Oneiroi - Jar Milla - E-Book

Oneiroi E-Book

Jar Milla

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Beschreibung

Ob Ehemann, Verlobter, Freund oder Geschäftspartner – die Männer in Julias Leben ereilt stets dasselbe Schicksal. Sie sterben und die meisten von ihnen in recht jungen Jahren. Rasch stellt sich bei Julia der Verdacht ein, dass die tödlichen Unfälle und Todesfälle mit angeblich natürlichen Ursachen alles andere als zufällig waren. Doch auch als sie der Polizei ihren Verdacht und sogar haarsträubende Beweise vorlegt, stößt sie bei Kommissar Rukem auf taube Ohren und gerät kurzfristig sogar selbst unter Mordverdacht. Ihre letzte Hoffnung sieht sie darin, den Fall selbst zu lösen. Aber auch das bringt ihr kein Glück. Erschienen 2013 unter dem Pseudonym Zoe Zander. Dies ist eine komplett überarbeitete Neuauflage.

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Veröffentlichungsjahr: 2023

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118. Heute, Montag, 01.04.2013
119. Heute, Mittwoch, 03.07.2013
120. Autorin
121. Wenn ein Fall nicht reicht ...
122. ... muss ein Sammelband her.
123. Wenn man sich durch Grenzen nicht aufhalten lässt ...

 

 

 

Oneiroi

 

 

 

 

Dämonen der Nacht

 

 

Jar Milla

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

© 2022 Jar Milla

Oneiroi – Dämonen der Nacht

Überarbeitete Neuauflage

Die Erstauflage erschien unter dem Pseudonym Zoe Zander

Krimi/Thriller

Alle Rechte vorbehalten

Cover und Covergestaltung: Jar Milla

Buchsatz und Textgestaltung: Jar Milla

Korrektorat: Jenni Fenko

 

 

Postadresse:

Jar Milla/Zoe Zander

Albertgasse 49/12a

1080 Wien

 

E-Mail: [email protected]

Autorenseite: www.zoe-zander.at

 

 

 

1. Widmung

 

 

Viele Männer starben, weil sie Julia ihr Geheimnis anvertrauten. Ich wünschte – du hättest mir deines anvertraut.

 

Es wäre so schön, meine Freude über dieses Buch mit dir teilen zu können:

 

In Gedenken an

Ulrich „Ueli“ Andreas Studer (1960 – 2012)

 

 

2. Dämonen der Nacht

 

 

Die Nacht bricht ein

und öffnet die Pforten,

die das Tageslicht sonst

fest verschossen hält.

 

Gesichtslose Gestalten

verlassen ihr Versteck

und kriechen nun hinein

in meine heile Welt.

 

Sie vertreiben die Sterne

in unendliche Weiten ...

Worauf gefräßige Dunkelheit

bemächtigt sich meiner Sicht.

 

Ihr inhaltsloses Geflüster

pflanzt in meinem Kopf

beängstigende Gedanken ...

Mein Verstand daran fast zerbricht.

 

Diese Dämonen der Nacht

kommen unangekündigt

und ohne erkennbare Absicht.

Angelockt von meiner Nyktophobie*.

 

Ihre Hinterlassenschaft

trägt eine Botschaft voller Angst:

Oneiroi – ein Albtraum.

Verloren in meiner Fantasie ...

 

Jar Milla

 

 

*Angst vor der Dunkelheit

 

 

3. Prolog

 

 

Mein eigener Schrei erschreckt mich fast zu Tode. Ich fühle mich, als hätte mich gerade eben jemand an den Haaren aus dem Tiefschlaf gezerrt und mir mit Gewalt die Lider geöffnet.

Mein Herz hämmert mit all seiner Kraft gegen meinen Brustkorb.

Träume ich nur, dass ich wach bin? Oder stecke ich etwa immer noch in diesem Albtraum fest?

Der Schmerz treibt mir Tränen in die Augen. Mein verschlafener Blick hat so keine Chance, in der Dunkelheit irgendwas zu erkennen.

Eine Sekunde noch. Eine einzige Sekunde noch und ich wäre bestimmt dahintergekommen ...

Als hätte mich eine unbekannte Macht aus dem Tiefschlaf geholt, nur um zu verhindern, dass ich das Rätsel rund um meinen Albtraum löse.

Meine Sinne sind noch nicht ganz wach, also versuche ich mich auf eigene Faust zu erinnern, wo ich bin und warum es hier so verdammt finster ist.

 

Ein eiskalter Luftzug verfängt sich in den Schweißperlen auf meinen Schläfen. Ich fröstle. Blind suche ich nach dem Zipfel der Decke, um sie höher zu ziehen.

Ein warmer Atemzug fasst mir wie eine fremde Hand an den Nacken und ich erschrecke erneut. Meine Sinne flattern wie ein aufgescheuchter Taubenhaufen umher. Mit ihnen auch meine Orientierung und mein Gleichgewicht. Ein Anflug von Schwäche erwischt mich völlig unvorbereitet. Bevor ich schlaff auf die Matratze fallen kann, werde ich von zwei kräftigen Armen aufgefangen.

