Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
1643: Zwei Jahre sind vergangen, seit Georg nach Nermberg zurückgekehrt ist. Entschlossen ringt der feinfühlige Mann mit einem Leben, das ihm weiterhin fremd ist. Einzig die Liebe zu Ianthe und die Hoffnung, seine rätselhafte Schwester zu finden, geben ihm die nötige Kraft, sein Schicksal zu einer Zeit in die Hand zu nehmen, da Menschlichkeit als Schwäche angesehen wird. Währenddessen ist Pascale erwachsen geworden. Sie folgt ihrem ungestümen Lebenspfad und verbringt einige Zeit unerkannt bei den Kaiserlichen. Auf der Suche nach ihrem Bruder Georg trifft sie auf Jan von Graalfs. Die beiden illegitimen Nachfahren der verfeindeten Adelsgeschlechter finden zueinander, doch ihre Zuneigung steht unter einem unglücklichen Stern. Das dunkle Erbe des Hieronymus von Graalfs bedroht die herzoglichen Geschwister und ihre Weggefährten noch immer.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 663
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
REISINGER
GEORG
PASCALE
GEORG
PASCALE
REISINGER
PASCALE
REISINGER
GEORG
REISINGER
PASCALE
GEORG
PASCALE
GEORG
PASCALE
GEORG
PASCALE
GEORG
PASCALE
REISINGER
GEORG
PASCALE
REISINGER
GEORG
PASCALE
GEORG
PASCALE
GEORG
PASCALE
GEORG
PASCALE
WENTERODT
PASCALE
Lager
Herbst 1642
Welch Hohn! Reisinger starrte ungläubig auf das Häuflein Mensch, das die Männer ins Lager gebracht hatten. Ein einziges, zartes Menschlein, zusammengekauert wie ein Igel, den man zu viel geärgert hatte. Rot leuchteten dessen Haare. Rot auf eine Art, die Reisinger nur allzu bekannt war.
»Der kleine Franzose«, knurrte er.
»Hast wohl zu viel getrunken.« Sprick, sein einziger Gefährte, stand neben ihm, wie viel zu oft in den vergangenen Jahren, seit diese Entscheidung, die Reisinger einst in der Nacht traf, ihre Leben auf ungewollte Art und Weise verflochten hatte. Seit er den Sohn, den Bastard Herzog Wilhelms, nicht wie befohlen tötete, sondern ihn am Leben ließ.
»Schau dir das Elend doch an«, moserte Reisinger.
»Ich würde ihn selbst mit Star in den Augen noch erkennen.«
»Und ich sage dir, du spinnst. Dir steigt das Bier zu Kopf.« Sprick kniff die Augen zusammen, aber beim besten Willen, so stark dieser auch zu sein vermochte, wollte er in dem Winzling nicht den Grund erkennen, der sie seit Jahren auf den Schlachtfeldern festhielt. »Dieses Mal hat er sich sein Grab selbst gegraben. Ich sagte dir ja, wir hätten damals auf Barthel hören sollen, aber du wolltest es anders. Also sieh selbst zu, wie du ihn wieder loswirst.«
Mit diesen Worten drehte sich Sprick um und schlich an eins der kleinen Lagerfeuer, um den halb erfrorenen Händen zumindest einen Hauch von Leben einzutreiben. An seine Zehen wollte er längst nicht mehr denken.
Reisinger blieb zurück und haderte mit sich. Wie konnte es sein, dass der Junge ihnen ein weiteres Mal folgte? Es waren sechs Jahre vergangen, und ja, aus dem halben Kind von einst war mehr oder weniger ein junger Mann geworden, mit schmalen Schultern, die nichts tragen konnten, viel zu zarten Händen, und so sehr Reisinger auch danach suchte, nicht dem geringsten Anzeichen von Flaum an Kinn und Wangen. Der Kleine hielt den Blick gesenkt und schien die Welt um sich herum auszublenden. Eines war sicher: Er hatte nicht hierherkommen wollen. Sie hatten ihn erwischt, gegen seinen Willen. Somit wäre es ein verfluchter Zufall, nicht mehr, nicht weniger, der ihre Wege wieder kreuzen ließ.
»Dieses Mal löffelst du deine Suppe alleine aus«, murmelte Reisinger, als sie den Kleinen wegschafften, hin zu anderen Gefangenen, wo er bei der Kälte mit ihnen hungern und frieren durfte, bis ihn vielleicht der Tod holte.
Reisinger tat drei Schritte und blieb stehen. Seine Finger ballten sich zu einer Faust, so erbost hatte ihn der Anblick gemacht. Er hatte dem Wicht schon einmal das Leben geschenkt, nun steckte er erneut in diesem Schlamassel, und auf eine verquere Art und Weise fand Reisinger, dass sein erster Versuch, das Leben des Kleinen zu schonen, umsonst gewesen wäre, wenn er ihn nun sterben ließe. Dann hätte er ebenso gut auf Barthel hören können und müsste nicht in einem Lager hausen, in Nässe und Kälte. Könnte nachts in einem anständigen Bett liegen und tagsüber ein paar Aufrührer jagen, um sich abends all das wieder mit einem guten Bier aus dem Kopf zu treiben. Was für ein einfaches Leben. Verglichen mit dem hier, mitten in einem Land, dem sämtliches Leben ausgesaugt worden war. Das Elend schien bald ein Ende haben zu wollen, und was dann? Dann stand man in einem versehrten Land, mitten in der Einöde, die man selbst geschaffen hatte, und hatte keine Erlaubnis mehr, sich einfach alles zu nehmen, was einem vor die Füße fiel.
Und zu allem Übel nun, mit dem drohenden Ende des Krieges vor Augen, erschien da der rote Findling, der Franzose, mit dem der Herzog sein Spiel gespielt hatte, den Graalfs hatte töten lassen wollen, der Barthel sein Leben gekostet hatte, und alles wäre umsonst gewesen, wenn er sich nicht noch einmal um dieses Wesen kümmern würde?
»Soll er erst einmal eine Weile faulen, er hat mir nur Ärger beschert«, moserte Reisinger vor sich hin. Er wanderte einige ruhelose Runden durch das Lager, immer im Kreis, die Arme vor der Brust verschränkt und missgelaunt, wie lange nicht mehr. Er vergrub den Bart im Mantel, linste nur gelegentlich unter dem Hut hervor und mied den Ort, an welchem der Franzose unter Bewachung saß. Er sollte faulen, erst einmal. Solange, bis Reisinger fand, dass es genug war.
Nermberg
1641
Georg warf einen nachdenklichen Blick aus dem Fenster. Wenige Wochen waren verstrichen, seit sie nach Nermberg zurückgekehrt waren, und so vertraut die Burg seiner Vorfahren ihm in manchen Momenten schien, so fremd blieb sie. Er war froh, dass die Tage von früh bis spät vollgestopft waren mit Verpflichtungen, die Johannes von Rothenberg aus der Tasche zauberte, als wäre er ein Hexenmeister. Auf diese Art kam Georg gar nicht erst dazu, sich den Kopf über die Frage zu zerbrechen, die sich ihm immer wieder stellte: Weshalb, um alles in der Welt, er in Nermberg saß und seinem Vater folgte, obwohl so vieles noch Monate zuvor ganz anders ausgesehen hatte? Nur noch dunkel konnte er sich an die Zeit erinnern, als er die Aufgaben eines Arztes in der kleinen Stadt Steinlingen übernommen hatte. Wo sein Leben aus Husten, Schnupfen und eitrigen Beinen bestanden hatte, bisweilen durchzogen von Grannen, die sich in Hundeohren verirrten. Sieben Jahre hatte er so gelebt, mit Ianthe an seiner Seite, als einfacher Bürger, frei in jeglicher Hinsicht. Und dann hatten sie ihn gefunden. Johannes von Rothenberg, den alle nur den grauen Grafen nannten, und der ewig polternde, lebenslustige Arendt Jacobi, seines Zeichens Baron. Sie hatten Georg zurückholen wollen, wo er doch der Erbe seines Vaters gewesen war. Aber er hatte sich mit Händen und Füßen gewehrt. Bis Hieronymus von Graalfs auf dem Spielfeld erschienen war, wenn auch auf die gegenteilige Art. Sobald der von Georgs Existenz erfahren hatte, war die Hölle losgebrochen. Nichts war mehr sicher gewesen, erst recht nicht das einfache Leben in Steinlingen. Es war hinweggefegt worden.
Graalfs, unter diesem einfachen Namen kannte er ihn, war inzwischen tot. Erschossen bei dem Versuch, Georg Gleiches anzutun. Zumindest wirkte er tot, stellte Georg fest. Denn die Tage verbrachte er mit unzähligen Dokumenten, auf denen Graalfs hektische, ausladende Schrift noch immer umherwaberte, als wäre ihr Schreiber lebendig.
Es war eine Ironie des Schicksals, dass er sich in dieser Anfangszeit weit weniger mit der eigenen Vergangenheit beschäftigte als mit jener seines ärgsten Widersachers. Es galt aufzuräumen. Ordnung in einen Augiasstall zu bringen, der seit gefühlten Jahrzehnten nicht ausgemistet worden war. Und er war kein Herkules! Er stand hüfttief in einem Misthaufen aus Intrigen, Verfolgungen und Hinrichtungen, die sich an Scheußlichkeit überboten.
