Operation Peruggia - Philip Birk - E-Book

Operation Peruggia E-Book

Philip Birk

5,0

Beschreibung

Kopenhagen, im Juni 2016: In einem aufsehenerregenden Coup wird das teuerste Gemälde Dänemarks – "Interiør" von Vilhelm Hammershøi – aus dem Dänischen Nationalmuseum gestohlen. Eine Leihgabe von Brian Frost, dem "König" von Kopenhagens Unterwelt. Dieser beauftragt den international agierenden Kunstdieb Tom Grip, das Gemälde wiederzubeschaffen. Tom bleiben kaum mehr als 24 Stunden Zeit, um das Bild aufzuspüren. Denn das exklusive Werk ist mit einem Mechanismus gesichert, der es zerstört, sollte es nicht rechtzeitig zurückgehängt werden … Für Tom Grip beginnt ein atemloser Wettlauf gegen die Zeit. Während ihn erste Spuren zu dem serbischen Mafiaboss Nebojša Savić führen, der in einem erbitterten Machtkampf mit Toms Auftraggeber steht, schaltet sich auch die dänische Polizei ein, bei der ein Beamter ein gefährliches Doppelspiel zu treiben scheint. Inmitten einer heißen Jagd, in der alle Beteiligten bis zum Äußersten gehen, taucht schließlich ein Name immer wieder auf: Jonathan Frost – Tom Grips bester Freund –, getötet bei einem letzten gemeinsamen Raubzug in Thailand. Virtuos und geschmeidig erzählt: Philip Birk schickt den Leser auf ein rasantes Abenteuer zwischen elitärer Kunstszene und Mafia-Milieu. In seiner schwedischen Heimat euphorisch gefeiert, offenbart "Operation Peruggia" den Autor als außergewöhnliche neue Stimme in der internationalen Krimiszene. Ein atemberaubendes Thriller-Debüt, das in Erinnerung bleiben wird.

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PHILIP BIRK

OPERATIONPERUGGIA

EINTOM-GRIPTHRILLER

Aus dem Schwedischen von Erik Gloßmann

Die schwedische Originalausgabe ist 2018 unter dem Titel »Kyldygnet« bei Historiska Media, Lund, Schweden, erschienen.

Die Textauszüge auf den Seiten 119, 120 und 123 stammen aus Kents Lied »Mannen i den vita hatten (16 år senare)« sowie auf Seite 333 aus Lars Winnerbäcks »Elegi«.

1. ebook-Ausgabe 2019© Philip Birk 2018

Published by agreement with

agentur literatur Gudrun Hebel, Germany

© 2019 der deutschsprachigen Ausgabe

Europa Verlag GmbH & Co. KG, München

Umschlaggestaltung und Motiv:

Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

unter Verwendung von Fotos von ©Kay Wiegand/Getty Images

und ©Jake Longley/EyeEM/Getty Images

Übersetzung: Erik Gloßmann

Redaktion: Claudia Alt

Layout & Satz: Danai Afrati & Robert Gigler

Konvertierung: Bookwire

ePub-ISBN 978-3-95890-264-0

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

Alle Rechte vorbehalten.

www.europa-verlag.com

Inhalt

VORWORT VON TOM GRIP

PROLOG: Freitag, 17. Juni 2016, 19.45 Uhr

1. KAPITEL: Samstag, 18. Juni 2016, 11.30 Uhr

2. KAPITEL: Samstag, 18. Juni 2016, 20.50 Uhr

3. KAPITEL: Freitag, 24. Juni 2016, 10.12 Uhr

4. KAPITEL: Freitag, 24. Juni 2016, 19.10 Uhr

5. KAPITEL: Freitag, 24. Juni 2016, 19.18 Uhr

6. KAPITEL: Freitag, 24. Juni 2016, 23.59 Uhr

7. KAPITEL: Samstag, 25. Juni 2016, 00.21 Uhr

8. KAPITEL: Samstag, 25. Juni 2016, 00.25 Uhr

9. KAPITEL: Samstag, 25. Juni 2016, 00.30 Uhr

10. KAPITEL: Samstag, 25. Juni 2016, 00.33 Uhr

11. KAPITEL: Samstag, 25. Juni 2016, 00.36 Uhr

12. KAPITEL: Samstag, 25. Juni 2016, 12.00 Uhr, Ortszeit -1h

13. KAPITEL: Samstag, 25. Juni 2016, 12.20 Uhr, Ortszeit -1h

14. KAPITEL: Samstag, 25. Juni 2016, 12.22 Uhr

15. KAPITEL: Samstag, 25. Juni 2016, 12.27 Uhr, Ortszeit -1h

16. KAPITEL: Samstag, 25. Juni 2016, 17.32 Uhr

17. KAPITEL: Samstag, 25. Juni 2016, 17.41 Uhr, Ortszeit +1h

18. KAPITEL: Samstag, 25. Juni 2016, 17.49 Uhr, Ortszeit +1h

19. KAPITEL: Samstag, 25. Juni 2016, 17.50 Uhr

20. KAPITEL: Samstag, 25. Juni 2016, 18.47 Uhr, Ortszeit +1h

21. KAPITEL: Samstag, 25. Juni 2016, 19.12 Uhr, Ortszeit +1h

22. KAPITEL: Mittwoch, 27. August 2008, 08.00 Uhr

23. KAPITEL: Samstag, 25. Juni 2016, 19.27 Uhr, Ortszeit +1h

24. KAPITEL: Samstag, 25. Juni 2016, 19.51 Uhr

25. KAPITEL: Samstag, 25. Juni 2016, 19.52 Uhr, Ortszeit +1h

26. KAPITEL: Mittwoch, 27. August 2008, 08.22 Uhr

27. KAPITEL: Freitag, 5. Dezember 2008, 23.42 Uhr

28. KAPITEL: Mittwoch, 10. Dezember 2008, 19.30 Uhr

29. KAPITEL: Samstag, 25. Juni 2016, 20.21 Uhr, Ortszeit +1h

30. KAPITEL: Samstag, 25. Juni 2016, 23.22 Uhr

31. KAPITEL: Mittwoch, 10. Dezember 2008, 19.59 Uhr

32. KAPITEL: Samstag, 25. Juni 2016, 23.41 Uhr

33. KAPITEL: Freitag, 12. Dezember 2008, 19.00 Uhr

34. KAPITEL: Dienstag, 21. April 2009, 11.43 Uhr

35. KAPITEL: Samstag, 25. Juni 2016, 23.54 Uhr

36. KAPITEL: Samstag, 25. Juni 2016, 23.58 Uhr

37. KAPITEL: Sonntag, 26. Juni 2016, 00.12 Uhr

38. KAPITEL: Silvester 2010, Freitag, 31. Dezember, 23.52 Uhr

39. KAPITEL: Sonntag, 26. Juni 2016, 00.32 Uhr

40. KAPITEL: Sonntag, 26. Juni 2016, 01.12 Uhr

41. KAPITEL: Sonntag, 26. Juni 2016, 01.24 Uhr

42. KAPITEL: Sonntag, 26. Juni 2016, 06.00 Uhr

43. KAPITEL: Sonntag, 26. Juni 2016, 06.12 Uhr

44. KAPITEL: Sonntag, 26. Juni 2016, 06.15 Uhr

45. KAPITEL: Sonntag, 26. Juni 2016, 06.30 Uhr

46. KAPITEL: Sonntag, 26. Juni 2016, 07.00 Uhr

47. KAPITEL: Sonntag, 26. Juni 2016, 07.25 Uhr

48. KAPITEL: Samstag, 18. Februar 2012, 23.33 Uhr

49. KAPITEL: Sonntag, 26. Juni 2016, 07.32 Uhr

50. KAPITEL: Sonntag, 19. Februar 2012, 08.10 Uhr

51. KAPITEL: Sonntag, 19. Februar 2012, 08.30 Uhr

52. KAPITEL: Sonntag, 26. Juni 2016, 12.15 Uhr

53. KAPITEL: Sonntag, 26. Juni 2016, 12.38 Uhr, Ortszeit +1h

54. KAPITEL: Sonntag, 26. Juni 2016, 13.01 Uhr

55. KAPITEL: Sonntag, 26. Juni 2016, 13.22 Uhr

56. KAPITEL: Freitag, 24. Februar 2012, 07.33 Uhr

57. KAPITEL: Sonntag, 26. Juni 2016, 15.05 Uhr

58. KAPITEL: Sonntag, 26. Februar 2012, 10.12 Uhr

59. KAPITEL: Sonntag, 26. Juni 2016, 15.18 Uhr

60. KAPITEL: Sonntag, 26. Februar 2012, 10.21 Uhr

61. KAPITEL: Sonntag, 26. Juni 2016, 15.36 Uhr

62. KAPITEL: Sonntag, 26. Februar 2012, 10.26 Uhr

63. KAPITEL: Sonntag, 26. Februar 2012, 11.08 Uhr

64. KAPITEL: Sonntag, 26. Juni 2016, 17.42 Uhr

65. KAPITEL: Sonntag, 26. Februar 2012, 11.16 Uhr

66. KAPITEL: Sonntag, 26. Juni 2016, 18.28 Uhr

67. KAPITEL: Sonntag, 26. Juni 2016, 21.00 Uhr

68. KAPITEL: Sonntag, 26. Juni 2016, 22.32 Uhr

69. KAPITEL: Sonntag, 26. Juni 2016, 23.34 Uhr

70. KAPITEL: Freitag, 23. Dezember 2016, 19.00 Uhr

NACHWORT

STIEG LARSSONS RECHERCHEN ZUM MORDFALL OLOF PALME: Bisher unveröffentlichtes Material des Bestsellerautors

VORWORT VON TOM GRIP

Ich bin für den Tod von fünf Menschen verantwortlich.