Ich seufze laut. Um dieses unerwünschte Nachtgespenst zu vertreiben. Dem Schmerz in meiner Brust Gehör zu verschaffen und um mich selbst wahrzunehmen, wenn schon die Dunkelheit meinen Augen einen Streich spielt.

Er streift mir unterdessen beruhigend mit seiner Wange übers Haar und küsst mich auf den Hinterkopf.

 

Abgesehen von dem unartikulierten Laut von vorhin bin ich im Augenblick zu nichts fähig. Lange Minuten vergehen, ehe mein Herz aufhört, mir mit einem Affentempo das Blut durch die Venen zu jagen, und mein Gehirn endlich wieder einen klaren Gedanken hervorbringt.

Ich schiebe die Arme meines Bruders von mir, als wären sie ein Mantel aus Blei, der mich mit seinem Gewicht zu erdrücken droht. Auch wenn sich meine Augen mittlerweile in der Dunkelheit zurechtgefunden haben, tue ich so, als könnte ich ihn nicht sehen. Ich streife das zerknitterte Leintuch glatt und lege mich erneut hin.

„Du hast geschrien“, rechtfertigt er seine Anwesenheit in meinem Zimmer.

„Wie spät ist es?“ Ich habe keine Lust auf Unterhaltung und hoffe, er begreift, dass ich alleine sein möchte.

„Halb drei.“ Er steht auf und begibt sich ohne Eile zur Tür.

„Roland!“ Mein Anstand ruft sich mir ins Bewusstsein. Er lehnt sich nur durch den Türspalt ins Zimmer zurück. „Danke.“ Ich bemühe mich gar nicht um ein Lächeln. Es ist zu dunkel, als dass er es erkennen könnte.

„Schlaf gut.“

Auch wenn er für mich nur ein Schatten in der Tür ist, weiß ich, dass sein Gesicht die kantigen Züge behält. Roland lächelt nie. Ich kann mich jedenfalls nicht entsinnen, wann ich ihn das letzte Mal – und ob ich ihn überhaupt jemals – lächelnd oder gar lachend gesehen habe.

 

Ich versuche, es mir wieder bequem zu machen, aber an Schlaf brauche ich keinen Gedanken mehr zu verschwenden.

 

Ein Albtraum. Dieser eine Albtraum. Schon wieder. Er kommt nicht oft. Bislang nur ein einziges Mal. Und obwohl ich mich nicht an den Inhalt erinnern kann, weiß ich ganz genau, wann er mich das erste Mal heimgesucht hat: Im Herbst 1989, in der Nacht vor dem Geburtstag meines kleinen Bruders.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

4. Die Familie

 

 

5. 1989

 

 

„Langsam, Roman, sonst brichst du dir das Genick!“, ermahnte ihn meine Mutter zum hundertsten Mal, ohne ihren eigenen Worten ernsthaft Glauben zu schenken, und widmete sich sofort wieder ihrer Teerunde.

Es war Sonntag. Am Himmel herrschte strahlender Sonnenschein. Nichts deutete auf das Unwetter hin, das die Wettermänner im Fernsehen vorhergesagt hatten. Für so einen spätherbstlichen Tag war es ungewöhnlich warm. Jeder der Feiergäste trug nur leichte Bekleidung. In vollen Zügen genossen sie gemeinsam diesen herrlichen Wochenendtag. Und, natürlich, auch den Geburtstagskuchen.

Die Kinder rannten kreuz und quer. Mal spielten sie Blindekuh, mal Fangen. Die Größeren waren um den Kassettenrekorder versammelt und diskutierten über die neuesten Hits. Die Männer begutachteten das erst vor Kurzem angeschaffte Familienauto des Gastgebers und brüsteten sich damit, wessen Fahrzeug mehr Pferdestärken besaß und mehr Sonderwünsche erfüllte. Die Frauen verglichen die Ergebnisse ihrer strengen Diäten ...

 

Mit einem Schlag machte sich Stille auf der Spielwiese breit. Daraufhin verstummten auch die anderen Gäste und drehten ihre Köpfe in die Richtung, wo noch vor Sekunden gekichert und gegluckst wurde.

„O mein Gott!“ Meine Mutter sprang aus ihrem Rattansessel und rannte zu der Unglücksstelle.

„O mein Gott!“ Mein Vater ließ die Bierdose aus der Hand fallen und der Luxusflitzer war binnen Sekunden Schnee von gestern.

„Roman!“ Beide liefen quer durch den Garten zu der vor Schreck erstarrten Kindergruppe.