Georg warf einen Blick auf den nächsten Stapel Schriftstücke. Er durchblätterte sie, las jedes einzelne und zerbrach sich den Kopf darüber, wie er Unrecht wiedergutmachen konnte, wenn die Betroffenen nicht mehr lebten.
Während dieser Arbeiten traf er auf einen Kabinettschrank im ehemaligen Schlafzimmer, der vor Graalfs Georgs Vater gehört hatte. Das imposante wie feine Möbelstück war aus dunklem Ebenholz gearbeitet und mit filigranen Elfenbeinintarsien versehen, die sich auf den kleinen Schubladen einem Urwald gleich hin- und herrankten. Er öffnete ein Fach nach dem anderen, bis er auf ein Büchlein, eine Art Tagebuch, traf, dessen lederner, abgenutzter Umschlag von reger Nutzung zeugte.
In den darin befindlichen Notizen stieß Georg auf sich selbst und die irrsinnige Verfolgung, welche Graalfs startete, sobald er bemerkte, dass es ihm nicht gelungen war, Georg in den Tod zu schicken. Doch alles daran war längst bekannt. Fremd hingegen war der vordere Teil des Tagebuches. Dort galt sämtliche Aufmerksamkeit einem etwa vierzehnjährigen, rothaarigen Jungen, der laut Hieronymus’ Worten plötzlich in der Burg erschienen war, als Wilhelm von Wichtern noch lebte. Graalfs schrieb von einer merkwürdigen Ähnlichkeit dieses Kindes zu Georg. Er musste versucht haben, den Jungen entführen und töten zu lassen, wenn auch ohne Erfolg, denn es folgte ein Bruch. Mit einem Mal war Georgs Vater verstorben, und sofort, ohne groß zu ruhen, befand sich der Schreiber auf der Suche nach dem Unbekannten.
Georg rieb sich über die verschwitzte Stirn. Die Wärme des Spätsommertages kroch selbst durch die geschlossenen Blendläden. Oder war es etwas anderes, das ihn in Schweiß ausbrechen ließ?
»Hier bist du also!«
Er hob überrascht den Kopf und entdeckte Ianthe, die sich ihm näherte. Kaum dass sie ihn erreicht hatte, strich sie ihm zärtlich über die Schulter.
»Schau dir an, was ich gefunden habe«, hielt Georg ihr das Büchlein hin, den Daumen an die Stelle haltend, wo er aufgehört hatte zu lesen.
Sie warf einen interessierten Blick darauf.
»Es ist Graalfs’ Handschrift«, erkannte sie und nahm es vorsichtig in die Hände, während sein Daumen noch immer die Stelle markierte. »Was schreibt er? Erzähl’s mir, bitte«, bat sie. Sie musste merken, wie wichtig es ihm war.
»Er berichtet von mir, von uns, im hinteren Teil«, begann Georg.
»Von uns?«
»Ja, auch von dir. Ab dem Zeitpunkt, als man mich fand, warst du immer an meiner Seite. Aber was aus uns wurde, das wissen wir ja. Viel spannender ist, was er über meinen Bruder zu erzählen hat!«
»Deinen Bruder?«, staunte Ianthe.
»Er scheint ein Bastard meines Vaters zu sein, aber ich weiß rein gar nichts über ihn«, grübelte Georg. Er lehnte sich mit einem Ellbogen auf den Sekretär und barg den Kopf nachdenklich in seiner Hand. »Damals, als die Soldaten Hankenshorst überfielen und Jonas und ich nach Überlebenden suchten, da fanden wir bloß den einen Offizier. Einen Mann namens Waldseemüller, der schon unter Vater Leutnant gewesen war. Eigentlich ein guter Mensch, deshalb war ich so entsetzt, ihn dort zu sehen.«
Ianthe erschauderte bei der Erinnerung an Hankenshorst. Alles begann mit Jacobis Ergreifung und Folter und endete in einem sinnlosen Blutbad. Zu dieser Zeit begriff sie zum ersten Mal, dass Graalfs nicht einfach nur ein Gespenst aus Georgs Vergangenheit war, sondern furchtbar real und mit Plänen, die ihre kühnsten Albträume weit überstiegen.
»Ich werde es niemals vergessen können«, meinte sie leise und setzte sich auf die kleine, gepolsterte Bank, die am Fußende des prächtigen Bettes stand, das niemand mehr nutzte.
»Er wunderte sich über meine Kenntnisse der Medizin, und erzählte mir von Graalfs und meinem Vater. Wie die Menschen auf der Burg Hoffnung schöpften, kurz vor dem Tod meines Vaters, weil ein Junge erschienen war, der sich als mein Bruder ausgab.«
»Kann das sein?«
»Alles ist möglich. Aber da er wieder verschwand, blieb er ein Phantom. Deshalb habe ich nicht weiter über ihn nachgedacht. Niemand hier sprach je von ihm. Bloß, dieses Buch erzählt eine andere Geschichte.«
»Laut dieses Soldaten war dein Bruder hier, und dann?«
»Er ging mit Friedrich.« Georg stockte. Selbst mit seinem Ziehvater hatte er noch nie darüber gesprochen. Erst die Krankheit, dann kaum genesen der Kampf mit Graalfs, der Weg zum Kaiser, all das hatte ihn schlichtweg vergessen lassen, was ihm auf der Seele lag. »Ich werde ihn fragen, alsbald möglich.«
»Tu das«, war nun auch Ianthe sichtbar interessiert. Sie stand auf und suchte nach Georgs schmaler Hand. »Und nun komm, wir erwarten heute Abend noch Gesellschaft und du siehst wieder aus wie ein Gärtner nach einem Tag im Moor.«
Georg musste lachen. Diese kruden Vergleiche waren eine Eigenart, die er an Ianthe sehr liebte. »Ich weiß nicht, was Gärtner in Mooren treiben, aber wenn’s so schlimm steht, dann gut, laufen wir schnell und lassen uns herrichten für die Gäste. Ich werde nach Jost rufen.«
»Besser wäre es«, befand Ianthe schmunzelnd.
Gleich am nächsten Morgen öffnete Georg die flache Schublade des Sekretärs erneut und zog das Buch heraus. Je mehr er über seinen Bruder las, desto unruhiger wurde er. Denn mit der gleichen Akribie, mit der Graalfs Georg wie ein seltenes Tier gejagt hatte, folgte er der Spur dieses Jungen.
Wie Georg herausgefunden hatte, hatte Hieronymus von Graalfs im Frühjahr 1636 zwanzig Tage im Kerker gesessen. Dann war er hervorgestürzt wie ein Tiger, den man wochenlang hatte hungern lassen. Durch die Gefangenschaft war er weder verängstigt noch gebrochen worden, sein Ziel war klar gewesen. Eine Handvoll Wochen später hatte er in Händen gehalten, wofür er so vieles bereit gewesen war zu opfern. Seine Herzogskrone. Georg stellte es sich bildlich vor, wie Graalfs sie sich auf den Kopf gesetzt hatte, allein in seinen Gemächern, und mit dieser dunklen, warmen Stimme gelacht hatte. Zufrieden. Unendlich bestätigt in sich selbst. Wann immer Georg dieses Bild überkam, musste er das Buch schließen.
Um sich abzulenken, spazierte er in manch ruhiger Stunde allein durch die Burg. Hinaus in den, an der Südwestseite angelegten, Garten, von dem aus man einen wunderbaren Blick auf die umliegenden Hügel hatte. An manchen Morgenden sammelte sich unten in den Tälern der Nebel. Wie Buckelwale schauten dann die Hügel aus dem Dunst hervor. Auch ein Vergleich, der einer Ianthe würdig war, fand Georg. Er kannte Buckelwale nur aus Büchern. Seit seiner Kindheit besaß er eine Enzyklopädie über Meeresgetier, ein prächtiges Buch, fast so lang wie sein ganzer Arm. Früher hatte er viel darin gelesen, sein Vater hatte es später aufbewahrt. Unbeschädigt hatte es die Jahre in der Bibliothek verbracht, und es fühlte sich an, als hätte Georg es eben erst zur Seite gelegt. Nur die äußeren Ränder färbten sich mit den Jahren ein wenig gelblicher als zuvor.
Das Meer selbst, mit seinen Wellen, war ihm unbekannt. Weit mehr als den heimischen Wald kannte er nicht. So sehr sich sein Vater gewünscht hatte, dass der Sohn stark wurde, er hatte ihn nicht gehen lassen. Die Gelehrten waren nach Nermberg auf die Burg gekommen, wie es der Vater, der selbst nicht gern reiste, angeordnet hatte. Selten genug, dass Georg die Möglichkeit erhielt, überhaupt einen Wunsch zu äußern, aber wenn er es wagte, um eine Reise zu bitten, dann antwortete sein Vater nur mit der Gegenfrage, wofür denn eine Reise nötig sei, wenn man doch genug Geld besäße, um sich die Welt nach Hause zu holen.
Also blieben Georg nur die Bilder.
Und nun dieses neue Leben, ohne Vater, ohne Graalfs. Ein Gefühl, das er aus seiner Arztzeit kannte, und doch war es anders. Denn selbst in Steinlingen war da noch Schutz gewesen, durch den Gedanken, dass diese Menschen in Nermberg saßen und ihn daran hinderten, in Nermberg allein für alles verantwortlich zu sein.
