Blick überhaupt nicht auffiel. In der letzten Zeit verbrachte er jeden Vormittag hier – den schwarzen Rucksack mit seiner Ware auf dem Rücken, und die Hände in den Jackentaschen – immer umherlaufend, damit es nicht so auffiel, dass er im Grunde den ganzen Vormittag auf der gleichen Stelle blieb.

Er hatte auf dem Platz vor der TU seinen festen Kundenkreis und wurde sicherlich von manchen Studenten wesentlich sehnlicher erwartet als alle Dozenten und Professoren zusammen. Ibrahim hatte diesen (natürlich illegalen) Job zwar erst seit etwa zwei Monaten, aber dank seiner Geschäftstüchtigkeit war er schon über das Anfangsstadium hinaus, als er es noch war, der die Kontakte knüpfen musste. Mittlerweile reichte es, einfach nur da zu sein – und es dauerte niemals lange, bis ihm der Erste mit einem Wink, einem Blick, oder auch nur durch ein fast nicht wahrnehmbares Kopfnicken ein Signal des Interesses zeigte.

Es gab viele solcher unsichtbaren Zeichen und Winke. Ibrahim kannte und sah sie alle.

Er setzte sich auf eine Bank, von der aus er den Platz gut im Blick hatte, und stellte den Rucksack neben sich. Es war kein schlechter Job hier. Wenn er auch schon besseres Geld verdient hatte. Zum Beispiel bei seiner letzten Tätigkeit. Sie hatte darin bestanden, gemeinsam mit einem Kollegen schrottreife Schiffe aufzukaufen, nach Libyen zu überführen, sie dort mit möglichst vielen Flüchtlingen zu füllen und auf den Weg nach Lampedusa zu bringen. Was sie an Fahrgeld für ein Schiff kassierten, war mindestens dreimal so viel, wie sie für das Schiff ausgegeben hatten. Und ob die Schiffe bis Lampedusa hielten, konnte ihnen egal sein, weil er und sein Kollege rechtzeitig von Bord gingen.

Bei der letzten Fahrt allerdings, bei der sich sein Kumpel ohne ihn davongemacht hatte, mit dem einzigen Beiboot und mit den gesamten Einnahmen der letzten Tage, war Ibrahim auf einmal selbst zum Flüchtling geworden, womit er sich aber schnell abgefunden hatte. Es war ohnehin mal wieder Zeit gewesen, dass sich etwas in seinem Leben veränderte. Hamburg war eine Stadt voller Chancen und wahrscheinlich auch voller guter Jobs. Er hatte hier zwar keine Arbeitserlaubnis – aber Ibrahim war zuversichtlich.

Er musste nur Geduld haben – irgendwann würde auch er seine Chance bekommen. Und – wer weiß – vielleicht kam er hier in dieser Hafenstadt sogar noch einmal an ein paar passende Schiffe für Libyen. Vielleicht etwas größere als die, die er bisher organisiert hatte. Noch boomte das Geschäft dort, und das würde sicherlich auch noch eine Weile andauern.

Jemand setzte sich neben ihn. Ibrahim langte in die Innentasche seiner Jacke und holte eine Schachtel Marlboro heraus.

„Samen oder Blätter?“ fragte er, während er sich eine Zigarette anzündete.

„Samen“. Sein Gegenüber beugte sich kurz zu seinen Schuhen hinunter, um mit ungelenken Fingern den Klettverschluss fester zu schließen und richtete sich dann wieder auf.

Ibrahim musterte ihn von der Seite. Sehr dünn, das Gesicht unter der Pudelmütze kaum zu erkennen, etwa dreißig Jahre alt. Mit Sicherheit kein Student von der TU. Und er sah irgendwie krank aus.

„Fünfzig Euro“.

Ein Tütchen und ein Fünfziger wechselten rasch und unauffällig den Besitzer. Dann stand Ibrahim auf, nahm seinen Rucksack und schlenderte davon.

Markus Remmers ließ das Tütchen in seine Manteltasche gleiten. Er fröstelte. Er zog sich die Pudelmütze weiter über die Ohren und auch die Handschuhe wieder an, die er zum Öffnen seiner Brieftasche ausgezogen hatte.