Mitten unter ihnen lag er. Blutüberströmt und reglos. Nur langsam begriffen die anderen, was passiert war, und kamen nach. Sprachlos sahen sie meinen Eltern zu, wie sie meinem Bruder Erste Hilfe leisteten. In den Gesichtern der Anwesenden spiegelte sich blankes Entsetzen wider. Sogar das aufgemalte Lachen des bezahlten Clowns verzog sich zu einer undefinierbaren Grimasse.

„Was ist mit ihm?“, fragte ich als Erste das, was jeden der Zuschauer brennend interessierte, sich aber keiner zu fragen traute.

„Er atmet noch.“ Meine Mutter wischte sich das Blut in ihre schönste Bluse und sah zu mir hoch. „Julia, lauf ins Haus und ruf die Rettung an!“

Ich rannte sofort los und alle blickten bestürzt zu Boden. Das Geschehen muss sie paralysiert haben. Warum war sonst keiner bislang auf die Idee gekommen, professionelle Hilfe zu holen.

„Ich fahre!“ Mein Vater hob meinen kleinen Bruder vom Boden hoch. „Erinnere dich daran, wie es war, als wir noch bauten. Jeder Baustofflieferant verfuhr sich. Ich will nicht ewig auf den Notarzt warten. Bis sie uns finden, wird es womöglich zu spät sein.“

Sie nickte nur stumm zur Antwort und folgte ihm im Laufschritt zum Wagen.

In dieser Situation war es ihm egal, dass die Sonderausführung der Bezüge so viel extra gekostet hatte. Sie deckten nichts ab, um es vor dem Blut zu schützen. Kaum lag mein kleiner Bruder halbwegs sicher auf dem Rücksitz, fuhren sie los ...

 

Als ich aus dem Haus kam, sah ich nur mehr die Rücklichter des Wagens durch die Hecke schimmern. Ich hörte noch, wie alle ihnen Mut zuriefen. Und da zogen schon von irgendwo dichte Wolken daher. Ein greller Blitz erleuchtete den grauen Himmel und es donnerte in der Ferne. Die anderen Eltern riefen ihre Kinder zusammen und verließen fluchtartig unser Grundstück. Als wollten sie nicht nur dem Unwetter, sondern auch der Tragödie davonlaufen.

 

Auf einmal fand ich mich alleine in dem riesigen Garten vor. Überall standen Tische und Stühle, die weggeräumt gehörten. Genauso wie die vielen Gläser, Teller und die Speisen samt Getränken, die übrig geblieben waren. Immer wieder suchte mein Blick nach der Stelle, wo ich den Wagen zuletzt gesehen hatte. Und dann wanderte er zurück zu dem Platz, wo mein Bruder über eine aus der Erde herausragende Wurzel gestolpert war. Er hatte sie beim Toben in der Blumenwiese nicht gesehen. Beim Fallen schlug er mit der Stirn auf einem Stein auf. Erst gestern habe ich den Rasen gemäht und konnte es mir nicht erklären. Gestern war die Wiese garantiert steinfrei gewesen.

Der nächste Donnerschlag holte mich aus meiner Trance. Seufzend betrachtete ich all das, was nass zu werden drohte.

„Wo soll ich bloß anfangen?“, fragte ich laut, um mich nicht in der Angst um meinen kleinen Bruder zu verlieren.

„Komm, ich helfe dir“, sagte jemand hinter meinem Rücken.

Apathisch drehte ich mich zu der Stimme und erblickte den Clown. Er hatte sich das breite Grinsen bereits aus dem Gesicht gewischt. Wahrscheinlich fand er es in solch einer Situation unpassend.

Ich starrte reglos in sein Gesicht, als würde ich darin die Spiegelung der Rücklichter des Autos meiner Eltern suchen. Erst mit den ersten schweren Regentropfen, die wie Hammerschläge auf den Terrassenboden trommelten, kehrte das Leben in meinen starren Körper zurück.

 

Nein!

 

Das Geschehen warf mich völlig aus der Bahn. Erschöpft und durchnässt torkelte ich durch die Hintertür des Hauses direkt in die Küche bis hin zur Spüle, um mir ein Glas Wasser zu holen. Hinter meinem Rücken quietschte es, aber ich schenkte dem Geräusch keine Aufmerksamkeit. Mein Blick war zum Fenster gerichtet, als suchte ich zwischen den Regentropfen nach den Wagenlichtern.

Schon wieder.

Doch außer Sträuchern, die sich im Wind verbogen, und Blumen, deren Blätter und Blüten sich unter der Last des Wassers zum Boden neigten, war weit und breit nichts zu erkennen.

Instinktiv führte ich mir das Glas zu den Lippen, mein Blick haftete weiterhin am Fenster.

Ich beschäftigte mich damit, mir jede Einzelheit des Gartenfestes ins Gedächtnis zu rufen. Ich merkte gar nicht, wie man die Küchentür schloss und mir einen Pullover über die Schultern streifte. Ich reagierte nicht auf das Klingeln des Telefons. Das Gespräch des Clowns mit der Rettungszentrale bekam ich nur flüchtig mit.

