Opferreigen - M. M. Vogltanz - E-Book

Opferreigen E-Book

M. M. Vogltanz

4,5

Beschreibung

Wien. Ein scheiternder Schriftsteller und seine lebensverdrossene Tochter, gesichtslose Tänzerinnen und ein skrupelloser Puppenspieler – Zutaten, die für weit mehr als einen einzigen Albtraum ausreichen. Gabriel Seihndorfs erfolgreiche Zeiten sind vorbei. Seit seine Frau nicht mehr am Leben ist, sind seine Tage erfüllt von Selbstmitleid, der Unfähigkeit zu schreiben und den Streitigkeiten mit seiner pubertierenden Tochter Melissa. Erst als ein geheimnisvoller Puppenspieler die Bühne betritt, bemerkt Gabriel, dass ihn mehr mit seinem Kind verbindet als ewige Zwistigkeiten. Während Melissa in einem verlassenen Theater in der Innenstadt die Wärme sucht, die sie in ihrem Zuhause vermisst, findet Gabriel sich in einer Welt zwischen Wahn und Realität wieder.

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Opferreigen

Die Deutsche Bibliothek und die Österreichische Nationalbibliothek verzeichnen diese Publikation in der jeweiligen Nationalbibliografie. Bibliografische Daten:

http://dnb.ddp.de

http://www.onb.ac.at

© 2017 Verlag ohneohren, Ingrid Pointecker, Wien

1. Auflage

Autorin: M. M. Vogltanz

Covergestaltung: Verlag ohneohren

Covergrafiken: freepik.com, Larissa Kulik | shutterstock.com

Zitate aus „Emilia Galotti“ (Gotthold Ephraim Lessing) und „Der Sandmann“ (E. T. A. Hoffmann): www.gutenberg.org

Lektorat, Korrektorat: Verlag ohneohren

www.ohneohren.com

ISBN: 978-3-903006-84-3

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und/oder des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Inhaltsverzeichnis

Teil 1
1
Gabriels Schweigen
2
Melissas Schreie
3
Herr der Puppen
4
Frühling
5
Gabriels Schmerz
6
Erwachen
7
Sommertage
8
Erinnerung
9
Sommernächte
10
Limbus
Teil 2
11
Hitze
12
Hannah
13
Nelkengasse
14
Stimmen
15
Aula
16
Ungeziefer
17
Sturm zieht auf
18
Verlust
19
Aufbruch
20
Gefangen
Teil 3
21
Clara
22
Wind
23
Anstalt

1. Dezember 2011

Ich habe lange darüber nachgedacht, wofür ich das Papier nutzen soll, das hier vor mir liegt. Heute ist mir klar geworden, dass es auf diese Frage nur eine richtige Antwort geben kann.

Diese Aufzeichnungen sind ohnehin nur für meine Augen bestimmt, warum also nicht einfach ehrlich sein? Es fühlt sich befremdlich an, wieder zu schreiben. Vor nicht allzu langer Zeit war ich noch fest davon überzeugt, niemals wieder ein Wort zu Papier zu bringen. Doch etwas hat sich verändert. Ich habe nun einen Grund zu schreiben – habe eine Geschichte zu erzählen. Nein, mehr als eine Geschichte. Die Wahrheit.

Wahrheit ist ein dehnbarer Begriff, niemand weiß das besser als ich. Was für den einen wahr ist, kann für den anderen Lüge sein – oder Irrsinn. Was ist schon real? Ich vermag es nicht zu sagen. Vor einem Jahr hätte ich das wohl noch anders gesehen. Vor einem Jahr glaubte ich, sehr genau zu wissen, wer ich bin, glaubte eine gute Vorstellung davon zu haben, wie die Welt funktioniert und welchen Regeln sie folgt. Mittlerweile weiß ich nichts mehr, außer dass man nichts und niemandem trauen darf, vielleicht am allerwenigsten den eigenen Sinnen.