Markus hatte sich bewusst für die Samen entschieden. Sie hatten zwar den Nachteil, dass er sich nicht sofort einen Joint drehen konnte, um die ständigen Schmerzen loszuwerden – aber den unbestreitbaren Vorteil, dass er sich seine Hanfpflanzen in beliebiger Menge selber ziehen konnte. Er wusste nicht, wie lange er noch in der Lage sein würde, aus dem Haus zu gehen – da hatte er seine Medikamente lieber um sich.

Wochen und Monate hatte er damit verbracht, sich Informationen über Aufzucht und Ernte von Hanf zu besorgen, was die reinste Detektivarbeit gewesen war. Am hilfreichsten waren noch die kleinen Artikel in der Zeitung gewesen, wenn wieder einmal von der Polizei eine „Hanfplantage in einer Wohnung entdeckt“ worden war.

Zwischen den Zeilen war dort sehr viel über die richtige Beleuchtung und über den besten Standort zu lesen.

Markus stützte sich ab, um sich von der Bank zu erheben, musste sich aber gleich wieder hinsetzen – so sehr hatte ihn der kurze Spaziergang zum Campus geschwächt. Seine kleine Wohnung lag zwar in unmittelbarer Nähe zur Technischen Universität – aber immerhin hatte er erst vor drei Tagen das Krankenhaus verlassen, um „in Ruhe und Würde in der häuslichen Umgebung zu sterben“, wie der Arzt sich ausgedrückt hatte.

Ruhe hatte er in der Tat zu Hause genug. Für die Würde sollte wohl die regelmäßige Betreuung durch einen Pflegedienst sorgen. Doch das war ihm nicht genug, zumal alle Schmerzmedikamente bei ihm versagten. Seine Würde hing ganz entscheidend von diesen Pflanzen ab. Markus probierte noch einmal, aufzustehen - diesmal vorsichtiger – und schließlich stand er auf zitternden Beinen.

Verdammt, er hätte seine Krücken mitnehmen sollen. Aber vorhin hatte er sich noch so kräftig gefühlt, dass er meinte, darauf verzichten zu können. Mit unsicheren Schritten machte er sich auf den Weg nach Hause, wo er sofort erschöpft ins Bett fiel.

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Am nächsten Morgen nahm Markus den Rollstuhl, um im nahegelegenen Blumenladen Erde zu kaufen. Er hasste sein Krüppel-Cabrio, wie er es nannte, aber es ging nicht anders. Ein Beutel Blumenerde wog immerhin etwas mehr als ein Tütchen mit Samen.

Die Einzimmerwohnung, die Markus seit sieben Jahren bewohnte, lag im vierten Stock. Markus fuhr mit dem Fahrstuhl nach unten und rollte auf den Fußweg hinaus in den Nieselregen.

Der Rollstuhl hatte noch vor kurzer Zeit einem Schlachter gehört, der beim Schlachten von einem Schwein angegriffen und so schwer am Bein verletzt worden war, dass ihm in einer Notoperation das ganze Bein abgenommen werden musste. Im Rollstuhl sitzend hatte er sich dann auf das Räuchern von Fleisch und Wurst spezialisiert und das Schlachten lieber seinem Gesellen überlassen – bis er eines Tages in seiner Räucherkammer an einer Rauchvergiftung verstarb.

Zwischen beiden Unfällen – dem mit dem Schwein, und der Vergiftung – hatte nur ein Jahr gelegen. Das hatte aber ausgereicht, den Rollstuhl so intensiv mit Rauch zu imprägnieren, dass ein Duft wie von einer sommerlichen Grillparty immer noch an ihm haftete – nur schwach überdeckt vom Desinfektions- und Reinigungsmittel, mit dem man versucht hatte, das Grill-Aroma zu entfernen. Markus hatte sich schon so daran gewöhnt, dass er es gar nicht mehr wahrnahm.

Aber der Verkäufer im Blumenladen bekam aus unerfindlichen Gründen plötzlich Hunger auf ein saftiges gebratenes Stück Fleisch, als Markus durch die Tür rollte.

Markus sah sich im Laden um. In einer Ecke saß ein nasser Hund mit großen spitzen Ohren, der wohl gerade aus dem Regen gekommen war. Als Markus ihn ansah, wedelte er mit dem Schwanz.

Überall Blumen und Pflanzgefäße – Erde sah Markus nicht.

„Ich brauche einen Beutel Erde – ganz einfache Blumenerde“, sagte Markus.