Besser gesagt: Ich trage die Schuld an fünf Todesfällen. Bei einem war ich nur indirekt der Täter, und bei einem anderen ist es unklar. Nicht ich hielt die Waffe, die den Thailänder auf Phuket tötete, aber ohne mich hätte ein importiertes chinesisches Gewehr den Bauch des Mannes nicht in ein Sieb verwandelt. Die Kugeln wären nicht in den rechten Lungenflügel eingedrungen und hätten das Rückgrat nicht in Hunderte milchweiße Splitter zerlegt. Gewiss, ich hatte keine Wahl gehabt – er oder ich. Aber das ist keine Entschuldigung.

Fünf Menschenleben belasten das Gewissen enorm, vor allem wenn man meine erste und einzige Regel beachtet: Töte niemals jemanden, wenn es nicht nötig ist. Mord weckt unerwünschte Aufmerksamkeit, und ein Kunstdieb will unbemerkt kommen und gehen.

Leichen verkomplizieren die Sache für gewöhnlich.

Meine Predigt, keine Menschen umzubringen, kann als Spiel für die Galerie erscheinen angesichts dessen, was ich gerade berichtet habe. Ich mache dir keinen Vorwurf. Ich bin kein Gandhi, auch kein Pazifist. Ich habe kein Problem damit, die Faust auszufahren, wenn es nötig ist. Aber ich töte nur dann jemanden, wenn es wirklich sein muss. Das solltest du wissen, jetzt, da du den Bericht darüber, wie ich zum Mörder wurde, lesen wirst. Es ist nicht leicht zu erklären, wie ich in diese Situation kam. Also ist es wohl am besten, wenn ich die Geschichte von Anfang an erzähle.

Mein Name ist Tom Grip. Ich bin verantwortlich für den Tod von fünf Menschen.

Der fünfte war mein bester Freund.

PROLOG

Freitag, 17. Juni 2016, 19.45 Uhr

IRGENDWO IN KOPENHAGEN

Peruggia war ein perfekter Tarnname.

Er tippte seine Unterschrift unter den Text. Der Fußboden diente ihm als Sitzgelegenheit, das Knie als Tisch für das Notebook. Nach einer Stunde in dieser unbequemen Haltung war sein Rücken gebogen wie ein Angelhaken, und die Augen schmerzten vom blauen Licht des Bildschirms. Peruggia hätte die Plastikplanen, die vor den Panoramafenstern zum Kopenhagener Freihafen hingen, beiseiteziehen können, doch die Dunkelheit war ihm lieber. Er schaute ein letztes Mal auf sein Pseudonym, lächelte und drückte dann auf »print«.

Ein leises Knirschen war zu hören, als der Drucker draußen im Flur startete. Zahnräder schnurrten, dann ertönte das monotone Rauschen des Papiereinzugs. Wegen dieser Geräusche hatte er den Drucker in den Flur gestellt. Dort hatte die Baufirma auch ihren Generator platziert, die einzige Stromquelle der Wohnung. Peruggia stellte den Computer auf den Boden und erhob sich. Er wartete, bis das Blut wieder durch die Beine floss, und ging dann in den Flur hinaus.

Der echte Vincenzo Peruggia war ein italienischer Dieb gewesen, bekannt dafür, dass er 1911 die Mona Lisa aus dem Louvre gestohlen hatte. Ein einfacher Coup: Peruggia hatte früher in dem Museum gearbeitet und kannte die Abläufe. An einem Montagmorgen schlich er sich hinein. Er trug einen weißen Kittel und war vom echten Personal nicht zu unterscheiden. Der Salon Carré, wo das Meisterwerk hing, war zu dieser frühen Stunde noch nicht für Besucher geöffnet. Peruggia nahm das Bild von der Wand und verzog sich auf eine selten benutzte Treppe, wo er das Gemälde aus dem Rahmen nahm.

Danach wickelte der Italiener seine Beute in den weißen Kittel und spazierte aus dem Louvre. Das berühmteste Gemälde der Welt hatte er in einen Ärmel seiner Jacke gestopft.

Auf den modernen Peruggia wartete eine komplexere Aktion. In dem Fach vor ihm lagen schon viele Blätter, bedruckt mit Text, aber auch einer Fotografie in A4-Größe. Er las die kurze Mitteilung, die er gerade verfasst hatte. Keine Rechtschreibfehler, keine Unklarheiten. Zufrieden nahm er das Papier aus dem Fach, schaltete den Drucker aus und kehrte ins Wohnzimmer zurück. Der Raum war groß; eine Werkbank war das einzige Möbelstück darin. Die untapezierten Wände verstärkten den trostlosen Eindruck. Er ging zu der Bank und sortierte die Blätter zu drei Stapeln.

Ganz links landete der neu geschriebene Brief, in der Mitte die Fotografie. Sie war aus großer Entfernung mit einem Teleobjektiv aufgenommen worden und zeigte einen Mann, der offenbar nicht wusste, dass er beobachtet wurde. Das Foto war gestochen scharf, genau so musste es sein. Der Mann auf dem Bild war schwer zu beschreiben – und damit schien er sehr zufrieden zu sein.

Der dritte Stapel auf der Werkbank war besonders hoch und betraf Instruktionen für einen groß angelegten Raub. Der Plan würde über ein Schließfach auf dem Flughafen Kastrup an seine Helfershelfer gelangen, die in genau einer Woche zuschlagen sollten. Peruggia stopfte die Papiere in ein größeres Kuvert und legte auch ein Foto bei. Dann nahm er einen Filzstift und schrieb »Kopenhagen« quer über den Umschlag. Mit dem Brief in der Hand ging er zum Fenster und schob die Plastikplanen zur Seite. Die Wohnung lag im obersten Stockwerk eines riesigen Gebäudes in der dänischen Hauptstadt, auf einem Grundstück, das momentan eine verlassene Baustelle war.

Ein perfektes Versteck.

Bevor er das Kuvert endgültig verschloss, schob Peruggia einen weiteren Gegenstand hinein, eine verschließbare Tüte. Sie enthielt Kokain, das er mit einigen zu Pulver zerriebenen Tabletten versetzt hatte. In der Mischung befand sich Fentanyl, das hundertmal stärker war als Morphium. Im Brief stand allerdings, dass es sich um gewöhnliches, mit Schlaftabletten versetztes Koks handele. Er wollte nicht riskieren, dass sein Partner versagte, wenn es darauf ankam.

Nun blieb nur noch ein Brief übrig. Diesen schickte er nicht an seine Komplizen, sondern an den Mann auf dem Foto. Er war der Einzige, der den Coup gefährden konnte. Er schrieb die Adresse auf den Umschlag: Hotel Palácio, Estoril, Portugal. Als Peruggia fertig war, zog er ein silbernes Feuerzeug aus der Tasche und betrachtete es eine Weile. Dann ließ er es in das Kuvert fallen.

Das Spiel konnte beginnen.

1. KAPITEL

Samstag, 18. Juni 2016, 11.30 Uhr

CAIS DA RIBIERA, PORTO

Ich sah, wie der Fremde sich im Türrahmen duckte, als er das Peter Café Sport betrat, ein kleines Lokal an der Promenade Cais de Ribiera im Zentrum von Porto. Über die Schultern des Mannes hinweg sah ich Ponte Luis, die Bogenbrücke über den Douro, der sich durch die Stadt schlängelte wie ein fetter Wasserwurm. Die Autos überquerten den Fluss auf zwei Etagen; eine schmalere Straße verlief unterhalb des Bogens, eine breitere oberhalb.

Die Gasträume waren in die Mauer an der Brücke gesprengt worden. Die Steinblöcke hatten Porto Hunderte Jahre lang verteidigt, aber nun beherbergten sie ein Café mit alten Eistruhen und laminierten Speisekarten, auf denen die Gerichte abgebildet waren. Die Restaurants an der Promenade wurden von verblichenen Sonnenschirmen gesäumt, die den Touristen in der portugiesischen Hitze Schatten spendeten. Die Tür des Peter Café Sport war angelehnt und schützte vor dem Gewimmel.

Der Fremde blieb auf der Schwelle stehen, damit sich die Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnten. Auf der Promenade hatte ihn das Licht geblendet, doch nun befand er sich in einem kleinen Raum, der eher an eine Grotte erinnerte. Keine Fenster, eine niedrige Decke. Die Luft war so feucht, dass die Ecken des Spiegels hinter den Flaschen an der Bar beschlagen waren. An der Decke drehte sich dumpf surrend ein alter Ventilator aus gemasertem rotem Holz. Von der Promenade drangen Lachen und Stimmengewirr herein, doch im Inneren des Cafés war man wie in einer anderen Welt.