Mein Vater hatte richtig gelegen. Man versuchte vergebens, die Rettungskräfte zu unserem Haus zu lotsen.

 

Irgendwann verstummte die Stimme hinter meinem Rücken. Auch das Klirren des Geschirrs nahm sein Ende und als der Geschirrspüler leise zu summen begann, raschelte es noch kurz, bevor direkt vor meinem Gesicht ein undefinierbares Tier aus bunten Luftballons erschien.

Es wackelte hin und her.

„Endlich geschafft! Wir sind fertig.“

Der Clown versuchte mich mit allen Mitteln abzulenken, die er aus seinen Hosentaschen zaubern konnte. Nur leider war ich längst dem Alter entwachsen, in dem ich mich von undefinierbaren Gestalten aus aufgeblasenem Gummi beeindrucken ließ.

„Kann ich mir auch etwas zum Trinken nehmen?“

Schweigend holte ich aus der Anrichte ein weiteres Glas, füllte es mit Leitungswasser an und reichte es ihm. Er betrachtete dabei mein blasses Gesicht und bemerkte meinen Blick, den ich gleich wieder zum Fenster richtete.

„Es wird schon wieder. Du wirst sehen, es wird alles gut.“

Es fiel ihm nicht auf, dass ich ihm gar nicht richtig zuhörte. Ich suchte nicht mehr nach bekannten Rücklichtern, sondern starrte zur Einfahrt hinaus.

Zwei grelle Scheinwerfer näherten sich in der Dämmerung unserem Haus. Aber nicht diese Lichter ließen mein Herz schneller schlagen, sondern das Blaulicht am Dach des Wagens.

Stumm schob ich den Clown zur Seite, auch wenn er um einen Kopf größer und um etliche Kilo schwerer war als ich. Wie ferngesteuert taumelte ich zum Terrassenausgang. Noch bevor die zwei Fremden anklopfen konnten, öffnete ich die Tür.

 

„Nein!“, brüllte ich laut und das, bevor die zwei Männer auch nur einen Ton von sich gaben.

Als hätte man mir unerträgliche Schmerzen zugefügt.

Die Polizisten nahmen ihre Mützen ab und richteten ihre Blicke zu Boden.

„Nein!“, griff ich nach dem Türrahmen, um mich festzuhalten. Meine Knie knickten ein.

Einer der Beamten holte tief Luft, aber ich war schneller.

„Nein!“ Tränen schossen mir in die Augen. Die Tränen, die ich mir bislang verkniffen hatte. Auch wenn es die ganze Zeit den Anschein hatte, als würde ich den jungen Mann im Clownskostüm gar nicht beachten. In Wirklichkeit wollte ich nicht, dass er mitbekam, wie mir vor Angst die Knie schlotterten und ich vor Sorgen hätte sterben können. Er sollte mich für ein starkes Mädchen halten und nicht für eine Heulsuse.

„Auf der Bundesstraße ist ein Unfall passiert.“

Einer der uniformierten Männer steckte rasch seinen Fuß in den Türrahmen, bevor ich ihnen die Tür vor der Nase zuschlagen konnte. Mit viel Kraft drückte er dagegen, denn ich wollte sie unbedingt samt ihrer schrecklichen Nachricht aussperren. Als ob ich tatsächlich glaubte, damit alles ungeschehen machen zu können.

Die Angst schwächte mich und bald fehlte es mir an Kraft, um ihn weiter abzuwehren. Panisch verdeckte ich mir mit den Handflächen die Ohren und wandte mich von ihm ab.

„Ich will es nicht hören!“

Als wäre das sechzehnjährige Mädchen in mir auch mit dem Wagen fortgefahren. Ich fühlte mich plötzlich wie ein kleines Kind. Von den Eltern zurückgelassen und meiner Panik und Angst schutzlos ausgeliefert.

Der Mann in Uniform blickte ratlos den Clown mit verlaufener Schminke an.

„Wer sind Sie?“

Der schrill angezogene und durchnässte junge Mann schob mich zur Seite und trat den Polizisten selbstsicher entgegen.

„Mein Name ist Martin Piha.“

Die Männer wirkten überrascht.

„Wie man unschwer erkennen kann, bin ich der Geburtstagsclown“, erklärte er sein Outfit. „Als es anfing zu regnen, machten sich alle davon. Ich wollte und konnte sie nicht alleine lassen.“

In dem Farbklecks auf seinem Gesicht konnten sie seine Augen wahrscheinlich nur erahnen.

„Was ist denn los, was ist passiert?“

Während es so aussah, als konnte ich die Gedanken der Polizisten lesen, schien er nichts begriffen zu haben.

Die Männer stiegen bedrückt von einem Fuß auf den anderen und räusperten sich.

