One Hundred Lies - Kira Hoppe - E-Book

One Hundred Lies E-Book

Kira Hoppe

0,0

Beschreibung

Du kannst lügen, aber du kannst niemals die Wahrheit verändern. Merk dir das. Denn die Wahrheit findet immer ihren Weg ans Licht. Ich bin Rose und blicke auf den schlimmsten Sommer meines Lebens zurück. Den der, der der Beste überhaupt werden sollte. Doch die Karten wurden anders gemischt, weil das Schicksal die Regeln bestimmt. Du kannst sie nicht ändern. Aber du spielst das Spiel.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 545

Veröffentlichungsjahr: 2022

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

1

2. September 2016

„Vielleicht geht’s nicht ums Happy End, sondern um die Geschichte“, schrieb Julia Engelmann einst in ihren Zeilen.

Ich liebe dieses Zitat.

Oder sollte ich sagen, ich liebte es?

Wenn ich es lese, wenn ich daran denke, wenn ich es laut ausspreche, egal wann, es erinnert mich an die dunkelste Zeit meines Lebens.

Wie viele Gefühle kann ein Satz in dir auslösen?

Unendlich viele, durfte ich feststellen.

Wut, Trauer, Angst und Panik, Einsamkeit, Liebe, Sehnsucht, Geborgenheit, Schmerz, Hoffnungslosigkeit, Leidenschaft.

Ich könnte etliche weitere Gefühle aufzählen und jedes einzelne würde passen. Irgendwie.

Jetzt passt keines, denn ich fühle rein gar nichts mehr.

Ich schließe meine Augen, während ich mich an das einzige Fenster im Raum stelle.

Das Sonnenlicht fällt mir ins Gesicht und wärmt meine Haut.

Ich seufze und schaue aus dem Fenster hinunter auf den Innenhof. Der Spätsommer neigt sich langsam, aber sicher dem Ende zu.

Die ersten Blätter färben sich in kräftige Rot- und Goldtöne, die im Licht der letzten Sonnenstrahlen dieses Jahres leuchten.

Der Moment könnte so schön sein. Er könnte.

Doch er wird überschattet von den Geschehnissen des Sommers und dessen Folgen.

Hättet ihr mich vor wenigen Monaten gefragt, im Mai, bevor hier alles den Bach herunter ging, bevor ich herausfand in was für einer riesigen Lüge ich jahrelang gelebt hatte, bevor mein Leben bei 200 km/h auf dem Highway eine Kehrtwende machte, dann hätte ich gesagt, der Sommer ist meine liebste Jahreszeit.

S chulfrei O zean M elonen M ittsommerfest E ndlose Nächte R omantik

Das Wort müsste unbedingt mehr Buchstaben haben, denn ich könnte noch so viel mehr aufzählen, was ich am Sommer liebe.

Sorry, liebte.

Ich blättere weiter in meinem Buch, in dem ich Zitate sammle, die mir gefallen.

„Manchmal passiert lange Zeit gar nichts und dann alles auf einmal.“

Wie unglaublich wahr diese Worte doch sind. Ich war fast schon soweit zu sagen, mein Leben wäre langweilig. Zum Glück habe ich es nicht gesagt, sondern nur gedacht.

Und trotzdem habe ich den Eindruck, meine Gedanken wurden erhört. Als habe man mir sagen wollen, sei froh, dass es dir so gut geht, du verwöhnte Göre.

Das war mir immer klar.

Ich wollte nur mal etwas erleben, etwas fühlen, ja vielleicht wollte ich einfach etwas empfinden, um mich so richtig lebendig zu fühlen.

Um irgendwann einmal etwas Spannendes zu Papier bringen zu können.

Ich sah nur, wie alle über so tiefgründige Erfahrungen und Gedanken schrieben.

Doch ich hatte nie Zugang zu solchen Gedanken, weil mein Leben einfach unkompliziert war.

Ich wollte eine Geschichte erzählen können, ja.

Aber ich habe nie um die volle Breitseite gebeten.

„Manchmal muss man seine Vergangenheit töten, um sich in der Gegenwart lebendig zu fühlen.“

Fühle ich mich jetzt lebendig, weil ich diesen Sommer alle möglichen Emotionen auf einmal erlebt habe?

Weil ich Gegensätzliche zum Teil sogar zeitgleich empfunden habe?

Weil mein Leben ein anderes ist als zuvor?

Vor wenigen Monaten hätte ich gesagt, natürlich, so viel Drama, da muss man sich lebendig fühlen.

Heute sage ich: Nein! Es tötet dich innerlich.

Es macht dich zu nichts mehr als einer bloßen Hülle.

Die Zeilen sagen also, ich müsse meine Vergangenheit töten, um mich wieder lebendig zu fühlen.

Dann tue ich das.

Ich schreibe auf, was geschehen ist. Ich schreibe mir den Schmerz von der Seele.

Ich bin Rose Collins und das hier ist meine Geschichte.

2

Rye, East Sussex. Großbritannien, im Mai 2016.

Ich war gerade 17 Jahre alt geworden und besuchte die zwölfte Klasse auf der Buckswood School in Hastings, einem Ort in der Nähe von Rye.

Es blieb ein Jahr bis zu meinen Examen für die A-Levels. Daher war es an der Zeit, herauszufinden, ob ein Auslandsjahr nach der Schule meinen Vorstellungen entsprechen würde.

Ich hatte Pläne, wollte über die Sommerferien eine Reise in die USA machen.

Nach Florida. Dort in einer Tierauffangstation helfen.

Mit meiner besten Freundin, Emma.

Für sechs Wochen.

Unser Flug würde am 25. Juli gehen.

Dieser Sommer sollte der Sommer unseres Lebens werden.

Ich war wahnsinnig aufgeregt. Noch nie war ich so lange von meiner Familie getrennt gewesen.

Doch es sollte nicht dazu kommen.

Wir zählen den 2. September und ich sitze immer noch hier und starre unaufhörlich dieselbe kahle weiße Wand an und durch dasselbe kleine Fenster nach draußen.

Ich liege nicht am Strand in Florida, im „Sunshinestate“, bräune mich nicht, bis ich kohlrabenschwarz werde, und esse auch nicht den ganzen Tag Wassermelonen.

Bevor ich jedoch beginne zu erzählen, solltet ihr wissen, wer ich eigentlich bin.

Meinen Namen kennt ihr jetzt. Rose.

Ihr wisst auch, dass ich 17 Jahre alt bin und auf die Buckswood School in Hastings gehe.

Zusammen mit meinen Eltern, meinem Bruder und meinem Hund lebe ich in Rye, einem Dorf in Großbritannien.

Meine Freunde wohnen alle nur einen Katzensprung von mir entfernt. Fünf Minuten Fußweg und ich bin bei Noah Davis, meinem besten Freund.

Etwas länger, ungefähr eine Viertelstunde mit dem Fahrrad brauche ich für den Weg zu Emma Price, meiner besten Freundin.

Sie lebt dorfauswärts auf einem überwältigenden Anwesen im Wald mit ihren Eltern, ihrem Bruder und ihren zwei Hunden.

Ihr Bruder ist schon 23 Jahre alt.

Er studiert Sportwissenschaften auf der York St. John University in York.

Die Uni ist gute viereinhalb Autostunden von uns entfernt.

Vielleicht gar nicht so schlecht, wenn man bedenkt, dass ich ihn dadurch nicht so oft sehen muss.

Nein, er ist nicht ätzend. Im Gegenteil.

Er ist einfach toll.

Egal, ich schweife immer ab, sobald ich ihn erwähne.

Grauenvoll.

Zurück zu Noah und Emma.

Sie sind im selben Jahrgang wie ich, aber beide schon 18 Jahre alt. Ihre Eltern hielten es für besser, sie später einzuschulen.

Dieselben Kurse belegten wir allerdings nur teilweise. Ab der zwölften Klasse mussten wir nämlich drei bis vier Wahlpflichtfächer für die A-Levels am Ende der 13. Klasse belegen.

So viel vorab zu mir und meinen Freunden, um die es hier geht.

Die eigentliche Geschichte aber beginnt an einem Schultag, einem Montag.

An diesem Montag war der 23. Mai 2016.

23. Mai 2016

Der Himmel draußen war wolkenverhangen, weshalb nur spärliches Licht in mein Zimmer fiel.

Ich stand vor meinem großen Spiegel und betrachtete mich. Irgendwie fühlte ich mich merkwürdig.

Wieso, konnte ich da noch nicht sagen. Vielleicht hatte ich unbewusst schon eine Ahnung.

Doch es war alles, wie sonst auch.

Meine Uniform sah aus wie immer. Der dunkle Rock war eng um meine Taille geschwungen und bedeckte meine käseweißen Oberschenkel. Das weiße Hemd und der schwarze Blazer schmeichelten meiner kahlen Gesichtsfarbe auch nicht gerade.

Eigentlich wurde ich schnell braun, aber in Rye ließ sich die Sonne wahnsinnig ungern blicken, und ohne Sonne konnte ich mich eben nicht bräunen.

Aber es gab einen Lichtblick: Nicht mehr lange, dachte ich, dann wäre es endlich wieder Sommer und ich könnte in die USA fliegen.