Hier waren wir nur zu dritt: der Barkeeper, der Fremde und ich.

»Zwei Bier«, sagte der Mann.

Er war fast zwei Meter groß. Kein Wunder, dass er sich im Türrahmen ducken musste. Trotz des überdimensionierten Körpers saß der dunkelblaue Anzug perfekt. Definitiv die Arbeit eines Maßschneiders. Ägyptische Baumwolle und Hornknöpfe. Hatte sicher fünfzig Mille gekostet.

Hot shot.

Die Gesichtszüge verrieten, dass der Mann Nordeuropäer war, und die Kleidung zeugte davon, dass er seine Reise in Eile angetreten hatte. Der Anzug war nicht die optimale Kleidung in dieser Hitze, und seine helle Haut hatte keine Chance gegen die Sonne von Porto gehabt. Er war so sonnenverbrannt, dass ich glaubte, den Duft von frisch gebratenem Bacon zu riechen. Wenigstens trug er keine Krawatte und hatte es sich erlaubt, den obersten Hemdknopf zu öffnen.

Der Barkeeper stellte zwei Super Bock auf den Tresen. Der Fremde lächelte zufrieden, als er die erste Flasche in die Hand nahm.

»Cheers.«

Sein Adamsapfel hüpfte auf und ab, als das Bier die Kehle hinunterfloss. Ich schätzte den Mann auf etwa fünfzig, maximal fünfundfünfzig Jahre. Er presste die schmalen Lippen zusammen und ließ den Blick umherwandern. Schließlich sah er mich an und schlenderte auf mich zu, als hätte er sich spontan dazu entschieden – obwohl er zwei Bier bestellt hatte.

»Darf ich mich setzen?«

Die Stimme klang nasal. Londoner Dialekt. Ich nickte, und er nahm auf dem Stuhl neben mir Platz.

»Sprechen Sie Englisch?«

»Ja.«

Der Mann schob mir die andere Flasche zu. Ich würdigte das Bier keines Blickes, sondern behielt ihn im Auge. Das schien ihm zu missfallen. Er nahm einen weiteren Schluck und wischte sich dann über die Stirn. »Ich suche Tom Grip.«

Mein Herzschlag setzte eine Sekunde aus. Mein Interesse an dem Fremden war gering gewesen, aber nun hatte es sprunghaft zugenommen. Weil ich Tom Grip bin. Allerdings war es vier Jahre her, seit mich jemand so genannt hatte.

»Grip«, wiederholte der Mann. »Kennen Sie ihn?«

Seine Stimme wirkte nun kräftiger. Er hatte an Selbstvertrauen gewonnen. Ich hatte schon bemerkt, dass er überstürzt nach Portugal abgereist war. Nun begriff ich, warum.

Der Mann war in Porto, um mich zu finden.

»Nein«, log ich. Der Fremde lehnte sich zurück. Das Hemd klebte an seiner bleichen Brust. Er war so schlank, dass die Schlüsselbeine hervorstanden, zwei Bögen, gekrümmt wie Ponte Luis.

»Ich bin Hitze nicht gewohnt«, stöhnte er und lächelte.

»Das sehe ich.«

Der Mann grinste. Gelbliche, schiefe Zähne – was für ein Klischee. Er sollte sie richten lassen. Nach dem Anzug zu urteilen, hatte er das Geld dazu.

»Sind Sie sicher, dass Sie keinen Tom Grip kennen?«, fragte er mich zum dritten Mal.

»Ja.«

»Schade. Ich glaube, er sitzt oft in dieser Kneipe.«

»Ich verspreche, dass ich mich melde, wenn ich etwas höre«, sagte ich. »Von wem soll ich Grüße ausrichten?«

»Nicholas Spring.«

Der Name klang genauso britisch wie der Akzent des Mannes. Spring sprach ein altmodisch-biederes Englisch, wie man es von einem Mann in seinem Alter erwartete. Als er die leere Flasche abstellte, schob ich ihm die andere hin. Er hob eine Augenbraue, um zu fragen, ob es okay sei.

»Sie haben sie schließlich bezahlt.«

Ich widmete mich meinem eigenen Drink. Die Eiswürfel waren nur noch so groß wie Weinbeeren und mein Sprite so verdünnt, dass es fast wie Mineralwasser schmeckte.

Kurz darauf erhob sich Spring mit der Flasche in der Hand.

»Vielen Dank für die Gesellschaft.«

»War mir ein Vergnügen«, antwortete ich.

Er trank aus und stellte die Flasche hart auf den Tisch. Der Knall brach das Surren des Ventilators, der über uns arbeitete. Als er mir den Rücken zuwandte, sagte ich:

»Übrigens – wie sieht dieser Grip denn aus?«

Spring drehte sich um und lächelte. Er fischte ein Foto aus der Brusttasche und schob mir das Bild herüber. An seinem Handgelenk glänzte eine Uhr aus mattem Stahl mit einer Schramme auf dem Glas über dem Logo. Ich hatte diese Uhr schon einmal gesehen.

»Ein Geschenk von einem ehemaligen Mandanten«, sagte Spring, der meinen neugierigen Blick bemerkt hatte.

Ich schaute mir das Foto an, dessen verblasste Farben davon zeugten, dass es einige Jahre alt war. Schweigend betrachtete ich die beiden Männer auf dem Bild, dann wanderte mein Blick hinauf zu dem Spiegel hinter der Bar. Ich will lieber nicht beschreiben, wie ich aussehe, denn es gibt schlimmere Typen als Nicholas Spring, die nach mir suchen. Aber eines kann ich verraten: Das Bild zeigte mich.

Neben mir stand Jonathan. Das Foto musste das letzte sein, das von uns beiden zusammen gemacht worden war – im Hintergrund sah man einen kleinen Garten und die Villa, die wir vor einigen Jahren auf Phuket gemietet hatten. Als ich Jonathans Gesicht sah, brachen die Erinnerungen wie eine Flutwelle über mich herein. Das Foto war wie ein Tor zur Vergangenheit. Ich vergaß beinahe, dass Spring neben mir stand, bis er sich räusperte.

Noch immer tief bewegt gab ich ihm die abgegriffene Fotografie zurück. Dabei fiel mir auf, dass mein Name mit Tinte auf der Rückseite geschrieben stand.

»Wer sind Sie?«

»Das habe ich doch schon gesagt. Mein Name ist Nicholas Spring, und ich suche Sie schon lange. Ich muss Ihnen etwas erzählen. Es geht um Jonathan.«

»Was meinen Sie?«

Der Fremde sah sich vorsichtig um. Gedämpfter Lärm drang von der Promenade herein und mischte sich mit dem Rauschen der Fahrzeuge, die über die Brücke fuhren, doch im Peter Café Sport war alles ruhig. Vielleicht war es die Stille, die ihn beunruhigte.

»Nicht hier. Wir sollten uns an einem Ort unterhalten, wo uns niemand sehen oder hören kann.«

Spring reichte mir eine Visitenkarte und verließ dann das Café, ohne noch ein Wort zu sagen. Ich sah ihm nach. Der Anzug zeigte kaum Falten, obwohl er auf dem Stuhl gesessen hatte, doch die weißen Haarsträhnen klebten an der Haut. Spring zog den Kopf ein, als er hinausging, und wandte sich nach links. Er verschwand auf der Promenade, bevor die Tür zufiel.

Ich betrachtete die Karte in meiner Hand. Nicholas Spring, Rechtsanwalt, Kanzlei Howard & Spring, London. Auf die Rückseite hatte er unseren Treffpunkt gekritzelt. Die Adresse war einige Querstraßen vom Peter Café Sport entfernt oben in Vitória. Auch eine Zeit war angegeben: 21.00 Uhr.

»Nicholas Spring«, las ich noch einmal leise für mich selbst.

In meiner ganzen Karriere war ich nie zuvor aufgespürt worden. Keiner hatte mich je gefunden, wenn ich beschlossen hatte abzutauchen. Die Tatsache, dass dieser Anwalt es geschafft hatte, machte ihn zu einem höchst interessanten Individuum. Ich steckte die Visitenkarte in die Tasche und grübelte über die Verbindung zwischen Nicholas Spring und Jonathan. Er würde mir bei unserem Treffen am Abend hoffentlich eine Erklärung geben.

Das glaubte ich zumindest.

2. KAPITEL

Samstag, 18. Juni 2016, 20.50 Uhr

VITÓRIA, PORTO

Praça de Carlos Alberto. Der kleine Platz liegt inmitten des Stadtteils Vitória in der Nähe des gleichnamigen Theaters und nur ein paar Straßen nördlich der Universität von Porto. Ich hatte die Straßenbahn genommen und war an der Igreja do Carmo ausgestiegen. Das letzte Stück ging ich zu Fuß. Der Samstagabend war angenehm lau. Um die Straßenlaternen schwirrten Motten, und von einem Balkon dröhnte Lana del Reys »American« in voller Lautstärke herab. Meine Gedanken wanderten zu den farbenfrohen Häusern am Douro. Ich hatte mir dort vor vier Jahren, als ich untergetaucht war, eine Wohnung gekauft. An diesem Abend hatte ich das Gefühl, dass es bald vorbei sein würde mit dem ruhigen Leben.