Und ein Leben vor dem Krieg? Er konnte sich daran kaum erinnern. Ganze neun Jahre war er alt, als man die kaiserlichen Stellvertreter in Prag aus dem Fenster warf. Es gab Zeiten, da ließ man ihn mit Liontu allein in den Wald reiten, dann wieder wurde alles so verschanzt, dass er nicht einmal auf die Burgmauer durfte, um einen Blick auf das zu werfen, was da draußen vor sich ging.
Was für eine Ironie des Schicksals, dass er erst aus dem näheren Umkreis der sicheren Burg herauskam, als ihn sein eigener Vater in das Inferno schickte, vor dem er sein Kind so lange versteckt hatte. Es war, als setze man ein Kätzchen mitten in einen Löwenkäfig und erwarte, dass es sich nun tapfer schlug. Georg hatte in seinem Kopf nach Verständnis für das absurde Handeln seines Vaters gesucht und keines finden können. Denn auch Graalfs’ Einfluss stellte für ihn keine Entschuldigung dar, hinter der sich sein Vater hätte verstecken können.
Auf seinem Rundgang erreichte Georg die Kapelle. Er stand vor dem schmiedeeisernen Portal mit seinen Ranken, Rosen und Dornen und öffnete es vorsichtig. Die Stufen wanden sich in den Felsen hinab, auf dem die Burg gebaut war. Ganz gleich, wie arg man im Burghof schwitzte, die kühle Krypta sorgte für Gänsehaut, auch ohne dass man einen Blick auf die Särge warf, die dunkel aufgereiht standen, so als warteten sie auf etwas. Das schwere Eichenholz wirkte unverwüstlich, und doch war dieser Ort für die Endlichkeit gemacht, nicht für das Gegenteil.
Georg setzte sich auf einen Steinvorsprung, der gerade einmal so weit aus der Wand herausragte, dass man darauf unbequem Platz nehmen konnte.
Schon bald nach der Hochzeit hatte Ianthe den Wunsch geäußert, zu lernen. Sie fühlte sich ungebildet zwischen all den Adligen, also nahm sie täglich mehrere Stunden Unterricht, um dem Abhilfe zu leisten. Sie lernte Latein, Französisch, Tanzen und Cembalo spielen, und zu Georgs Freude schien sie es zu lieben. Er selbst nutzte diese Zeit, wenn Johannes sie ihm ließ, für seine Spaziergänge. Er wollte allein sein. Es hätte ihm nicht viel geholfen, hätte Ianthe bemerkt, wie unwohl er sich noch immer fühlte, in all dem Trubel um ihn herum. Nicht, dass er es seiner feinfühligen Frau jemals hätte verbergen können, und doch, er wollte sie nicht ärger belasten, als die Situation an sich es bereits tat.
Allerdings, das musste er sich eingestehen, war es eine Wohltat, seine eigenen Entscheidungen fällen zu dürfen. Für einen Sturkopf wie ihn war es ein Segen, anzuweisen und nicht mehr zu gehorchen, wie es die ersten dreiundzwanzig Jahre seines Lebens gewesen war.
Er musste lächeln. Rieb sich mit der Hand über die Stirn, vertrieb die letzten Schweißperlen und spürte, wie das Frösteln wieder in seine Knochen kroch. Es war Verlass darauf. Ebenso wie darauf, dass der Sarg seines Vaters immer an der gleichen Stelle stand, sich nicht in Luft auflöste und auch niemand aus ihm herausstieg. Weshalb nur war ihm dessen Tod so unwirklich? Weil er den Vater nicht hatte sterben sehen? Weil sie nicht noch wenigstens eine Handvoll Worte hatten sprechen können, bevor sich ihre Wege bis zum Jüngsten Tag trennten?
»Durchlaucht?«, kam es vom oberen Ende der Treppe, und Georg rollte die Augen.
»Das macht dir Freude, nicht wahr?«, rief er leise hinauf, wo Friedrich bedächtig die steinernen Stufen herunterstieg.
»Dich zum zweihundertsten Male sagen zu hören, dass ich dich nicht so anreden soll, ja, das macht mir Freude«, bestätigte Friedrich schmunzelnd. »Du wirst es nicht schaffen, dass ich es vor all den Leuten sein lasse.«
Georg versuchte sich in Missmut, es endete aber nur damit, dass Friedrich umso breiter grinste und einen Blick auf das warf, was Georg die letzten Minuten lang angestarrt hatte.
»Vor all den Leuten?«, griff Georg den Faden auf. »Mir scheint, wir wären hier unten ganz allein. Abgesehen von dieser Horde von Gerippen.«
»Spricht man so über seinen Vater?«, neckte Friedrich ihn weiter.
»Mein Altvorderer scheint es ähnlich zu sehen, mein lieber Friedrich, oder hörst du ihn protestieren?«
Es wurde still. Wenn man hier unten im Felsen saß, wurde man von allen Geräusche der Außenwelt abgeschirmt. An diesem Ort konnte man ruhen, so viel war sicher.
»Georg, ich sehe dich jeden Tag hier herunterwandern, und ich ahne, was dich umtreibt, und doch solltest du das Leben lieber unter den Atmenden suchen als hier.«
»Ich suche Ruhe, und ob du es glaubst oder nicht, ich finde sie hier.«
»Du findest hier keine Ruhe«, stellte Friedrich fest. »Es ist still hier, aber nicht ruhig. Niemand kann ruhig sein unter den Toten. Da ist selbst der schläfrigste Schläfer noch eine Ausgeburt von Leben. Und …«
»Und?«
»Und ich sehe keine Ruhe in dir, wenn du den Sarg deines Vaters anstarrst, so als würdest du noch etwas von ihm erwarten.«
Georg musste bitter lachen. »Ich erwarte nichts von ihm.«
Im Schein des ewigen Lichtes, das einsam in der Ecke brannte, kratzte sich Friedrich nachdenklich am Kopf. Er zog sich das Wams enger um den Körper und lehnte sich an die Wand.
»Ich sage dir, die Antworten auf deine Fragen erhältst du nicht hier unten, aber so wie ich dich kenne, möchtest du das selbst herausfinden, deshalb lasse ich dich nun hier sitzen und hoffe, dass dir die Einsicht kommt, bevor du Wurzeln schlägst.«
»Hättest du heute Abend ein wenig Zeit für mich? Es gibt da tatsächlich etwas, wobei nur du mir helfen kannst.«
»Aha«, amüsierte sich sein Ziehvater. »Na, dann sollten wir das besprechen. Aber zunächst verlangt Johannes nach dir?«
»So ist es. Herzoglicher Unterricht, wie er es bezeichnet, oder gerichtliche Dinge, die entschieden werden müssen, wie ich es bezeichnen würde.«
»Dann lerne mal schön«, hörte Georg noch und blieb allein zurück. Die Stille hüllte ihn ein in ihre Decke, aber Georg spürte, dass die Zeit für diesen Tag verstrichen war. Das Leben zog ihn hinauf.
***
Spät am Abend, die Turmuhr der Michaeliskirche hatte zur elften Stunde geschlagen, konnte Georg endlich seinen Diener Jost schicken, um Friedrich zu holen. Da der es sich bei Matthias Belzer in der Wachstube bequem gemacht hatte, dauerte es eine Weile, bis die zwei Männer zurückkehrten.
In der Bibliothek war es recht dunkel, da Georg darauf verzichtet hatte, die Kerzen des Kronleuchters anzünden zu lassen. Nur zwei Tischleuchter mit jeweils vier Kerzen spendeten dem Raum zusätzlich zum Kaminfeuer etwas Licht und ließen die Schatten an den Wänden tanzen. Dass es kein Feuer im Kamin gebraucht hätte, war Georg erst aufgefallen, als es längst brannte. Nun hatte er sämtliche Fenster zum Wald hin geöffnet und stellte fest, dass die warme Luft von draußen die Hitze in der Bibliothek nicht mildern konnte.
Also versuchte er, sich vom Schwitzen abzulenken und die kurze Zeit bis zu Friedrichs Erscheinen zu lesen, doch seine Aufmerksamkeit richtete sich immer wieder auf das kleine Tagebuch, das er aus dem Sekretär hierhergebracht hatte. Ianthe war schon vor einer Stunde zu Bett gegangen. Sie war müde gewesen und Georg hatte sie nicht warten lassen wollen.
Er hob den Kopf und lauschte den Schritten, die sich draußen auf dem Gang näherten.
»Kommt bitte rein«, rief Georg ihnen entgegen, löste sich von den Fenstern und schritt mit dem Büchlein zu einem kleinen, runden Tisch aus Ebenholz, um den sich drei fein gedrechselte Stühle gruppierten. »Es tut mir leid, dass es so spät wurde. Die Fälle stellten sich als komplizierter heraus, als es erst den Anschein hatte.«
»Dann sag mir schnell, was dir auf der Seele liegt«, kam es sichtlich müde von Friedrich. »Ich sehne mich nach Schlaf.« Er setzte sich zu Georg an den Tisch, während sich Jost zurückzog.
»Mein Bruder«, begann er.
»Dein Bruder?«, wunderte sich Friedrich. Bis er begriff, was Georg meinte, brauchte es ein wenig. »Lieber Gott, ja, dein Bruder.« Er betonte das letzte Wort derart merkwürdig, dass Georg verwundert die Augenbrauen hob.
