Opfer - Pierre Lemaitre - E-Book

Opfer E-Book

Pierre Lemaitre

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  • Herausgeber: Tropen
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Anne Forestier ist zur falschen Zeit am falschen Ort. In einem Juweliergeschäft wird sie Opfer eines brutalen Raubüberfalls. Da sie die Täter identifi zieren kann, setzen die Verbrecher alles daran, die Zeugin zu eliminieren. Doch es gibt jemanden, der sich ihnen in den Weg stellt, um die Frau zu schützen, die er liebt: Kommissar Camille Verhoeven, Chef der Pariser Mordkommission. Der Tag von Kommissar Camille Verhoeven beginnt düster. Erst die Beerdigung seines besten Freundes, dann ein bewaffneter Raubüberfall auf den Champs-Élysées. Es ist der Tag, an dem Camille Verhoeven lernen wird, dass das Schicksal keine Rücksicht nimmt. Der Kommissar sitzt vor den Überwachungsbändern, sieht eine blutig geschlagene Frau auf dem Boden liegen, die mit flehendem Blick direkt in die Kamera schaut, hinter ihr ein Mann mit Gesichtsmaske und Pumpgun. Sieht die Frau sich bewegen, sieht, wie sie sich aufzurichten versucht. Glatter Selbstmord mit der Pumpgun im Rücken. Doch die Frau, sie sieht es nicht. Camille Verhoeven krallt die Finger in die Tischplatte, lernt in diesem Moment das Gefühl absoluter Machtlosigkeit kennen. Denn die Frau, die ihn aus dem Bildschirm heraus anzuflehen scheint, ist Anne Forestier, seine Lebensgefährtin.

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EPUB

Seitenzahl: 428

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PierreLemaitre

OPFER

Thriller

Aus dem Französischenvon Tobias Scheffel

Tropen

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Tropen

www.tropen.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Sacrifices«

im Verlag Albin Michel, Paris

© 2012 by Pierre Lemaitre

Für die deutsche Ausgabe

© 2018 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Printed in Germany

Cover: Zero Media GmbH, München

unter Verwendung eines Fotos von Finepic ®, München

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-50370-8

E-Book: ISBN 978-3-608-11076-0

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Für Pascaline

Für Cathy Bourdeau, für ihre Unterstützung.

Mit Zuneigung

»Von dem, was uns zustößt, wissen wir nur etwa ein Prozent. Das heißt: wissen tun wir eigentlich gar nicht, wieviel Himmel es für soundsoviele Tage Hölle gibt.«

William Gaddis, Die Fälschung der Welt

Tag 1

10 h 00

Ein Ereignis wird als entscheidend angesehen, wenn es Ihr Leben total aus der Bahn wirft. So hat Camille Verhœven es ein paar Monate zuvor in einem Artikel über »Die Beschleunigung der Geschichte« gelesen. Dieses entscheidende, erschütternde, unerwartete Ereignis, das in der Lage ist, Ihr Nervensystem zu elektrisieren, können Sie sofort von allen anderen Vorfällen des Lebens unterscheiden, weil ihm eine spezifische Energie, eine spezifische Dichte innewohnt: Kaum tritt es ein, wissen Sie, dass seine Konsequenzen von gigantischen Ausmaßen für Sie sein werden, dass das, was Ihnen da gerade widerfährt, unumkehrbar ist.

Zum Beispiel drei Schüsse aus einer Pumpgun auf die Frau, die Sie lieben.

Genau das wird Camille widerfahren.

Und dabei ist es völlig unerheblich, ob Sie sich an diesem Tag, so wie er, zum Begräbnis Ihres besten Freundes aufmachen und das Gefühl haben, Sie hätten für einen Tag schon genug abbekommen. Das Schicksal begnügt sich nicht mit einer Lappalie, es ist absolut in der Lage, sich außerdem in Gestalt eines Killers zu zeigen, der mit einer Mossberg 500 Kaliber 12 mit abgesägtem Lauf ausgerüstet ist.

Bleibt nur noch die Frage, wie Sie reagieren werden. Darin liegt das Problem.

Denn Ihr Denkvermögen ist derart blockiert, dass Sie meistens rein reflexartig reagieren. Zum Beispiel, wenn die Frau, die Sie lieben, vor den drei Schüssen buchstäblich zu Brei geschlagen wird und Sie deutlich sehen, wie der Killer anschließend sein Gewehr mit einer knappen Bewegung durchlädt und anlegt.

Außergewöhnliche Menschen, Menschen, die in der Lage sind, in schwierigen Situationen die richtigen Entscheidungen zu treffen, offenbaren sich genau in solchen Momenten.

Aber sollten Sie zu den gewöhnlichen gehören, so verteidigen Sie sich, so gut Sie können. Und häufig weichen Sie im Angesicht eines solchen Erdbebens ins Ungefähre aus oder begehen Fehler, wenn Sie nicht sowieso zur Ohnmacht verdammt sind.

Sind Sie schon alt genug oder sind derlei Dinge bereits über Ihr Leben hereingebrochen, so bilden Sie sich ein, Sie seien immun geworden. So ist es bei Camille. Seine erste Frau wurde ermordet, eine Katastrophe, er hat Jahre gebraucht, sich davon zu erholen. Wenn Sie eine solche Prüfung durchgemacht haben, glauben Sie, nichts könne Ihnen mehr geschehen.

Das ist die Falle.

Weil Sie die Deckung gesenkt haben.

Für das Schicksal, das ein sehr sicheres Auge hat, ist das der beste Moment, Sie sich zu schnappen.

Und Sie an die unfehlbare Pünktlichkeit des Zufalls zu erinnern.

Anne Forestier betritt die Passage Monier kurz nach deren Öffnung. Der zentrale Gang der Passage ist praktisch leer, in der Luft hängt noch ein leicht betäubender Geruch nach Reinigungsmitteln, allmählich öffnen die ersten Läden, Bücher-, Schmuck- und Verkaufständer werden herausgeschoben.

Die im 19. Jahrhundert im unteren Teil der Champs-Élysées erbaute Ladenpassage besteht aus Luxusboutiquen, Schreibwarenläden, Lederwarengeschäften, Antiquitätenhändlern. Die Wände sind glasverkleidet, und wenn der kundige Flaneur den Blick hebt, kann er eine Menge Art-déco-Details entdecken, Fayencen, Kranzgesimse, kleine farbige Glasfenster. Auch Anne könnte sie bewundern, wenn sie wollte, aber sie ist, wie sie gern einräumt, kein Morgenmensch. Und zu dieser Zeit sind Blick-Heben, Details und Decken ihre geringste Sorge.

In erster Linie braucht sie einen Kaffee. Einen sehr starken.

Denn heute hat Camille, wie mit Absicht, noch lange im Bett gelegen. Im Gegensatz zu ihr ist eher er ein Morgenmensch. Aber Anne war nicht in Stimmung. Sie hat also Camilles Annäherungsversuche zurückgewiesen – er hat sehr warme Hände, es ist nicht immer leicht zu widerstehen –, ist rasch unter die Dusche gesprungen, hat darüber den Kaffee vergessen, den sie aufgesetzt hatte, ist in die Küche zurückgekommen, während sie sich die Haare trocknete, hat dort den bereits kalten Kaffee vorgefunden und dann eine ihrer Kontaktlinsen gerade noch ein paar Millimeter vor dem Abfluss der Spüle erwischt …

Nach all dem war es Zeit, sie musste los. Mit leerem Magen.

Kaum ist sie kurz nach zehn an der Passage Monier angekommen, setzt sie sich daher auf die Terrasse der kleinen Brasserie am Eingang, wo sie der erste Gast ist. Die Kaffeemaschine heizt noch auf, sie muss etwas warten, bis ihre Bestellung gebracht wird, und wenn sie mehrfach auf die Uhr sieht, so nicht, weil sie es eilig hätte. Es ist wegen des Kellners. Um ihn zu entmutigen. Da er nicht viel zu tun hat, während die Maschine aufheizt, versucht er, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Er wischt die Tische neben ihr ab, beobachtet sie dabei unter dem Arm hindurch und kommt in konzentrischen Kreisen unauffällig näher. Es ist ein großer Kerl, mager, ein Aufschneider, blond mit fettigem Haar, einer, wie man sie oft in Touristenzentren findet. Als er seine letzte Runde beendet hat, pflanzt er sich neben ihr auf, eine Hand in die Hüfte gestemmt, gibt einen bewundernden Seufzer von sich, während er zum Himmel sieht, und verkündet seinen meteorologischen Tagesspruch, der beklagenswert mittelmäßig ist.