»No thanks«, sagte ich, als mir ein Mann auf dem Bürgersteig einen schwarzen Selfiestick hinhielt.

Der Selfiestick ist ein Symbol; er zeugt davon, dass das goldene Zeitalter des Egoismus angebrochen ist. Auf den Plätzen von Porto versuchen Scharen von Flüchtlingen, diesen Mist den Touristen für fünf Euro pro Stück anzudrehen. Die Entwicklung zu einer egozentrischen Gesellschaft hat jedoch ihre Vorteile für einen Mann wie mich, denn wenn alle verzweifelt gesehen werden wollen, ist es einfach, unsichtbar zu bleiben. Mit den Jahren war ich ein Meister darin geworden, meine Spuren zu verwischen. Die Wohnung hatte ich über eine Firma gekauft, die auf den Kaimaninseln registriert war. Meine Daten sind nirgendwo gespeichert. Ich habe keine festen Telefonnummern oder E-Mail-Adressen, aber für jeden Tag der Woche eine andere Nationalität.

»Aber du hast mich doch gefunden«, sagte ich leise und betastete Springs Visitenkarte in meiner Tasche.

Auf dem Weg zum Treffpunkt kam ich an einem Lokal vorbei. Davor standen Tische, über denen Glühlampen hingen. Die Leitungen hatte man um eine rostbraune Blechkonstruktion gewickelt, die an eine Pergola erinnerte. Ich schüttelte lächelnd den Kopf, als eine Kellnerin einladend auf die Spezialität des Abends zeigte, die auf eine Tafel geschrieben war. Es war natürlich Bacalhau – wir befanden uns trotz allem in Porto.

Der liebliche Duft von Dorsch wehte von einem der Tische herüber, aber ich strebte zielbewusst weiter. Es war fast neun Uhr, und ich gehöre zu der Sorte Mann, die alles daransetzt, nie zu spät zu kommen.

Von Nicholas Spring konnte man offenbar nicht dasselbe behaupten.

Als die Uhr zehn Minuten nach neun zeigte, war ich noch immer allein auf dem Platz. Es war ganz still, man hörte nur die Insekten in den Büschen. Ich holte die Visitenkarte des Anwalts hervor und schaute sicherheitshalber noch einmal nach: 21.00 Uhr.

»Wo steckst du nur?«

Der Gedanke, das Treffen könnte ein Hinterhalt sein, war mir gekommen, aber meine Neugier hatte die Oberhand gewonnen. Jetzt wurde ich langsam sauer. Um halb zehn gab ich auf. Wenn ich jetzt ginge, käme ich gerade richtig zur letzten Vorstellung im Trindade. Ein Film, um den Kopf frei zu machen von den Erinnerungen, die Springs Fotografie von Jonathan und mir geweckt hatte, wäre genau das Richtige. Meine Hände zitterten – ich war wirklich ziemlich neben der Spur. Verdammt! Der Fremde hatte meine Welt erschüttert, als er das Peter Café Sport betrat. Ich ging ein paar Schritte um die Rabatte herum und hoffte ein letztes Mal, Nicholas Spring würde auftauchen.

Aber niemand kam.

Ich betrachtete die Statue inmitten der Blumen und versuchte, die Gedanken an Jonathan zu verdrängen. Die Blüten waren dunkelblau, aber ich hatte keine Ahnung, um welche Sorte es sich handelte. Mein Blick schweifte über den Platz und an den umliegenden blau-weiß gefliesten Häusern entlang. In der Wärme waren alle Balkontüren angelehnt. An der nördlichen Ecke des Platzes stand ein kleines Hotel namens Marino. Mein Blick blieb an einem der Fenster hängen.

Die dunkle Silhouette eines Mannes schaute mich von der anderen Seite der Scheibe an.

Ich blieb stehen. Obwohl ich ihn anstarrte, rührte sich der große Mann keinen Zentimeter. Ein merkwürdiger Lichtschein umgab ihn; er schien von unten zu kommen und erleuchtete den Raum hinter ihm, sodass sein Gesicht im Schatten verborgen blieb. Ich dachte sofort an Nicholas Spring, mit dem ich verabredet war, damit er mir sein Geheimnis anvertraute. Mir erzählte, warum er ein Foto von mir und meinem toten Freund besaß. Ich hörte die Stimme des Anwalts in meinem Kopf: »Wir sollten uns an einem Ort unterhalten, wo uns niemand sehen oder hören kann.«

Rasch ging ich um die Ecke und war außer Sichtweite des Hotelfensters. Ich rekapitulierte – der Mann hatte im mittleren Fenster der dritten Etage gestanden. Eine finstere Gestalt. Ich ärgerte mich, weil ich das Haus unbewaffnet verlassen hatte.

Ich dachte an Springs Armbanduhr, eine Omega Speedmaster Moonwatch aus mattem Stahl mit schwarzem Ziffernblatt. Ich hatte sie gesehen, als er mir das Foto reichte und sein Ärmel nach oben gerutscht war. Die Schramme hatte sich genau an der richtigen Stelle befunden, und als ich dann das Foto sah, waren meine letzten Zweifel zerstreut.

Die Uhr hatte Jonathan Frost gehört.

Ich war sicher, dass es dieselbe Armbanduhr war, nicht nur wegen der Schramme, sondern weil Spring auch wusste, wer ich war. Das konnte kein Zufall sein. Diese Erkenntnis ließ mich das Hotel Marino betreten, obwohl ich keine Waffe dabeihatte – wenn Spring in Porto war, um mich zu eliminieren, wollte ich ihm nicht das Überraschungsmoment überlassen. Weltmännisch schlenderte ich durch die Lobby.

»Boa noite«, grüßte ich zur Rezeption hinüber und steuerte auf die Treppe zu.

Alte Hotels haben den Vorteil, dass das Sicherheitssystem selten auf dem neuesten Stand ist. Überwachungskameras sind immer billiger geworden, aber als ich den Flur erreichte, stellte ich fest, dass es keine einzige gab. Das Marino war wirklich klein; auf der dritten Etage hatte ich nur zwei Türen zur Auswahl. Ich rechnete mir schnell aus, welche die richtige sein musste. Es gab kein elektronisches Schloss, sondern eines von der altmodischen Art, die einen Schlüssel erforderte. Ich hatte nicht vor anzuklopfen, also blieb mir nur eine Alternative: das Schloss aufzubrechen.

Das war riskant. Die Gäste im Zimmer daneben würden garantiert hören, dass ich die Tür eintrat, und die Rezeption alarmieren. Die Polizei wäre in null Komma nichts da, schließlich befanden wir uns in Vitória, einem gutbürgerlichen Viertel. Das Szenario war nicht sehr verlockend. Solche Situationen vermeidet man, wenn man international gesucht wird. Die Frage war, ob ich mich überhaupt noch vorsehen musste. Wenn mich Nicholas Spring finden konnte, was sollte dann andere daran hindern?

»Room service!«, rief ich und klopfte an die Nachbartür, doch niemand reagierte. Kurz vor zehn Uhr abends war am Samstag eine gute Zeit. Die Hotelgäste saßen im Restaurant oder waren auf dem Weg zu einer Party; jeder Barhocker am Douro war sicher schon besetzt. Ich hatte freie Bahn.

Ich nahm Anlauf und warf mich gegen die Tür. Mein Körper war so vollgepumpt mit Adrenalin, dass ich den Aufprall kaum wahrnahm. Ich war bereit, den Kampf sofort aufzunehmen, wenn ich das Zimmer betrat, denn ohne Waffe hatte ich nur die eine Chance, den Mann zu überrumpeln. Das alte Schloss zerbarst unter meinem Gewicht, und der Riegel hinterließ eine rostbraune Spur an dem weißen Rahmen, als die Tür aufschwang.

Ich schaute auf, während ich versuchte, das Gleichgewicht wiederzufinden. Starkes Licht blendete mich, sodass ich nur die Silhouette des Mannes sehen konnte. Er stand immer noch dem Fenster zugewandt. Im Hintergrund surrte die Klimaanlage.

»Was wollen Sie?«, fragte ich.

Keine Antwort.

An der Garderobe hing auf einem Bügel ein elegantes dunkelblaues Jackett mit Hornknöpfen. Ich wandte mich wieder dem Mann am Fenster zu, und als sich meine Augen an das Licht vom Boden gewöhnt hatten, wurde meine Ahnung bestätigt: Es war Nicholas Spring. Er hatte seit unserer Begegnung geduscht. Die weißen Haarsträhnen lagen sorgfältig über die Glatze gekämmt. Diesmal trug Spring auch eine Krawatte; das schmale Stück Stoff ragte nach oben.

Der Rechtsanwalt hing an einem Haken an der Decke.

»Was zum Teufel …«

Ich stieg über die am Boden liegende Lampe, die mich geblendet hatte, und betrachtete den Leichnam. Es war bestimmt nicht einfach gewesen, den Schlips an dem Lampenhaken festzuknoten. Die Zehen reichten genau bis zum Teppich und verhinderten, dass der Körper vor und zurück pendelte. Die dünnen Arme hingen schlaff herunter. Das Fenster spiegelte Springs Gesicht. Es war geschwollen; die geplatzten Kapillaren bildeten ein Labyrinth aus blauem Blut unter der Haut der Wangen. Die Farbe ließ mich an die Blumen rund um die Plaça de Carlos Alberto denken.