Dann könnte ich mich in die Sonne legen, Bücher lesen, schwimmen gehen, Tieren helfen, Party machen, Jungs kennen lernen.

Alles, was Mädchen in meinem Alter liebten.

Meine blonden Haare fielen glatt auf meine Schultern herunter.

In den letzten Jahren waren sie sehr lang geworden.

Sie reichten mir jetzt bis zur unteren Rippe.

Ich schnappte mir ein Zopfgummi aus einer Schale auf meinem Schminktisch und band sie mir zu einem Knoten im Nacken zusammen.

Wieder betrachtete ich mich von Kopf bis Fuß: Augenringe, Pickel, Rötungen. Meine grauen Augen glichen einem aufziehenden Sturm.

Sie strahlten meine innere Unruhe aus, die ich an dem Tag empfand.

Ehrlicherweise hatte ich keine Lust mehr, mir die Mühe zu machen, die ungebetenen Gäste in meinem Gesicht zu überschminken.

Für wen auch? Für mich sicher nicht. Und einen Jungen, den ich beeindrucken wollte, den gab es auf meiner Schule auch nicht.

Durch ein Hupen von draußen wurde ich aus meinen Gedanken gerissen.

Ich warf einen Blick aus dem Fenster in meinem Erker und stellte dabei - wie so oft - fest, dass ich die Straße von meinem Zimmer aus gar nicht richtig einsehen konnte.

Dennoch wusste ich, wer es war. Emma.

Mein Rucksack lag schon gepackt auf meinem großen Bett gegenüber des Spiegels. Ich schulterte ihn und warf meinem Spiegelbild einen letzten Kontrollblick zu.

Unten stolperte ich aus der Haustür, als meine kleine Hündin Lacey, ein Yorkshire Terrier, zwischen meinen Beinen hin und her sprang. Sie bellte unaufhörlich. Jeden einzelnen Morgen wieder, wenn ich das Haus verlassen wollte.

Mit ihren dunklen Knopfaugen schaute sie mich an und begann zu jaulen, als ich die Hauseingangstür hinter mir schloss.

Diese Momente erinnerten mich immer wieder daran, dass wir Menschen einfach keine Hunde verdienten.

Als ich die letzten Meter unserer Hofeinfahrt hinunterging, erhaschte mein Blick Emma am Steuer ihres weißen Porsche Boxter Cabriolets.

Ihre Familie war viel zu vermögend, wenn man mich fragte.

Vor allem weil ihr Geld nicht aus eigener Arbeit stammte, sondern gänzlich aus dem Erbe von ihren Großeltern resultierte, die schon früh nach Emmas Geburt bei einem Absturz ihres Privatjets umkamen.

Ihre welligen roten Haare trug sie zu einem hohen Pferdeschwanz. Doch sie wurden ihr durch den starken Wind ins Gesicht geweht.

Nicht, dass das schlimm gewesen wäre. Es verdeckte ihre wieder mal finstere Miene.

Noah hockte neben ihr auf dem Beifahrersitz und drehte sich auffallend genervt von ihr weg. Na toll, nicht schon wieder, dachte ich.

Er warf mir einen hilflosen Blick zu.

Mit ihren Sommersprossen und ihren dunkelbraunen Augen hatte sie eigentlich eine unglaublich süße und freundliche Ausstrahlung, aber sie hatte diese Tage, an denen sie unerträglich war.

Sie sprach nicht, sie starrte nur. Ihr Blick war dann entweder voller Hass oder voller Leere. Dazwischen gab es nichts.

Als sei sie eine fremde Person. Als kenne man sie nicht.

Aber mittlerweile war ich lang genug mit ihr befreundet, um zu wissen, wie man an solchen Tagen mit ihr umzugehen hatte.

Diese Stimmungsschwankungen gehörten eben zu ihr, so wie ihre Sommersprossen und ihre roten Haare.

Zumindest dachte ich das. An diesem Tag sollte alles anders werden. Schlimmer als sonst.

„Hey Em‘, hey Noah!“, begrüßte ich die beiden, als sei mir die miese Laune, die im Auto herrschte, noch nicht aufgefallen, und kletterte über die Tür auf den Rücksitz. Noch bevor ich mich richtig anschnallen konnte, raste Emma los.

Ohne jeglichen Kommentar.

Mein Magen zog sich zusammen, als ich unsanft in den Sitz gepresst wurde. Mein Kopf schlug gegen die Lehne. „Hey“, kam es leise von Noah zurück, der sich offensichtlich ebenso über die rasante Fahrweise von ihr erschrocken hatte.

Ich schaute auf die vorbeiziehenden Häuser. Auf der Straße waren meines Wissens nach allerhöchstens 70 km/h erlaubt. Mein Blick wanderte zur Tachoanzeige im Cockpit.

Emma fuhr 120 km/h.

„Em‘, tritt mal ein bisschen auf die Bremse. Hier wohnen Familien. Weißt du, ob hier nicht vielleicht Kinder unterwegs sind?“, versuchte ich, sie vorsichtig auf das Risiko hinzuweisen.

Doch sie ignorierte mich. Eigentlich hätte ich erwartet, dass sie übertrieben, abrupt in die Eisen gehen würde und wir alle genauso hart nach vorne geschleudert würden wie zuvor nach hinten beim Anfahren.

Etwas beleidigt ließ ich mich wieder in den Sitz sinken und merkte dabei, wie sie stattdessen immer schneller wurde.

125

130

135 km/h

Weiter und weiter.

Ich krallte mich in das Leder der Sitzbänke. Noah hielt sich an dem Griff der Autotür fest. Mein Herz begann zu rasen.

Was war los mit ihr? So war sie noch nie gewesen.

Jede Kurve in der Straße schien ihr scheißegal.

Im Gegenteil, sie schien sich hinter jeder Kurve darin bestätigt zu sehen, dass sie noch schneller fahren konnte. Dass die Grenze der Gravitationskräfte noch nicht erreicht war.

140 km/h.

Mir stockte der Atem. Andere Autos wichen hupend aus oder vollzogen Vollbremsungen.

Immerhin war es eine Landstraße mit wenig Verkehr, aber dafür war es eben auch sehr eng. Die Landstraße verband Rye mit Hastings.

Ich sah, wie die Häuserzeilen Hastings immer näher kamen.

Emma machte keine Anstalten, auch nur ansatzweise vom Gas zu gehen.

Verdammt. In der Innenstadt hätten wir keine Chance mit diesem Tempo.

Menschen würden verletzt, wir würden verunglücken, was auch immer. Ich malte mir die schlimmsten Szenarien aus, sah Blut, schreiende Kinder und weinende Eltern.

Mein Hals schnürte sich zusammen, ich wusste nicht, was ich tun sollte. Sie war vollkommen außer Kontrolle.

Der Wind schoss mir harsch ins Gesicht und betäubte mein Gehör.

Er ließ mich keinen klaren Gedanken fassen.

Ich schluckte den Kloß in meinem Hals herunter und schrie ihr von hinten ins Ohr, sie solle verdammt nochmal langsamer fahren.

Während ich schrie, beobachtete ich ihren Blick im Rückspiegel.

Sie starrte auf die Straße, ihre Stirn lag in Falten.

Im einen Moment stand in ihren Augen noch Hass und mit einem Mal, als ich verstummte, wich dieser Blick völliger Leere.

Als sie mit voller Kraft auf die Bremse trat, zog sich mein Magen erneut komplett zusammen und ich schlug mit dem Kopf gegen die Lehne von Noah.

Einige Meter weiter kamen wir zum Stehen. Unmittelbar vor dem Ortseingangsschild von Hastings.

Zitternd sammelte ich mich wieder, strich mir die Haarsträhnen, welche sich im Wind gelöst hatten, hinter die Ohren und atmete einmal tief durch.

Noch nie in meinem ganzen Leben war ich einem solchen Kontrollverlust ausgesetzt gewesen.

Eigentlich hätte ich Emma mein Leben anvertraut, immerhin war sie meine beste Freundin.

Aber an diesem Tag, in diesem Moment, da dachte ich wirklich, sie würde uns umbringen.

Dieses Gefühl des Ausgeliefertseins. Ich kann es nicht beschreiben.

Immer noch sprachlos, räusperte ich mich und rückte meine Kleidung zurecht.

„Ich laufe“, sagte Noah benommen und wollte die Beifahrertür öffnen, als Emma wieder losfuhr.

Diesmal zwar deutlich ruhiger, aber es war trotzdem nicht möglich auszusteigen.

„Ich laufe“, betonte er nun noch einmal eindringlich.

„Es ist viel zu spät. Du schaffst es nicht mehr pünktlich zur Schule“, erwiderte sie, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.

Das war ihm in diesem Moment so ziemlich egal. Mir auch, aber wir sagten nichts.

Weil es diese Emma war, mit der wir hier sprachen.

Wir nannten sie immer diese Emma, wenn wir von ihren schlechten Tagen redeten. Es war die Emma, mit der niemand etwas zu tun haben wollte.

Wir auch nicht, aber wir mussten ja. Wir waren nun mal ihre Freunde. Ihre einzigen.

So oft wir es auch schon versucht hatten, wir konnten einfach keinen Rhythmus erkennen, indem solche Ereignisse geschahen. An ihrer Periode konnte es somit auch nicht liegen.