An manchen Tagen wache ich immer noch auf und denke, dass alles, was mir widerfahren ist, nichts weiter war als ein verstörender Albtraum. Doch dann öffne ich die Augen, und das Bett, in dem ich liege, ist nicht das meine. Und dann kann ich es nicht länger leugnen.

Die Lehren des Lebens sind oftmals hart und grausam. Mich hat das Leben gelehrt, dass man sich ihm nicht entziehen kann. Es reißt einen mit sich fort, zertrümmert einem die Glieder und spuckt einen am Rande der Welt wieder aus – zerschlagen, zu Tode gelebt.

Ich schreibe dies nieder, weil ich muss. Es ist wie ein innerer Drang, ein Jucken im Hinterkopf, das nur das Kratzen der Kugelschreibermine auf Papier befriedigt. Dass wahrscheinlich niemals jemand diese Zeilen zu Gesicht bekommt, kümmert mich nicht. Man würde mir ohnehin nicht glauben. Niemand glaubt mir. An manchen Tagen glaube ich mir nicht einmal selbst.

Aber auf Papier bannen muss ich es. Vielleicht finde ich wieder etwas Schlaf, wenn ich es mir „von der Seele“ geschrieben habe, wie man so leichtfertig sagt.

„Von der Seele“ schreiben. Ja. Ich denke, das trifft es.

Teil 1

Introduktion

EMILIA: Ehedem wohl gab es einen Vater, der seine Tochter von der Schande zu retten, ihr den ersten den besten Stahl in das Herz senkte – ihr zum Zweiten das Leben gab. Aber alle solchen Taten sind von ehedem! Solcher Väter gibt es keinen mehr!

ODOARDO: Doch, meine Tochter, doch! (Indem er sie durchsticht.) Gott, was hab ich getan! (Sie will sinken, und er fasst sie in seine Arme.)

EMILIA: Eine Rose gebrochen, ehe der Sturm sie entblättert. – Lassen Sie mich sie küssen, diese väterliche Hand.

(G. E. Lessing: Emilia Galotti)

1

Gabriels Schweigen

„Hörst du mir überhaupt zu? Vater? Verdammt, Gabriel!“

Gabriel Seihndorfs Kopf fuhr hoch, als hätte ihm jemand einen elektrischen Schlag verpasst. Verwirrt blickte er in das unwillig verzogene Gesicht seiner Tochter.

„Träumst du? Ich hab dir gerade etwas erzählt.“

„Ich … Entschuldige, Liebes. Ich war in Gedanken.“

Melissa rümpfte die Nase. „Dann bin ich ja beruhigt. Ich hatte schon befürchtet, ich wäre über Nacht unsichtbar geworden. Seit ich mich zu dir an den Frühstückstisch gesetzt habe, hast du kein Wort gesagt. Nicht mal Guten Morgen.“

Ohne bewusstes Zutun griff Gabriel Seihndorf nach der Kaffeetasse auf dem Tisch und nahm einen Schluck. Dabei sah er nicht seine Tochter an, sondern blickte auf die Uhr an der Wand gegenüber, deren Minutenzeiger sich ein ganzes Stück fortbewegt hatte, seit Gabriel sich mit großem Widerwillen aus dem Bett gekämpft hatte. Der Kaffee war mittlerweile kalt.

Bedächtig setzte er die Tasse wieder ab und senkte den Blick, suchte die Funken sprühenden Augen seiner Tochter.

„Guten Morgen“, sagte er.

Melissa gab einen seltsam erstickten Laut von sich, eine Mischung aus empörtem Schnaufen und einem Lachen.

„Melissa, es tut mir leid, dass ich nicht zugehört habe. Aber ich bin hundemüde und kann kaum die Augen offen halten. Ich war bis zum Morgengrauen am Computer.“

„Um was zu tun? Solitär spielen?“

„Was soll das heißen?“ Die Frage klang schärfer als beabsichtigt.