Der Verkäufer verließ seinen Platz hinter dem Tresen und schlurfte an hohen, prallvoll mit blühenden Zimmerpflanzen bestückten Regalen vorbei in eine Ecke des Ladens, wo zwischen Keramik-Übertöpfen und Zimmerpalmen versteckt einige Beutel mit Blumenerde standen. Er wuchtete einen davon hoch und kehrte zu Markus zurück.

„Besonders wachstumsfördernd durch Düngerkörnchen“, pries er den Inhalt. „Verklumpt nicht, sondern bleibt locker durch untergemischten gemahlenen Ton. Mit Kalkzusatz.“

„So etwas Spezielles brauche ich eigentlich gar nicht. Haben Sie nicht ganz einfache Erde?“ fragte Markus.

„Junger Mann“, erklärte der Verkäufer, „wir führen keine einfache Erde. Bei uns bekommen Sie nur die allerbesten Sorten. Heutzutage nimmt man eine Spezialerde wie diese hier, wenn man seinen Pflanzen etwas wirklich Gutes tun will.“

Na gut, dann eben Spezialerde, dachte Markus. Er zückte sein Portemonnaie und bezahlte.

Der Hund in der Ecke ließ ein leises Winseln hören.

„Können Sie nicht einen Hund gebrauchen?“ fragte der Verkäufer.

„Der hier ist mir heute Morgen zugelaufen, und ich habe ihn rein gelassen, weil es so geregnet hat. Aber auf die Dauer kann ich ihn nicht behalten.“

Als ob er wüsste, dass von ihm die Rede war, fing der Hund an, wie wild mit dem Schwanz zu wedeln und mit heraushängender Zunge zu hecheln. Aber er rührte sich nicht von der Stelle.

Bestimmt ein schlaues Kerlchen, dachte Markus. Aber er antwortete:

„Tut mir leid – aber mit dem Gassi gehen wird das schwierig. Sie sehen ja…“ er deutet mit einer Kopfbewegung auf den Rollstuhl.

Der Hund entschied anders. Diesen netten Mann auf Rädern, der so gut roch - den wollte er als neues Herrchen. Und als Markus sich den Beutel mit Blumenerde quer über seine Knie gelegt hatte und mit etwas Mühe – immerhin war er noch nicht lange Rollstuhlfahrer – seinen Rollstuhl wendete und auf die Straße hinaus rollte, sprang der Hund leichtfüßig hinter ihm her.

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Die Gruppe „Lampedusa in Hamburg“ versammelte sich auf dem Rathausmarkt. Sie hatte etwa dreihundert Mitglieder und noch einmal so viele Unterstützer – darunter nicht nur Linksautonome, sondern auch Mitglieder von Kirchenverbänden und Vereinen, Künstler, und junge Leute aus Hamburg und Umgebung. Mit selbstgemalten Schildern zogen etwa sechshundert Demonstranten vom Rathausmarkt zu dem geräumigen Protest- und Informationszelt am Steindamm, direkt gegenüber vom Busbahnhof. Auf den Schildern, die sie trugen, waren Parolen zu lesen wie: „we are here to stay“, „kein Mensch ist illegal“, „Bleiberecht und Arbeit für alle“.

Aber auch: „Wir wollen Wohnungen“, und: „Nie wieder auf ein Schiff!“

Es war das Frühjahr 2013, und das Winternotprogramm der Stadt war gerade ausgelaufen.

Monatelang hatte das Schiff nun schon ungenutzt im Harburger Binnenhafen gelegen. Angeblich wurde es überprüft und begutachtet, aber es war trotzdem nie jemand zu sehen, der auf der AURORA irgendetwas arbeitete. Für Spaziergänger, die darauf achteten, sah es so aus, als wäre das Schiff am Kai vertäut und dann vergessen worden.

Die meisten Geflüchteten hatten jetzt, nach dem Ende des Winternotprogramms, keine Unterkunft mehr. Nouhoum Kouyaté, der im vorderen Drittel des Demonstrationszuges mitlief, war eine Ausnahme. Er wohnte immer noch in seinem Wohncontainer.

Anders als die meisten anderen Flüchtlinge hatte er auch im Prinzip nichts gegen Schiffe – trotz seiner schlechten Erfahrungen im Mittelmeer.