„Sind keine Erwachsenen im Haus?“

„Ich bin einundzwanzig. Ist Ihnen das etwa nicht erwachsen genug?“

„Ich dachte an Verwandte von ihr. Großeltern, oder wenigstens der ältere Bruder.“

„Soweit ich weiß, leben die Großeltern nicht mehr und ihr Bruder ist beim Heer. Also, was ist los?!“ Seine Stimme bekam unerwartet einen aggressiven Unterton.

„Die Straße war nass ... das feuchte Laub ... zu schnell gefahren ...“

„Es ist im Bermuda-Dreieck passiert“, fuhr der zweite Mann fort, bediente sich dabei der örtlichen Bezeichnung.

„Die Planken?“

Die Männer schüttelten ihre Köpfe.

„Den steilen Hang hinab...“

„Bis in die Schottergrube ...“

„Aber die ist doch voll mit Wasser?!“

Dem Freizeitclown war die Gegend bestens bekannt.

 

Der Weg in die Bundeshauptstadt war eine gerade Strecke. Wie geschaffen zum Rasen. Eine Waagerechte. Keine Steigungen und auch kein Gefälle. Keine Kurven – bis auf diese eine. Es war wohl die schärfste Kurve im ganzen Bundesland.

Die Autofahrer nannten diese Stelle das Bermuda-Dreieck. Wenn nach einem Regen bereits alle Straßen der Umgebung trocken waren, war dieser Abschnitt noch mit einem dünnen und verhängnisvollen Wasserfilm bedeckt. Und schneite es im Winter, bildete sich hier sofort Glatteis. Auf dieser Strecke passierten die meisten Unfälle. Viele Beteiligte kehrten – wie aus dem echten Dreieck – nie mehr nach Hause zurück.

 

„In welches Spital hat man sie gebracht?“

Tiefer konnten die Männer ihre Blicke nicht mehr senken.

„Die hiesige Feuerwehr war sofort zur Stelle und ...“

„Es tut uns schrecklich leid, Julia ...“, wandte sich der größere Polizist erneut an mich.

„Alle drei?“, erzitterte jetzt sogar die Stimme des Clowns.

Sie nickten nur.

„Nein!“

Meine Knie gaben endgültig nach und ich rauschte zu Boden. Keiner der drei schaffte es, mich rechtzeitig aufzufangen.

 

„Sie kann hier nicht alleine bleiben“, fuhr der Polizeibeamte fort.

„Dann bleibe ich über Nacht hier“, bot sich der junge Mann sofort an.

„Es geht nicht nur um diese Nacht“, versuchte ihm der Polizist klarzumachen.

„Dann nehme ich sie zu uns, bis ihr Bruder zurückkommt.“ Er hatte gleich eine Lösung parat.

„Nichts für ungut, Herr Piha. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Ihr Vater damit einverstanden sein wird.“ Dem Beamten entwich unbewusst ein freches Grinsen.

„Und wie er damit einverstanden sein wird. Wie ich ihn kenne, wird er sogar meinen, es hätte ihm nichts Besseres passieren können“, bemerkte Martin sarkastisch.

Die Polizisten wollten seinen Plan nicht weiter hinterfragen. Im Grunde waren sie bestimmt froh, dass sie nicht nur die schlechte Nachricht, sondern auch die Aufgabe los waren, sich um eine verbliebene Minderjährige kümmern zu müssen.

„Nun denn ... Die Krisenintervention des Roten Kreuzes wurde bereits verständigt. Wir müssen nun weiter ...“

Die Hiobsboten setzten sich ihre Mützen wieder auf und liefen durch den Regen zu ihrem Wagen zurück.

 

Der Geburtstagsclown schloss die Tür hinter ihnen, bückte sich zu mir runter und zog mich auf die Beine hoch.

Ich bibberte. Ich selbst war mir nicht sicher, ob ich es dem plötzlichen Temperatursturz zu verdanken hatte, oder dem Schock über den unerwarteten Verlust meiner beinahe gesamten Familie.

„Du solltest die nassen Klamotten ausziehen, heiß duschen und ins Bett gehen.“ Er bereute bestimmt längst seinen vorschnellen Entschluss und hoffte sicher, die Leute vom Roten Kreuz würden bald kommen.

„Ich koche dir derweilen einen heißen Tee und bringe ihn dir nach.“

Als Antwort bekam er von mir nur ein Nicken. Wozu noch reden? Kein Wort würde an meinem Schicksal noch etwas ändern können.

Mit leichtem Druck schob er mich von der Anrichte mit dem Messerblock weg. Als würde er befürchten, ich könnte auf eigenartige Gedanken kommen und mir etwas antun.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

6. Martin Piha

 

 

 

 

7. Heute, Freitag, 16.10.1998

 

 

Es regnet in Strömen. Die Erde ist aufgeweicht, die Absätze der Frauen versinken im Matsch. Der Wind nimmt an Stärke zu und bläst allen Trauergästen die Herbstblätter in ihre bedrückten Gesichter. Die andächtigen Worte des Pfarrers sind so fesselnd, keiner bemerkt das grelle Aufblitzen, niemand schenkt dem grollenden Donner Beachtung.