Der Kellner ist ein Dummkopf, aber es mangelt ihm nicht an Geschmack, denn mit vierzig Jahren ist Anne immer noch hinreißend. Brünett, mit feinen Zügen, ein schöner, hellgrüner Blick, ein recht überwältigendes Lächeln … Sie ist eindeutig eine strahlende Frau. Mit Grübchen. Und langsamen, geschmeidigen Bewegungen, unweigerlich hat man das Bedürfnis, sie anzufassen, weil alles an ihr rund und straff zu sein scheint, die Brüste, der Po, der kleine Bauch, die Schenkel und tatsächlich ist all das wirklich rund und straff, es macht einen verrückt.

Jedes Mal, wenn Camille daran denkt, fragt er sich, was sie mit ihm will. Er ist fünfzig, mehr oder minder glatzköpfig, vor allem aber, vor allem misst er einen Meter fünfundvierzig. Um sich eine klare Vorstellung zu machen: Das ist etwa die Größe eines dreizehnjährigen Jungen. Und um es gleich klarzustellen und Spekulationen zu vermeiden: Anne ist nicht groß, aber misst trotz allem zweiundzwanzig Zentimeter mehr als er. Ungefähr einen Kopf.

Anne reagiert auf die Annäherungsversuche des Kellners mit einem reizenden, sehr ausdrucksvollen Lächeln: Scheren Sie sich zum Teufel (der Kellner vermittelt, er habe verstanden, so bald wird er sich nicht wieder liebenswürdig zeigen), und als sie ihren Kaffee getrunken hat, betritt sie die Passage Monier in Richtung Rue Georges-Flandrin. Sie hat fast das andere Ende erreicht, als sie die Hand in die Handtasche steckt, sicher, um ihr Portemonnaie herausziehen, und etwas Feuchtes spürt. Ihre Finger sind voller Tinte. Ein ausgelaufener Füller.

Für Camille beginnt die Geschichte eigentlich mit dem Füller. Oder damit, dass Anne sich entscheidet, diese Ladengalerie und nicht eine andere zu betreten, genau an diesem Morgen und nicht an einem anderen usw. Die Summe der für das Eintreten einer Katastrophe erforderlichen Zufälle ist einigermaßen verstörend. Aber einer solchen Summe von Zufällen hat Camille es auch zu verdanken, dass er eines Tages Anne begegnet ist, man kann nicht immer nur jammern.

Dieser gewöhnliche, plötzlich auslaufende Patronenfüller also. Dunkelblau und sehr klein. Camille sieht ihn genau vor sich. Anne ist Linkshänderin, beim Schreiben hat sie eine ganz eigene Handhaltung, man weiß nicht, wie sie es hinbekommt, außerdem schreibt sie sehr große Buchstaben, man könnte meinen, sie setze wütend eine Reihe von Unterschriften hintereinander, und merkwürdigerweise wählt sie immer winzige Füller, was das Bild noch erstaunlicher macht.

Als Anne die tintenverschmierte Hand herauszieht, macht sie sich sofort Sorgen wegen möglicher Schäden. Sie sucht eine Lösung, findet sie zu ihrer Rechten in einem Pflanzenkübel. Sie stellt die Handtasche auf die Holzumfassung und beginnt, alles auszupacken.

Sie ist einigermaßen verärgert, aber der Schreck war größer als das tatsächliche Unglück. Wenn man Anne ein bisschen kennt, wüsste man übrigens auch nicht, worum sie sich wirklich hätte Sorgen machen müssen. Sie besitzt nichts. Weder in ihrer Handtasche noch im Leben. Was sie bei sich trägt, könnte sich jeder leisten. Sie hat keine Wohnung und kein Auto gekauft, sie gibt aus, was sie verdient, nicht mehr, aber nie weniger. Sie legt nichts zur Seite, weil das nicht zu ihrer Erziehung gehört: Ihr Vater war Kaufmann. Kurz vor der Pleite ist er mit der Kasse von etwa vierzig Vereinen abgehauen, bei denen er sich kurz zuvor zum Schatzmeister hatte wählen lassen, man hat ihn nie wiedergesehen. Was sicherlich erklärt, weshalb Anne ein recht distanziertes Verhältnis zu Geld hat. Ihre letzten Geldsorgen hatte sie zu der Zeit, als sie allein ihre Tochter Agathe aufzog, das ist schon lang her.

Anne wirft den Füller umgehend in den Mülleimer, stopft das Handy in die Jackentasche. Ihr Portemonnaie hat Flecken, es muss auch weggeworfen werden, aber die Papiere darin sind unversehrt. In der Handtasche selbst ist zwar das Futter feucht, aber die Tinte ist nicht durchgedrungen. Vielleicht nimmt Anne sich vor, an diesem Vormittag eine neue zu kaufen, eine Ladengalerie ist dafür der ideale Ort, aber das wird man nie erfahren, da das Folgende sie hindern wird, Pläne zu schmieden. Einstweilen legt sie das Innere mehr schlecht als recht mit den Taschentüchern aus, die sie dabei hat. Als sie damit fertig ist, was sie ein Weilchen beschäftigt hat, sind ihre Finger voller Tinte, jetzt an beiden Händen.

Sie könnte zur Brasserie zurückgehen, aber den Kellner wiederzusehen ist eine recht lähmende Aussicht. Trotzdem ist sie fast so weit, sich dazu aufzuraffen, als sie ein Hinweisschild auf öffentliche Toiletten entdeckt, was an derlei Orten nicht so häufig ist. Sie befinden sich direkt hinter der Patisserie Cardon und dem Juweliergeschäft Desfossés.

Von diesem Moment an beschleunigen sich die Dinge.

Anne geht die dreißig Meter zu den Toiletten, drückt die Tür auf und steht den beiden Männern gegenüber.

Sie sind durch den Notausgang hereingekommen, der auf die Rue Damiani führt, und wollen in die Passage.

Eine Sekunde früher oder später … Ja, es ist lächerlich, aber so offensichtlich: Wäre Anne fünf Sekunden später hereingekommen, hätten sie bereits ihre Strumpfmasken aufgehabt und alles wäre anders gewesen.

Aber es passiert das Folgende: Anne kommt herein, alle sind überrascht und erstarren.

Sie sieht abwechselnd die beiden Männer an, überrascht von ihrer Anwesenheit, ihrer Haltung, vor allem von ihren schwarzen Overalls.

Und ihren Waffen. Pumpguns. Selbst für jemanden, der nichts von Waffen versteht, sind die sehr beeindruckend.

Einer der Männer, der kleinere, gibt ein Brummen von sich, vielleicht ist es ein Ruf. Anne sieht ihn an, er ist verblüfft. Dann dreht sie den Kopf zu dem anderen. Er ist größer, mit einem harten, rechteckigen Gesicht. Die Szene dauert nur ein paar Sekunden, aber die drei Gestalten bleiben stumm, starr, einer so sprachlos wie der andere, alle sind überrumpelt. Hektisch ziehen die beiden Männer ihre Strumpfmasken über. Der größere hebt die Waffe, macht eine halbe Drehung und, als hielte er eine Axt und fällte damit eine Eiche, schlägt Anne den Gewehrkolben mitten ins Gesicht.

Mit aller Kraft.

Er sprengt ihr buchstäblich den Kopf. Dazu stößt er ein Haa! aus, das tief aus dem Bauch kommt, wie bei Tennisspielern, wenn sie den Ball schlagen.

Anne wankt zurück, versucht, sich an etwas festzuklammern, aber findet nichts. Der Schlag kam so plötzlich und heftig, dass sie den Eindruck hat, ihr Kopf habe sich vom Rest des Körpers gelöst. Sie fliegt über einen Meter nach hinten, ihr Hinterkopf schlägt an die Tür, sie breitet die Arme aus und geht zu Boden.