Es war nicht einfach, die Hand in Springs Hosentasche zu stecken. Als es mir endlich gelang, fand ich kein Mobiltelefon, aber wenigstens eine Brieftasche. Es war nichts Besonderes darin, nur ein paar Euroscheine und einige Visitenkarten. Führerschein, Quittungen und andere Informationsträger hatte jemand entfernt. Auch das Foto von Jonathan und mir war verschwunden, stellte ich fest, als ich die Brusttasche untersucht hatte. Enttäuscht warf ich die Brieftasche aufs Bett. Erst da fiel mir etwas auf. Nicholas Springs linker Ärmel war bis zum Ellbogen hochgeschoben, und das blasse Handgelenk des Anwalts war nackt.

Der Mörder hatte Jonathans Uhr mitgenommen.

3. KAPITEL

Freitag, 24. Juni 2016, 10.12 Uhr

KASTRUP, KOPENHAGEN

Es gibt viele Schließfächer im P4 am Flughafen Kastrup, weiß lackierte Blechschränke in zwei verschiedenen Größen. Die kleine Box kostete fünfzig dänische Kronen, die große fünfundsiebzig. Hoodie sah sich im Parkhaus um. Der Asphalt war feucht, und es roch nach den Abgasen der Fahrzeuge. Sein Blick fiel auf eine Überwachungskamera genau über den Schließfächern. Schnell zog er die Kapuze noch ein paar Zentimeter ins Gesicht und trat näher an die Wand mit den Schließfächern heran.

Er selbst hätte nie das Parkhaus gewählt. Es gab zu viele Kameras am Flughafen und zu viel Sicherheitspersonal. Zu viele Sachen konnten schiefgehen. Den Ort hatte ein anderer ausgesucht – Hoodie war nur in Dänemark, um einen Job auszuführen. Wie der Auftraggeber die richtige E-Mail-Adresse herausgefunden hatte, war ihm immer noch ein Rätsel, aber jetzt nicht mehr so wichtig. Über verschlüsselte Nachrichten hatten sie über ein Jahr lang den Sturm geplant, der bald über Kopenhagen hereinbrechen würde.

In Wahrheit hatte der Auftraggeber die meisten Vorbereitungen übernommen, doch wenn man ihm Glauben schenken konnte, war Hoodies Beitrag das Fundament für den ganzen Coup. »Du wurdest für diesen Auftrag handverlesen.« Genau so hatte er sich ausgedrückt. »Nur du kannst es schaffen.« Die Worte waren Ansporn, aber auch Warnung.

Nur du kannst es schaffen.

Er hatte Hunderte Schließfächer zur Auswahl. Hinter einer der Blechtüren warteten die endgültigen Instruktionen. Eine der kleinen Boxen wird es sein, dachte Hoodie, zog das Mobiltelefon aus der Tasche und drückte das gelbe Symbol von Snapchat.

Über Snapchat kann man Bilder und Filmclips verschicken, die dem Empfänger zeitlich begrenzt zur Verfügung stehen. Der Absender entscheidet, wie lange das Foto für den anderen sichtbar bleibt, zwischen einer und zehn Sekunden – dann wird die Nachricht gelöscht. Jedoch nicht ganz und gar. Alle digitalen Datenbewegungen werden in der Überwachungsgesellschaft gespeichert. Das Bild bleibt irgendwo auf einem Server liegen, für immer archiviert in der unsichtbaren Wolke, die Internet heißt. Der Vorteil: In der Wolke ist es nahezu unmöglich, es wiederzufinden.

Sollte die dänische Polizei Interesse an dem Bild haben, müsste sie ein amerikanisches Gericht um Hilfe bitten, doch die Yankees sind nicht besonders scharf darauf, Polizisten im Ausland bei ihren Ermittlungen zu helfen. Sie haben genug mit der Scheiße vor der eigenen Tür zu tun.

God bless America.

Bevor die Ermittler an das Bild kämen, müssten sie sich wochenlang durch Papierkram kämpfen und ihren Chefs in den Ohren liegen, an den richtigen Strippen zu ziehen. Sie würden nie Zeit für eine Snapchat-Spur vergeuden, auch weil sie wussten, wofür die App vor allem genutzt wurde. Das Risiko war groß, dass das Ergebnis der ganzen Arbeit in einem Tittenfoto bestand, mit dem ein Teeniemädchen seinen Freund scharfmachen wollte.

Ein flüchtiges Lächeln unter der Kapuze.

»Sieh an.«

Eine Notiz auf dem Display signalisierte, dass ein Snap eingetroffen war. Der Absender nannte sich Peruggia. Wer sich hinter diesem Namen verbarg, war unbekannt wie alles andere, was mit dem Diebstahl zu tun hatte. Hoodie hatte nichts gegen Diskretion; ihre Zusammenarbeit sollte kurz und schmerzlos sein. Nach dem Bruch würde es keinen Kontakt mehr geben. Dann hieß es nur noch: Geld einsacken und abhauen.

Das Foto war von genau der Stelle aufgenommen, an der Hoodie stand. Eine der Boxen war mit einem roten Kreis markiert, unter dem Handgriff standen die Ziffern 1234. Die einfachste Kombination der Welt. Bemerkenswerterweise auch die am häufigsten angewendete. Natürlich kann man nicht feststellen, wie viele diese spezielle Zahlenfolge tatsächlich benutzen, doch in einem Test von Data-Genetics mit verschiedenen Websites entsprach 1234 elf Prozent aller Codes.

Kriminelle kennen die Statistik.

Joggingschuhe patschten durch Pfützen, als Hoodie zu der markierten Box ging und die Ziffern an dem blank geputzten Schloss einstellte. Ein Klick und die Tür sprang auf. In dem Fach lag ein wattierter brauner Umschlag von der Sorte, wie sie von Internet-Versandfirmen verwendet wird. »Kopenhagen« stand mit Filzstift quer über die Vorderseite geschrieben.

Hoodie öffnete das Kuvert und zog das oberste Blatt heraus, dessen Ecke ein wenig nach oben stand, ein Foto, das auf eine A4-Seite gedruckt war. Es zeigte einen Mann, der mit einem Teleobjektiv aus großer Entfernung aufgenommen worden war. Im Hintergrund war eine riesige Bogenbrücke zu sehen. Darunter stand, mit schwarzer Tinte geschrieben, ein Name:

Tom Grip.

Hoodie schloss die Box und lief zielstrebig zum Ausgang. Die Schritte schnürten über den nassen Asphalt. Ein roter Mazda kam ihm auf der Einfahrt entgegen. Hoodie senkte den Blick, als der Wagen an ihm vorüberfuhr, und trat dann in den Nebel hinaus, der Kastrup umgab. Ein Auftrag war zu erfüllen.

4. KAPITEL

Freitag, 24. Juni 2016, 19.10 Uhr

EIN LAGERSCHUPPEN, KOPENHAGEN

Die Tropfen fielen in immer gleichen Abständen auf den ölfleckigen Betonboden; ihr Platschen erinnerte an das Ticken einer Uhr. Das leise Geräusch hatte Željko Ivanović geweckt.

Woher kamen die Laute?

Er wusste es nicht.

War das Wasser?

Auch da war sich Željko nicht sicher.

Das Atmen fiel ihm schwer, der Geruch nach Benzin und Malerfarben reizte in der Nase. Željko leckte sich die Lippen und wunderte sich. Er hatte erwartet, aufgesprungene Haut an der Zungenspitze zu spüren, stattdessen traf er auf den süßen Geschmack von reifen Pfirsichen.

Željko schielte auf seinen rechten Arm, wo die schwarzen Haare aufrecht standen. Die Kälte presste sich gegen die Haut, als versuchte sie, darunterzukriechen und sich zu wärmen. Jemand hatte ihm die Jacke gestohlen, und nicht nur die – als sein Blick über seinen Oberkörper wanderte, sah er die nackten Brustwarzen. Sie waren vor Kälte steif und hart wie Stoppeln. Die Rippen ragten hervor, und seine weißen Beine schienen in der Dunkelheit zu leuchten. An den bleichen Schenkeln waren die frostigen Temperaturen am stärksten zu spüren.

Zwischen ihnen lag schlaff der Penis, kaum größer als Željkos Daumen.

Dann vernahm er ein neues Geräusch. Das entfernte Knattern eines alten Bootsmotors, der auf Touren gebracht wurde. Seine Sinne schärften sich – Željko hatte nun das Gefühl, sich noch in Kopenhagen zu befinden, offenbar in der Nähe des Wassers. Am Nordhafen, vielleicht in der Marina auf Refshaleøn. Dann fuhr das Boot davon, und Željko blieb nur wieder das Ticken der Tropfen.

Seine Augen waren so trocken, als hätte er vergessen, die Eintageskontaktlinsen über Nacht herauszunehmen. Durch eine Lücke im Blechdach drang Licht herein und ließ die Ölflecken auf dem Beton grün und lila schimmern. Željko schaute auf seine Handgelenke, die sich nicht bewegen ließen. Er war kein kräftiger Mann; seine mit einem blauen Kabelbinder an den Stuhl gefesselten Arme wirkten dünn und mickrig.