Die Männer stellen die Krägen ihrer dunklen Mäntel auf. Die Frauen ziehen sich ihre schwarzen Hüte tiefer in die Gesichter. Die Ehemänner drücken ihre besseren Hälften näher an sich heran. Die anderen rücken mehr zusammen, um der Kälte besser Widerstand leisten zu können. Die vergossenen Tränen fallen in dem Unwetter kaum auf.

Es ist ein Freitagnachmittag. Ein stinknormaler Nachmittag an einem Herbstfreitag, so wie es einige im Oktober gibt, und das jedes Jahr aufs Neue. Aber an diesem Tag hat sich hier die halbe Ortschaft versammelt. Eigentlich wollten sie alle kommen, aber dann wäre das Leben in dieser kleinen Stadt zum Erliegen gekommen. Zudem ist der Friedhof für solche Menschenmassen nicht gemacht.

Alle sind schockiert. Alle leiden mit den Hinterbliebenen mit. Alle trauern um das junge Leben. Keiner kann fassen, was geschehen ist.

Der Himmel öffnet seine Pforten und das Wasser fällt regelrecht wie eine Flutwelle auf die Trauernden hinab. Der Pfarrer beendet seine Ansprache, bückt sich hinunter, nimmt die kleine Schaufel in die Hand und wirft als Erster ein Häufchen Erde in die Grube.

Die Frau in der ersten Reihe bricht zusammen. Zwei Männer müssen sie stützen, sonst könnte sie in den Matsch fallen.

Der Wind wird noch stärker und heult nun mit dieser Frau um die Wette.

Langsam schreiten die Trauergäste ans offene Grab. Manche von ihnen werfen die nasse Erde hinein, andere Blumen. Im Vorbeigehen reichen sie den Angehörigen die Hand. Nach dem ausgesprochenen Beileid eilen sie davon. So sehr ihnen diese Tragödie auch nahe geht, der kalte Regen tut es ebenso. Dieser eine Tod reicht. Sie wollen ihn sich nicht auch holen.

 

 

8. 11 Jahre zuvor

 

 

„Hast du etwa die ganze Nacht auf dem Stuhl verbracht?“, fragte ich neugierig und starrte dennoch desinteressiert ins Nirgendwo.

„Ja.“ Er nahm die Füße von meinem Schreibtisch herunter und schob den Bürostuhl zu meinem Bett.

„Dein Tee ist leider kalt geworden.“

Auch das war mir egal, denn nur der Tee meiner Mutter konnte jeden Herzschmerz lindern. Dieser hier schmeckte bestimmt nach nichts.

„Wieso steckt der Sohn des Landeshauptmanns in einem Clownskostüm und macht sich auf einer Kindergeburtstagsparty zum Affen?“

Meine Bettdecke musste unterdessen als Taschentuch herhalten. Er sollte meine Tränen nicht sehen.

„Seit du zehn bist, schmachten sie dich alle an. Schmelzen bei deinem Anblick dahin. Und du hast sie bislang von deinem hohen Ross keines Blickes gewürdigt. Sind sie etwa schon so lästig geworden, dass du dich vor ihnen in diesen grässlichen Fetzen verstecken musst?“, ätzte ich herablassend.

Er beugte sich über mich, schüttelte amüsiert seine Lockenperücke.

„Mein Vater hat eine besondere Vorstellung von finanzieller Unterstützung. Auf diese Art komme ich selbst für mein Studium auf. Ist doch nichts dabei. Außerdem erkennt mich kaum jemand in diesen Klamotten, also müssen mir diese grässlichen“, äffte er mich nach, „Fetzen nicht peinlich sein.“

Die Wolle auf seinem Kopf juckte wohl, denn er kratzte sich immer wieder.

„Mir war auch bislang nicht bekannt, dass du mit Worten genauso geschickt umgehst wie mit einer Heugabel.“

„Pff!“ Ich rutschte näher zur Wand. „Als ob du mich jemals in den Ställen deiner Eltern bemerkt hättest.“

Es war sonst nicht meine Art, so unfreundlich zu sein. Aber dieses Schmähen lenkte mich von meinem Schmerz ab.

Nein. Nichts kann mich auf andere Gedanken bringen.

Es half mir nur, meinen Tränen besser Herrin zu werden.

„Du warst immer die schmutzigste Pferdepflegerin.“

Im Gegensatz zu ihm konnte ich über seine Bemerkung nicht lachen.

„Du warst aber immer die zuverlässigste Zeitungsausträgerin.“

Ich horchte auf.

„Ich finde, du hättest bei der damaligen Meisterschaft die Goldmedaille verdient.“

Erstaunt drehte ich mich auf den Rücken und blinzelte ihn an. Meine blutunterlaufenen Augen brannten unerträglich.