Der Holzkolben hat das halbe Gesicht aufgerissen, vom Kiefer bis zur Schläfe, hat den linken Wangenknochen zertrümmert, der wie eine Frucht aufgeplatzt ist, die Haut ist auf zehn Zentimetern offen, sofort ist Blut hervorgespritzt. Von außen glich das Geräusch dem eines Boxhandschuhs auf einem Trainingssack. Für Anne, von innen, ist es wie ein Hammerschlag, aber der eines zwanzig Zentimeter breiten Hammers, der mit beiden Händen gehalten und geführt wird.

Der andere Mann brüllt los, er scheint wütend. Anne hört ihn, aber nur undeutlich, weil ihr Bewusstsein große Mühe hat, wieder auf Kurs zu kommen.

Als sei weiter nichts, geht der Größere auf Anne zu, richtet den Lauf seiner Waffe auf ihren Kopf, lädt mit einer weiten, raschen Bewegung durch und will schießen, als sein Komplize erneut brüllt. Diesmal sehr viel lauter. Vielleicht packt er ihn sogar am Ärmel. Anne ist groggy, es gelingt ihr nicht, die Augenlider zu heben, nur die Hände bewegen sich, öffnen und schließen sich im Leeren, in einer krampfartigen, reflexartigen Bewegung.

Der Mann mit der Pumpgun hält inne, dreht sich um, zögert: Schon richtig, Schüsse sind die zuverlässigste Art, die Bullen anzulocken, bevor man auch nur angefangen hat, das wird Ihnen jeder Profi sagen. Eine Sekunde lang schwankt er, welche Entscheidung er fällen soll, und als sie gefällt ist, dreht er sich von Neuem zu Anne und versetzt ihr eine lange Serie von Fußtritten. Ins Gesicht und in den Bauch. Sie versucht auszuweichen, aber selbst wenn sie die nötige Kraft fände, würde sie daran durch die Tür gehindert, gegen die sie gequetscht ist. Kein Ausgang. Auf der einen Seite die Tür, gegen die sie gedrückt ist, auf der anderen der auf dem linken Fuß balancierende Mann, der sie heftig mit der Spitze seines Schuhs tritt. Zwischen zwei Salven kommt Anne vorübergehend wieder zu Atem, der Typ hält kurz inne und beschließt – sicher, weil er nicht das erwartete Ergebnis erzielt –, zu einer radikaleren Methode überzugehen: Er dreht das Gewehr um, hebt es über den Kopf und beginnt, sie mit Kolbenhieben zu bombardieren. Mit aller Kraft, mit vollem Schwung.

Man könnte meinen, er versuche, einen Pfosten in gefrorene Erde zu rammen.

Anne verrenkt sich, um sich zu schützen, wendet sich ab, rutscht in ihrem schon reichlich geflossenen Blut aus und verschränkt beide Hände im Nacken. Der erste Schlag trifft sie auf Höhe des Hinterkopfs. Der zweite, besser gezielte, zerquetscht ihr die Finger.

Der Methodenwechsel findet keine allgemeine Zustimmung, denn der andere Mann, der kleinere, klammert sich jetzt an seinen Komplizen und hindert ihn, mit den Schlägen weiterzumachen, er hält ihn am Arm gepackt und schreit. Kein Problem, der Typ gibt sein Vorhaben auf, Rückkehr zur Handwerkskunst. Er beginnt wieder, in Annes Körper zu treten, ordentlich aneinandergereihte Tritte, mit einem sehr dicken Lederschuh, so wie Soldaten sie tragen. Er zielt auf den Kopf. Zusammengerollt schützt sich Anne weiter mit den Armen, die Tritte gehen auf den Schädel nieder, auf den Nacken, die Unterarme, den Rücken, man weiß nicht, wie viele Fußtritte, die Ärzte werden sagen mindestens acht, der Gerichtsmediziner eher neun, weiß der Kuckuck, sie kommen von allen Seiten.

In diesem Moment verliert Anne das Bewusstsein.

Für die beiden Männer scheint die Sache erledigt. Aber Annes Körper blockiert die Tür zur Ladengalerie. Ohne sich abzustimmen, beugen sie sich nieder, der Kleinere packt Anne an einem Arm und zieht sie zu sich, der Kopf der jungen Frau schlägt auf den Boden und rollt über die Fliesen. Als die Tür endlich geöffnet werden kann, lässt der Mann den Arm los, der schwer, aber in fast anmutiger Haltung zu Boden fällt, die Hände mancher Madonnen sind so gemalt, sinnlich und träge. Wäre Camille bei diesem Teil der Szene anwesend gewesen, so hätte er sofort die eigenartige Ähnlichkeit von Annes Arm, dessen Gelöstheit, mit der von La Victime ou L’Asphyxiée von Fernand Pelez erkannt, was sehr schlecht für seine seelische Verfassung gewesen wäre.

Hier könnte die ganze Geschichte enden. Die Geschichte unglücklicher Umstände. Aber der größere der beiden Männer sieht das anders. Er ist sichtlich der Chef und erfasst schnell die Situation.

Was wird jetzt mit der Frau?

Wird sie aus ihrer Bewusstlosigkeit erwachen und zu schreien anfangen?

Oder in die Passage Monier platzen?

Noch schlimmer: ohne dass er es merkt, durch den Notausgang fliehen und um Hilfe rufen?

Sich in einer Toilettenkabine verstecken, ihr Handy nehmen und die Polizei anrufen?

Er streckt daher den Fuß vor, um die Tür offen zu halten, beugt sich zu ihr, packt sie am rechten Knöchel und verlässt die Toiletten, wobei er sie etwa dreißig Meter über den Boden schleift, wie ein Kind ein Spielzeug mitzieht, mit jener Leichtigkeit, jener Gleichgültigkeit allem gegenüber, was hinter ihm geschieht.

Annes Körper stößt hier und da an, die Schulter schlägt gegen die erstbeste Ecke, die Hüfte gegen die Wand des Ganges, der Kopf bewegt sich bei allen Erschütterungen hin und her, schlägt bald an eine Fußleiste, bald an einen der Blumenkübel, die die Passage säumen. Anne ist nur noch ein Stofffetzen, ein Sack, eine schlaffe, leblose Gliederpuppe, die ihr Blut verliert und hinter sich eine breite rote Spur zurücklässt, die im Lauf von Minuten gerinnt, Blut trocknet schnell.

Sie ist wie tot. Als der Mann sie loslässt, liegt auf dem Boden ein verrenkter Körper, den er nicht mal ansieht, das geht ihn nichts mehr an, gerade hat er mit einer sicheren, endgültigen Bewegung, die seine Entschlossenheit erkennen lässt, das Gewehr durchgeladen. Die beiden Männer betreten das Juweliergeschäft Desfossés und brüllen Befehle. Der Laden hat gerade erst aufgemacht. Gäbe es einen Beobachter, wäre er unweigerlich von der Diskrepanz überrascht zwischen der Brutalität, die sie von Beginn ihres Eindringens an zeigen, und den wenigen Leuten, die sich im Laden befinden. Die beiden Männer bellen ihre Befehle in Richtung des Personals (es sind nur zwei Frauen da), versetzen ihnen auf der Stelle Schläge, in den Bauch, ins Gesicht, alles geht sehr schnell. Geräusche von eingeschlagenem Glas, Schreie, Stöhnen, verängstigtes Keuchen.

Ist es die Folge davon, dass ihr Kopf dreißig Meter über den Boden geschleift wurde, ist es die Folge der Erschütterungen dieses Transportes oder ein plötzlicher Lebenstrieb … in diesem Moment versucht Anne, sich wieder mit der Wirklichkeit zu verbinden. Wie ein irres Radar sucht ihr Gehirn verzweifelt nach einer Bedeutung dessen, was geschieht, aber nichts zu machen, ihr Bewusstsein ist fehlgeleitet, von den Schlägen, von der Plötzlichkeit des Geschehens buchstäblich betäubt. Ihr Körper wiederum ist vom Schmerz abgestumpft, es ist ihr unmöglich, den kleinsten Muskel in Bewegung zu versetzen.