Eine Theorie, die wir immer noch hatten, aber die sich nie so richtig bestätigt hatte, war, dass sie womöglich unter Bipolarität oder einem ähnlichen Krankheitsbild litt.

Was es auch war, es war nicht mehr nur unangenehm, es war allmählich auch gefährlich.

Rätselnd richtete ich meinen Blick in den Himmel.

Über uns schloss sich die Wolkendecke zu einem grauen Vorhang, der sich vor das letzte bisschen Sonnenlicht schob, das wir an diesem 23. Mai sehen sollten.

Ein Regentropfen schlug auf meiner Stirn auf.

Noch einer.

Und noch einer.

Es dauerte nur wenige Sekunden und es begann elendig zu schütten.

„Scheiße, mach das Verdeck zu!“, befahl ich Emma, die sich durch den Regen überhaupt nicht aus der Ruhe bringen ließ. Sie blinzelte die Tropfen, die in ihren Wimpern hängen blieben und ihr die Sicht nahmen, nicht einmal weg.

„Was ist denn los, jetzt mach schon! Du hast Rose doch gehört!“, schrie Noah jetzt aufgeregt.

Immer noch keine Reaktion.

Die Tropfen rannen mir das Gesicht herunter, meine Haare waren mittlerweile triefend nass.

Das Wasser stand auf den Sitzbänken im Auto.

Sonst war Em‘ extrem pingelig, was ihren Porsche anging.

Essen und Getränke in ihrem Auto waren absolut untersagt.

Dreckige Schuhe durfte man schon gar nicht tragen.

Und jetzt?

Es interessierte sie nicht.

Wir rollten auf den Parkplatz der Schule und stiegen völlig durchnässt aus, während der Regen immer noch gnadenlos auf uns hinabprasselte.

Noah und ich tauschten ungläubige Blicke.

Meine weiße Bluse hätte ich genauso gut ausziehen können.

Mein schwarzer BH zeichnete sich unter dem Stoff ab. Naja, wenigstens hatte ich noch meinen Blazer, der ihn etwas verdeckte.

Auch, wenn es gegen die Kleiderordnung verstieß, schloss ich ihn vorne, wenigstens, bis die Bluse wieder getrocknet war.

Während Noah und ich klitschnass und frierend neben dem Auto auf Emma warteten, kramte diese völlig ruhig in ihrem Handschuhfach und zog wenig später einen Lippenstift hervor.

Als sie damit ihre Lippen nachzeichnete, färbte er sie in ein kräftiges Blutrot.

„Das verstößt gegen die Kleiderordnung“, wies ich sie erneut zurecht. Als hätte das noch irgendeinen Sinn gehabt.

Sie streifte ihren Blazer über die Schultern und knöpfte ihre weiße, jetzt durchsichtige Bluse an den oberen Knöpfen auf.

Zum Vorschein kam ihr ebenfalls knalliger roter BH, den man natürlich ohnehin durch die nasse Bluse hatte sehen können.

Es war also gar nicht mehr nötig gewesen das Hemd zu öffnen.

Trotzdem wollte sie wohl noch provokanter wirken als so schon.

Ich fand ihren Auftritt absolut albern.

Barfuß begab sie sich zu ihrem kleinen Kofferraum und holte ein paar hohe schwarze Schuhe heraus.

„Highheels? Was soll das denn?“, fragte Noah angewidert von ihrem billigen Look.

„Die verschissene Schulordnung kann mich mal“, zischte sie ihn an.

Verzweifelt fuhr er sich durch seine kurzrasierten schwarzen Haare.

Wow. Dieser Sprachgebrauch war neu.

„Geht’s dir gut?“, hakte ich besorgt nach.

Sie schnaubte spöttisch. „Ich bin okay“, sagte sie nur und ging.

Fassungslos ließ sie uns stehen und begab sich ins Gebäude. Ihr Cabriolet ließ sie offen im Regen stehen. Was zur Hölle sollte das werden?

3

23. Mai 2016

Zuhause angekommen, schaltete ich meine Stereoanlage ein, ließ mich erschöpft auf mein Bett fallen und starrte regungslos an meine alte Holzdecke.

Mein ganzes Zimmer war in einem alten englischen Stil gehalten.

Moderne Räume mit weißen Wänden und weißen auf Hochglanz polierten Möbeln stießen mich ab.

Ich fühlte mich darin nicht wohl, weil es meiner Meinung nach immer etwas Kühles ausstrahlte.

Meine Wände hingegen waren dunkelrot. Es verlieh dem Zimmer eine gemütliche und warme Atmosphäre, wie ich fand.

Mein Wandschrank, mein Bett, mein Schreibtisch und auch mein Schminktisch waren aus massivem altem Eichenholz angefertigt.

Auch wenn es nicht wie das typische Teenagerzimmer aussah, in dem diese ganzen Influencer sich auf Instagram und YouTube ablichteten, gefiel es mir genauso, wie es war.

Nein das war falsch.

Weil es nicht wie das typische Teenagerzimmer aussah, gefiel es mir so gut.

Hier drin lebten etliche Kindheitserinnerungen von mir, von Emma und von Noah.

Ich kannte die zwei seit der ersten Klasse, seit ich fünf Jahre alt war.

Niemand anderes stand mir so nahe wie diese beiden.

Wie so oft lag ich nachmittags auf meinem Bett und schwelgte in diesen Erinnerungen bis zurück zu dem Tag, an dem ich das erste Mal bei Emma zu Hause gewesen war.

Aus meinen Lautsprecherboxen drangen ruhige und harmonische Töne.

Der Song hieß „Greatness“. Der Titel versprach nicht zu viel, ich fand das Lied wirklich großartig.

Und so schloss ich meine Augen, ließ mich von der Musik berieseln und erinnerte mich, als sei es gestern gewesen.

14. Januar 2005

Es war ein Freitag in der ersten Klasse.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich mit Emma noch nicht ein Wort gesprochen, obwohl wir schon seit einem halben Jahr in dieselbe Klasse gingen.

Wir hatten Sportunterricht, wie jeden Freitag, in den letzten beiden Stunden. Als kleines Kind eine wirklich schöne und wichtige Abwechslung zum Ende der Woche. Davor hatten wir immer zwei Stunden Mathe gehabt. Und ich weiß noch genau, wie schwer es mir fiel, meine Konzentration zwei Stunden aufrechtzuerhalten.

Trotzdem hasste ich den Sportunterricht bis zu diesem Januar-morgen.

Es war bitterkalt und schneite unaufhörlich.

Der Schulhof war bereits mit einer dicken Schneedecke überzogen.

Für uns Kinder war das natürlich das Tollste überhaupt: Das bedeutete Schneeballschlachten, Schneemänner bauen, Schlitten und Schlittschuh fahren.

Alles, was das Kinderherz begehrte.

Für den Sportunterricht gingen wir allerdings in die Turnhalle nahe dem Schulgelände.

Ich folgte den Mädchen aus meiner Klasse stumm in die Umkleide. Auf dem Hinweg zur Sporthalle hatten sie sich schon wieder alle an den Händen gehalten und zusammen gelacht, sich gegenseitig in den Schnee geschubst und mit Schneebälle beworfen.

Seit einem halben Jahr war ich jetzt in dieser Klasse. Und dennoch hatte ich überhaupt keinen Anschluss finden können.

Das mochte daran liegen, dass Noah mein einziger Freund war.

Für die meisten Mädchen waren die Jungs ein Tabu-Thema. Sie hatten überhaupt keine Lust, auch nur über das andere Geschlecht nachzudenken.

In dem Alter waren Jungs eben noch doof.

Nicht aber für mich.

Ich fand Jungs noch nie blöd, denn Noah zeigte mir, dass man in ihnen gute Freunde finden konnte. Und er war zumindest bis zu diesem Zeitpunkt der Einzige, der überhaupt auf mich zugekommen war.

Und das muss für ihn nicht einfach gewesen sein. Denn ich war ein ziemlich schüchternes Kind, zurückgezogen und redete nicht aus eigener Initiative.

Schüchtern war ich noch heute. Aber immerhin keine Einzelgängerin mehr.

Ganz anders war da dieses Mädchen mit den feuerroten Haaren in meiner Klasse.

Musste sie sich Sprüche wegen ihrer Haarfarbe anhören?

Musste sie Spitznamen ertragen?

Nein, musste sie nicht. Nicht mehr.

Zu Anfang war sie das beliebte Zielobjekt aller Hasstiraden meiner Klassenkameraden gewesen.

Hexe Lilli, Das Sams, Tomate, Karotte, Feuermädchen, Pumuckl.

Kinder konnten eben grausam sein.

Doch es hatte sie nicht interessiert. Sie war höflich und anständig geblieben, wirklich gut erzogen. Als habe sie in dem Alter schon genau gewusst, dass es nichts bringt, Beleidigungen zu kontern und dass es einen nur mehr zur Zielscheibe macht.

Stattdessen bewies sie nun allen, wie toll es war, mit ihr befreundet zu sein, wie lustig sie war und wie viel man von ihr lernen konnte.

Emma war ein besonderes Kind.