Die Person, von der er gefesselt worden war, hatte ganze Arbeit geleistet. Die scharfen Kanten, die in die Haut drückten, verursachten zunehmend Schmerzen, und Željko merkte, wie sein Hals trocken wurde. Als er die Arme bewegte, um sich frei zu machen, schnitten die Kabelbinder nur noch tiefer ins Fleisch. Bald trat Blut aus und rann warm über seine bleiche Hand bis hinunter zum kleinen Finger. Željko versuchte, den Laut zu ignorieren, der entstand, als der erste Blutstropfen auf dem Beton aufschlug, doch sein Gehirn reagierte unmittelbar.

Ich will nicht sterben.

Es war das erste Mal, dass ihm dieser Gedanke kam. Er wollte wirklich nicht sterben. Er hatte Orte wie diesen hier früher schon gesehen. Wenn er die Augen schloss, konnte er sich den Bericht des Rechtsmediziners vorstellen. Mann, vierzig Jahre alt, keine früheren Krankheiten. Fotografien des dünnen nackten Körpers, wie er auf dem Stuhl saß, der Kopf nach hinten gekippt. Handgelenke, die eher an das Kratzbrett einer Katze als an menschliche Körperteile erinnerten. Željko zwang sich, die Augen offen zu halten.

In dieser Situation war es seltsam, an so etwas zu denken, aber er wünschte, er wäre besser rasiert. Wenn er gewusst hätte, dass er sterben würde, hätte er sich an diesem Morgen den Bart abgenommen. War es überhaupt noch Freitag?

Die goldene Armbanduhr, die für gewöhnlich sein Handgelenk schmückte, war auch verschwunden. Der Verlust wurde ihm erst bewusst, als er begriff, dass die Kontrolle über die Zeit überlebenswichtig sein konnte. Željko hatte am Abend einen Auftrag zu erledigen, und wenn er zu spät kam … In seinem Kopf tauchten, leuchtend wie die Neonreklame auf dem Broadway, die Worte auf:

Toter Serbe.

Željko Ivanović war kein guter Mensch. Manche würden behaupten, sein schlechtes Karma habe ihn auf diesen Stuhl gebracht. Er hatte in seinem Leben viele Dummheiten begangen, auch wenn du es nicht glauben würdest, wenn du ihn gesehen hättest. Željkos Augen waren hellbraun und freundlich. Weil sie so groß waren, sah er immer überrascht aus, wie ein Reh, das auf der Landstraße in den Lichtkegeln eines Autos gefangen ist. Nur der schwarze Bart passte nicht zu dem schüchternen Eindruck, den Željko machte. Doch die Gesichtsbehaarung konnte nicht verhindern, dass sein Körper vor allem an ein Streichholz erinnerte.

Er hatte nie Gewalt anwenden müssen wie die anderen. Das Talent dieses Mannes bestand darin, dass er ein unfehlbares Auge für Details hatte. Željko war der Cleaner. Der Mann, den Nebojša Savić anrief, wenn eine Auseinandersetzung blutig geendet hatte. Wenn eines der Mädchen in Rosengård mit einem spendablen Freier eine Überdosis genommen hatte. Wenn jemand zu viel redete – oder wenn der Khan plante, das teuerste Kunstwerk Dänemarks aller Zeiten zu stehlen.

»Schaff es mir her.« Željko konnte Nebojšas Stimme in seinem Inneren hören. »Zeig allen, dass Kopenhagen jetzt unsere Stadt ist.«

Željko sah auf den metallenen Klapptisch. Die Platte war orange, in der Mitte lagen zwei Gegenstände. Zum einen eine Visitenkarte in bester Druckqualität; sie passte gar nicht an diesen schmuddeligen Ort. Er hatte sich bereits die Telefonnummer gemerkt, die zu einem Rechtsanwalt namens Nicholas Spring gehörte. Als Željko gerade den anderen Gegenstand in Augenschein nehmen wollte, drang plötzlich blendendes Licht in den Schuppen. Hinter ihm wurde ein Garagentor geöffnet. Für einen Moment waren die Geräusche der Stadt zu hören, dann rasselte das Tor wieder herab, und die Geräuschkulisse von draußen wurde durch rhythmische Laute verdrängt. Schritte.

Željko Ivanović war nicht mehr allein.

5. KAPITEL

Freitag, 24. Juni 2016, 19.18 Uhr

EIN LAGERSCHUPPEN, KOPENHAGEN

Nach den wenigen Sekunden, in denen Tageslicht eingedrungen war, schien es in dem Schuppen noch dunkler zu sein. Željko war hellwach, seit er Gesellschaft bekommen hatte. Er hielt den Atem an und lauschte den Schritten, die sich auf dem feuchten Beton näherten. Die Bewegungen des Unbekannten waren leicht und unbekümmert.

»Hallo?«, sagte Željko, und es war nicht mehr als ein Flüstern. Er merkte, wie nervös er wirkte, und zwang sich, etwas mehr Nachdruck in seine Stimme zu legen: »Hallo?«

Die Frage prallte an die Blechwände, und der Unbekannte blieb stehen. Für einen Augenblick war es ganz still. Die Wassertropfen fielen nicht mehr, als warteten auch sie darauf, was nun geschehen würde. In Željkos Kopf spielten sich alle denkbaren Szenarien ab und ließen seinen Puls rasen, wie bei einem Hamster, den man in der Hand hält und dessen winziger Körper mit jedem Herzschlag bebt.

Dann bewegte sich der Kidnapper wieder.

Die Sohlen platschten durch die Benzinpfützen, dass es von den Blechwänden widerhallte. Die Gestalt blieb hinter dem nackten Željko stehen. Der Kidnapper kam ihm so nahe, wie es ging, ohne ihn zu berühren – zwischen ihnen waren nur fünf Zentimeter und eine Mauer aus Schweigen. Dann sauste eine Hand an seiner Wange vorbei. Er zuckte zusammen – ein unterdrücktes Lachen war die Antwort. Željko starrte auf den Arm, der sich über seine Schulter streckte. Schmal, genau wie seiner. Verhüllt von einem dunkelgrauen Shirt, außerdem trug der Mann Lederhandschuhe. Einen Moment dachte Željko daran, in den Arm zu beißen, aber er wusste ja nicht, was dann passieren würde. Besser war es, sich ruhig zu verhalten.

Der Kidnapper legte ein Mobiltelefon neben die Visitenkarte auf den Tisch. Als die Hand zurückgezogen wurde, bekam Željko einen Klaps auf die Wange. Er verstand und beugte sich nach vorn. Das Bild auf dem Display war unscharf, aber er konnte erkennen, dass es ihn selbst zeigte. Željko begriff, dass er beschattet worden war, seit er einen Fuß nach Kopenhagen gesetzt hatte.

»Željko Ivanović, du verfügst über Informationen, die ich benötige.«

Željko schwieg und wiederholte in Gedanken die neun Worte, die gerade an ihn gerichtet worden waren, immer und immer wieder. Die Stimme des Kidnappers klang seltsam. Verstellt. Monoton. Eingeübt.

»Zeit und Ort.«

»Ich weiß nicht, wovon du redest.« Željko antwortete beherrscht, in perfektem Schwedisch. Ein kaum wahrnehmbarer schonischer Akzent schwang mit. Er hatte schon am ersten Tag kapiert, wie wichtig es war, sich in dem kalten Nordland anzupassen, wenn man als Ausländer bleiben wollte. Integration, das war der einzige Weg, von den Schweden akzeptiert zu werden. »Du weißt nicht, mit wem du es zu tun hast. Aber ich bin großzügig. Lass mich gehen, dann vergessen wir das Ganze.«

Keine Antwort.

Sekunden vergingen, und es herrschte kein Zweifel, wer von beiden es eiliger hatte. Željko kannte seine Deadline. Wenn er nicht vor zwölf am Tivoli wartete, war er erledigt. Niemand konnte es sich leisten, einen Auftrag des Khans nicht auszuführen. Nebojša wusste, wie man die Leute dazu brachte, ihren Job zu machen: indem man alle, die Mist bauten, hart bestrafte. Željko hatte es mit eigenen Augen gesehen. Blödmännern, die versuchten, Nebojša um ein paar Scheine zu betrügen, wurde die Hand abgeschlagen, genau wie im Mittelalter. Dealern, die nebenbei Geschäfte machten, brach man das Nasenbein, und Verrätern schnitt man die Zunge ab. Da gab es keine Gnade.

Željkos Deadline war im wahrsten Sinne des Wortes – eine Deadline.

»Du kannst dich vor dem Khan nicht verstecken. Nebojša hat überall Kontakte, zum Zoll, zur Polizei …« Željko zwang sich zu einem Lächeln und hoffte, dass es über die Schulter hinweg zu erkennen war. »Auch ins Gefängnis, falls du dort einmal landest. Er schmiert die Wächter, damit sie eine Runde Billard spielen gehen, während drei seiner Gorillas dich in die Mangel nehmen.«

Das Schweigen blieb trotz der Drohung undurchdringlich. Željko begriff nicht, wie der Kidnapper so cool bleiben konnte, bis die Gestalt den Tisch umrundete. Ihm gegenüber stand ein Mann, der so schlank und schlaksig war wie er selbst. Die gleichen kurzen Schritte, der gleiche gebeugte Rücken.