Das Schauspiel von Annes durch den Gang geschleiften und in einer Blutlache vor dem Eingang liegenden Körper wird eine positive Auswirkung haben: Es wird der Situation eine erhebliche Beschleunigung versetzen.

Anwesend sind nur die Chefin und eine Auszubildende, eine Kleine von sechzehn Jahren, dünn wie ein Blatt, die sich einen Dutt macht wie eine Alte, um ein bisschen an Statur zu gewinnen. Kaum sieht sie die beiden bewaffneten Männer mit Strumpfmasken hereinkommen und merkt, dass es sich um einen Überfall handelt, öffnet sie den Mund wie ein Fisch, hypnotisiert, dem Tod geweiht, passiv wie ein zum Opfer bereites Tier. Ihre Beine tragen sie nicht, sie muss sich an der Theke festhalten. Bevor ihr die Knie weich werden, bekommt sie den Lauf einer Waffe ins Gesicht, sie sinkt langsam zusammen, wie ein Soufflé. Den Rest der Zeit wird sie in dieser Haltung verbringen und ihre Herzschläge zählen, die Arme wie einen Korb über dem Kopf, als erwartete sie einen Steinschlag.

Die Besitzerin des Juweliergeschäftes wiederum erstickt fast, als sie Annes leblosen Körper entdeckt, der an einem Fuß über den Boden geschleift wurde, den Rock bis zur Taille hochgeschoben, mit einer breiten Blutspur hinter sich. Sie versucht, ein Wort von sich zu geben, es bleibt aber irgendwo stecken. Der größere der beiden Männer hat sich am Eingang postiert, er überwacht die unmittelbare Umgebung, der kleinere ist zu ihr gestürzt, den Lauf seiner Waffe vor ihr. Er drückt ihn ihr brutal in den Unterleib. Sie hält gerade so den Brechreiz zurück. Er sagt kein Wort, nicht nötig, sie ist bereits auf Autopilot. Ungeschickt schaltet sie das Sicherheitssystem aus, sucht die Schlüssel der Vitrinen, aber hat sie nicht alle bei sich, sie muss ins Hinterzimmer, und als sie den ersten Schritt tut, merkt sie, dass sie sich in die Hose gemacht hat. Mit zitternder Hand streckt sie den ganzen Schlüsselbund hin. Sie wird es in keiner Zeugenaussage erwähnen, aber in diesem Moment flüstert sie dem Mann zu: »Töten Sie mich nicht …« Sie würde die gesamte Welt gegen zwanzig Sekunden Leben eintauschen. Während sie das sagt, legt sie sich, ohne dass man es ihr befiehlt, auf den Boden, die Hände im Nacken, man wird sie fieberhaft etwas murmeln hören, es sind Gebete.

Angesichts der Brutalität der Männer fragt man sich wirklich, ob Gebete, selbst inbrünstige, eine praktische Lösung darstellen. Wie auch immer, während der Gebete wird nicht getrödelt, die Vitrinen werden geöffnet und der Inhalt in große Stofftaschen geleert.

Der Raubüberfall ist sehr gut organisiert, er dauert keine vier Minuten. Die Uhrzeit wurde gut gewählt, der Hinweg über die Toiletten gut überlegt, die Rollen sind hoch professionell verteilt: Während der erste Mann den Schmuck aus den Vitrinen zusammenrafft, überwacht der zweite, an der Tür, fest, solide und breitbeinig den Laden auf der einen Seite, die Passage auf der anderen.

Eine Videokamera im Inneren des Geschäfts wird zeigen, wie der erste Gangster Vitrinen und Schubladen öffnet und alles einsackt. Eine zweite Kamera deckt den Eingang des Juweliergeschäftes und einen kleinen Teil der Ladengalerie ab. Auf den Bildern dieser Kamera sieht man, wie Anne in der Passage liegt.

Ab diesem Augenblick offenbart sich eine Schwachstelle im Plan. Ab dem Moment, wo man auf den Bildern sieht, wie Anne sich bewegt. Die Regung ist winzig, sie ähnelt einer reflexartigen Geste. Camille hat zunächst gezweifelt, war sich unsicher, ob er richtig gesehen hat, aber ja, kein Zweifel, Anne regt sich … Sie bewegt den Kopf, dreht ihn von rechts nach links, sehr langsam. Camille kennt diese Bewegung, in bestimmten Momenten, wenn sie sich entspannen will, lässt sie Halswirbel und Halsmuskeln spielen, sie spricht vom Musculus sternocleidomastoideus, dem großen Kopfwender, Camille hatte nicht einmal gewusst, dass es den gibt. Natürlich erreicht die Bewegung jetzt weder das Ausmaß, noch die Ruhe der Entspannungsbewegung. Anne liegt auf der Seite, das rechte Bein angewinkelt, das Knie berührt die Brust, das linke Bein ist gestreckt, der Oberkörper verdreht, man könnte denken, sie sei dabei, sich um sich selbst zu drehen, ihr Rock, weit nach oben geschoben, offenbart ihren weißen Slip. Ihr Gesicht blutet stark.

Sie hat sich nicht hingelegt, sie ist dorthin geworfen worden.

Zu Beginn des Überfalls hat der Mann, der in Annes Nähe bleibt, mehrmals kurz zu ihr hingesehen, aber da sie sich nicht mehr rührte, hat sich seine ganze Aufmerksamkeit auf die Überwachung der Umgebung konzentriert. Er kümmert sich nicht mehr um sie, er wendet ihr den Rücken zu und merkt nicht einmal, dass ein Blutrinnsal seinen rechten Absatz erreicht hat.

Anne wiederum erwacht gerade erst aus einem Alptraum und versucht, den Ereignissen um sich herum einen Sinn zu geben. Als sie den Kopf hebt, erfasst die Kamera sehr rasch ihr Gesicht. Es ist herzzerreißend.

Als Camille es entdeckt, ist er so überrascht, dass er die Fernbedienung verfehlt, es zwei Mal versucht, stoppt, zurückspult: Er erkennt sie nicht einmal. Da ist keinerlei Ähnlichkeit zwischen Anne, ihrem leuchtenden Teint, ihren lachenden Augen und diesem in Blut getauchten, angeschwollenen Gesicht mit leerem Blick, das seinen Umfang bereits verdoppelt und jegliche Form verloren zu haben scheint.

Camille klammert sich an die Tischkante, auf der Stelle überkommt ihn das Bedürfnis zu weinen, weil Anne dem Objektiv der Kamera direkt gegenüber liegt, ungefähr in seine Richtung gewandt, wie um mit ihm zu sprechen, um ihn um Hilfe zu bitten, sofort stellt er sich das vor, und ein solches Verhalten ist sehr schädlich. Stellen Sie sich einen Ihrer Angehörigen vor, jemanden, der auf Ihren Schutz zählt, stellen Sie sich vor, wie er gerade leidet, wie er gerade stirbt, der kalte Schweiß wird Ihnen ausbrechen, aber erweitern Sie jetzt die Perspektive und stellen Sie sich vor, wie er Sie in dem Augenblick, in dem sein Grauen unüberwindlich ist, ruft, Sie werden sterben wollen. In dieser Situation ist Camille vor dem Bildschirm absolut machtlos, er kann nichts anderes tun als diese Filme ansehen, dabei ist alles seit Langem vorbei …

Es ist unerträglich, schlicht unerträglich.

Er wird sich die Bilder Dutzende Male ansehen.

Anne hingegen wird sich verhalten, als würde die Umgebung nicht existieren. Würde der maskierte Mann sich über sie stellen und erneut den Lauf seines Gewehrs auf ihren Nacken richten, so täte sie dasselbe. Das ist ein fabelhafter Überlebensreflex, auch wenn es, von der anderen Seite des Bildschirms gesehen, eher Selbstmord ähnelt: In dieser Position, keine zwei Meter von einem bewaffneten Mann entfernt, der ein paar Minuten zuvor gezeigt hat, dass er bereit ist, ihr absolut emotionslos eine Ladung mitten in den Kopf zu schießen. Anne schickt sich an zu tun, was niemand anderes tun würde. Sie wird versuchen aufzustehen. Ohne irgendeine Rücksicht auf die Folgen. Sie wird versuchen zu fliehen. Anne ist eine willensstarke Frau, aber zwischen einem starken Willen und der Absicht, mit bloßen Händen eine Pumpgun anzugreifen, ist durchaus noch etwas Spielraum.