Ich beobachtete sie aus der Ferne und versuchte herauszufinden, wie sie das machte. Woher sie in dem Alter schon ihr Selbstvertrauen und ihr Selbstbewusstsein nahm.

Ich wollte auch so gerne mit ihr befreundet sein, wie jedes andere Mädchen aus meiner Klasse es war.

Doch sie sprach mit jedem, nur nicht mit mir.

Ihre Stimmungsschwankungen hatte sie damals noch nicht. Die kamen erst mit der Zeit.

Ich vermutete, dass die Pubertät der Auslöser sein musste.

Wir gingen also in die Umkleide und zogen uns für den Sportunterricht um.

Zurzeit hatten wir Mädchen Turnen und die Jungen Handball in einem abgetrennten Bereich der Sporthalle. Der Sportunterricht fand bei uns getrennt statt. Ein Grund mehr, warum ich mich im Sportunterricht unwohl fühlte.

Hinzu kam dann noch, dass wir Teams zu zweit bilden mussten, damit einer turnen und der andere die Hilfestellungen geben konnte.

Wie immer saß ich einfach auf der Bank und wartete darauf, dass sich die Teams gefunden hatten, um mich als Letzte einem Paar zuzuordnen.

Ich schaute auf den Boden und knibbelte unruhig an meinen Fingernägeln. Um mich herum hörte ich die Mädels schon lachend aufspringen und aufeinander zu rennen.

„Ashley, wir machen zusammen!“ „Ich will aber schon mit Zoe machen!“ „Clara macht doch heute mit Zoe.“ So ging das die ganze Zeit.

Aber nicht einmal fiel der Satz „Ich würde gerne mit Rose turnen.“

Wenn ich Situationen aufzählen müsste, in denen ich mich in meinem Leben mal so richtig unwohl gefühlt habe, dann würde ich jede einzelne Sportstunde auflisten, in der die Teams gewählt wurden.

Mal ehrlich, warum machte man sowas überhaupt?

Das war für das Selbstwertgefühl der Kinder, die immer als letzte gewählt wurden, wirklich schlecht.

Ich hatte darunter echt zu leiden.

Aber an diesem Tag war alles anders. Ich tat immer noch so, als seien meine Fingernägel gerade wichtiger als einen Teampartner für das Turnen zu finden, da tauchte plötzlich eine Hand vor meinen Augen auf, die versuchte, nach meiner zu greifen.

Verwundert sah ich auf und schaute in die dunkelbraunen Augen von Emma. Sie lächelte mich aufmunternd an und mit einem Mal wurde mir ganz warm ums Herz.

Sie wusste es nicht und sie hat es bis heute nie erfahren, wie viel mir diese Geste damals bedeutet hatte.

Wie viele Wunden sie damit auf einmal geheilt hatte.

Ich wusste sofort, ich will ihre Hand nehmen und mit ihr turnen, doch ich brauchte einen Moment, um es zu realisieren.

„Na komm schon, Rose. Ich turne mit Sophie. Willst du bei uns mitmachen? Wir brauchen deine Hilfe.“

Und dieser Satz löste in mir dann noch einmal ein Feuerwerk aus.

Sie brauchten meine Hilfe.

Es wirkte nicht so, als fragte sie mich aus Mitleid.

Wenn sie das tat, dann war es mir egal, denn sie sagte etwas anderes.

Sie sagte, sie wollten mich dabei haben, weil sie mich brauchten und nicht, weil sie gezwungen waren.

Das hätten sie nicht sagen müssen. Sie hätten genauso gut einfach weggehen und hoffen können, dass ich ihnen nicht zugeteilt werde.

Ich griff also nach ihrer Hand und war überrascht über ihren festen Griff, als sie mich zu sich hochzog und mir zulächelte.

Immer noch etwas unsicher, aber deutlich glücklicher als vorher, folgte ich ihr und Sophie zum Barren, unserer ersten Station.

Meine nächste Sorge überkam mich. Was war, wenn die beiden nun nicht mehr mit mir reden würden? Wenn ich mir viel zu viel auf diese kleine Geste eingebildet hatte?

Ich bekam Angst, und sofort wollte ich dieser Situation wieder entfliehen. Am liebsten so schnell es ging.

Ohne ein Wort mit ihnen zu wechseln, trottete ich hinter ihnen her. Mein Herz klopfte und ich begann zu frieren. Später las ich, dass einem schneller kalt werde, wenn man sich in einem Raum alleine und unwohl fühle.

Das mag in diesem Moment der Fall gewesen sein, denn ich weiß noch, wie sehr ich zitterte. Und meine Hände waren eiskalt.

Bis Emma sich zu mir umdrehte. Es mag nicht einmal eine Minute gewesen sein, in der sie nicht mit mir gesprochen hatten, doch für mich hatte es sich unendlich lang angefühlt.

Ihre Sommersprossen tanzten auf ihrer Nase und ihrer Stirn als sie über etwas lachte, das Sophie gesagt hatte. Sie sah mich dabei mit ihren warmen Augen an. „Hast du gehört, was Sophie gerade erzählt hat?“

Verunsichert schüttelte ich den Kopf, sagte aber nichts.

„Mrs. Hunts Sporthose ist am Po gerissen!”, flüsterte sie mir zu und hauchte mir ihren Atem ins Ohr, als sie wieder begann zu lachen.

Ich kann nicht sagen, ob es ihr warmer Atem war, oder die Tatsache, dass wir zusammen lachten, dass mir vom einen auf den anderen Moment nicht mehr kalt, sondern warm war.

Meine Wangen erhitzten sich und ich bekam Bauchweh, so sehr lachten wir.

Immer wieder spähten wir zu Mrs. Hunt, unserer Sportlehrerin, herüber und beobachteten unauffällig den Riss in ihrer Hose.

Er zog sich länglich über die Mitte hinunter. Es war wirklich eine unglückliche Stelle.

Eigentlich mochten wir sie, aber es war viel zu witzig, und ich wollte nicht die Spielverderberin sein, indem ich vorschlug, sie darauf aufmerksam zu machen.

Außerdem hätte sie dann auch gewusst, worüber wir die ganze Zeit gelacht hatten.

Bisher fand sie es noch schön, dass wir uns zusammen so amüsieren konnten und lächelte uns jedes Mal ermutigend zu, wenn wir sie mit hochrotem Kopf ansahen und das Gelächter für einen Moment unterdrückten.

Ihre Turnübungen verbesserten den Zustand ihrer Hose auch nicht. Der Riss wurde zusehends größer.

Emma und ich klammerten uns aneinander fest und tuschelten uns immer wieder Dinge zu, wie, dass sie doch langsam einen Luftzug in der Gegend verspüren müsse.

Wir lachten so laut, dass Mrs. Hunt irgendwann die Geduld verlor und sauer wurde.

Sie sagte, wir würden den Sportunterricht und stören unsere Übungen nicht durchführen.

Daher wurden wir vor die Tür geschickt und sollten erst wieder hereinkommen, wenn wir uns beruhigt hätten.

Das Problem an der Sache war leider nur, dass sich der Grund für unser Lachen in der Sporthalle und nicht draußen aufhielt.

Es würde also sofort wieder losgehen, würden wir zurück in die Halle kommen.

Sophie war etwas leiser gewesen als wir zwei und wurde deswegen einer anderen Zweiergruppe zugeteilt, während wir beide rausgingen.

Emma hatte aber andere Pläne, als in der Umkleide zu warten und nichts zu tun.

Sie schnappte sich ihre Jacke, ihre Mütze, ihren Schal und ihre Handschuhe, streifte sich ihre Winterschuhe über und stopfte ihre Kleidung in ihren Turnbeutel, während sie mir bedeutete, dasselbe zu tun.

Nachdem sie sich schnell alles übergezogen hatte, griff sie nach meiner Hand und zog mich mit vor die Tür.

Unsere Taschen hatten wir bei uns.

„Wohin gehen wir?“, fragte ich aufgeregt.

„Zu mir!“, rief sie mir über die Schulter zu, nachdem wir einige Meter gerannt waren. Was?! Wir schwänzten den Sportunterricht? Ich hatte bis dahin noch nicht eine Schulstunde verpasst.

Gut, ich war auch erst ein halbes Jahr dabei und womöglich lag die Verantwortung, dass ich da morgens auftauchte, eher bei meinen Eltern als bei mir. Aber dennoch war ich sehr gewissenhaft.

Ich sagte gar nichts, aber Emma spürte meine Zweifel genau.

„Rose, du machst dir wirklich um alles zu viele Gedanken. Der Unterricht ist gleich sowieso zu Ende. Sie wird es nicht merken.

Und wenn doch, dann reden meine Eltern uns da raus. Wichtiges Familienmeeting oder so. Und du wärst nicht anders nach Hause gekommen! Mein Chauffeur steht schon an den Gittern und wartet auf uns.“

Während sie mir das zurief, rannten wir immer weiter durch die dichte Schneedecke. Die Flocken rieselten mir sanft ins Gesicht.

Obwohl ich absolut kein rebellisches Kind war und mir bei dem Gedanken, „blau“ zu machen, eigentlich sofort schlecht geworden wäre, fühlte ich mich in diesem Moment unglaublich gut.