„Ich studiere Geschichte und Sport fürs Lehramt. Schon seit Jahren sehe ich mir jeden deiner Wettkämpfe an.“

„Was bin ich für dich? Ein Studienobjekt?“ Für Komplimente dieser Art war ich noch zu – pubertär.

Ich wollte mich wieder von ihm wegdrehen.

„Du bist genauso trotzig wie damals, als die Russin den ersten Platz bekam.“

„Ich war damals vierzehn und sie hat nur deshalb gewonnen, weil man in dem Ausschnitt ihres Sportdresses ihre Titten sehen konnte!“

„Neidisch? Weil du damals noch nichts zum Vorzeigen hattest?“

Da entging sogar mir ungewollt ein Lachen.

„Du hast doch ein Jahr drauf den ersten Platz gewonnen, während sie –“

„Den Juryvorsitzenden wegen Verführung einer Minderjährigen vors Gericht schleppte.“

Die Erinnerungen sorgten bei mir nur ganz kurz für Erheiterung. Bald darauf war mein Schlafzimmer wieder mit einer bedrückenden Stille gefüllt.

Er nahm mich am Kinn und drehte meinen Kopf so, dass er mir in die Augen sehen konnte. Ihr Hellblau schien ihm sehr gut zu gefallen. Ich mochte es auch, weil es mich an den Himmel erinnerte. An den Himmel an sonnigen Tagen. Genau solchen wie an diesem Nachmittag. Als meine Welt noch in Ordnung war.

Verwirrt, verunsichert und etwas eingeschüchtert ließ ich ihn tief in meine himmelblauen Augen blicken.

 

„Wenn du möchtest, bin ich von nun an für immer für dich da ...“

 

 

9. Heute, Freitag, 16.10.1998

 

 

Langsam lichten sich die Reihen der Trauernden. Zum Schluss bleiben wir nur mehr zu dritt übrig. Die ganze Zeit stehe ich abseits und auch jetzt komme ich nur zögernd ans Grab. Mit einem flüchtigen Kuss verabschiede ich mich von der Rose und werfe sie samt einem Umschlag in die Tiefe. Der Regen prasselt mir dabei ins Gesicht, dennoch hebe ich den Kopf hoch und sehe zu dem Paar unter dem großen Regenschirm hinüber. So gebrochen die Frau auch wirkt, meinem Blick weicht sie energisch aus. Ich hätte nicht gedacht, dass etwas noch kälter sein konnte als der Wind, der mir um die Ohren bläst.

Der Mann durchbohrt mich mit seinem eisigen Blick, als müsste mein Herz nicht schon genug Leid ertragen. Ich bin die Einzige, die nicht zu ihnen geht, um ihnen mein Beileid auszusprechen. Ohne ein Wort zu sagen oder auch nur zu nicken, begebe ich mich zum Ausgang.

 

Vor dem schmiedeeisernen Tor bleibe ich kurz stehen. Bereits vor Beginn der Trauerfeier sind mir die zwei Männer aufgefallen, die vergebens Schutz unter der kahlen Linde suchten. Mittlerweile müssen sie bis auf die Knochen durchnässt sein. Dennoch warten sie weiter. So lange, bis ich mich in die entgegengesetzte Richtung begebe. Erst jetzt laufen sie mir nach.

Bevor mich einer von ihnen ansprechen kann, ergreife ich das Wort:

„Ich habe gehört, Sie waren dort.“

„Ja.“ Er sieht dabei überrascht seinen Begleiter an, als würde er ihn fragen wollen, woher ich weiß, wer er ist. Unter anderen Umständen hätte ihm vielleicht meine Gabe erklärt, mir Gesichter gut zu merken. Egal ob aus der Schulzeit oder Zeitungsartikeln.

„Ich war mit meinem Hund spazieren, als ich zufällig an der Stelle vorbeikam –“

Ich springe ihm ins Wort:

„Ich würde gerne Näheres erfahren.“

„Nicht in diesem strömenden Regen.“ Das Wasser läuft ihm über das Gesicht und auch hinter den Kragen. Seine Lederjacke mag einer bekannten Designerhand entsprungen sein. Für so ein Wetter ist sie jedoch gänzlich ungeeignet.

„Wie wär`s mit Babsi? Bei einer Tasse Kaffee?“, lädt er mich in den örtlichen Schnellimbiss ein.

„Sind Sie nicht im Dienst?“

Er trägt zwar keine Uniform, aber eine Hecke ohne Blätter ist kein gutes Versteck für ein Polizeiauto.

„Nicht mehr. Aber mein Dienstwagen ist beim Service.“ Aus irgendeinem undefinierbaren Grund fühlt er sich zu einer Erklärung genötigt.

„So“, bemerke ich karg. „Sie werden bestimmt verstehen, dass mir im Augenblick nicht nach Kaffee zumute ist.“ Ich drehe mich um und eile zum Parkplatz. Der Mann läuft mir weiter nach, greift nach meiner Hand und drückt mir eine Karte in meinen schwarzen Samthandschuh.