»Ich habe Waldseemüller damals in dem verwüsteten Hankenshorst gefunden. Er lag im Sterben und erzählte mir von dem Jungen, der mit dir gekommen und auch wieder gegangen sei. Du hast mir nie von ihm erzählt.«
»Der Kleine«, begann Friedrich versonnen, um dann mit einer anderen, dunkleren Stimme hinzuzufügen: »Der arme Waldseemüller, ist er tot?«
Georg nickte nachdenklich.
»Christoph hat eine Menge auf den Jungen gehalten und ihn mit Ehrgeiz bewacht, so viel ist sicher. Er hatte ein gutes Herz. Das ist Graalfs nicht verborgen geblieben. Ich denke, es war seine Absicht, ihn in den Krieg und in den sicheren Tod zu schicken. Christoph war kein Kommandeur, dem ich eine Horde Männer auf dem Schlachtfeld anvertraut hätte. Er war für die Burg wie geschaffen.«
»Wohl wahr.«
»Georg, das Wichtigste, was du über deinen Bruder wissen solltest, ist, dass er nicht dein Bruder ist.«
»Nicht?«
»Sie ist deine Schwester«, kam es ernst und doch amüsiert von Friedrich. »Sie ist ein Mädchen, auch wenn dein Vater sie bis zuletzt als Jüngling bei sich hatte, um Graalfs ein Schnippchen zu schlagen.«
»Vater wollte Graalfs ärgern?«, vermochte Georg seinen Ohren nicht zu trauen. »Mit einem Mädchen, das er als Junge tarnte?«
»Sie selbst hat sich derart gekleidet. Wir kannten sie nicht anders, die wir sie von Frankreich aus bis hierhin begleitet haben. Ich selbst bin ihr von Straßburg aus gefolgt, aber das ist eine lange Geschichte.«
»Und Vater hat es geduldet?«
»Ja, und sein Plan trug Früchte. Graalfs wuchsen zweihundert, wenn nicht mehr, graue Haare in einer Nacht, es hätte kaum schlimmer für ihn kommen können. Ich saß all die Tage, in denen sie bei eurem Vater war, mit Jakob Wenterodt im Verlies und bekam nicht viel mit, und doch meine ich, dass da so etwas wie leiser Stolz in den Augen deines Vaters saß, an dem letzten Morgen, der ihm blieb. Und dann, noch bevor herauskam, dass sie ein Mädchen war, und bevor Graalfs ihr etwas anhaben konnte, starb dein Vater. Euer Vater. Und Pascale, so ist der Name deiner Schwester, sie ist mit mir, mit Heinrich Orioni, Matthias’ Sohn Tobias und Jakob Wenterodt fortgegangen. Sie musste fliehen, denn Graalfs hätte sie töten lassen, wäre sie in seine Finger geraten.«
Es ergab Sinn. Von diesem Punkt an begann sich das kleine Tagebuch mit Leben zu füllen. Satz um Satz folgte es diesem Bruder, nein, dieser Schwester, die aber in Graalfs Gedanken weiter ein Junge blieb. Weiter gefährlich für ihn war. So wie einst Georg.
»Es wirkt, als hätte Vater sie gerne bei sich gehabt?«, stellte Georg eine Frage, die Friedrich wenig verwunderte, ihn aber hellhörig und vorsichtig machte.
»Sie hat ihm das Herz erleichtert«, bestätigte er und legte die Hand auf Georgs Arm. »Gerade in seinen letzten Tagen muss ihm dein Verlust schwer auf der Seele gelegen haben.«
Da außer eines leeren Blickes keine Antwort kam, fuhr Friedrich fort:
»Ich denke, er hoffte, dass du noch am Leben warst. Zumindest hat ihm die Tatsache, dass man keine Leiche fand, ebenso wenig Frieden geschenkt, wie dir sein stummer Sarg nun bringt.«
Es war eine Wahrheit, die schwer auf dem Herzen lag.
»Glaubst du, man könnte sie finden?«
»Ich habe keinerlei Ahnung, wo sie sich aufhält«, zuckte Friedrich mit den Schultern. »Heinrich Orioni erhielt die Aufgabe, auf sie aufzupassen, aber ich denke, sie mussten ein ums andere Mal fliehen.«
»Das scheint so. Hieronymus hat sie mehrfach nur knapp verfehlt, wenn man nach den Aufzeichnungen dieses Buches geht.« Georg legte es vor ihnen auf den Tisch. »Ich hoffe, sie lebt. Und ich wünschte, ich könnte sie eines Tages hierher einladen.«
»Das wäre eine gute Idee«, lächelte Friedrich sanft. »Nun, wo Graalfs tot ist, lässt sich Orioni womöglich aufspüren. Wir werden die Ohren offenhalten.«
»Ja.« Georg gähnte herzhaft. »Aber jetzt sollten wir zu Bett gehen.«
»Durchlaucht, das ist eine noch bessere Idee.« Friedrich griff nach seinem Hut und verbeugte sich tief.
Georg kräuselte grinsend die Stirn. Dann wünschten sie sich eine gute Nacht und lagen die Hälfte der Zeit wach, grübelnd über die Frage, wie man Frieden finden konnte, wenn einem der einzige Weg dorthin auf ewig verwehrt blieb.
***
Wie eine Glocke hing die Wärme auch am nächsten Morgen über der Stadt. Die dunstige Luft wirkte derart dicht und schwül, als hätte man ein Messer nehmen und Stücke herausschneiden können. Georg beobachtete durch halbgeschlossene Lider, wie Ianthe die Fenster öffnete, doch es war zwecklos. Kein Luftzug regte sich.
»Was für eine Waschküche«, stellte Ianthe fest. Ihr Nachthemd klebte sichtbar auf ihrer Haut, so arg hatte sie geschwitzt. »Was gäbe ich, jetzt zu der kleinen Quelle bei der Lichtung laufen zu können. Sie hatte selbst im Sommer immer kühles Wasser. Es wäre wunderbar!«
Georg brachte keinen Ton hervor. Er hing schläfrig in den Kissen des Bettes, die dünne Seidendecke nur über den Bauch gezogen, und versteckte die Augen unter seinem Arm.
»Georg?«, fragte Ianthe leise. Sie schritt zum Bett hinüber und setzte sich auf die Bettkante.
»Es ist zu früh.«
»Es ist Zeit aufzustehen.« Vorsichtig strich sie ihm mit den Fingern so über die Haare des Arms, dass es ihn kitzelte. Er drehte sich auf die Seite und zog eine Grimasse.
»Kein Grund, die Läden zu öffnen und die Fenster gleich mit. Ich erblinde!«
»Wenn du immer erst so spät zu Bett gehst, ist es kein Wunder, dass du morgens nicht aufstehen magst«, stellte sie fest.
»Hm«, brummte er, öffnete nun doch ein Auge, rollte auf den Rücken und warf einen Blick durch das Zimmer. Es lag auf der Nordostseite des Burgpalastes, mit Blick auf die Wälder rings um Nermberg, während sich der Rest der Stadt in südliche Richtung ausbreitete. Wenn man so aus dem Fenster schaute, konnte man den Eindruck gewinnen, die Burg läge völlig allein auf einem Hügel im Wald, malerisch, aber einsam. Das eigentliche herrschaftliche Schlafgemach wies nach Südosten, mit Blick auf den Burghof, die Stadt und das weite Tal, das sich dahinter anschloss. Es war weit größer, schöner und älter. Die Fenster prunkvoller, kunstvoll gestaltet aus Blei und Glas. Buntem Glas. Nicht aus einfachem, einfarbigem Glas, welches vereinzelt grünlich schimmerte. Und doch mochte Ianthe dieses Schlafgemach lieber, das wusste Georg. Eben weil es kleiner war, so etwas wie eine Seele ausstrahlte, ihrer eigenen gleich. Sie liebte die dunklen Eichendielen, ihre lebendigen Formen, wie die Stämme, aus denen sie einst gearbeitet worden waren.
Man hatte ein neues Himmelbett fertigen lassen, aber in der Kürze der Zeit war es einfach geworden. Sanft wand sich das Holz, geschlungen zum Baldachin empor, wie eine lang gezogene Schnecke, stellenweise aufbrechend in florale Enden, nicht aber mit Gesichtern und Figuren, Fabelwesen oder mythischen Göttern verziert. Und nicht bemalt, vergoldet oder mit Intarsien versehen. Auch das mochten sie so. Und ginge es nach ihnen, so würden sie auf ewig hier schlafen und das andere Zimmer sein lassen, was es war: ein Platz für Erinnerungen, aber kein Ort für die Zukunft.
Georg, der die Augen wieder geschlossen hatte, begann mit der linken Hand nach ihr zu suchen. Sie rutschte ein Stück zur Seite. Er protestierte.
»Siebenschläfer«, neckte sie ihn und rutschte weitere Zoll von ihm weg, als er nachsetzen wollte.
»Wo bist du?«, suchte er noch immer im Leeren. Er musste sich halb aufrichten und erwischte ihr Nachthemd.
»Ha-ah«, war er zufrieden.