Was nun geschehen wird, ist das fast automatische Ergebnis der Situation, zwei einander gegensätzliche Energien werden aufeinandertreffen. Eine von beiden muss siegen. Sie sind in ein Räderwerk geraten. Der Ausweg besteht natürlich darin, dass eine der beiden Energien von einem Kaliber 12 unterstützt wird. Das hilft unbestreitbar, die Oberhand zu gewinnen. Aber Anne ist unfähig, das Verhältnis der vorhandenen Kräfte zu ermessen, vernünftig ihre Chancen auszurechnen, sie verhält sich, als sei sie allein. Sie sammelt all ihre verbleibende Vitalität – und auf den Bildern sieht man sofort, dass das nicht viel ist –, zieht ein Bein an, drückt sich auf die Arme, das ist sehr mühsam, die Hände rutschen ihr in der Blutlache weg, beinahe schlägt sie hin, sie unternimmt einen zweiten Versuch, die Langsamkeit, mit der sie sich aufzurichten versucht, verleiht der Szene etwas Grauenerregendes. Sie ist schrecklich schwerfällig, benommen, fast hört man sie ächzen, man würde gern mit ihr schieben, ziehen, ihr beim Aufstehen helfen.

Camille dagegen verspürt eher das Bedürfnis, sie anzuflehen, nichts zu tun. Selbst wenn der Kerl sich erst in einer Minute umdreht, wird Anne in dem Zustand des Taumelns, der Verwirrung, in dem sie sich befindet, keine drei Meter geschafft haben, bevor die erste Ladung aus dem Gewehr sie quasi zweiteilen wird. Aber Camille sitzt vor dem Bildschirm, mehrere Stunden später, und was er jetzt denken mag, hat keinerlei Bedeutung mehr, es ist zu spät.

Annes Verhalten wird nicht von ihrem Gehirn aus gesteuert, es ist Entschlossenheit im Reinzustand, die sich jeder Logik entzieht. Das sieht man auf dem Video auf eindeutige Weise: Ihre Entschiedenheit hat keinen anderen Grund als den Wunsch zu überleben. Man würde nicht an eine Frau denken, die aus nächster Nähe von einer Pumpgun bedroht wird, sondern an eine Säuferin am Ende der Sauftour, die ihre Handtasche aufhebt (an die sie sich von Anfang an geklammert hat, die sie hinter sich hergeschleift hat und die in ihrem Blut badet) und schwankend den Ausgang sucht, um nach Hause zu gehen. Man würde schwören, ihr Hauptgegner ist ihr vernebeltes Bewusstsein und nicht ein Gewehr Kaliber 12.

Die wesentlichen Dinge brauchen keine Sekunde, bis sie geschehen: Anne denkt nicht nach, sie steht mühsam auf. Sie findet eine Art Gleichgewicht, ihr Rock hängt noch fest und entblößt ein Bein bis oben … Sie steht noch nicht ganz, da hat sie schon zu fliehen begonnen.

Von da an wird alles schief gehen, es ist nur noch eine einzige Abfolge von Wirrwarr, Zufällen und Ungeschicklichkeiten. Man könnte meinen, Gott, der von den Ereignissen überfordert ist, weiß überhaupt nicht mehr, wo ihm der Kopf steht, daher improvisieren alle Beteiligten, und das ist zwangsläufig schlecht.

Zunächst, weil Anne nicht weiß, wo sie ist, sie kann sich nicht orientieren. Ja, sie befindet sich sogar eindeutig in der falschen Richtung für eine Flucht. Wenn sie den Arm ausstrecken würde, könnte sie die Schulter des Mannes berühren, es würde nicht lang dauern, und er würde sich umdrehen …

Trunken, betäubt taumelt sie eine ganze Weile. Ihr schwankendes Gleichgewicht grenzt an ein Wunder. Sie wischt sich mit dem Ärmel über das blutige Gesicht, neigt den Kopf zur Seite, wie um auf etwas zu lauschen, will einen Schritt tun … Und mit einem Mal, warum auch immer, beschließt sie zu rennen. Als Camille das auf dem Video sieht, zieht es ihm den Boden unter den Füßen weg, er spürt, wie das Wenige an emotionaler Stütze, was ihm noch bleibt, sich auflöst.

Annes Absicht ist gut. Aber es krankt an der Durchführung, weil ihre Füße in der Blutlache ausrutschen. Genauer gesagt, sie schlittert. In einem Zeichentrickfilm wäre das vielleicht lustig, in der Wirklichkeit ist es tragisch, weil sie durch das eigene Blut rutscht, versucht, stehen zu bleiben, ihre Richtung sucht und nichts anderes tut, als sich hin und her zu bewegen und dabei gefährlich zu schwanken. Sie vermittelt den Eindruck, sie renne in Zeitlupe vor etwas her, wovor sie fliehen will, das ist erschreckend.

Der Mann hat nicht sofort bemerkt, was sich da tut. Anne ist kurz davor, auf ihn zu fallen, aber ihre Füße stoßen plötzlich auf trockenes Terrain, sie findet eine Art Sicherheit, mehr braucht sie nicht, wie unter dem Einfluss einer Triebfeder läuft sie los.

Und läuft in die falsche Richtung.

Zunächst beschreibt sie eine seltsame Bahn, indem sie sich um sich selbst dreht, wie ein Hampelmann. Sie absolviert eine Vierteldrehung, macht einen Schritt vorwärts, hält inne, dreht sich erneut wie orientierungslos, versucht, ihr Ziel zu finden, und schlägt schließlich auf wundersame Weise ungefähr die Richtung zum Ausgang ein. Es vergehen ein paar Sekunden, bevor der Gangster sieht, dass seine Beute gerade flieht. Kaum merkt er es, dreht er sich um und schießt.

Camille wird das Video wieder und wieder abspielen: Kein Zweifel, der Schütze ist überrascht worden. Er hält sein Gewehr auf Hüfthöhe. Mit einer Pumpgun ist das die Haltung, die man einnimmt, um alles wegzufeuern, was sich irgendwo in einem Fächer von vier oder fünf Metern befindet. Vielleicht hat er noch nicht wieder ganz zu seiner Selbstsicherheit zurückgefunden. Vielleicht ist er sich im Gegenteil seiner selbst zu sicher, das kommt häufig vor, nehmen Sie einen großen schüchternen Kerl, geben Sie ihm ein Kaliber-12-Gewehr und die Freiheit, sich dessen zu bedienen, sofort umgibt ihn etwas Kühnes. Oder aber es ist Überraschung, oder eine Mischung aus all dem. Jedenfalls ist der Lauf nach oben gerichtet, deutlich zu hoch. Es ist ein Reflexschuss. Nicht gezielt.

Anne sieht davon nichts. Orientierungslos läuft sie in einem schwarzen Loch, als mit wolkenbruchartigem Lärm ein Glasregen über sie niedergeht, weil der Schuss das Oberlicht zum Bersten gebracht hat, das sich ein paar Meter vom Ausgang entfernt über ihr befindet, ein halbmondförmiges Glasfenster von fast drei Meter Breite. Im Lichte dessen, was Anne gerade erlebt, ist die Feststellung schmerzlich: Das bunt verzierte Glasfenster zeigte eine Hetzjagd. Zwei schneidige Reiter tänzelten ein paar Meter vor einem Hirsch mit maßlos großem Geweih, über den eine vor Aggressivität strotzende Meute herfällt, blitzende Fangzähne, gierige Mäuler, man gab dem Hirschen keine große Chance mehr … Es ist verrückt, die Passage Monier und ihr halbmondförmiges Glasfenster hatten zwei Weltkriege überstanden und nun genügt das Auftauchen eines bewaffneten und ungeschickten Gangsters … Es gibt Dinge, die sind schwer hinzunehmen.

Alles zittert, Scheiben, Boden, jeder schützt sich instinktiv auf seine Weise.

»Ich hab den Kopf eingezogen«, wird der Antiquitätenhändler zu Camille sagen und die Szene nachahmen.

