Onkel Wanja - Anton Tschechow - E-Book

Onkel Wanja E-Book

Anton Tschechow

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Beschreibung

Ein emeritierter Professor und seine junge Frau Helena ziehen aufs Land. Dort geht der Professor allen Leuten mit seiner Lethargie und mit eingebildeten Krankheiten auf die Nerven. Iwán Petrówitsch Wojnízkij, genannt Onkel Wanja, sein Schwager aus erster Ehe, ist Verwalter des Landguts. Seine Tochter Sonja ist bei Wanja auf dem Gut aufgewachsen. Das inzwischen erwachsene, nicht allzu hübsche Mädchen schwärmt seit Langem für den Bezirksarzt Astrow, der – mit Wanja befreundet – gelegentlich zu Besuch kommt. Astrow, ein engagierter Naturschützer und Vegetarier, der hoffnungslos überarbeitet und, von dem stumpfsinnigen Landleben verbittert, zum Trinker geworden ist, macht Helena Avancen, doch die Liebelei endet, bevor sie beginnt.

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Seitenzahl: 88

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LUNATA

Onkel Wanja

Schauspiel in vier Aufzügen

Anton Tschechow

Onkel Wanja

Schauspiel in vier Aufzügen

© 1896 Anton Tschechow

Originaltitel Djadja Wanja

Aus dem Russischen von August Scholz

© Lunata Berlin 2020

Inhalt

Personen

Erster Aufzug

Zweiter Aufzug

Dritter Aufzug

Vierter Aufzug

Über den Autor

Personen

Serebrjakow, Alexander Wladimirowitsch, Professor a. D.

Helena Andrejewna, seine Gattin in zweiter Ehe, 27 Jahre alt

Sonja, seine Tochter aus erster Ehe

Wojnizkaja, Maria Wassiljewna, Geheimratswitwe, Mutter der ersten Gattin Serebrjakows

Wojnizki, Iwan Petrowitsch, ihr Sohn

Astrow, Michail Lwowitsch, Arzt

Teljegin, Ilja Iljitsch, verarmter Gutsbesitzer

Marina, eine alte Kinderfrau

Ein Arbeiter

Ein Knecht

Ort der Handlung: Serebrjakows Gut

Erster Aufzug

Garten. Man sieht einen Teil des Wohnhauses samt der Terrasse. Unter einer alten Pappel an der Allee ein Tisch, auf dem der Tee serviert ist. Bänke, Stühle; auf einer der Bänke liegt eine Gitarre. Nicht weit von dem Tische eine Schaukel. – Zeit: drei Uhr nachmittags. Trübes Wetter. Marina, eine aufgedunsene, schwerfällige alte Frau, sitzt mit dem Strickstrumpf vor dem Samowar. Astrow geht auf und ab.

Marinaschenkt ein Glas Tee ein. Trink, Väterchen!

Astrownimmt zögernd das Glas. Hab' eigentlich keinen Appetit.

Marina. Vielleicht trinkst du ein Schnäpschen?

Astrow. Danke – ich trinke nicht alle Tage Branntwein. Und dann ist's auch so drückend schwül. Pause. Sag' mal, Altchen: wie lange ist's her, daß wir beide uns kennen?

Marina.sinnt nach. Wie lange? Da muß ich erst mal nachdenken … Du bist hier in unsere Gegend gekommen … wann war's doch gleich? … Sonjas Mutter war damals noch am Leben. Durch zwei Winter kamst du damals zu uns … na, das wird also elf Jahre her sein. Nachsinnend. Vielleicht auch schon länger …

Astrow. Hab' ich mich seit jener Zeit sehr verändert?

Marina. Freilich hast du dich sehr verändert. Damals warst du jung und hübsch, und jetzt bist du eben älter geworden. Auch so hübsch bist du nicht mehr. Na, und dann trinkst du auch gern ein Schnäpschen …

Astrow. Ja … in zehn Jahren bin ich wohl ein anderer Mensch geworden. Überarbeitet hab' ich mich, Altchen. Vom frühen Morgen bis in die späte Nacht bin ich auf den Beinen, Ruhe kenn' ich nicht, und wenn ich des Nachts unter meiner Bettdecke liege, schwebe ich beständig in Angst, dass man mich wieder zu einem Kranken holen könnte. Solange wir uns kennen, hab' ich nicht einen einzigen freien Tag gehabt. Wie soll man da nicht alt werden? Und dann ist dieses Leben schon an sich so langweilig, so dumm, so schmutzig … anwidern muss es einen. Rings um dich nichts als Sonderlinge, lauter Sonderlinge; lebt man mit der Gesellschaft zwei, drei Jahre zusammen, wird man selber zum Sonderling, eh' man's merkt. Das unvermeidliche Los! Dreht seinen langen Schnurrbart. Da – wie lang mein Schnurrbart gewachsen ist … was für ein dummer Schnurrbart! Ja, Altchen, auch ich bin ein Sonderling geworden! … Ganz verdummt bin ich, Gott sei Dank, noch nicht, das Gehirn ist immer noch auf seinem alten Fleck – aber die Empfindungen sind sozusagen abgestumpft. Ich habe keinen Wunsch, kein Bedürfnis, und ich liebe niemanden … Du bist vielleicht die einzige, die ich liebe. Küßt ihren Kopf. In meiner Kindheit hatte ich auch eine Kinderfrau – ganz so war sie, wie du bist …

Marina Möchtest du vielleicht was essen?