Ich dachte über ihre Worte nach. Chauffeur, Familienmeeting?

Was war sie? Eine Adlige?

Als ich die Möglichkeiten durchspielte, fiel mir auf, dass ich sie tatsächlich noch nie im Bus gesehen hatte.

Im Dorf war sie auch nie, soweit ich das wusste.

Nach einer Weile kam sie abrupt zum Stehen, sodass ich beinahe in sie hineingerannt wäre.

Sie sagte nichts, ich sagte nichts. Aber sie wusste, was ich dachte. Das spürte ich an ihrem Blick.

Ich rieb meine Augen und blinzelte zweimal, um sicherzugehen, dass ich keinen Knick in der Optik hatte.

Vor uns stand ein glänzender, schwarzer Rolls Royce.

Ein in einen Anzug gehüllten Mann erhob sich vom Fahrersitz und stieg aus, um Emma die Schultasche abzunehmen.

„Guten Morgen, Miss Price. Wie war Ihr Tag?“

„Sehr gut, Ryan, danke. Ich habe eine neue Freundin gefunden.

Sie heißt Rose Collins. Sie kommt heute mit zu uns“, sagte sie.

Ich war erstaunt über ihren gebildeten Sprachgebrauch. So sprach sie in der Schule nie. Spätestens jetzt aber wusste ich, woher ihre guten Manieren kamen. Sie kam wohl aus wohlhabenem Hause.

Der Mann nahm auch mir meinen Rucksack ab. „Miss“, sagte er, um mich aus meinen Gedanken zu reißen und mir anzuzeigen, dass ich einsteigen solle.

Ich ließ mich auf die Rückbank neben Emma fallen und musste schlagartig lächeln, als sie mich ansah und mir ebenfalls verschmitzt zugrinste.

Es war aufregend, mit ihr die Regeln zu brechen.

Ein schneller Blick auf meine Armbanduhr verriet mir, dass die anderen noch etwa zehn Minuten Unterricht hätten, bevor sie sich umzogen.

Das wusste ich so genau, weil ich die Uhr jede einzelne Sportstunde minütlich im Blick hatte, und Mrs. Hunt immer den gleichen Ablauf wählte.

Nur an diesem 14. Januar hatte ich noch nicht einmal auf die Uhr gesehen. Nicht einmal bis zu diesem Zeitpunkt und da stellte ich fest, wie schnell die Stunden vergangen waren.

4

14. Januar 2005

Die Autofahrt war unglaublich. Ryan spielte jede Musik, die wir uns wünschten, während Emma mir alles über die Geschichte Hastings und Ryes erzählte.

Dass Rye früher zum Städtebündnis der fünf englischen Kanalhäfen gehört hatte und, dass es im Verlauf der Geschichte häufig angegriffen worden war, so zum Beispiel 1377 durch die Franzosen.

Ich war begeistert.

Ich hatte keine Ahnung, was sie da sagte, was ein Städtebündnis oder ein Kanalhafen sein sollte oder warum die Franzosen uns hätten angreifen sollen.

Ich verstand es nicht. Aber ich fand es unheimlich toll, dass Emma offensichtlich verstand, was sie erzählte, und dass sie das überhaupt alles schon wusste.

Wir passierten Feldwege und Landstraßen, bis wir schließlich zu einem einsamen Waldweg kamen.

In diesem Wald war ich noch nie zuvor gewesen. Das musste schon etwas bedeuten, denn meine Familie und ich gingen viel mit unserem damaligen Hund Ben spazieren. Daher waren wir schon in einigen Wäldern in Rye und Hastings unterwegs gewesen.

Ich liebte Wälder. Die mysteriöse Atmosphäre, die Dunkelheit bei Nacht, die Natur, die Tiere, Rehe, Füchse, einfach alles.

Während wir den Waldweg entlangfuhren, wurde mir immer mehr bewusst, dass Emmas Haus wohl in einem Wald stehen musste.

„Gehört der Wald euch?“, fragte ich neugierig.

„Keine Ahnung“, sagte Emma. „Hier ist aber niemand außer uns. Also ist es mir auch egal. Es würde sich für mich nichts ändern.“

Wir kamen vor einem großen schwarzen Tor zum Stehen. Was dahinter war, erkannte ich nicht. Dafür waren die Mauer und das Tor viel zu hoch.

Ryan meldete sich an der Gegensprechanlage. Kurz darauf schob sich das schwere Tor langsam beiseite und gab den Blick auf einen unglaublichen Palast frei.

An dieser Stelle musste ich schmunzeln, als ich auf meinem Bett lag und mich daran erinnerte.

Nein, Emma lebte in keinem Palast. Es war ein riesiges Haus und sie hatten Unmengen an Geld, ja, aber ein Palast war es nun nicht.

Es war bloß mein fünfjähriges Ich, welches das Haus als viel imposanter und edler empfunden hatte, als es war. Aber Kindheitserinnerungen waren eben immer sehr eindrucksvoll, bis zu dem Moment, an dem man als Erwachsener zurückkehrte und alle Vorstellungen im Kopf zerplatzten.

Plötzlich waren die Mauer und das Tor am Eingang gar nicht mehr so unüberwindbar hoch, plötzlich lebte Emma in einem riesigen Haus und nicht mehr in einem Palast und plötzlich war man nicht mehr in einer anderen Welt, wenn man zu ihr fuhr, sondern einfach fünfzehn Minuten dorfauswärts in einem Wald.

Doch damals da entführte Emma mich in eine andere Welt. In eine märchenhafte Welt.

Ich schloss meine Augen erneut und war wieder mitten in meinem Tagtraum.

Mein fünfjähriges Ich stand vor diesem Palast und kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Mein Blick wanderte die Außenfassade hinauf und inspizierte jedes Fenster, jeden Stein und jede Regenrinne.

Die Dachziegel hätte ich auch noch in Augenschein genommen, wenn diese nicht von einer dicken Schneeschicht bedeckt gewesen wären.

Rechts neben dem Gemäuer führte ein asphaltierter Weg hinunter in eine Tiefgarage.

Dort war Ryan mit dem Rolls Royce verschwunden, nachdem er uns vorne abgesetzt hatte.

Auf der anderen Seite, links des Hauses, führte ein kleiner Steinpfad auf die rückwärtige Seite des Anwesens.

Ich konnte es nicht fassen. Am liebsten hätte ich jeden Quadratmeter dieses Grundstückes genauestens in Augenschein genommen, jeden Stein berührt und an jeder Pflanze gerochen.

Als ich dem Haus meinen Rücken zukehrte, erkannte ich, dass die Rasenflächen im Vorgarten ebenfalls schneeweiß und unberührt waren.

Der Schnee glitzerte im Licht der Mittagssonne.

Obwohl hier Kinder lebten, fanden sich keine Schuhspuren im Schnee. Die Schneedecke war vollkommen unberührt und makellos.

Makellos. Als ich über dieses Wort nachdachte, fiel mir auf, dass das gesamte Anwesen makellos schien.

Ebenso wie Emma.

An dieser Stelle war es mir noch nicht klar gewesen. Es war mir mehr als ein Jahrzehnt nicht klar gewesen, aber nicht nur Emma, sondern ihre ganze Familie, ihr ganzes Anwesen und ihr ganzes Leben hatten mich in diesem Moment bedingungslos in ihren Bann gezogen.

Doch bevor ich das auch nur ansatzweise realisieren konnte, zog Emma mich lachend am Arm mit sich. „Genug geglotzt, komm!“

Wir eilten die Steintreppe zur schwarzen Hauseingangstür hinauf und hämmerten dreimal laut mit dem aus Bronze gefertigten Türklopfer, der den Kopf eines Löwenmännchens zeigte, gegen das Holz.

Es dauerte keine zehn Sekunden und uns wurde geöffnet. Von Ryan. Er war offensichtlich über einen anderen Weg ins Haus gelangt.

„Miss“, sagte er und verbeugte sich einmal, während Emma an ihm vorbeiging. Mir warf er nur ein verhaltenes Lächeln zu.

Er schloss die Doppelflügeltür mit erheblicher Kraftanstrengung und folgte uns anschließend, um uns unsere Jacken und Schuhe abzunehmen.

„Mum, Dad, Jay! Ich bin wieder da!“, schrie sie durch den großen Eingangsbereich und verschwand danach direkt hinter der nächsten großen Tür rechts neben uns, um ihre beiden Hunde, die schon freudig bellend auf sie zugerannt kamen, zu begrüßen.

Ich erkannte, dass es zwei Beagle waren, konnte mich aber noch nicht von dem Anblick der Eingangshalle losreißen und beschloss daher, die beiden später zu streicheln.

Die Decke war meterhoch. Ich legte meinen Kopf in den Nacken und schaute mir den edlen Kronleuchter an, dessen Licht die Eingangshalle in einen warmen Goldton tauchte.

Ich fühlte mich so klein.

Okay, ich war klein.

Meine Füße kuschelten sich in einen gemütlichen Rauhaarteppich, welcher auf dem dunklen Parkett in der Mitte des Raumes lag.

Mit meinen Augen erklomm ich jede Stufe der breiten Holztreppe, die sich die rechte und hintere Wand entlang in einem großen Bogen hinauf in die erste Etage wand.