Er stimmte jedoch mit den anderen überein, dass ein vom Hamburger Senat verordneter Aufenthalt auf einem Schiff wie der AURORA indiskutabel war. Denn das war doch mit Sicherheit ein Trick, um sie alle miteinander abzuschieben! Sie würden sich auf dem Wohnschiff abends in Hamburg schlafen legen, und am nächsten Morgen in Italien aufwachen… Nein, nicht mit der Gruppe „Lampedusa in Hamburg“. So leicht waren sie nicht reinzulegen.

Solange die AURORA aber noch nicht offiziell mit Flüchtlingen belegt war, war es sicherlich ungefährlich, sich auf dem Schiff aufzuhalten.

Seit der Nacht, als Nouhoum das Wohnschiff das erste Mal gesehen hatte, hatte er den Wunsch, einmal an Bord zu gehen, und es sich in Ruhe anzusehen. Leider war es rund um die Uhr bewacht. Irgendwo patrouillierte immer die Polizei, oder ein Polizeiwagen parkte gegenüber der Gangway.

Neben Nouhoum ging ein junger Mann, der ein Schild mit der Aufschrift: „We fight for our right“ trug. Nouhoum erinnerte sich, ihn schon einmal in Harburg in der Nähe des Schiffes gesehen zu haben und sprach ihn darauf an.

Es stellte sich heraus, dass der junge Mann, der Gabriel Kembo Mamputu hieß, meistens unter einer Brücke oder in Hauseingängen ganz in der Nähe von Nouhoums Containerlager übernachtete. Auch er hatte schon vor der AURORA gestanden und überlegt, wie man dort wohl hineinkommen könnte. Ursprünglich kam Gabriel aus dem Kongo und er hatte eine genauso gefahrvolle Reise hinter sich wie Nouhoum.

Die Schutzgeister seiner Ahnen, die Gabriel „die Väter“ nannte, hatten ihm jedoch geholfen und ihm immer rechtzeitig in Träumen und Visionen mitgeteilt, was er als nächstes tun sollte. Dort, wo Gabriel herkam, gehörten auch die Verstorbenen zum Leben, nahmen Anteil an allem und halfen auf unterschiedlichste Weise.

Vor drei Tagen hatten sie ihm sogar eine Arbeit vermittelt. Gabriel war morgens mit dem Eindruck aufgewacht, dass er an diesem Tag eine wichtige Botschaft an einem Baum lesen würde. Auf seinem täglichen Weg durch die Harburger City hatte er deswegen den Bäumen am Straßenrand besondere Beachtung geschenkt. Und tatsächlich: in einer Höhe, die man normalerweise übersah – als wäre er von jemandem im Sitzen befestigt worden – hing mit Klebeband befestigt ein Zettel. Gabriel hatte ihn abgenommen und gelesen:

„Suche jemanden, der ab und zu mit meinem Hund Gassi geht.“

Gabriel war noch nicht so lange in Deutschland, dass er alles verstand – aber das erste Wort kannte er. Es war das gleiche wie in:

suche Arbeit, oder: suche Wohnung. Jemand suchte also offensichtlich etwas – und vielleicht hatte er, Gabriel, was der andere suchte. So hatte er nicht lange gezögert, die auf dem Zettel angegebene Adresse aufgesucht, und dort die Bedeutung der übrigen Worte in Erfahrung gebracht. Und nebenbei auch das Rätsel gelöst, warum der Zettel so weit unten gehangen hatte: Ein Rollstuhlfahrer konnte natürlich keinen Zettel in Augenhöhe anbringen. Und der Hund, um den es ging – für Gabriel war dies ein weiteres Zeichen von seinen Ahnengeistern – war ein reinrassiger afrikanischer Basenji, mit dem er sich auf Anhieb verstand.

Für jede Stunde Spaziergang mit dem Hund, der das Herz von Markus Remmers im Sturm erobert hatte, und der mittlerweile auf den Namen Ben hörte, bekam Gabriel 10 Euro – und das war für ihn ein kleines Vermögen!

Der Demonstrationszug war mittlerweile an dem weißen Zelt gegenüber vom Busbahnhof angekommen. Auf einer Längsseite war in großen schwarzen Buchstaben zu lesen: „Lampedusa in Hamburg. Victims of NATO War 2011 in Libya“, und darunter der Satz: „