Astrow. Danke … In den großen Fasten neulich, in der dritten Woche, fuhr ich nach Malizkoje, wo eine Epidemie herrschte … Flecktyphus war's … In den Bauernhütten lag ein Kranker neben dem andern ... Alles voll Schmutz, voll Gestank, voll Rauch, Kälber und Ferkel lagen mit Menschen zusammen auf der Erde … Den ganzen Tag rannt' ich hin und her, nicht einen Augenblick Ruhe, nicht einen Tropfen zur Erfrischung. Dann komm' ich nach Hause, will mich verpusten – ja, läßt man mich denn dazu kommen? Da haben sie mir den Weichensteller ins Haus gebracht; ich leg' ihn auf den Tisch, um eine Operation an ihm vorzunehmen, und was passiert? Er stirbt mir unter den Händen, in der Narkose! Und wo ich's gerade am wenigsten brauchen kann, beginnt das Gefühl sich in mir zu regen. Und ich bekomme Gewissensbisse, als ob ich den armen Kerl absichtlich getötet hätte … Da saß ich nun, schloss die Augen und dachte so bei mir: ob wohl nach ein-, zweihundert Jahren die späteren Geschlechter, denen wir jetzt den Weg bahnen, auch nur ein freundliches Wort der Erinnerung für uns übrig haben werden? Was meinst du, Altchen?

Marina. Menschen werden es dir nicht lohnen, dafür wird Gott es dir lohnen.

Astrow. Das hast du schön gesagt … ich danke dir.

Wojnizki kommt vom Hause her; er hat nach dem Frühstück ein Schläfchen gemacht; seine Kleider sehen zerknittert aus. Er setzt sich auf eine Bank und rückt seine stutzerhafte Krawatte zurecht.

Wojnizki. Ja … Pause. Ja …

Astrow. Hast du ausgeschlafen?

Wojnizki. Ja … ganz gehörig. Gähnt. Seit der Herr Professor mit seiner Frau Gemahlin hier bei uns lebt, bin ich ganz aus dem Geleise geraten … ich schlafe zur Mittagszeit, esse allerhand merkwürdiges Zeug zusammen, trinke Wein … lauter ungesunde Dinge! Früher hatte ich nicht eine freie Minute, arbeitete in einem fort mit Sonja zusammen, – jetzt heißt es: Adieu, Arbeit! Sonja müht sich ganz allein, und ich schlafe, esse, trinke … Nein, das ist nicht mehr schön!

Marinaschüttelt den Kopf. Das ist 'ne Wirtschaft! Der Professor steht um zwölf Uhr auf, und der Samowar kocht vom frühen Morgen an und wartet auf ihn. Früher, wie sie noch nicht da waren, aß man immer um ein Uhr zu Mittag, wie's überall Mode ist – und jetzt um sieben. In der Nacht liest der Professor und schreibt, und mit einem Mal, so in der zweiten Stunde, klingelt's … Was ist los? Tee will erhaben! Nun heißt es die Leute wecken und den Samowar aufstellen. Ach, das ist 'ne Wirtschaft!

Astrow. Wie lange bleiben Sie denn noch hier?

Wojnizkipfeift. Hundert Jahre. Der Professor hat beschlossen, hier seine Residenz aufzuschlagen.

Marina. Jetzt zum Beispiel … der Samowar steht schon seit zwei Stunden auf dem Tische, und sie sind spazierengegangen!

Wojnizki. Da kommen sie … reg' dich nicht auf, Altchen.

Man hört Stimmen; aus der Tiefe des Gartens kommen, von einem Spaziergang zurückkehrend, Serebrjakow, Helena Andrejewna, Sonja und Teljegin.

Serebrjakow. Herrlich, herrlich … eine wundervolle Landschaft!

Teljegin. Recht bemerkenswert, Exzellenz!

Sonja. Morgen zeigen wir dir mal unsere Forsten – ja, Papa?

Wojnizki. Herrschaften, bitte zum Tee!

Serebrjakow. Schickt mir den Tee in mein Kabinett, meine Lieben, seid so freundlich! Ich muß heute noch etwas tun.

Sonja. Unsere Forstwirtschaft wird dir sicher gefallen, Papa!

Helena Andrejewna, Serebrjakow und Sonja ab ins Haus; Teljegin tritt an den Tisch heran und setzt sich neben Marina.

Wojnizki. Das ist eine Hitze, eine Schwüle – und unser großer Gelehrter geht in Paletot und Galoschen, mit dem Regenschirm in der Hand, und in Handschuhen …

Astrow. Er ist eben ein vorsichtiger Herr!