Von dort, wo ich stand, konnte ich noch die erste Etage einsehen.

Auf den Ruf von Emma hin, hörte ich das Knallen einer Tür.

Wenig später sah ich zum aller ersten Mal in meinem Leben ihn.

Er stand oben, lehnte sich an das Geländer und schaute zu mir herunter.

Jayden Price. Damals zwölf Jahre alt, mein großer blonder Märchenprinz, dachte ich.

Mein Herz machte einen Satz, während meine Gedanken zu einem zähen Brei zusammenflossen.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich keine Ahnung, was das für Gefühle waren. Aufregung, Bauchkribbeln.

Ich war doch noch ein Kind.

Kinder verliebten sich nicht. Oder doch?

Doch. Offensichtlich.

Plötzlich kam er mit großen Schritten die Treppe heruntergerannt. Nein, nicht zu mir, um mich zu begrüßen, wie man jetzt vielleicht denken könnte.

Er rannte an mir vorbei, würdigte mich nicht eines Blickes und ich hörte, wie er hinter mir begann, seine Schwester anzuschreien.

„Du weißt ganz genau, dass Mom und Dad keinen unangekündigten Besuch wollen! Ich muss sowas vorher absprechen, dann musst du das auch!“, fauchte er gehässig.

Da war es wieder.

Dieses unbehagliche Gefühl.

Dieses Gefühl, immer unerwünscht zu sein.

Immer eine Person zu viel im Raum zu sein.

Ich weiß, was ihr jetzt sagen würdet. Ganz schön dunkle Gedanken für eine Fünfjährige.

Ich würde sagen, so klar war es mir damals nicht, aber das Gefühl war tatsächlich sehr dunkel.

Ich schlich mich also vorsichtig durch den kleinen Türspalt der großen Flügeltür, welcher offensichtlich in das Esszimmer führte.

Emma und Jayden standen neben einer langen gedeckten Tafel und gestikulierten wild und aufgeregt, während sie sich auf aggressive Weise irgendwelche Sachen zuflüsterten, die ich ganz offensichtlich nicht mitbekommen sollte.

Noch ein Schlag für mein Selbstbewusstsein.

Aber es war vermutlich eine Familienangelegenheit, und ich sollte es nicht persönlich nehmen.

Das wusste ich jetzt, aber damals wusste ich es nicht.

Daher nahm ich es persönlich.

Unauffällig wandte ich mich ein Stück von den beiden ab und blinzelte meine aufsteigenden Tränen weg, während ich mich zu den beiden Hunden am Boden kniete und sie krampfhaft kraulte, um abgelenkt zu wirken.

In dem Moment schob sich die Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes auf und eine Frau und ein Mann kamen hindurch. Sie schlossen sie hinter sich ab und schoben einen kleinen Riegel vor.

Das mussten Emmas Eltern sein.

Der Speisesaal hatte noch zwei weitere Türen. Diese auf der linken Seite führte zur Küche, diese in der hinteren linken Ecke zu einer Veranda. Wohin die Tür dazwischen führte, wusste ich lange Zeit nicht, denn sie war immer abgeschlossen.

Immer.

5

14. Januar 2005

Die Zwei lächelten mich freundlich an und hießen mich willkommen.

Mein Unwohlsein verschwand sofort und ich schenkte ihnen mein süßestes Lächeln.

So süß, wie das eben mit fehlenden Milchzähnen sein konnte.

Der Mann hatte graues, schütteres Haar und wirkte insgesamt sehr viel älter, als er vermutlich war.

Seine Frau musste Emmas Mutter sein. Sie war bildschön. Ihre blonden Haare trug sie zu einem strengen Knoten im Nacken.

Wenn sie lächelte, bekam sie leichte Lachfältchen an den Augen. Aber es störte nicht, im Gegenteil, es passte in ihr Gesicht und sowieso war ich damals viel zu abgelenkt von ihrem perfekt strahlenden weißen Lächeln.

Sie stellten sich mir als Darcy und Chester Price vor.

Als sie mich nach meinem Namen fragten, sah ich verunsichert zu Emma herüber.

Sie schaute mich nicht an, bemerkte aber die zwei Sekunden Stille, die auf diese Frage hin herrschten. Sie schien mich innerhalb von einem Tag besser zu kennen als jeder andere.

Vielleicht sogar besser als meine Eltern.

„Rose Collins“, antwortete sie daher stellvertretend für mich und griff dabei nach meiner Hand hinter ihrem Rücken, um mir zu signalisieren, dass sie für mich da war.

Sie baten mich, zum Essen zu bleiben und stellten danach auch keine weiteren unangenehmen Fragen.

Das empfand ich damals als sehr schön. Ich war glücklich, das Essen schmeckte hervorragend, gegenüber von mir saß der schönste Junge, den ich je gesehen hatte, neben mir saß das tollste Mädchen, das ich kannte, mit dem ich schon so lange befreundet sein wollte und dann waren da noch diese netten Eltern der beiden.

Ich fühlte mich zum ersten Mal wohl unter fremden Menschen.

Nach dem Essen nahm Emma mich mit in ihr Zimmer. Sie führte mich die große Treppe in der Eingangshalle hoch und wies mich an, weiter geradeaus dem langen Flur zu folgen, der in einer Glasfront endete.

Ich ging ihn bis zum Ende durch und blieb vor dem Fenster stehen.

Mein Blick fiel hinunter in den perfekt eingeschneiten Vorgarten.

„Hier ist mein Zimmer“, sagte sie und verschwand in der Tür links neben mir.

Mir war aufgefallen, dass ich bisher noch nichts gesagt hatte, seitdem ich das Haus betreten hatte.

„Ja“, antwortete ich daher, einfach um etwas gesagt zu haben.

Ihr Zimmer war kein typisches Kinderzimmer. Spielzeug fand man hier nicht. Es sah mehr aus wie das Zimmer eines Teenagers oder zumindest einer etwas älteren Person als einer Siebenjährigen.

„Wo sind deine Spielsachen?“, fragte ich irritiert und zugleich ein wenig enttäuscht nach.

Ich hatte mich unbewusst darauf gefreut, mit ihren besonderen Spielsachen zu spielen.

Emma ignorierte meine Frage zunächst und hockte sich hinter ihr Bett, welches mit dem Kopfende an der rechten Wand und mit dem Fußende in der Mitte des Raumes stand.

Sie zog Schlittschuhe hervor.

„Ich spiele immer draußen. Kannst du Eislaufen?“, rief sie begeistert.

Der Stil des Zimmers war wie der Rest des Hauses auch; dunkle Holzmöbel, dunkle Wandfarben und zum Teil goldene Verzierungen und Details.

Durch das Fenster an der hinteren Wand konnte ich in den Garten hinunterschauen und erkannte, dass das Grundstück sich noch etliche Meter weiterzog.

Der Garten musste riesig sein.

Ich nickte wohl euphorisch, denn sie sprang begeistert auf und rief: „Super!“

Im Vorbeigehen zog sie mich mit sich.

Irgendwie hatte sie etwas Herrisches an sich.

Aber das war mir egal. Ich brauchte jemanden, der mich leitete.

Sonst war ich wie ein verlorenes Kind in der Dunkelheit.

Wir rannten hinaus in den Garten hinter dem Haus. Hier schien es egal, dass die makellose Schneedecke zerstört wurde, hier durften wir Kind sein.

Emma griff nach etwas Schnee und formte ihn in ihren Fäustlingen zu einem festen Ball zusammen, um ihn gleich darauf nach mir zu werfen.

Sie verfehlte mich. Ich lachte hämisch und tat es ihr nach.

Gerade als sie sich umdrehte, um einen weiteren Schneeball nach mir zu werfen, traf ich sie am Hinterkopf.

Erst erschrak ich, weil ich dachte, sie würde jetzt sicher sauer auf mich sein.

Doch Emma drehte sich nur zu mir um und lachte. Sie lachte so herzlich, dass ich direkt mitlachen musste.

Während wir immer weiter in den Wald hineinrannten, versteckten wir uns hinter jedem nächsten Baum, damit wir nicht vom Schneeball des anderen getroffen wurden. Wir krochen durch den Schnee, formten Schneeengel und lachten.

Es war der schönste Nachmittag, den ich nach der Schule je gehabt hatte.

Es war einfach wunderbar.

Nach einer Weile kamen wir zu einem zugefrorenen See mitten im Wald.

Ich schaute einen Augenblick ungläubig auf das kleine Gewässer und konnte nicht fassen, dass Emma hier lebte und dass sie mir das alles zeigte.

Sie hatte eine Schlittschuhbahn im Garten!

Vorsichtig stellte ich einen Fuß auf die Eisschicht und ließ mich einige Meter auf den See hinausgleiten.

„Ist fest!“, rief ich und war dabei erstaunt über meinen eigenen Mut.

Emma machte etwas mit mir. Nach wenigen Stunden schon war ich mehr ich selbst, als ich es zu Hause war.

Sie schlitterte mir hinterher und reichte mir die Schlittschuhe.

Ihre eigenen hatte sie schon angezogen.

Während sie für mich das Schnüren übernahm, weil ich mich damit nicht auskannte, beobachtete ich die weißen Flocken in ihren roten Haaren.