»Auch ein blindes Huhn findet mal ein Korn, nicht wahr?«
»Komm schon, komm schon«, zog er weiter an ihrem Nachthemd, bis sie endlich neben ihm lag und er sie in den Arm nehmen konnte. »Es ist noch zu früh, ich sag’s dir doch.« Er vergrub das Gesicht in ihren Haaren und seufzte zufrieden. Strich mit der Hand über ihre warme, leicht verschwitzte Haut.
»Du hast bis heute früh wachgelegen, da brauchst du dich nicht wundern, wenn du müde bist wie ein Hund.«
»Und wie hast du das mal wieder bemerkt?«, wunderte er sich und öffnete erneut das linke Auge, um sie beobachten zu können.
»Du liegst vollkommen ruhig, wenn du grübelst, und atmest still vor dich hin. Das war schon immer so. Selbst in Steinlingen. Aber wenn es große Sorgen sind, dann wird gestöhnt und geseufzt, dass sich die Balken biegen.«
»Ist das wahr? So lange beobachtest du schon, wie ich schlafe? Wie ich grüble?«
»Ein wenig. Nicht viel. Aber wenn ich des Nachts aufwache und ein Brett liegt neben mir, dann weiß ich: Der edle Herr hängt wieder seinen dunklen Gedanken nach.«
»Ein Brett.«
Er sagte es so trocken, dass Ianthe lächeln musste. Sie versuchte es zu verhindern, aber sein Auge sah es. Also gab er es auf, ein Brett zu sein, und rollte zu ihr hin, um besser bei ihr liegen zu können.
»Ich werde in ein paar Tagen nach Münster reisen müssen«, meinte er nach einer Weile, in der sie still zusammengelegen hatten. »Einer der gestrigen Briefe ruft nach mir. Es wird keine allzu lange Reise, möchtest du mich begleiten?«
Ianthe barg das Gesicht in seinem Nachthemd, auch wenn er die letzten Stunden über nicht weniger geschwitzt hatte als sie selbst. Dann überlegte sie es sich anders, legte den Kopf auf seine Brust und sah ihm in die Augen.
»Wenn ich denn muss«, murmelte sie.
»Ich bin nie weit weg und ich finde, du schlägst dich wunderbar«, stellte er fest. Er hoffte, dass Ianthe am Klang seiner Stimme erkannte, dass diese Worte nicht leichtfertig dahergesagt waren. Er ahnte, dass sie ihr Herzklopfen nicht verringern würden, und wünschte sich doch, er hätte ihr an jedem einzelnen Tag mitteilen können, wie stolz er auf sie war und wie dankbar, dass sie alles auf sich nahm.
»Es sind erst drei Monate und meine Lehrer haben mir bisher nicht allzu viel beibringen können, befürchte ich. Mir jagen diese feinen Gesellschaften immer noch einen mächtigen Schrecken ein.«
»Ich weiß«, befand er.
Wie oft hatten sie darüber schon gesprochen? Es mussten seit der Zeit in Steinlingen unzählige Male gewesen sein. Das altbekannte Problem, das nicht nur Ianthe in den Knochen steckte, sondern Georg ebenso beschäftigte, auch wenn er, im Gegensatz zu ihr, in dieser Welt aufgewachsen war. Er verstand sie vollkommen.
unterwegs
1636
Welch ein Unterschied! Welch ein Unterschied, die Reise, die sie auf dem Hinweg nach Nermberg in bitterster Kälte hinter sich gebracht hatte, nun auf dem Rückweg im Sommer erleben zu dürfen. Pascale ließ ihre Stute locker vorwärtslaufen, Novís als Packpferd bei sich, und schob die Nase in den warmen Sommerwind. Sie öffnete die obersten Knöpfe des Wamses, das schon seit Wochen kein wollenes mehr war, sondern aus durchaus feinem Leinen gearbeitet. Die alte Mütze war verschwunden, sie trug inzwischen einen Hut wie Tobias und Heinrich Orioni, die es ein Stück hinter ihr etwas gemütlicher angingen.
Einige Wochen waren vergangen, seitdem sie Nermberg verlassen hatten. Der Frühling war in den Sommer übergegangen, und kaum dass Pascale die deutschen Lande verlassen hatte, spürte sie, wie Angst und Beklemmung von ihr abfielen. Wie vollgesogene Egel hatten sie an ihr gehangen, während die kleine Gruppe durch verwüstete und trostlose Landstriche geritten war, immer auf der Hut, nicht irgendwelchen marodierenden Soldaten in die Hände zu fallen.
Nicht dass die Reise mit einem Mal leichter geworden wäre. Gefährlich würde sie bleiben, bis sie in La Roque-Gageac angelangt waren.
In Straßburg hatten Friedrich Melosch und Wenterodt sie verlassen. Wenterodt hatte es in den Tagen bis zu ihrer Ankunft in der Stadt an der Ill tatsächlich geschafft, Friedrich Melosch so etwas wie eine Anstellung abzuringen. Zumindest aber das Versprechen, etwas für ihn zu tun, damit er nicht untätig herumsitzen musste.
»Ich verscheuch dir auch die Krähen«, hatte Wenterodt derart laut getönt, dass sie es außerhalb der Kutsche hatten hören können. »Ich bin für alles bereit, und wenn ich am Tor Wache schiebe.«
Friedrich Melosch hatte lachen müssen. »Wenn ich dich am Tor aufstelle, Jakob, verscheuchst du mir weit mehr als nur die Krähen.«
Pascale wusste, dass es für ihn schwierig werden würde, Wenterodt im Zaum zu halten. Dieser Mensch war kein Soldat, den man an ein Tor stellte. Aber Friedrich Melosch ließ ihm sein Spiel und war vermutlich froh, längst graue Haare zu besitzen, sonst wären ihm noch einige mehr gewachsen.
Der Abschied von Friedrich war Pascale nicht leichtgefallen und ihm selbst augenscheinlich auch nicht, auch wenn sie sich nicht sicher sein konnte, ob er die größte Trauer ihretwegen empfand oder ob nicht weiterhin ihr Bruder, sein Ziehsohn, der Grund war. Sie nahm es ihm nicht übel. Er würde ihr fehlen, wie auch Wenterodt, auf eine verquere Art und Weise. Das Raubein hatte seit seiner Befreiung nicht allzu viel mit ihr gesprochen, drückte ihr aber derart herzlich die Hand, als sie sich verabschiedeten, dass sie ihre Zurückhaltung aufgab und ihn kurz umarmte.
So hatten sie die beiden in Straßburg zurückgelassen. Für Pascale, Tobias und Orioni war von vornherein Paris das eigentliche Ziel gewesen, auch wenn Orioni gesagt hatte, dass sie wahrscheinlich zeitnah weiterreisen müssten, denn wenn Graalfs ihn einmal in Paris aufgespürt hatte, so würde er es mit größter Sicherheit ein zweites Mal tun. Ihre Flucht war noch immer nicht beendet. Gott allein wusste, ob sie es jemals sein würde, ein Fakt, der Pascale erst mit der Zeit gedämmert hatte. Denn so sicher sie sich gefühlt hatte, als Graalfs eingesperrt war, so schnell war dieses Gefühl zerstoben, als sie Heinrich Orioni lauschte, wie Graalfs ihn über anderthalb Jahre hinweg gesucht und hin und her gescheucht hatte, bis Wenterodt ihn schließlich endgültig fing.
Mehrere Wochen waren sie in Paris bei Freunden Orionis untergekommen. Er hatte dort vor seiner Flucht mehr Geld zurückgelassen, als sie es für möglich gehalten hatte, und er verlangte nach wie vor nicht, dass sie etwas vom Gold ihres Vaters verwendete. Allerdings befand er, dass sie möglichst bald einen sicheren Ort dafür finden müsste.
Und er weiß nichts von den Diamanten und Rubinen, grübelte Pascale für sich. Doch wann immer ihr Kopf glaubte, einen guten Platz für das Gold gefunden zu haben, sagte ihr Bauch das Gegenteil. Jeden Abend nahm sie die Satteltaschen, die dem Schatz als Versteck dienten, mit auf ihr Zimmer, so auch an diesem.
Sie teilten sich den winzigen Raum unter dem Dach eines einfachen Gasthauses inmitten Orléans zu dritt. Drei alte Betten aus Traubeneiche standen wie an einer Perlenschnur hintereinander aufgereiht. Sie waren derart alt und wackelig, dass man sie nicht näher betrachten wollte, selbst wenn besseres Tageslicht es zugelassen hätte. Leise knarzten die wurmstichigen, fleckigen Dielen unter den Tritten. Unten im Innenhof, auf den Bänken zur Gasse hin, hatte Orioni angefangen, mit Tobias Karten zu spielen. Seit Wochen taten sie das jeden Abend. Die ersten zwei, drei Spiele beteiligte sie sich oft, dann zog sie ihr unruhiger Geist woanders hin, meistens zu den Pferden, oft aber auch einfach nur ins Bett, wo sie lag und die Decke betrachtete, bis diese in der Dunkelheit verschwand oder durch die Lichter der nächtlichen Stadt mit ihren kunstvollen Schatten überzogen wurde.