Er ist vierunddreißig (er hat das Alter betont, bitte nicht verwechseln mit fünfunddreißig). Er trägt ein etwas zu kurzes Haarteil, das vorne und hinten ein bisschen absteht. Er hat eine breite Nase und sein rechtes Auge bleibt praktisch geschlossen, fast wie bei der behelmten Figur des Aberglaubens von Giotto. Allein bei der Erinnerung daran ist er von Neuem von der Explosion verblüfft.

»Ist nicht schwierig: Ich dachte an einen Terroranschlag.« (Er glaubt, er habe alles gesagt.) »Aber dann dachte ich sofort: Nein, ein Attentat hier, das ist lächerlich, das ist doch kein Ziel« usw. usw.

Er ist einer dieser Zeugen, die die Wirklichkeit mit der Geschwindigkeit ihres Erinnerns neu schaffen. Dabei aber keiner von denen, die die Orientierung verlieren. Bevor er die Passage betrat, um zu sehen, was dort los war, hat er sich in seinem Laden vergewissert, ob es Schäden gab.

»Nicht so viele«, sagt er entzückt und lässt dabei den Fingernagel seines Daumens unter einem Schneidezahn schnalzen.

Die Passage ist deutlich höher als breit, ein fünfzehn Meter langer Gang, gesäumt von Geschäften, alle mit Schaufenstern. Die Verpuffung ist für einen solchen Raum kolossal. Kaum ist die Explosion vorüber, verbreiten sich die Schwingungen mit Schallgeschwindigkeit, drehen sich um sich selbst, werfen sich gegen alles, was ein Hindernis darstellt, womit der Eindruck eines Echos entsteht, dessen Wellen in Legionenstärke über einen kommen.

Der Schuss und dann die unzähligen Glassplitter, die als Hagel niedergehen, haben Anne in ihrem Schwung gestoppt. Um sich zu schützen, hebt sie die Arme über den Kopf, zieht das Kinn auf die Brust, torkelt, fällt, diesmal auf die Seite, ihr Körper rollt über die Scherben, aber es bedarf mehr als eines Gewehrschusses und des Zerberstens eines Glasdaches, um so eine Frau zu stoppen. Man weiß nicht wie, aber schon ist sie wieder auf den Beinen.

Der Schütze hat den ersten Schuss verfehlt, die Lektion ist angekommen, jetzt nimmt er sich Zeit. Auf den Bildern sieht man, wie er durchlädt, den Kopf neigt, wäre das Video ausreichend scharf, sähe man, wie der Zeigefinger sich um den Abzug krümmt.

Plötzlich erscheint eine schwarz behandschuhte Hand, das ist der andere Mann, der ihn an der Schulter stößt, exakt in dem Moment, als er schießt …

Das Schaufenster der Buchhandlung bricht in Hunderten von Splittern zusammen, komplette Scheibenstücke, manche tellergroß, scharf wie Rasierklingen, stürzen hernieder und zerbersten am Boden.

»Ich war im Hinterraum …«

Eine Frau in den Fünfzigern, durch und durch Geschäftsfrau, kurz und breit, selbstsicher, ein Vermögen allein das Make-up, zwei Mal pro Woche Kosmetikerin, außerdem Armbänder, Halsketten, Kettchen, Ringe, Broschen, Ohrringe (man fragt sich, warum die Gangster sie nicht zusätzlich zur Beute mitgenommen haben), heisere Stimme, Zigaretten, vielleicht auch Alkohol, Camille hat nicht die Zeit, die Sache zu vertiefen. All das ist kaum ein paar Stunden zuvor geschehen, es geht ihm sehr schlecht, ungeduldig will er mehr wissen.

»Ich bin gestürzt …«, sagt sie mit einer großen Geste Richtung Passage.

Sie hält kurz inne, sie ist verrückt nach allem, was sie wichtig macht. Sie weiß mit ihrer Wirkung umzugehen. Mit Camille wird das nicht lange gutgehen.

»Kommen Sie zum Punkt!«, murmelt er mit heiserer Stimme.

Nicht sehr höflich für einen Polizisten, sagt sie sich, das muss die Größe sein, sicher der Grund für Rachegefühle, für Gereiztheit. Nach dem Schuss hat sie Annes Körper gesehen, der in die Verkaufsständer geschleudert wurde, als hätte eine Riesenhand ihn in den Rücken gestoßen, dann gegen das Schaufenster prallte und am Boden zusammenbrach. Das Bild ist noch so stark, dass die Buchhändlerin darüber ihre Wirkung vergisst.

»Sie ist gegen das Schaufenster geprallt! Aber kaum lag sie da, versuchte sie schon wieder aufzustehen!« (Sie ist verdammt beeindruckt, ja voller Bewunderung.) »Sie war blutüberströmt und ganz hektisch, unruhig, fuchtelte mit den Armen, sie rutschte auf der Stelle, wissen Sie …«

Auf dem Video scheinen die beiden Männer für einen kurzen Augenblick erstarrt. Derjenige, der den Schuss umgelenkt hat, indem er dem Komplizen einen heftigen Stoß versetzte, hat seine Taschen zu Boden geworfen. Er steht mit baumelnden Armen da und ist bereit, sich zu schlagen. Unter seiner Strumpfmaske erkennt man nur die zusammengepressten Lippen, man könnte meinen, er stoße Worte aus.

Der Schütze hingegen hat das Gewehr gesenkt. Seine Hände krampfen sich um die Waffe, man spürt, dass er zögert, aber schließlich gewinnt das Realitätsprinzip die Oberhand, er lässt es sein. Mit Bedauern wendet er sich Richtung Anne. Sicherlich sieht er, wie sie aufsteht und zum Ausgang der Passage Monier schwankt, aber die Zeit drängt, irgendwo in seinem Hirn muss ein Alarm angehen: Die Sache beginnt, ein bisschen zu lange zu dauern.

Der Komplize greift nach den Taschen und wirft eine davon dem Schützen in die Hände, diese Geste entscheidet. Beide rennen davon und verschwinden vom Bildschirm. Ein Sekundenbruchteil später kehrt der Schütze zurück, man sieht ihn von rechts auftauchen: Er schnappt sich Annes Handtasche, die sie bei ihrer Flucht hat liegen lassen, und rennt wieder los. Diesmal kehrt er nicht zurück. Man weiß, dass die beiden Männer wieder zu den Toiletten gelaufen sind und ein paar Sekunden später auf die Rue Damiani hinaus kamen, wo ihr Komplize im Auto auf sie wartete.

Anne wiederum weiß nicht mehr, wo sie ist. Sie fällt hin, richtet sich wieder auf, aber erreicht trotzdem, man weiß nicht recht wie, den Ausgang der Passage und gelangt auf die Straße.

»Da war so viel Blut an ihr und sie lief … Wie ein Zombie!«

Südamerikanische Herkunft, schwarze Haare, kupferfarbener Teint, um die zwanzig. Sie arbeitet im Friseursalon, direkt an der Ecke und war rausgegangen, Kaffee holen.

»Unsere Maschine ist kaputt, wir müssen den Kaffee für die Kundinnen im Café holen.«

Die Chefin erklärt. Janine Guenot. Sie hat sich vor Verhœven aufgebaut, man könnte meinen eine Puffmutter, sie hat all deren Kennzeichen. Auch deren Verantwortungsgefühl, nie würde sie eines ihrer Mädchen auf dem Bürgersteig mit Männern schwatzen lassen, ohne auf der Hut zu sein. Was immer die Kaffees, der Ausfall der Maschine bedeuten, Camille wischt es mit einer Geste beiseite. Na ja, nein, nicht ganz.

Denn in dem Augenblick, als Anne auftaucht, hält die Friseurin gerade ein rundes Tablett mit fünf Kaffees in den Händen, die Kundinnen in diesem Viertel sind ausgesprochen unangenehm, sie haben viel Geld, fordernd zu sein ist für sie wie die Anwendung eines uralten Rechts.

»Ein lauwarmer Kaffee ist ein Drama«, erklärt die Chefin mit leiderfülltem Blick.

Die junge Friseurin also.