Der Kontrast zwischen ihren farbigen Haaren und der weißen Landschaft verzauberte mich.

Ebenso, wie ihre schneeweiße Haut und ihre roten Wangen.

Diese ganzen Dinge waren mir häufig erst im Nachhinein aufgefallen, wenn mir die Bilder wieder lebhaft vor meinem inneren Auge oder im Traum erschienen.

Als fünfjähriges Kind hatte ich weniger poetisch darüber nachgedacht.

Aber ich liebe es, dass mir diese Erinnerungen auch heute noch so klar erscheinen, denn ich entdecke immer wieder neue Details, die mir früher nicht aufgefallen sind.

Damals war mir auch nicht klar gewesen, wie nachhaltig mich dieser eine Tag eigentlich verändert hatte.

Aber heute würde ich sagen, ich wurde zu einer Rose, die ich besser leiden kann.

Wir fuhren über die massive Eisschicht und drehten dabei Kreise umeinander. Ich hatte den Dreh wirklich schnell heraus und konnte nach kurzer Zeit bereits recht sicher fahren.

Als es wieder begann zu schneien, fingen wir die Schneeflocken mit unseren Zungen und lachten, wenn wir uns ansahen und Grimassen schnitten.

Dieser Moment war wirklich das, was ich heute ein „Winterwonderland“ nenne.

6

23. Mai 2016

Es klopfte an der Tür und ich schreckte hoch.

Na toll, herzlich willkommen zurück in der Realität, dachte ich.

Meine Mutter stand in der Tür und steckte ihren Kopf durch den kleinen Spalt.

„Hey Schatz. Noah ist unten.“

Ich nickte und bedeutete ihr, sie solle ihn hochschicken.

Noch hatte ich keine Lust, ein Wort mit ihr zu wechseln.

Ich war noch gefangen in meinen Kindheitserinnerungen.

Schnell schaltete ich meine Musik leiser und räumte meinen Schulkram beiseite, den ich, seit ich vor zwei Stunden nach Hause gekommen war, noch nicht weggeräumt hatte.

Noah öffnete meine Zimmertür und warf mir direkt einen genervten Blick zu. Ich wusste, was er dachte.

Ich wusste es ganz genau.

Es wunderte mich auch nicht, dass er hier war.

Im Gegenteil.

Ich hatte damit schon gerechnet. Er kam eigentlich immer zu mir, wenn Emma mal wieder einen ihrer merkwürdigen Tage hatte.

Seufzend ließ er sich auf mein Bett fallen. Sein Blick blieb an meinem aufgeschlagenen Notizbuch hängen, in dem ich meine Lieblingszitate sammelte. Scheiße, ich hatte gerade hineingeschrieben, während ich an die Erinnerung am See dachte und hatte vergessen, es wegzuräumen.

Eine Rose blüht am Ufer des Sees, rot wie Blut und voller Mut windet sie sich ihren Weg durch die Klauen des Schnees in die Freiheit, wo alles so kalt, wo alles Leben erfroren und doch blüht sie, wie neu geboren.

Ich starre auf das kleine Wunder und stelle fest, es macht meine Welt ein bisschen bunter.

Diese Zeilen hatte ich ausnahmsweise mal selbst geschrieben.

Normalerweise schrieb ich keine Gedichte, aber immer, wenn ich mich an den Tag am See mit Emma erinnerte, hatte ich das Bedürfnis, meine Gedanken aufzuschreiben.

„Wow, Rose. Das ist wunderschön. Hast du das geschrieben?“,

wollte er wissen.

Ich hasste es, wenn Menschen meine innersten Empfindungen lesen konnten. Deshalb wollte ich nie, dass jemand mein Notizbuch in die Hände bekam.

„Ja“, begann ich zögerlich zu erzählen. Er war mein bester Freund, wem sollte ich davon erzählen, wenn nicht ihm?

„Das Gedicht handelt von Emma - im Grunde - Sie ist die Rose.

Ich war damals mit ihr am See, weißt du ja, von dem Tag habe ich dir schon oft erzählt. Da war ich so begeistert von ihren fast strahlenden roten Haaren in der Winterlandschaft. Ich hatte das Gefühl… naja, ich weiß auch nicht“, ich wusste es ganz genau, aber es war mir peinlich es auszusprechen.

Noah schaute mich erwartungsvoll an.

„Nun ja, also ich hatte das Gefühl, sie sei das kleine bisschen Farbe, das mir in meinem tristen Leben noch gefehlt hatte. Natürlich nicht, weil sie rote Haare hat, sondern weil sie mich glücklich machte“ „Rose“, er stoppte mich, bevor ich mich noch mehr in meinen Erklärungen verhaspelte. „Mir ist absolut klar, was du sagen möchtest und, dass das metaphorisch zu sehen ist.“

Er schwieg kurz und las die Zeilen ein zweites Mal, dann ein drittes und viertes Mal.

„Ich liebe es“, sagte er und lächelte mich an. „Und Emma würde es auch lieben“, fügte er hinzu.

Ich atmete einmal tief durch und zog meine Augenbrauen hoch.

„Heute nicht“, stellte ich fest und spielte damit auf ihr merkwürdiges Verhalten in der Schule ein paar Stunden zuvor an.

Noah wandte sich von mir ab und schaute aus dem Fenster, wo die weißen Blütenblätter unseres Kirschbaumes langsam einen grünen Farbton annahmen. Der Sommer stand kurz vor der Tür.

Ich merkte, wie er über seine Wortwahl nachdachte. Er war immer sehr bedacht, nicht schlecht über andere zu reden, wenn sie nicht da waren und sich nicht rechtfertigen konnten.

Alberne Denkweise, wenn man mich fragt, aber so war Noah nun mal. Und irgendwie war das auch etwas, das ich an ihm so mochte.

„Ich verstehe ihr Verhalten einfach nicht. Ich meine, was will sie damit denn bezwecken? Aufmerksamkeit? Die kriegt sie doch so schon von jedem. Bevor sie ihre Stimmungsschwan- kungen hatte, wollte jeder mit ihr befreundet sein. Jetzt weiß keiner mehr, mit ihr umzugehen, außer uns.“

Ich schüttelte gedankenverloren den Kopf. „Ich bin langsam auch am Ende mit meinem Latein. Es wird immer schlimmer, Noah“, sagte ich eindringlich und durchbohrte ihn dabei mit meinem Blick, bis er mich nun auch aus besorgten Augen heraus ansah. „Ich weiß.“

„Ich habe das Gefühl, ich bin ihr etwas schuldig. Ich müsse ewig bei ihr bleiben, weil sie mein Leben so nachhaltig verändert hat. Weil sie immer für mich da war und weil sie immer meine perfekte beste Freundin mit ein bisschen zu viel schlechter Laune an dem einen oder anderen Tag war.

Aber jetzt… ich weiß auch nicht. Ich habe den Eindruck es wird öfter und schlimmer.“

Noah stand von meinem Bett auf und schaltete die Musik um.

Er stand nicht so auf softe Lieder wie ich. Er hörte Rock und Metal. Gar nicht meins, aber trotzdem immer wieder gut, um angestaute Aggressionen rauszulassen.

„Heute war es wirklich gefährlich. Diese Woche fahre ich sicher nicht mehr mit ihr. Ich fahre selbst, kann dich morgen abholen, wenn du willst?“

Ich nickte dankbar. Bei dem Gedanken an die Autofahrt heute zog sich mein Magen wieder zusammen.

Ich hatte noch nie in meinem Leben Panik gehabt.

Bis heute.

Und ich wollte so etwas nie wieder fühlen.

Nie wieder.

„Was wollen wir denn jetzt machen wegen Em‘?“, fragte er schließlich, während im Hintergrund seine Lieblingsband Linkin Park einstimmte. Mit diesen Liedern konnte ich mich gut arrangieren.

„Erstmal können wir gar nichts machen. Ich würde das weiter beobachten und wenn es sich nicht bessert oder schlimmer wird, sollten wir sie mal darauf ansprechen. Ich habe Angst, dass sie krank ist oder so.“

Seine schokoladenbraunen Augen schauten mich besorgt an.

Während er nachdachte, formte sich auf seiner gebräunten rechten Wange ein Grübchen. In seinem linken Ohrloch steckte ein schwarzer Tunnelohrring von wenigen Millimetern Durchmesser.

Erst war ich wenig begeistert von seiner Idee gewesen, sich einen Tunnel stanzen zu lassen, aber jetzt fand ich, dass es ihm unheimlich gut stand. Es passte und sah stylisch aus.

„Ich habe auch Angst um sie“, antwortete er bloß, um dann wenig später hinzuzufügen, dass er es aber kaum mehr mit ihr aushalte.

„Warten wir erstmal ab, was der Tag morgen bringt“, schlug ich vor und schaltete den Fernseher ein, um ihm zu signalisieren, dass ich nicht weiter darüber sprechen wollte.

Es machte mich traurig, weil ich nicht wusste, was mit ihr los war. Ich wollte ihr helfen. Man konnte spüren, dass da mehr hintersteckte als einfach nur schlechte Laune.

Zum Glück verstand Noah meinen Wink oder er dachte dasselbe, denn er verlor den restlichen Nachmittag auch kein weiteres Wort über sie.