Was ist das hier für ein verdammtes Theater?

Der Gedanke kreiste in seinem Kopf, während er den Mann vor ihm musterte. Der graue Hoodie verbarg das Gesicht, ließ aber den sehnigen Hals frei.

»Was zum Teufel …«

Eine verblichene Tätowierung, die zwei Engel zeigte, war über dem Kragen zu sehen. Željko hatte dieses Tattoo am selben Morgen beim Blick in den Badezimmerspiegel gesehen. Die Kapuze wurde langsam nach hinten geschoben, aber nur so weit, bis das Kinn und die Nase im Profil zu sehen waren.

Der Kidnapper stellte eine Tasche auf den Tisch, öffnete sie und nahm einen schwarzen Wattebausch sowie eine Tube Klebstoff heraus. Die Finger in den Handschuhen arbeiteten methodisch. Sie schmierten eine Paste auf das Kinn und ordneten Fetzen aus dem Bausch zu einem dunklen Bart. Željko verfolgte die Prozedur mit großen Augen.

Schließlich öffnete der Kidnapper eine kleine Schachtel und nahm zwei Kontaktlinsen heraus, die er trotz der Dunkelheit schnell und geschickt einsetzte. Die Augen, die nun Željkos Blick trafen, waren genauso braun wie seine eigenen. Sie zwinkerten spöttisch. Željko rang nach Luft und bekam es mit der Angst zu tun. Zugleich ärgerte er sich, weil er die Chance vertan hatte festzustellen, welche Augenfarbe sich hinter den Linsen verbarg. Er hatte nicht auf ein Detail geachtet, das ihm helfen konnte, seinen Gegner zu identifizieren.

»Niemand fällt darauf herein«, sagte er so abschätzig, wie er konnte, doch in Wahrheit war er erschrocken über die Ähnlichkeit. Ein höhnisches Lächeln von der anderen Seite des Tisches zeigte, dass der Kidnapper wusste, wie gut die Verkleidung gelungen war.

»Niemand?« Die Frage wurde auf Serbisch gestellt, mit einem Grinsen, das Željkos Sorgenfalte vertiefte. »Zeit und Ort.«

»Einen Scheißdreck erzähl ich dir.«

Željko konnte nur tatenlos zusehen, wie der Kidnapper schließlich seine schwarze Bomberjacke über das Kapuzenshirt zog, als i-Tüpfelchen sozusagen. Der Reißverschluss der Tasche wurde geschlossen, und der Kidnapper hielt ein gelbes Feuerzeug an das Leder. Die Flammen züngelten blau und brachten etwas Licht in den Lagerraum. Das Feuer gewann rasch an Stärke, bis der Kidnapper im Kapuzenshirt die Tasche durch den Schuppen schleuderte. Sie landete in einer Ecke und brannte in einer Pfütze zischend weiter.

Etwas stimmte ganz und gar nicht mit diesem Teufel. Željko kam nur nicht darauf, was es war. Die Stimme, die Verkleidung … Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als ihm auffiel, dass der Blick des Kidnappers schon eine Weile auf dem Tisch zwischen ihnen ruhte.

Dort lagen noch immer dieselben zwei Gegenstände. Zum einen die Visitenkarte des Anwalts – den anderen nahm der Kidnapper nun in die Hand. Im Hintergrund fiel ein letzter Regentropfen durch das vom Rost zerfressene Dach, aber diesmal hörte Željko nicht, wie er auf dem Boden aufschlug. Er war ganz damit beschäftigt, auf den Gegenstand zu starren, der vor ihm hochgehoben wurde. Die Schneide blinkte auf, als der Stahl einen Lichtstrahl einfing, der sich in den Lagerschuppen geschlichen hatte – die Schneiden waren scharf genug, um zentimeterdicke Äste zu durchtrennen. Eine Hand schloss sich um Željkos schmalen Unterarm und hielt ihn fest, während sich die Gartenschere öffnete und seinen linken kleinen Finger zwischen die Schneiden nahm.

»Ich brauche eine Zeit und einen Ort.«

Jetzt wurde es ernst. Željko starrte auf seinen Finger und brachte keinen Ton heraus. Als die Schneiden seinen Finger berührten, ritzten sie weiße Läppchen in seine Haut. Željko lehnte sich zurück und schloss die Augen. Er konnte sich den Schmerz, der ihn erwartete, nicht einmal vorstellen – aber lieber ein kleiner Finger als die Zunge. Der Kidnapper wartete. Ließ einige Sekunden verstreichen und gab ihm noch eine letzte Chance.

Dann drückte er zu.

Die Gartenschere schnitt durch Sehnen und Fleisch wie durch Butter. Nicht kühlschrankkalte Bregott, sondern Lätta, die man nach dem Frühstück auf dem Tisch vergessen hat. Kein Widerstand durch das Gewebe. Erst am Knochen stieß das Werkzeug auf Widerstand. Es knackte kurz, dann war auch dieser gebrochen.

Das Adrenalin hatte den Schmerz blockiert, doch als der Finger auf den Tisch schnippte, schrie Željko, dass die Blechwände bebten. Seine Augen traten aus den Höhlen, und der Druck in den Nebenhöhlen war so groß, dass er glaubte, sie würden ihm aus dem Schädel springen. Ein dünner Blutstrahl hatte den Tisch bereits hellrot eingefärbt, doch nun wurde eine dunklere, dickere Flüssigkeit aus der offenen Wunde gepumpt. Nur der kreideweiße Knochenstumpf ragte aus der roten Kulisse.

Der Kidnapper gab Željko eine saftige Ohrfeige, damit der Blick wieder klar wurde, und hockte sich dann neben den Tisch. In der Hand hielt er noch immer die Gartenschere, von der Blut tropfte. All diese verdammten Tropfen. Wie durch einen Nebel sah Željko, wie sich hinter dem schwarzen Bart Lippen bewegten:

»Zeit und Ort.«

Es gelang Željko, seinen Peiniger anzuspucken. Die weiße, klebrige Flüssigkeit rann über die Wange des Kidnappers und blieb in dem angeklebten Bart hängen. So verhielt sich Željko sonst nie. Er, der sonst für seine Ruhe bekannt war, hatte sich hinreißen lassen. Die dunkel glänzenden Kontaktlinsen des Doppelgängers starrten in seine blutunterlaufenen Augen. Željkos linke Hand zitterte stark; die heftigen Bewegungen ließen den ganzen Stuhl vibrieren.

»Nichts …«, stöhnte er, »nichts wirst du erfahren.«

Hoodie stand auf, wickelte einen Fetzen um Željkos bebende Hand und befestigte ihn mit Klebeband. Irgendwann würde das Blut durch den Verband sickern, aber das dauerte eine Weile. Nun trat der Kidnapper hinter den Stuhl, legte eine Hand auf Željkos Schulter und ließ sie dann weiter hinunterwandern. Als sich die Finger im Schritt schlossen und zudrückten, ging ein Schaudern durch Željkos schmächtigen Körper.

»Ich will es wirklich wissen«, flüsterte die Stimme.

Željkos Nackenhaare stellten sich auf. Der Mund des Kidnappers war so nahe an seinem Ohr, dass er die Feuchtigkeit seines Atems spüren konnte. Mit einem Klick öffnete sich die Schere erneut, und das Blut, das noch an dem Stahl gehaftet hatte, spritzte auf Željkos Bauch. Warme rote Tropfen. Željko sah zu dem gewellten Blechdach hinauf und betete still, während der Kidnapper seinen Penis zwischen die Schneiden legte.

6. KAPITEL

Freitag, 24. Juni 2016, 23.59 Uhr

TIVOLI, KOPENHAGEN

Die Bremsen quietschten, als der Lieferwagen kurz vor Mitternacht auf den feuchten Gehweg an der Vesterbrogade fuhr. Ein weißer Ford Transit 05. Als Top Gear den Wagen auf dem Nürburgring mit einem deutschen Profifahrer am Steuer testete, ließ er die Modelle von Porsche wie lahme Enten erscheinen. Groß, schnell und mit verstärktem Frontantrieb. Novak Savić hatte die Karre in einem Parkhaus in Malmö gestohlen, das Nummernschild gegen ein dänisches ausgetauscht und die Fahrgestellnummer mit einem Winkelschleifer unleserlich gemacht. Die Fahrt über die Öresundbrücke war problemlos verlaufen, trotz der erhöhten Sicherheitsmaßnahmen wegen der syrischen Flüchtlingskrise. Die Grenzkontrollen zwischen Schweden und Dänemark wurden von Sozis geleitet nach dem Motto: »Alle sollen mit!«

Der Lieferwagen hielt in Höhe des Eingangs zum Tivoli, wo sich gerade die Tore schlossen. Die Attraktionen kamen zum Stillstand, und der Lärm in den kleinen Gassen verstummte, aber die Lampen in den Bäumen waren noch in Betrieb und beleuchteten die beginnende Nacht. Alles strebte dem Haupteingang zu, dort versammelten sich die Leute auf dem Bürgersteig. Ein Mädchen mit Zöpfen umklammerte einen Ballon, und ein fast ruinierter Papa trug seinen schlafenden Sohn über der Schulter. Ein paar Meter entfernt stand eine Jugendbande aus dem Mjølnerpark. Sie würden mit dem Bus schwarz nach Bispebjerg oder in die westlichen Vororte fahren. Novak glotzte die Teenager an, während er sich einen Joint anzündete. Als echter Serbe hielt er die Kippe zwischen Daumen und Zeigefinger.