Von dem zweimaligen Knallen, das sie auf der Straße gehört hat, bereits überrascht und aufmerksam geworden, läuft sie mit ihrem Tablett den Bürgersteig entlang und steht plötzlich einer Verrückten gegenüber, die gerade blutüberströmt und taumelnd aus der Ladengalerie kommt. Das versetzt ihr einen Schock. Die beiden Frauen stoßen aneinander, das Tablett fällt zu Boden, Adieu Tassen, Untertassen, Wassergläser, die Friseurin bekommt alle Kaffees auf ihr blaues Kostüm, der Uniform des Salons. Die Gewehrschüsse, die Kaffees, die verlorene Zeit – all das geht noch, aber ein Kostüm zu dem Preis, verdammt, die Stimme der Chefin wird schriller, sie will ihm die Schäden zeigen, schon gut, schon gut, gibt Camille mit einer Geste zu verstehen, sie fragt, wer die Reinigung bezahlen soll, das muss doch wohl gesetzlich geregelt sein, also, schon gut, wiederholt Camille.

»Und sie ist nicht mal stehen geblieben …!«, betont die Chefin, als handelte es sich um einen Zusammenstoß mit einem Mofa.

Sie erzählt die Angelegenheit jetzt so, als sei das alles ihr passiert. Ungefragt hat sie das Wort ergriffen, weil es sich vor allem ja um »ihr Mädchen« handelt und weil die auf das Kostüm verschütteten Kaffees ihr das Recht dazu geben. Die Kundschaft färbt immer ab. Camille packt sie am Arm, sie senkt den Blick zu ihm, neugierig senkt sie den Blick zu ihm, man könnte denken, sie mustert einen Haufen Hundescheiße auf dem Bürgersteig.

»Sie …«, sagt Camille sehr leise, »hören Sie auf, mir auf den Wecker zu gehen.«

Die Chefin traut ihren Ohren nicht. Und das von diesem Zwerg! Was es nicht alles gibt. Aber Verhœven sieht ihr starr in die Augen, das ist schon beeindruckend. Angesichts der Missstimmung will die kleine Friseurin zeigen, dass ihr an ihrer Stelle gelegen ist.

»Sie stöhnte …«, präzisiert sie, um abzulenken.

Camille dreht sich zu ihr, er will mehr wissen. Wie, sie stöhnte? Ja, sie stieß so leise Schreie aus, so wie … schwer zu erklären … ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Versuchen Sie es, sagt die Chefin, die dann doch ihr Ansehen bei der Polizei wiederherstellen will, man weiß ja nie, sie stupst ihr Mädchen mit dem Ellbogen an, also, machen Sie, was der Herr Ihnen sagt, diese Schreie, was für Schreie? Das Mädchen sieht beide an, blinzelt, unsicher, ob sie richtig verstanden hat, worum man sie bittet, und anstatt zu versuchen, die Schreie zu beschreiben, probiert sie plötzlich, sie nachzumachen, sie fängt an, leise Klagelaute von sich zu geben, eine Art Stöhnen, sie sucht nach dem richtigen Ton, hii, hii, oder eher hmmm, hmmm, also es ist eher so, sagt sie, sehr konzentriert, hmmm, hmmm, und da sie endlich den richtigen Ton gefunden hat, wird sie lauter, schließt die Augen, macht sie wieder auf, weit aufgerissen, nach ein paar Sekunden, hmmm, hmmm, würde man schwören, sie kommt gleich.

Man steht auf der Straße, es sind einige Leute da (man befindet sich dort, wo die städtischen Angestellten nachlässig ihren Wasserstrahl auf Annes Blut gerichtet haben, es ist bis in den Rinnstein geflossen, die Leute laufen über immer noch sichtbare Fleckenränder, Camille tut das so weh), die Passanten entdecken einen Bullen von einem Meter fünfundvierzig, ihm gegenüber eine junge Friseurin mit dunkelbraunem Teint, die ihn seltsam starr ansieht und unter dem zustimmenden Blick der Puffmutter orgasmische, schrille Schreie ausstößt … Guter Gott, so etwas hat man hier noch nie gesehen. Die anderen Händler verfolgen das Schauspiel bestürzt von den Ladenschwellen aus. Schon die Schüsse sind keine ideale Werbung für die Kundschaft, aber jetzt wird die Straße eindeutig zum Puff.

Camille wird die Zeugenaussagen zusammentragen, Vergleiche anstellen und verstehen, wie all das endet.

Völlig hilflos kommt Anne aus der Passage Monier auf Höhe von Hausnummer 34 in die Rue Georges-Flandrin, sie wendet sich nach rechts und geht die Straße entlang Richtung Kreuzung. Ein paar Meter weiter stößt sie mit der Friseurin zusammen, bleibt aber nicht stehen, setzt ihren Weg fort, wobei sie sich Schritt für Schritt an den parkenden Autos festhält, man findet Spuren ihrer blutigen, flach aufgesetzten Handflächen auf dem Dach der Fahrzeuge, auf den Türen. Nach den Schüssen, die aus der Passage zu hören waren, ist diese von Kopf bis Fuß blutverschmierte Frau für alle draußen eine echte Erscheinung. Sie schwankt beim Gehen, sie schwankt, aber ist unfähig, stehen zu bleiben, sie weiß nicht mehr, was sie tut, wo sie ist, sie geht weiter, sie ächzt (hmm, hmm) wie eine Betrunkene, aber sie geht. Die Leute weichen ihr aus. Einer immerhin wagt sich vor und fragt: »Madame?«, aber er ist von all dem Blut erschüttert …

»Ich versichere Ihnen, Monsieur, die junge Frau hat mir Angst gemacht … Ich wusste nicht, was ich tun soll.«

Er ist völlig mitgenommen. Ein alter Mann mit ruhigem Gesicht, schrecklich magerem Hals, etwas verschleiertem Blick; grauer Star, sagt sich Camille, sein Vater hatte am Ende seines Lebens dasselbe. Nach jedem Satz versinkt der Mann in einem Traum. Seine Augen fixieren Camille und bevor er seinen Bericht wieder aufnimmt, herrscht eine Pause. Er ist untröstlich, er breitet die ebenfalls sehr mageren Arme aus, Camille schluckt, von den Emotionen angegriffen.

Der alte Herr ruft »Madame!«, er wagt nicht, sie anzufassen, sie ist wie eine Schlafwandlerin, er lässt sie vorbeigehen, Anne läuft noch ein Stück.

Und da biegt sie erneut nach rechts ab.

Versuchen Sie nicht herauszufinden, warum. Niemand weiß es. Denn rechts befindet sich die Rue Damiani. Und ein paar Sekunden, nachdem Anne auftaucht, fährt dort das Auto der Gangster mit halsbrecherischer Geschwindigkeit entlang.

Auf sie zu.

Und als der Typ, der ihr den Kopf eingeschlagen und sie zwei Mal verfehlt hat, sein Opfer ein paar Meter entfernt sieht, kann er der Idee nicht widerstehen, das Gewehr wieder in die Hand zu nehmen. Den Job zu beenden. Als der Wagen auf Höhe von Anne ist, wird die Scheibe heruntergelassen, die Waffe erneut auf sie gerichtet, das geht sehr schnell, sie nimmt die Waffe wahr, aber sie ist unfähig sich zu rühren.