Wojnizki. Und sie – wie schön sie ist, wie schön! Nie im Leben hab' ich ein reizenderes Weib gesehen.

Teljegin. Nun sagen Sie mal, Marina Timofejewna, was fehlt uns noch zum Glück? Ob ich durch die Felder fahre oder im schattigen Park hier spazierengehe oder mir den gedeckten Tisch betrachte, stets bin ich von unsäglichem Glück erfüllt. Das Wetter ist entzückend, die Vögelchen singen und jubeln, wir alle leben in Frieden und Eintracht – ist das nicht wundervoll? Nimmt ein Glas Tee, das Marina ihm reicht. Dank' Ihnen sehr, dank' Ihnen wirklich von Herzen!

Wojnizkischwärmerisch. Diese Augen … ein herrliches Weib!

Astrow. Na, nun erzähl' mal was, Iwan Petrowitsch!

Wojnizkiträg. Was soll ich dir erzählen?

Astrow. Gibt's gar nichts Neues?

Wojnizki. Nichts. Alles beim alten. Ich bin derselbe, der ich immer war … das heißt: eigentlich nicht derselbe, denn ich stehe jetzt moralisch tiefer, bin ein Faulpelz, der nichts tut, und brumme immerzu, wie'n alter Griesgram. Na, und meine alte Dohle, Mamachen – die schwadroniert immer noch von der Frauenemanzipation. Mit dem einen Auge schielt sie ins Grab und mit dem andern späht sie in ihren gelehrten Scharteken nach der Morgenröte eines neuen Lebens.

Astrow. Und der Professor?

Wojnizki. Der Professor sitzt genau so wie sonst den ganzen geschlagenen Tag in seinem Kabinett und schreibt. Wie sagt doch der Dichter? »In Falten ganz gekraust die Denkerstirn – entringt er Od' um Ode seinem Hirn; nur schade, jammerschade, daß der Welt – nicht der Poet noch sein Poem gefällt!« Armes Papier! Er sollte lieber seine Selbstbiographie schreiben. Was für ein großartiges Sujet! Ein Professor a. D., verstehst du – ein alter Zwieback – ein gelehrter Stockfisch! … Podagra, Rheumatismus, Migräne, die Leber vor lauter Neid und Eifersucht geschwollen … Und dieser alte Stockfisch lebt auf dem Landgut seiner ersten Frau – nur, weil er muß, natürlich, da seine Mittel ihm nicht erlauben, in der Stadt zu leben. Jammert beständig über sein Unglück, während er in Wirklichkeit vom Schicksal geradezu verhätschelt ist. Nervös. Bedenk' doch mal, was für ein Glück der Kerl gehabt hat! Ein einfacher Küsterssohn, ein Stipendienschlucker, hat sich durch alle gelehrten Grade bis zum Katheder hinaufgedrängelt, ist Exzellenz geworden, hat einen Senator zum Schwiegervater gekriegt usw. usw. Doch das ist schließlich unwichtig. Doch nun weiter: fünfundzwanzig Jahre liest und schreibt der Mensch über die Kunst, und versteht dabei von der Kunst so gut wie gar nichts. Fünfundzwanzig Jahre lang kaut er fremde Gedanken über Realismus, Naturalismus und allerhand sonstigen Unsinn wieder, fünfundzwanzig Jahre lang liest und schreibt er über Dinge, die den klugen Leuten längst bekannt, den dummen aber höchst gleichgültig sind … fünfundzwanzig Jahre lang also hat er nichts weiter getan als leeres Stroh gedroschen – und nun seh' mal einer diesen Eigendünkel, den das hat, diese Ansprüche! Jetzt hat er seinen Abschied genommen – und keine lebendige Seele kennt ihn mehr, im Handumdrehen ist er wie verschollen. Er hat einfach diese fünfundzwanzig Jahre hindurch den Platz eines andern eingenommen. Und nun sieh nur, wie er einherschreitet: wie ein Halbgott!

Astrow. Hör' mal, ich glaube, du beneidest ihn bloß!

Wojnizki. Gewiß beneide ich ihn. Und was für Erfolge er bei den Frauen gehabt hat! Kein Don Juan könnte sich so vieler Siege rühmen. Seine erste Frau, meine Schwester, dieses schöne, liebenswürdige Geschöpf, das so edelmütig, so großherzig, so rein war wie der blaue Himmel, und mehr Verehrer hatte als er Schüler – die liebte ihn so, wie nur keusche Engel ebenso keusche und schöne Wesen, wie sie selber sind, lieben können. Meine gute Mama, seine Schwiegermutter, vergöttert ihn noch heute, und noch heute flößt er ihr förmlich ein heiliges Grauen ein. Seine zweite Frau, ein schönes, kluges Wesen – du hast sie ja eben gesehen – hat ihn geheiratet, als er schon ein Greis war; sie hat ihm ihre Jugend, ihr Schönheit, ihre Freiheit, ihren Glanz geopfert – weshalb, frag' ich, wofür?

Astrow. Ist sie dem Professor treu?

Wojnizki. Leider – ja.

Astrow. Warum »leider«?

Wojnizki.