Die Tische vor der A Hereford Beefstouw füllten sich mit Leuten, die noch ein letztes Bier vor der Sperrstunde trinken wollten. Der Rest der Menschenmenge trieb zum Strøget wie eine Büffelherde auf einer asphaltierten Steppe. Das Gewimmel vor dem Tivoli um Mitternacht war perfekt, um jemanden unbemerkt einsteigen zu lassen. Novak zog an dem Joint und hielt Ausschau nach seinem Passagier. Das Gras beruhigte die Nerven, aber er wollte sich noch einen Rest aufheben. Ein paar Züge würden ihm helfen, die Ruhe zu bewahren, später in der Nacht, wenn es richtig darauf ankam.

Novak Savić war kein kleiner Fisch, kein Hobbygangster. Mit seinem rasierten Schädel und einer ganzen Kollektion von Tattoos entsprach er voll und ganz dem Klischee. Er war eine Art Kanakenversion von The Mountain aus Game of Thrones, mit so dicken Venen in der Armbeuge, dass es aussah, als steckten Regenwürmer unter der Haut. Der Zwanzigjährige war mit Proteinpulver aus Fünflitereimern vollgepumpt. Ein Hüne, geformt im Kellergym von Nordic. Nicht weil er die Hanteln und Spiegel dort so mochte, wie der Rest von Khans Gorillas, sondern weil er wusste:

Was man nicht im Kopf hat, muss man in den Armen haben.

Novak hatte nicht zu den Hellsten in der Klasse gehört. Ihm war nicht entgangen, wie schmal die Augen seines Onkels wurden, als er im Sommer davor das Zeugnis vom Gymnasium gesehen hatte. Ungenügend. Fünfzehn Striche, weil diese Fächer wegen häufigen Schwänzens nicht hatten benotet werden können, ein paarmal mangelhaft und nur ein A, in Sport – das war des Erben Nebojšas unwürdig. Aber Novak war nun einmal nicht zum Lernen geboren, deshalb blieb nur ein Weg, wie der Neffe seinen Wert beweisen konnte. Er musste dem Wunschbild entsprechen, das Nebojša ihm von Kind an vorgehalten hatte. Wollte er in die Fußstapfen seines Onkels als Führer der Serben treten, würde er kein weiser, kluger Khan sein, sondern ein Dschingis.

Ein Krieger.

Deshalb hatte sich Novak Tag und Nacht im Nordic geschunden. Deshalb hatte er gelernt, wie Schumacher Auto zu fahren. Damit er ein Mann wurde, auf den Nebojša stolz sein konnte. Um den Thron besteigen zu können.

Welche Alternative gab es, wenn man den Namen Savić trug?

Die Menschenmenge vor dem Tivoli zerstreute sich. Novak schärfte den Blick und entdeckte ihn. Gegen eine Ziegelwand links vom Eingang lehnte eine schmale Figur mit dunklem Bart und einer schwarzen Bomberjacke. Er schien zu dem Lieferwagen hinüberzuschauen, während die Straßenbeleuchtung sich in den Gläsern seiner Sonnenbrille spiegelten. Novak hob den Arm und ballte die Faust, ohne Željko Ivanović aus den Augen zu lassen. Er schlug zweimal an die Blechwand, die das Fahrerhaus vom Laderaum trennte. Nach einigen Sekunden ertönte ein kurzes Klopfen als Antwort.

Im selben Moment verließ der Mann in der Bomberjacke seinen Platz und schlängelte sich durch die Menge zu dem Lieferwagen. Er zog die schmalen Schultern hoch, setzte jeden Schritt wohlüberlegt. Novak grinste, als der Passagier näher kam. Trotz aller Geschichten, die er über diesen Mann gehört hatte, und obwohl er wusste, dass der Khan seine kleine Putzfrau liebte: Željko war ein Hänfling. Und diese Null sollte eine entscheidende Rolle bei dem Coup spielen!

»Pička«, fluchte Novak leise und ballte die Faust, dass es knackte. Der Raub war ein Test, das begriff er sehr gut. Der Onkel wollte sehen, ob Novak die Erwartungen erfüllte, deshalb hatte er ihm einen erfahrenen Einbrecher als Aufpasser mitgegeben. Einen loyalen Untergebenen, dem er vertraute. Eine Garantie, falls Novak den Coup vermasselte, denn er war ja ein Idiot, das hatte die Schule schwarz auf weiß bestätigt.

Glaubt er etwa, dass ich den Scheiß nicht hinkriege?

Nebojša hatte behauptet, dass Željko gebraucht wurde, um den Abwehrmechanismus in dem Zielobjekt auszuschalten. Obwohl Novak nicht einsah, warum Dragan und er das nicht selbst erledigen konnten, hätte er sich nie mit seinem Onkel angelegt. Wenn der Khan wollte, dass der Typ dabei war, würden Dragan und er eben ein bisschen Altenpflege betreiben.

Novak drückte die Kippe an einer leeren Bierflasche aus und warf diese auf den Boden vor den Beifahrersitz, auf dem eine schwarze Sturmhaube lag. Den Rest des Joints verwahrte er in einer Snusdose. Als Željko am Fahrerhaus vorbeiging, trafen sich ihre Blicke. Keiner von beiden grüßte. Stattdessen klopfte Novak noch einmal an die Blechwand und ließ den Wagen an.

Die Hintertüren wurden geöffnet, sodass Željko hineinklettern konnte. Novak gab ihm drei Sekunden, dann blinkte er und bog auf die Vesterbrogade ein. Der Verkehr floss träge dahin. Das Fahrzeug bog nach links ab, als die Ampel am Rathausplatz Grün zeigte, fuhr eine kurze Strecke auf den H. C. Andersens Boulevard entlang und nahm dann die Nørre Voldgade am Ørstedspark vorbei.

Novak sah zum Himmel hinauf. Es war immer noch diesig von dem Regen ein paar Stunden zuvor. Das richtige Wetter für den Auftrag, der auf sie wartete: Die Leute würden in den Restaurants und Kneipen sitzen bleiben. Er trat aufs Gaspedal. Heute kam es darauf an. Novak würde alles tun, um seinem Onkel Nebojša zu beweisen, dass er der richtige Mann war. Ein neuer Khan.

Zehn Minuten nach Mitternacht.

Nicht mehr viel Zeit.

7. KAPITEL

Samstag, 25. Juni 2016, 00.21 Uhr

SMK, KOPENHAGEN

Das Staatliche Museum für Kunst ist das größte Museum Dänemarks. Es wäre lächerlich, auch nur zu versuchen, den Gesamtwert der Kunstwerke im Katalog der Nationalgalerie zu schätzen. Die Matisse-Sammlung wird als eine der besten der Welt gerühmt. Im Jahr 2007 wurde ein Gemälde des französischen Künstlers für über dreiunddreißig Millionen Dollar im Auktionshaus Christie’s in New York verkauft. Zum derzeitigen Kurs entspricht das zweihundertachtzig Millionen schwedischer Kronen. Für einen einzigen Matisse.

Das SMK hat fünfundzwanzig davon.

Man könnte das Museum gut in Dänische Nationalbank umtaufen.

Der Plan war jedoch, nicht den größten Fisch aus dem Teich zu holen – nur ein Idiot würde einen Matisse stehlen. Um einen Coup von diesem Kaliber durchzuführen, benötigt man ein großes Team, chirurgische Präzision und nicht zuletzt einen unerwarteten Umstand. Ein Ereignis, das die gewohnten Abläufe durcheinanderbringt, etwa der Umzug des Kunstwerkes von einem Museum in ein anderes oder seine Restaurierung in einer nicht so perfekt bewachten Abteilung. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die aber alle eines gemeinsam haben: Sie sind selten. Der Punkt ist, dass es nicht funktioniert, einen Klassiker einfach mal so zu stehlen. Die Sicherheitsmaßnahmen sind so umfassend, dass jeder Bankdirektor eine enge Hose bekommen würde. Du kannst nicht den größten Fisch aus dem Teich holen. Was machst du also?

Du stiehlst einen Goldfisch.

Auf dem Handschuhfach des Ford-Transporters klebte eine Fotografie. Das Bild zeigte einen dunklen Raum. Der gedämpfte Schein einer Straßenlaterne spiegelte sich auf dem Fensterbrett und den Dielen. Eine Frau im schwarzen Kleid saß ganz zur Linken auf einem Stuhl und hatte dem Betrachter den Rücken zugekehrt. Der Nacken war weiß, das Gesicht dem Fenster und der Nacht zugewandt. Sie schaute hinaus. Sah aus, als wartete sie auf etwas.

Oder jemanden.