Die Tür zu schließen, brachte nicht viel Ruhe. Sowohl in der Schenke als auch draußen in den Gassen vibrierte das Leben. Stimmen polterten durcheinander, im Wetteifer, einander zu übertönen. Bisweilen hörte sie Tobias’ triumphierendes Lachen, wenn es ihm gelungen war, Orioni einen Silber-Écu abzuluchsen. Ihr Kopf fühlte sich schwer an, zu müde, um Freude an Gesellschaft zu finden, aber auch zu erschöpft, um zu schlafen. Sie schritt zum Fenster, legte den Kopf auf die verschränkten Unterarme und blickte hinaus. Ein Hauch schwüler Luft strich durch ihr Haar. Hier in den Gassen von Orléans saß die Hitze des Tages länger als draußen auf dem flachen Land, wo der Wind sie mit sich nahm und sie erst am späten Vormittag zurückkehrte.
Pascale gähnte und wandte sich vom Fenster ab. Ihr Blick fiel auf die ledernen Satteltaschen, die wie so oft einen Sog auf sie ausübten, den sie sich nicht erklären konnte. Seit Nermberg, seit dem Moment, als sie Tobias die Edelsteine zeigte, ruhte der Beutel mit seinem kostbaren Inhalt zuunterst in seinem Versteck. Darüber die restlichen Beutel, gefüllt mit Münzen.
Sie legte die linke Tasche, die mit Reisekleidung und einer Decke gefüllt war, beiseite und öffnete die Lasche der zweiten. Nacheinander rutschten die Beutel leise klingend auf die Bettdecke. Der schwerste und doch leiseste von ihnen war der letzte.
Sie hatte ihn schon so viele Wochen nicht mehr berührt, dass er ihr fremd geworden war. Überhaupt hatte sie vermieden, die Beutel anzusehen. Die Hand auf den Taschen, das hatte ihr ausgereicht. Der Anblick versetzte ihr Herz in Aufruhr. Sie spürte den Schmerz auftauchen, den sie seit Straßburg verschollen geglaubt hatte.
Ein Knarren aus dem Flur riss sie aus ihren Gedanken und ließ sie aufhorchen. Sie lauschte misstrauisch, aber die Schritte im Gang wanderten zu einem anderen Zimmer. Erleichtert zog sie den letzten Beutel zu sich und zögerte, ob sie ihn öffnen sollte. Noch nie hatte sie sich seinen gesamten Inhalt angesehen. Nur oberflächlich ihre Hand darin versenkt und die Kühle der Steine auf der Haut gespürt. Mehr nicht.
Die Kordel, die den Beutel verschlossen hielt, war golddurchwirkt, wie so vieles, was ihr Vater besessen hatte. Sie schien in dieser einfachen Umgebung fehl am Platz, doch das änderte sich, als das Leuchten innerhalb des Beutels das sanfte Schimmern des Goldfadens bei Weitem überstrahlte.
Behutsam ließ sie die Steine aus dem Beutel kullern. Wie kleine Eisstücke prallten sie gegeneinander, als sie auf der wollenen, mottenzerfressenen Bettdecke zum Ruhen kamen. Dann, der Beutel war nicht einmal halb leer, versperrte etwas die Öffnung und sie musste die Kordel ein Stück weiter lockern, um zu sehen, dass dort ein ovales Medaillon lag. Es war beinah so groß wie die Fläche ihrer Hand, mit einer Fassung aus Gold, die über und über von Edelsteinen besetzt war. Dem irisierenden Farbspiel nach mussten es Opale sein. Sie drehte das Medaillon vorsichtig hin und her, es sprang auf.
Sie stieß es von sich, mehr aus Reflex denn aus Entsetzen. Es war erneut ihr Bruder, der ihr auf seine so fragile Art entgegenblickte, wie damals, als sie das Erinnerungszimmer erkundet hatte. Welch ein Irrglaube, die Miniatur im Innern des Medaillons würde ihren Vater zeigen. Nein, er hatte ihr ein winziges Gemälde Georgs anvertraut. Sie nahm es wieder in die Hand und betrachtete es. Lange. Bis es fast dunkel war.
»Mir dünkt, ich hätte dies schon einmal gesehen«, schreckte Orionis sanfte Stimme sie auf. Er hatte das Zimmer betreten, ohne dass es ihr aufgefallen war in all dem Gelärme und Gegröle, welches von der Straße hereinzog. Tobias war nicht bei ihm. »Damals saß Wilhelm ganz ähnlich wie du auf einem Stuhl an meinem Bett und starrte unentwegt diese Miniatur an, als ob sie dadurch lebendig werden könnte. So als wäre er in der Lage, Georg mit schierem Willen daraus hervorzuzaubern.«
Pascale sah auf. Sie wusste nicht, ob sie in der letzten halben Stunde geweint hatte. Ihre Wangen fühlten sich danach an, aber die Tränen waren längst getrocknet.
»Er hat es gewusst, nicht wahr? Dass Georg lebt.«
»Pascale, keiner von uns vermag das mit Sicherheit zu sagen. Wir können es alle nur erahnen, aber ja, er hatte wie wir die Hoffnung, dass dem so ist.«
»Wollte er, dass ich ihn suche?«
»Ich weiß nicht, weshalb Wilhelm es dir mitgegeben hat, aber möglicherweise dachte er sich, falls Georg noch leben sollte, wäre er dein Bruder und du könntest ihn in der Tat suchen, wenn du es wünschst. Eines Tages.«
»Eines Tages«, wiederholte sie nachdenklich.
Zwei Wochen später, als sie Sarlat hinter sich ließen, gab Pascale ihrem Pferd die Zügel frei. Die wenigen Meilen, die sie noch von zu Hause trennten, konnte sie beim besten Willen nicht im Schritt hinter sich bringen.
»Ich reite vor«, rief sie und glaubte noch, dass Orioni protestieren würde, aber er ließ sie reiten. Hob nur seine Hand, dass er verstanden hatte. Also galoppierte sie, Novís immer noch als Handpferd neben sich.
Beiden Pferden schien es zu gefallen. Selbst Novís buckelte für einen kurzen Moment, was ihr eigenes Pferd mit einem eigenen furzenden Buckler kommentierte. Pascale musste lachen.
Für die Strecke, für die sie damals im Schnee einen halben Tag benötigt hatte, brauchte sie eine knappe Stunde im Trab und Galopp, dann erschienen hinter der letzten Linkskurve die ersten Häuser. Sie trieb ihr Pferd noch einmal an und parierte trotz einiger verwunderter Blicke über den hetzenden Jungen erst vor ihrer Schenke zum Schritt durch. Novís und ihr eigenes Pferd schweißgebadet, aber zufrieden schnaubend.
»Eh quoi?«, hörte sie eine tiefe Stimme aus dem Stall. Pascale hatte Novís losgelassen und, klug wie er war, hatte er sofort den Weg zum Futter gefunden.
»Je suis de retour, Luc«, rief Pascale.
»Eh quoi? Soll es wahr sein?« Mit großen, ungläubigen Augen trat Luc Bouchet aus dem Stall, die Hände an der Schürze reibend wie damals, an dem Abend, als Wenterodt an seine Tür hämmerte. Er kniff die Augen zusammen und schien sich über den Jüngling im Sattel des Rappen zu wundern.
»J’entends ta voix, mais où es-tu?«
Sie zog ihren Hut vom Kopf, die roten Haare fanden ihren Weg. Für kurze Zeit glaubte Pascale, statt Freude allerdings eine Art Entsetzen auf dem Gesicht ihres französischen Vaters zu sehen, doch es verschwand ähnlich schnell, wie es gekommen war.
»Eh quoi«, wiederholte er noch immer und strahlte.
»Viens ici, ich glaube es nicht!«
Noch bevor Luc Bouchet Pascale wirklich betrachten konnte, spürte sie ein Kribbeln im Nacken. Oben, vom ersten Stock aus, schaute eine Frau aus einem der Fenster. Pascale warf einen Blick zu ihr herauf und erwiderte den stillen Blick auf ihre Weise. Sie schwiegen. Bis das Eis brach. Catherine Bouchet stieß einen leisen Schrei aus, verschwand vom Fenster, und Pascale hörte sie mit wirbelnden Schritten die Stufen hinunterlaufen, was ihre Mutter niemals getan hatte, nicht, seit Pascale denken konnte. Sie ließ sich aus dem Sattel gleiten und wartete einen Hauch von Sekunden, bis ihre Mutter vor ihr stand.
»Du lebst«, kam es mit zittriger Stimme. Sie fasste Pascales Gesicht mit beiden Händen und küsste sie auf die Stirn, die Wangen, beide Augenlider und selbst die Nasenspitze. Drückte sie an sich und heulte längst Rotz und Wasser, wie Pascale selbst auch.
»Ja«, krächzte Pascale. »Maman.«
Sie standen eine ganze Weile auf der Straße, während die Nachbarn kamen und nicht wussten, was sie davon halten sollten, dass das rothaarige Kind von Luc Bouchet zurückgekehrt war. Ob sie sich freuen sollten? Wundern sollten? Zu tratschen gäbe es in nächster Zeit genug, so viel war sicher.
»Kommt ins Haus«, meinte Luc Bouchet schließlich, als ihm das Starren zu viel wurde. »Hinein mit euch, bevor sie sich die Augen aus dem Kopf glotzen. Ich will nicht schuld sein, wenn hier lauter Blinde umherwandern.«
Pascale würde diese ersten Blicke ihrer Mutter so schnell nicht vergessen. Die Geborgenheit der Kindheit war, einer zarten Eierschale gleich, in jenem Moment zerborsten, da sie die Entscheidung traf, Orioni zu folgen. Damals nur schwach ahnend, welches Geheimnis er mit sich trug. Nun stand sie vor Catherine, und obwohl ihr tausend Fragen auf dem Herzen lagen, brachte sie keine davon hervor. Sie schwieg, so wie ihre Mutter. Sie wanderten in den Innenhof der Schenke, setzten sich auf die grob gezimmerten Bänke und sahen sich nur weiter an.