„Rufen Sie mich an. Wann immer Sie wollen.“

Ich betrachte kurz das Kärtchen.

„Das werde ich machen, Kommissar Rukem.“ Ich sehe ihm zum ersten Mal seit Beginn unseres Gespräches direkt in die Augen. „Das mache ich bestimmt.“

Ich begebe mich quer über den Parkplatz.

„Es tut mir leid, was passiert ist!“, ruft er mir laut nach.

Ich drehe mich nicht mehr um, sondern eile zu dem einsamen Wagen mit laufendem Motor.

 

*

 

„Wer war das?“

„Der Polizist, der ihn gefunden hat.“

„Was hat er gewollt?“

„Mir sein Beileid aussprechen.“

„Ach so? Und wieso stehen sie immer noch dort?“

Er kann seinen Blick nicht von den zwei Männern lösen. Ich sehe auch kurz hin.

„Er erklärt seinem Kollegen, wer ich bin.“

„Wieso?“

„Weil der denkt, ich wäre eine von denen.“

„Von wem?“

„Na, von denen.“

„Ach du Scheiße!“ Er steigt augenblicklich aufs Gas und versucht, der fotografierenden Horde zu entkommen. Das gestaltet sich äußerst schwierig, wenn er keinen der Presseleute über den Haufen fahren will. „Sagtest du nicht, sie seien von der Polizei?“

„Ja.“ Ich nehme mir den Hut vom Kopf und richte mir das Haar zurecht.

„Wieso vertreiben sie dann dieses Pack nicht?“

Ich blicke durchs Fenster, versuche zwischen all den Köpfen, die ins Wageninnere starren, die Gesichter der Männer zu finden.

„Weil er seinen Kollegen gerade darüber aufklärt, dass du nicht mein neuer Lover, sondern mein Bruder bist.“

Roland grinst.

„Die haben auch nur das Eine im Kopf.“

„Das bezweifle ich. Er hat ihm damit bestimmt nur deine Abwesenheit bei der Beerdigung erklärt.“

„Die waren ja auch nicht dabei. Ich muss ja nicht eine Freundschaft vorheucheln, die keine war.“

„Das hat ihm der Eine auch gerade erklärt.“

„Was?“

„Dass du Martin nicht ausstehen konntest.“

„Also so würde ich das nicht nennen.“

„Beschwere dich nicht bei mir, ich habe das nicht gesagt.“

Ich vergesse für einen Augenblick den Lärm um uns herum ...

 

„Das ist also die Julia Becker. Jetzt ist mir klar, warum sie der Bürgermeister die ganze Zeit so schief angesehen hat. Aber ist sie nicht etwa die ...?“

„Ja, genau die. Es war mein Vater, der ihr damals die Nachricht vom Tod ihrer Eltern überbrachte.“

„Traurig. Wie viel Pech kann ein einzelner Mensch eigentlich ertragen? Und dann auch noch so einen Bruder ...“

„Wieso? Was stimmt nicht mit ihm?“

„Ein komischer Kauz. Die Leute können ihn nicht ausstehen. Ein Psychologe, oder Psychiater.“

„Kein Wunder. So jemandem würde ich auch nicht über den Weg trauen.“

 

Ich niste mich in den vorgewärmten Autositz hinein.

„Kannst du sie etwa bei dem ganzen Lärm verstehen?“ Ich sehe ihm an, wie er versucht, die Entfernung zu den Männern abzuschätzen.

„Nein. Aber ich kann von den Lippen ablesen.“

„Und was sagen sie jetzt?“

„Es schickt sich nicht, fremde Gespräche zu belauschen.“

Ich bringe es nicht fertig, ihre Worte zu wiederholen, ohne von den Erinnerungen eingeholt zu werden. Und das möchte ich nicht.

Ich nehme meinen Hut und halte ihn ans Fenster, um mich vor den vielen Blitzlichtern zu schützen.

Roland öffnet das Fenster.

„Na, wurde auch Zeit!“, ärgert er sich über das Zögern der Polizisten, die erst jetzt dazustoßen und die Fotografen und Reporter zum Anstand ermahnen.

 

 

10. Sommer 1992

 

 

„Julia!“

Ich ließ mich nicht davon abschrecken, erwischt zu werden. Auch wenn ich meinen Bruder bereits im Nacken spüren konnte.

Ich nahm Martins Hand noch fester in meine und zog ihn beherzt durch den dichten Baumwuchs. Zielsicher bahnte ich mir den Weg durch das Dickicht, als könnte ich deutlich einen Pfad erkennen.

Martin stolperte mir vertrauensvoll hinterher.

„Julia!“

Einige Sträucher weiter klang Rolands Stimme so weit entfernt, als wäre es mir endlich gelungen, ihn abzuschütteln.

---ENDE DER LESEPROBE---