»Sie hat den Wagen angesehen …«, sagt der Herr, »ich wüsste nicht, wie ich Ihnen das sagen soll … so, als würde sie ihn erwarten.«

Ihm ist bewusst, dass er da eine Ungeheuerlichkeit sagt. Camille versteht. Er will sagen, dass bei Anne eine gewaltige Erschöpfung herrscht. Jetzt, nach all dem, was sie erlebt hat, ist sie bereit zu sterben. Übrigens scheinen alle sich darin einig, Anne, der Schütze, der alte Herr, das Schicksal, alle. Sogar die kleine Friseurin:

»Ich habe gesehen, wie der Gewehrlauf aus dem Fenster kam. Und die Dame auch, die hat das auch gesehen. Wir haben alle hingeguckt, nur war die Dame halt direkt davor, verstehen Sie.«

Camille hält den Atem an. Es sind sich also alle einig. Bis auf den Fahrer des Wagens. Camilles Ansicht nach – er hat lange über die Frage nachgedacht – weiß der Fahrer nicht genau, wie weit man mit dem Gemetzel ist. Von seinem versteckten Wagen aus hat er die Schüsse gehört, die für den Überfall geplante Zeit ist schon längst verstrichen. Ungeduldig, besorgt muss er nervös aufs Lenkrad getrommelt haben, vielleicht hat er überlegt zu fliehen, als er seine Komplizen endlich hat auftauchen sehen, wobei der eine den anderen zum Wagen schubste … Gibt es Tote?, fragt er sich. Wie viele? Nun, die Gangster steigen ein. Unter dem Druck des Ereignisses fährt der Fahrer los und entdeckt an der Straßenecke – wie weit mögen sie gefahren sein, zweihundert Meter, das Fahrzeug hat stark bremsen müssen, um die Kreuzung zu überqueren – auf dem Bürgersteig eine torkelnde, blutverschmierte Frau. Als er sie sieht, brüllt der Schütze ihm bestimmt zu, er solle noch stärker abbremsen, lässt eilig die Scheibe runter, vielleicht stößt er sogar einen Siegesschrei aus, eine letzte Chance, sowas darf man sich nicht entgehen lassen, ihn ruft quasi das Schicksal, es ist, als wäre er plötzlich seinem Seelenverwandten begegnet, er hat schon nicht mehr daran geglaubt, und da ist sie! Er greift nach dem Gewehr, legt an und zielt. Der Fahrer wiederum sieht sich im Bruchteil einer Sekunde als Komplize eines Mordes, begangen aus nächster Nähe vor einem guten Dutzend Zeugen, all das nicht eingerechnet, was möglicherweise in der Passage geschehen ist und was er nicht weiß, womit er aber in Verbindung steht. Der Überfall hat sich in eine Katastrophe verwandelt. So hatte er sich das nicht gedacht.

»Das Auto hat mit einem Schlag angehalten«, sagt die Friseurin. »Schlagartig! Was das für ein Bremsenquietschen war …«

Auf dem Asphalt wird man die Reifenspuren sichern, die es ermöglichen werden, die Marke zu identifizieren, ein Porsche Cayenne.

Im Inneren des Fahrzeugs fliegen alle durcheinander, auch der Schütze. Sein Schuss lässt beide Türen und die Seitenscheiben des parkenden Fahrzeugs zersplittern, neben dem Anne erstarrt steht, bereit zu sterben. Auf der Straße legen sich alle auf den Boden, außer dem alten Herrn, der nicht die Zeit hat, irgendeine Bewegung zu machen. Anne bricht zusammen, der Fahrer drückt das Gaspedal durch, das Fahrzeug rast los, die Reifen quietschen erneut auf dem Asphalt. Als die Friseurin sich aufrichtet, sieht sie den alten Herrn, der sich mit einer Hand an eine Hauswand stützt und sich mit der anderen ans Herz greift.

Anne wiederum liegt auf dem Bürgersteig, ein Arm im Rinnsteig, ein Bein unter dem parkenden Auto. »Funkelnd«, wird der alte Herr sagen, aber das ist ja nur natürlich, sie ist übersät mit den Scherben der zerborstenen Windschutzscheibe.

»Es sah aus, als wäre sie voller Schnee …«

10 h 40

Gar nicht zufrieden, die Türken.

Wirklich gar nicht zufrieden.

Der Dicke, der mit dem verstockten Gesicht, fährt vorsichtig, steuert die ganze Strecke über die Place de l’Étoile und dann die Avenue de la Grande-Armée mit geballten Fäusten am Lenkrad. Er runzelt die Stirn. Er will expressiv wirken. Oder aber es ist was Kulturelles, auf diese Weise seine Emotionen zu zeigen.

Der Aufgeregtere ist der kleine Bruder. Ein Giftzwerg. Unglaublich brauner Teint, brutales Gesicht, man spürt den leicht verletzbaren Charakter. Auch sehr mitteilsam, er fuchtelt mit dem Zeigefinger, droht, ziemlich ermüdend. Ich verstehe nichts von dem, was er sagt – ich und Türkisch … –, aber es ist nicht schwer zu erraten: Da lässt man uns für einen schnellen, einträglichen Raubüberfall kommen und dann finden wir uns in einer endlosen Schießerei wieder. Er breitet die Hände aus: Und wenn ich dich nicht zurückgehalten hätte? Ein etwas schwerfälliger Engel geht durch den Raum. Er fragt mit erkennbarer Hartnäckigkeit, bestimmt fragt er gerade, was passiert wäre, wenn die Ische gestorben wäre. Und wieder überkommt ihn die Wut: Wir fahren zu einem Überfall, nicht zu einem Blutbad und so weiter.

Wirklich ermüdend. Zum Glück bin ich ein ruhiger Mensch, würde ich mich aufregen, wäre die Sache schnell aus dem Ruder gelaufen.

Es hat keinerlei Bedeutung, aber es ist anstrengend. Der Junge müht sich mit Protestieren ab, er täte besser daran, seine Kräfte zu schonen, er wird sie noch brauchen.

Nicht alles ist gelaufen, wie geplant, aber das Gesamtziel ist erreicht, das ist die Hauptsache. Auf dem Boden liegen zwei dicke Taschen. Das wird eine Weile reichen. Und das ist nur der Anfang, denn wenn alles klappt, werd ich die Leine einholen und noch einiges an Taschen finden. Der Türke schielt auf die Säcke, er redet mit seinem Bruder, sie scheinen sich zu verständigen, der Fahrer macht zustimmende Gesten. Sie hecken da was aus, als wären sie allein, bestimmt berechnen sie die Entschädigung, die sie fordern können. Fordern … ich glaub, ich träume. Von Zeit zu Zeit hält der Kleine inne und wendet sich wütend an mich. Man versteht ein paar Worte: »Kohle«, »Teilen«. Man kann sich fragen, wo er die gelernt hat, sie sind seit 24 Stunden in Frankreich … Vielleicht sind Türken sprachbegabt, wer weiß. Ist auch egal. Einstweilen genügt es, ein beschämtes Gesicht aufzusetzen, ein bisschen zu katzbuckeln, mit betrübter Miene zu nicken, wir sind schon in Saint-Ouen, wenn es gut läuft, kein Problem.

Die Banlieue zieht vorbei. Was kann der Osmane brüllen, unglaublich. Durch das ganze Geschrei ist die Atmosphäre im Auto bei Ankunft an der Box unerträglich geworden, man spürt, dass es auf die große finale Aussprache zugeht. Der Kleinere brüllt eine Frage, mehrmals dieselbe, er verlangt eine Antwort, und um zu zeigen, wie offensiv er ist, fuchtelt er mit dem Zeigefinger und pocht auf die andere, geschlossene Faust. In Izmir muss die Geste eine klare Bedeutung haben, aber in Saint-Ouen ist das schwieriger. Immerhin versteht man die allgemeine Absicht, es ist fordernd und drohend, man muss nicken und sagen, dass man einverstanden ist. Übrigens ist das auch gar nicht gelogen, denn wir werden uns sehr schnell einigen.

Währenddessen ist der Fahrer ausgestiegen, aber er mag sich noch so sehr am Schloss für die Parkbox abmühen, er kriegt das Eisengitter nicht auf. Er versucht, den Schlüssel hin und herzudrehen, ist verblüfft, dreht sich zum Auto um, man sieht, dass er nachdenkt; als er es ausprobiert hat, hat es großartig funktioniert, er schwitzt, während der Motor weiterläuft. Kein Risiko, hier entdeckt zu werden, eine lange Sackgasse mitten im Nichts, aber ich hätte nicht gern, dass das ewig dauert.

Für die beiden ist das ein weiterer Zwischenfall, noch einer. Und einer zu viel. Diesmal ist der Kleine kurz vorm Hirnschlag. Nichts läuft wie geplant, er fühlt sich reingelegt, verraten, »Scheißfranzose«, ich muss ein irritiertes Gesicht machen, diese Geschichte mit dem Tor, das sich nicht öffnen lässt, wirklich unverständlich, das müsste funktionieren, gestern haben wir es sogar zusammen versucht. Ich steige ruhig aus dem Auto, verwundert und betreten.