Luc Bouchet brachte den beiden Frauen zwei Becher verdünnten Weins.
»Ich denke, das braucht ihr jetzt wohl«, knurrte er herzlich. Er musterte Pascale. »Und ich wette, du gibst nicht mehr viel auf Milch mit Honig, wenn ich dich so ansehe. Würde fast meinen, du hast doch ein wenig was vom alten Luc, auch wenn’s nicht möglich ist.« Die letzten Worte kamen so leise, dass er sicher sein konnte, dass es außer seiner Frau und Pascale niemand hörte. Die Häuser waren in diesem Teil der Stadt so eng aneinandergebaut, dass man mit spitzen Ohren problemlos die Gespräche der direkten Nachbarn hätte mithören können, wäre einem langweilig gewesen. Und langweilig war an diesem Tag urplötzlich vielen.
Pascale nahm ihren Becher, sprang auf die Füße und gab Luc einen Kuss auf die Wange. Er drückte sie an sich, bevor er sie erneut mit jenem skeptischen Blick versah, mit dem er die ganze Welt betrachtete.
»Sie haben dich nicht kleingekriegt.«
»Nicht wirklich.«
»Das hätte mich auch gewundert. Jetzt rede mit deiner Mutter, sie platzt vor Neugier.« Er verließ sie in Richtung Schenke und zog die Tür hinter sich ins Schloss. Für kurze Zeit regte sich nur noch der Wind, der sich mitunter in Wirbeln in den Innenhof verirrte und Strohhalme umherscheuchte.
»Maman«, begann Pascale hilflos.
»Du bist zur Frau geworden«, fand ihre Mutter, völlig ignorierend, dass die Tochter wie ein Mann gekleidet vor ihr saß. »Du hast sehr viel von ihm. Weshalb ist mir das nur all die Jahre nicht aufgefallen?«
Pascale wusste nicht, wo sie anfangen sollte. Sie genoss die warme Sonne, den Duft der Blüten des wilden Weins, der den Innenhof wie ein Kragen umrankt hatte. Sie fühlte sich zu Hause.
»Was ist geschehen?«, brach es aus Catherine heraus. »Warst du bei ihm?« Sie sah ihre Tochter noch immer an, als wäre sie ein Geist.
»Ja.«
»Wie geht es ihm?«
»Maman.«
»Ich weiß, Kind, du hast hunderte Fragen auf der Seele«, sprach Catherine zittrig. »Ich … ich kann sie dir nicht alle heute geben, die Antworten.« Sie erhob sich mühsam.
»Wir reden später«, entkam es Pascale. Sie senkte den Blick auf die Hände. »Hast du ein Kleid für mich, Maman?«
Am späten Nachmittag waren Orioni und Tobias ebenfalls in der Schenke angelangt. Während sich Tobias ein wenig verdünnten Wein geschnappt und vor die Tür gesetzt hatte, um es sich gut gehen zu lassen, war Heinrich Orioni gähnend auf sein Zimmer geschlurft, und Pascale hatte sich bildlich vorstellen können, wie er seufzend in das Bett gesunken war und wohl erst am nächsten Tag wieder unter den Lebenden erscheinen würde.
Sie selbst trug inzwischen Rock und Mieder ihrer Mutter, die ihr zwar immer noch ein Stück zu groß waren, sie aber zurück in eine junge Frau verwandelt hatten, so merkwürdig es sich nach der langen Zeit in Hosen auch anfühlte. Ihre alten Kleider waren allesamt zu klein geworden. Auch wenn sie nicht deutlich gewachsen war, musste ihr Körper doch gereift sein.
Die Sonne stand im Sommer steil genug, dass der Innenhof lange sonnig war. Früher war es Pascale nicht so wichtig gewesen. Sie hatte sich viel in den Gassen und an der Dordogne aufgehalten, doch seit ihrer Ankunft wirkte es, als wäre es vorerst das Beste, sich zu verstecken. Wie eine völlig Fremde war sie in das Dorf zurückgekehrt, und nur dieser Innenhof gab ihr ein Gefühl der vertrauten Sicherheit ihrer Kindheit. Sie saß neben ihrer Mutter in der Sonne, die eins der Hühner rupfte, das für einen Braten herhalten würde. Pascale sammelte aufmüpfige Federn ein, die aus dem Eimer, in dem sie hätten bleiben sollen, herauswehten und herumflogen.
Die Schenke war gut gefüllt, wie eigentlich an jedem Abend. Außer damals, dachte Pascale, in jener verwunschenen, schneeumtosten Nacht, als sich ihre Leben für immer verändern sollten. Als der Schneesturm die elf eisigen Männer brachte und sie am Ende zusätzlich mit sich zog.
»Maman«, kam es Pascale irgendwann in den Sinn, »Monsieur Orioni ruht sich ein wenig aus.«
»Es wundert mich, dass er immer noch bei dir ist«, befand Catherine.
»Er hat ihn gebeten, auf mich aufzupassen.« Sie nannte ihn nur er.
»Aber weshalb tut er das nicht selbst?«
»Maman, er ist tot«, sprach Pascale leise und beobachtete ihre Mutter. Ein sanfter Anflug vor Schmerz huschte über deren Gesicht. »Er starb an gebrochenem Herzen, glaube ich. Wassersucht nannte es der Arzt. Es war, als würde er ertrinken. Er hat so furchtbar gehustet, aber kein Blut, weißt du, wie wenn sie Schwindsucht haben. So war es nicht. Ich kam gerade noch rechtzeitig.«
Catherine sog Luft in ihre Lungen, als würde ihr selbst der Atem knapp. »Liebes«, begann sie.
»Hat er dir etwas angetan?« Pascale wollte es wissen. Es war die Frage aller Fragen, die ihr mächtig auf der Seele lag. Weshalb dieser Mann ihr Vater hatte sein können.
»Nein«, kam es, »ich hätte dich niemals gehen lassen, wäre es so gewesen.«
»Du wusstest, dass ich ihnen folge?«
»Natürlich, Liebes. Ich kenne dich doch. Du bist weit zu neugierig, weit zu wissensdurstig, aber glaube mir, ich hätte dich festgehalten, mit all meiner Kraft, das schwöre ich dir. Heinrich Orioni ist ein guter Mensch, ich wusste, dass man ihm vertrauen kann, auch wenn ich furchtbar fand, was er plante.«
»Aber du warst verwundert, dass ich noch lebe.«
Catherine lachte leise und strich ihrer Tochter mit der Hand über den Rücken. »Lieber Gott, ja, man reitet keine zweitausend Meilen, ohne dass man sich in Lebensgefahr begibt. Sie haben einen entsetzlichen Krieg dort oben. Luc und ich, wir wissen es nur zu gut.«
»Wie kam es dann?« Pascale beäugte ihre Mutter.
»Wenn er dir nicht wehgetan hat?«
»Er mag einsam gewesen sein«, meinte sie. »Er hatte einen Sohn. Hast du ihn gesehen? Georg?«
»Nein, er ist verschollen.«
»Verschollen?«
»Ja, sie behaupten, er sei tot, aber eigentlich wissen alle, dass er bloß fortgelaufen ist. Vor dem Krieg und dem Grauen.«
»Der arme Junge.«
»Du kanntest ihn?«
»Er war damals jünger als du heute, vielleicht zwölf Jahre? Wenn ich richtig rechne, dürfte er jetzt Mitte zwanzig sein. Oder ein, zwei Jahre älter.« Ihr Blick wirkte noch immer weltenfern. »Pascale, ich war eine ganze Weile in der Burg, ich war eine der Gesellschafterinnen der Herzogin. Doch Wilhelm«, sie sprach den Namen zum ersten Mal aus, verhalten und mit fast zerbrechlichem Ton, »nun ja, er liebte sie nicht. Sie war ähnlich zart wie sein Sohn. Und Wilhelm, er war durchaus wild in seinen jüngeren Jahren. Er ritt viel auf die Jagd mit diesem verlogenen Grafen, den er sich als Berater gesucht hatte, und den anderen Herren. Er geisterte umher wie der Teufel, nahm keine Rücksicht auf die Herzogin und auf Georg ebenso wenig. Er wollte ihnen imponieren. Er wollte diesen Berater beeindrucken. Er hat es ihm ohne Unterlass rechtmachen wollen.«
»Und wie kam er zu dir?«
»Nun ja, man läuft sich über den Weg, es lässt sich nicht verhindern.«
»Aber die Herzogin!«
»Er hat sie nicht angerührt. Nicht mehr, seit sein Sohn geboren worden war. Der Priester hatte zwei Körper miteinander verbunden, die Seelen aber blieben getrennt.«
Catherine sah die tiefe Furche, die sich auf der Stirn ihrer Tochter gebildet hatte. Sie strich darüber, als wolle sie sie fortdrücken, und legte den Kopf für eine Weile an die warmen, honigfarbenen Steine.