7

Die Tage darauf verliefen recht normal.

Emma, Noah und ich trafen uns mehrfach für unser Literatur-Projekt in Literatur. Wir sollten einen Kurzfilm darüber drehen, wie wir das Ende von „Der Vorleser“ in Eigenregie gestaltet hätten.

„Der Vorleser“ wurde von Bernhard Schlink geschrieben und handelte von einer geheimen Liebschaft zwischen einer rätselhaften Frau und einem Jugendlichen, der ihr täglich aus ihren Lieblingsbüchern vorlas, weil sie nicht lesen konnte.

Bis sie eines Tages einfach verschwand.

Die Frau, Hanna, war im Nationalsozialismus in Deutschland Wärterin in einem der Konzentrationslager gewesen und wurde für ihre Taten zu lebenslanger Haft verurteilt.

Der Junge, Michael, durfte im Rahmen seines Studiums als Beobachter an diesem Prozess teilnehmen.

Es war das erste Wiedersehen der beiden nach Jahren.

Es hatte mich immer so sehr aufgeregt, dass sie von einem auf den anderen Tag einfach verschwand und dass sie sich am Ende im Gefängnis das Leben nahm.

Umso glücklicher machte es mich, dass wir das Ende nun selbst gestalten durften.

Zu diesem Zeitpunkt, als wir den Film drehen sollten, stand ich allerdings noch auf Drama, weshalb unser Ende natürlich äußerst dramatisch werden sollte.

Sie erhängte sich in der Geschichte Schlinks im Gefängnis.

Wir änderten es so, dass Hanna nicht mehrere Jahre verschwand, sondern wenige Monate, und dass Michael als ziviler Beobachter in einem der Öffentlichkeit zugänglichen Prozess wieder auf sie traf.

Hannas Strafe sollte gemildert werden, weil Michael ihre Unschuld beweisen konnte, indem er dem Richter - anders als in Schlinks Erzählungen - von ihrem Analphabetismus berichtete, womit deutlich wurde, dass sie einen Großteil der ihr vorgeworfenen Taten nicht begangen haben konnte.

Danach sollten die beiden wieder eine Nacht zusammen verbringen, in der Hanna sich vor seinen Augen erhängen sollte, weil sie aufgrund ihrer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe nicht mehr leben wollte.

Damals fand ich die Idee spannend.

Jetzt würde ich sagen, mein Gott, lasst sie einfach abhauen und den Jungen nie wiedersehen. Das machte doch alles einfacher.

Aber hinterher ist man ja bekanntlich immer schlauer.

Mir fallen Parallelen zu meinem Sommer auf, die mich schwindelig machen.

Ich kann nicht mehr klar denken, wenn mir das Projekt in den Kopf kommt, vor allem wenn ich unseren Film anschaue.

Daher schaue ich ihn mir nicht mehr an.

27. Mai 2016

Es war wenige Tage später, als wir begannen, den Kurzfilm zu drehen. Die Tage zuvor hatten wir nur geplant, was wir wie drehen wollten.

Emma war wieder ganz die Alte. Es machte richtig Spaß mit ihr. Wir lachten viel und Noah und ich warfen uns zwischendurch immer wieder erleichterte Blicke zu.

Am 27. Mai begannen wir zu drehen. Dann könnten wir über die Ferien vom 28. Mai bis zum 5. Juni drehen, bearbeiten und schneiden.

Es war ein Freitag, als wir nach der Schule gemeinsam zu Emma fuhren.

Bei ihr zu Hause gab es einen riesigen Konferenzraum, in dem wir den Gerichtssaal nachstellen könnten.

Ich filmte, Emma spielte Hanna und Noah Michael.

Da jede Gruppe zu einem anderen Zeitpunkt im Schuljahr an der Reihe war, ihr Filmprojekt zu einem literarischen Werk zu präsentieren, hatten die anderen Kursmitglieder Zeit, uns bei den Filmarbeiten als Statisten zu unterstützen. So füllten wir den „Gerichtssaal“ mit mehreren Mitschülern.

Die Rolle des Richters übernahm Phil Cooper. Zu ihm passte die Rolle am besten.

Schon in der Gerichtsverhandlung war die Anspannung von Hanna zu spüren, dass sie keine Ahnung hatte, warum ihr was vorgeworfen wurde und dass sie sich nicht verteidigen konnte, sondern dass sie mit ihren Äußerungen stattdessen alles nur schlimmer machte.

Emma spielte die Rolle wahnsinnig überzeugend. Erst hatten wir überlegt, wer von uns beiden filmen sollte und wer die Protagonistin spielen durfte, aber im Endeffekt fand ich, dass es da nicht eine Sekunde was zu überlegen gegeben hätte.

Die Situation spitzte sich zu, als Michael zum Richter eilte und ihm von Hannas Unschuld erzählte. Er flehte ihn förmlich an, seine Geliebte nicht für Taten anderer zu verurteilen.

Der Zwiespalt des Richters kam zum Ausdruck. Perfekt.

Für die wenigen Voraussetzungen, die uns zur Verfügung standen, war ich absolut zufrieden.

Als wir die Szenen im Gerichtssaal abgedreht hatten, legten wir eine Drehpause ein.

Noah und ich holten Getränke aus der Küche.

„Emma ist unglaublich als Hanna. Ich spiele Michael nicht im Ansatz so gut, wie sie ihre Rolle“, schwärmte Noah, während wir die einzelnen Gläser stapelten und die Säfte aus dem Kühlschrank holten. „Ja, finde ich auch. Zum Glück spiele ich sie nicht. Das wäre ganz schön in die Hose gegangen“, sagte ich und nahm ein weiteres Glas aus dem Schrank.

Bei dem Gedanken daran musste ich lachen.

Als ich mich jedoch umdrehte, erschrak ich so sehr, dass mein Lachen sofort erstickte.

Das Glas glitt durch meine Finger und zersplitterte am Boden.

Sprachlos fiel mein Blick allerdings nicht auf das Scherbenmeer unter mir, sondern auf die Person, die im Türrahmen stand.

Auch in seinen braunen Augen stand der Schock mich zu sehen.

Okay, vielleicht der Schock uns zu sehen. Warum auch immer.

Jayden war wieder zurück aus York.

Meine Knie begannen zu zittern und ich spürte, wie ich rot wurde.

Mir fiel auf, dass er erschöpft aussah.

Unter seinen Augen waren dunkle Augenringe und sein Gesicht war farblos.

Braun zu werden, lag zwar nicht gerade in der Genetik der Prices, aber so blass hatte ich ihn trotzdem lange nicht gesehen.

Seine goldblonden Locken waren länger als sonst, zumindest oben und vorne. An den Seiten und am Hinterkopf trug er sie kurzrasiert.

Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich ihn mit einem Bart.

Zwar nur einen Drei-Tage-Bart, aber es ließ ihn gleich viel reifer wirken.

„Hi, Rose. Hi, Noah“, begrüßte er uns mit seinem müden, aber süßen Lächeln und musste gleich darauf über meinen kleinen Fauxpas lachen.

Toll, danke. Er hatte eh schon bemerkt, dass ich ihn gut fand.

Jetzt fiel mir auch noch das Glas aus der Hand, wenn ich ihn sah.

Einfach peinlich.

„Was machst du denn schon hier?“, fragte Noah, der ihn jetzt natürlich auch bemerkt hatte und voller Freude zu ihrem typischen Handschlag ansetzte.

Ja, Jayden war eigentlich noch mitten im Trimester.

So wie ich das verstanden hatte, dauerte sein Term von April bis Juni und erst dann hätte er fünf Wochen frei.

„Im dritten Term haben wir keine Vorlesungen, nur ein paar Wiederholungskurse“, erklärte er.

Aber, was war mit seinen Klausuren?

Noah zog ihn kurz an sich und schlug ihm kräftig auf den Rücken. „Alter, du hast mir gefehlt!“, fügte er lachend hinzu.

Mir hatte er auch gefehlt. Aber das konnte ich ja schlecht sagen.

Während die beiden sich unterhielten, begann ich schon mal damit, die Scherben zusammenzufegen. Ich tat so, als würde es mich nicht besonders interessieren, was er über die Uni in York zu berichten hatte, aber in Wahrheit hörte ich aufmerksam zu.

Vielleicht fiel ja ein Mädchenname. Über Emma würde ich eh nichts herausfinden, also warum sowas dann nicht gleich aus erster Quelle erfahren?

„Lass uns dann unbedingt mal was starten, wenn du jetzt wieder hier bist“, schlug Noah vor.

„Ja, kann aber erst im Juli. Im Moment sind meine Klausuren und Prüfungen.“

Noah runzelte die Stirn.

„Ich habe im Moment zwei Wochen Pause zwischen den Prüfungen und kann hier besser lernen. Danach fahre ich wieder nach York“, versuchte er sich schnell zu erklären.

Als Noah ihn noch weiter fragte, wie es denn so als Student sei und wie die Uni so ablaufe, wirkte er jedoch nicht sehr gesprächig.

Er studierte erst seit Oktober letzten Jahres und war in der Zeit selten hier gewesen. Natürlich war es da spannend zu erfahren, wie alles so lief.