»Hast du ihn geliebt?«
»Ich liebe Luc, den alten Raufbold, ob du es glaubst oder nicht«, lachte Catherine. »Du fragst mich, ob ich Wilhelm geliebt habe, und ich sage dir: Vielleicht ein wenig. Ein ganz klein wenig. Für den Hauch von wenigen Tagen. Es war nicht viel Zeit, die mir blieb. Und ob er jemals selbst etwas empfand, dieses Geheimnis nahm er nun mit ins Grab.«
»Nur wenige Tage?«
»Ja, es waren tatsächlich mehrere Tage, lass es eine knappe Woche gewesen sein, in der die Herzogin bei ihrem Bruder weilte und ich selbst gerade von einem Besuch bei meiner Familie zurückkehrte. Sie hatte sich andere Damen mitgenommen, ich war also mehr oder weniger allein in den Gemächern und musste mir die Zeit vertreiben. Ich las, ich stickte ein wenig, ich wanderte im Garten umher. Und das sah er.« Wieder brachen ihre Worte ab, um kurz darauf fortzufahren: »Ich war Anfang zwanzig. Ich hätte längst verheiratet sein sollen, aber meine Mitgift war zu gering. Meine Familie war arm, alt, aber arm.« Wieder eine Pause. »An einem Nachmittag traf ich ihn an dem kleinen Wasserspiel, zum Wald hin. Kennst du es?«
Pascale schüttelte den Kopf. Sie hatte besagten Garten nie betreten.
»Wir unterhielten uns recht nett, sein Berater war zu der Zeit in Wien. Er wirkte anders, diese Unruhe, die ihn sonst beseelt hatte, war in alle Winde zerstreut. Also kam es, wie es kommen musste. Und ich wurde schwanger.« Catherine senkte den Kopf. »Weißt du, es waren zwei Nächte und zwei Tage, ich möchte nicht, dass du glaubst, du wärest aus Schmerz heraus entstanden. Nein, ich war glücklich. Aber kaum dass er die letzte Nacht mit mir verbracht hatte, kehrte dieser Berater vorzeitig zurück und bald darauf die Herzogin. Fortan kannte er mich nicht mehr und ich war ein Geist für ihn, wie ich es schon zuvor gewesen war. Ich schaffte es noch, ihm einen Brief zukommen zu lassen, aber er sprach nie wieder ein Wort mit mir. Es war Heinrich Orioni, der sich um mich kümmerte. Der mir Schmuck gab und Geld und der sich nach meinem Befinden erkundigte. Wilhelm niemals wieder. Es mag richtig so gewesen sein, denn die Herzogin hat es nie erfahren und ich hätte auch nicht gewollt, dass sie es erfährt. Ihr Leben war schwierig genug.«
Pascale strich ihrer Mutter vorsichtig über den Arm. Sie versuchte sich an Wut auf diesen Mann, aber es war mehr Mitleid, das sich nach ihren Erlebnissen in Nermberg mildernd über die ganze Situation legte. »Ich glaube, er hatte diese Ruhe am Ende noch einmal«, stellte sie fest. Sie sahen sich kurz an.
Pascale erzählte ihrer Mutter von den letzten Tagen ihres Vaters. Sie berichtete von der gesamten Reise, wie an jenem letzten Abend. Und sie saßen zusammen und weinten. Bis Catherine noch einmal zu sprechen begann.
»Und dann kam Luc, noch bevor ich schwanger genug war, dass man es sehen konnte. Es war meine erste Schwangerschaft, gut, auch meine einzige, aber bei der ersten sieht man es nicht gleich so arg. Luc war forsch. Er hat mich mit seinen fantastischen Geschichten wieder zum Lachen gebracht und später um meine Hand angehalten. Er humpelte arg, weil er auf dem Schlachtfeld einen Hieb gegen sein Knie bekommen hatte. Das hat ihn unbrauchbar werden lassen fürs Kämpfen, aber er ritt als Bote herum.«
»Aber warum konntest du nicht zu deiner Familie zurück?«
»Zu welcher Familie, Pascale?« Catherine seufzte tief. »Meine Mutter starb bei der Geburt meines zweiten jüngeren Bruders, Vater starb bei der Schlacht am Weißen Berg. Mein Bruder erbte alles, unser halb verfallenes Gut und die Ländereien, aber er war noch so jung. Und er wollte keine Schwester bei sich, die sich von seinem Herzog hatte schwängern lassen. Er wollte mich in ein Kloster stecken, mit seinen sechzehn Jahren, dieser Hanswurst.«
Pascale musste ungewollt grinsen. Ihre Mutter drückte sie sanft.
»Nein, ein Kloster kam für mich nicht infrage. Ich habe Lucs Antrag angenommen. Mein Bruder tobte, wollte mich niemals wiedersehen. Erst wurde ich unehelich schwanger, dann wollte ich einen verkrüppelten Pikenier heiraten, ich brachte nur Schande über die Familie. Aber meine Entscheidung stand fest. Wir hatten das Geld von Heinrich Orioni, Luc erkaufte sich seine Freiheit, trat aus dem Soldatendienst aus, wir zogen zurück in seine Heimat und er übernahm diese Schenke. Kaum dass wir hier waren, brachte ich dich zur Welt. Und so ging alles seinen Lauf, bis Heinrich Orioni dich holen kam.«
Pascale ließ die Luft, die sich in ihr angesammelt hatte, zusammen mit der Anspannung entweichen. Die Gefühle hatten derart in ihr getobt, dass sie noch immer zitterte. Aber sie glaubte zu verstehen, was in ihrer Mutter vorging.
»Komm mal mit.« Sie griff nach der Hand ihrer Mutter und zog sie mit sich in das gemeinsame Zimmer zu den zwei Satteltaschen, die unter ihrem Bett lagen. Da weder Henri noch Luc in der Nähe waren, wagte sie es und holte sämtliche Beutel heraus.
»Er hat dir Geld gegeben«, wirkte Catherine erleichtert und erfreut.
»Warte ab, das ist nicht alles.« Pascales Finger wurden derart fahrig, dass sie nur mühsam die Kordel gelöst bekam und leise fluchte.
»Geduld, Geduld«, rief ihre Mutter und setzte sich auf den Rand des Bettes.
Endlich war der Beutel offen. Aber erst nach einem weiteren vorsichtigen Blick wagte es Pascale, den Inhalt auszuschütten. Wie schon in Orléans klackerten und prasselten die Edelsteine so fragil und fein aufeinander, dass Pascale ein Stück weit traurig war, als das letzte Juwel gefallen war und nur noch das Medaillon im Beutel lag. Sie nahm es heraus und betrachtete es eine Weile, wollte es ihrer Mutter zeigen und stockte. Catherine hatte sich ein anderes Schmuckstück gegriffen.
»Maman?«
»Weißt du, was das ist?«
Pascale betrachtete den unscheinbaren Ring, der ihr bislang nicht aufgefallen war unter all den anderen, weit schöneren und brillanter leuchtenden Steinen. Er war zu klein für eine Männerhand, auch wenn ihr Vater selbst schmächtig gewesen war und keine kräftigen Hände besessen hatte. Die zarte Fassung aus Gold hielt einen hellblauen, klaren Stein, einen Topas, der nicht größer war als ihr schmaler Daumennagel.
»Nein«, entgegnete Pascale. Sie schüttelte den Kopf.
»Es ist meiner«, klärte ihre Mutter sie auf. »Ich habe mich immer gewundert, wo er mir verloren ging. Eines Tages fehlte er, aber wohin ich ihn verlegt hatte, das wusste ich nicht. Ich glaubte sogar, er wäre mir gestohlen worden.« Ihre linke Hand strich fahrig in den Steinen umher.
»Dann hat er ihn behalten bis zum Schluss«, stellte Pascale fest. Und sie ahnte, was es ihrer Mutter bedeuten mochte. Sie beobachtete deren Gesicht, in der Hoffnung, es zu erfahren, aber es blieb verschlossen. »Schau mal.«
Sie reichte ihr das Medaillon.
Catherine öffnete das Schmuckstück, dabei den Ring noch immer in der Hand haltend. »Ja, das ist dein Bruder«, bestätigte sie. »Ein wenig älter, als ich ihn kannte, man erahnt schon einen Bart«, lächelte sie, »aber er ist es.« Sie sah Pascale an.
»Ich weiß, wir haben viel voneinander«, murrte sie missmutig, wenn auch nur halbherzig. »Sie haben es immer und immer wiederholt.«
»Nun ja, du hast meine Augen. Da sollen sie sagen, was sie wollen. Ich konnte dir meine Nase nicht vererben, aber die Augen hast du von mir.«
Sie lachten. Endlich.
»Er muss das alles vorbereitet haben.«
»Das mag sein.« Catherine strich ihrer Tochter zärtlich über die Haare. Immer wieder öffneten und schlossen sich die Finger ihrer Hand um den kleinen Ring, dessen Stein wie eine stille Quelle klaren Wassers funkelte. Ein winziger See, gefangen in Kristall. Sie reichte Pascale das Medaillon. »Eine alte Zeit.«
»So alt bin ich nun auch wieder nicht.«
»Das ist wahr. Manchmal erscheint es mir, als wäre es eine Ewigkeit her, in einem anderen Leben geschehen, aber wenn ich ehrlich bin, war es erst gestern. Dass wir aufbrachen und gen Süden reisten, dass du geboren wurdest.«