„Na was wohl? Ich habe dich beobachtet. Du hast in den letzten Monaten nicht eine vernünftige Zeile geschrieben. Die meiste Zeit verbringst du mit irgendwelchen Kartenspielen: Solitär, Hearts und das ganze Zeug. Und nicht einmal darin bist du gut. Keine sprühenden Feuerwerke oder tanzenden Karten. Nur das ewige Klick-Klick der Maus. Dürften ziemlich fruchtlose Versuche sein, Ordnung in die Farben zu bringen, was? Gib es doch zu, Gabriel – du kriegst nichts mehr auf die Reihe.“

„Musst du nicht zur Schule?“ Er klang nicht wütend, nur müde, resigniert. Der Hohn seiner Tochter traf ihn nicht – nicht mehr. Nur dass sie ihn beim Vornamen nannte, das schmerzte noch immer, eine hässliche Angewohnheit, die vor nicht ganz einem Jahr das erste Mal aufgetreten war und nun immer häufiger hervorbrach. Schon lange davor hatte er die Hoffnung aufgegeben, dass Melissa in ihm jemals wieder so etwas wie eine Vaterfigur sehen könnte. Seit Clara nicht mehr da war, waren die Dinge sehr … kompliziert geworden. Und sie wurden mit jedem Jahr verzwickter.

Natürlich lag das nicht nur an seiner Tochter. Er gefiel sich darin, sich das einzureden, denn es erleichterte sein Gewissen. Tief in seinem Inneren allerdings wusste er, dass das nichts weiter war als eine Lüge, durchsichtig wie Fensterglas. Auch Gabriel selbst hatte sich verändert. Dass er schon monatelang kaum einen Gedanken zu Papier brachte, war ein nicht geringer Teil dieser Veränderungen.

„Es ist mein Ernst“, sagte Melissa. „Wenn du nicht bald wieder auf Touren kommst, werden wir Probleme kriegen. Ich bin mittlerweile alt genug, um zu kapieren, dass Geld nicht auf Bäumen wächst. Wenn du nicht mehr schreiben kannst, mach irgendetwas anderes, aber machen musst du es!“

„Du machst dir Sorgen, dass wir finanzielle Probleme bekommen könnten?“ Ein angedeutetes Lächeln berührte seine Lippen. Mit ihren sechzehn Jahren kam ihm Melissa schmerzlich jung für diese Art von Sorgen vor. Obwohl – wenn er es genau bedachte, würde sie in seinen Augen wohl immer zu jung für Sorgen bleiben.

„Was ist so komisch daran? Irgendwer muss es ja tun, wenn nicht du.“ Sie nahm ihr Marmeladenbrot und biss so kräftig hinein, dass die orangefarbene Masse über die Ränder quoll und zähflüssig auf den Teller klatschte.

„Irrtum“, erwiderte Gabriel, bemüht, sein Lächeln aufrechtzuerhalten. „Wir werden noch sehr, sehr lange keinen finanziellen Engpass bekommen, Melissa, das kann ich dir versichern. In den letzten Jahren haben wir viel angespart, und außerdem kommt noch immer Geld von ein paar alten Projekten rein. Und abgesehen davon“, fügte er mit veränderter Stimme hinzu, „habe ich keine Schreibblockade. Ich mache eine Auszeit, das ist alles. Viele Schriftsteller machen das.“

„Aha.“ Natürlich glaubte sie ihm kein Wort. Stoisch kaute sie weiter an ihrem Brot.

„Schule“, erinnerte er und deutete auf die Uhr, deren kleiner Zeiger sich stetig der Acht näherte.

Sie murmelte etwas, von dem Gabriel nicht sicher war, ob er es wirklich verstehen wollte, legte ihr angebissenes Brot aber gehorsam beiseite und stand auf. War sie anfangs nur leicht verstimmt gewesen, so wirkte sie nun zornig und – ja, vielleicht auch verletzt. Gabriel rief ihr noch ein „Mach´s gut, Liebes!“ nach, doch da hatte sie bereits die Tür hinter sich ins Schloss geworfen. Aus irgendeinem Grund hatte sie es wohl plötzlich sehr eilig, die Wohnung – und vor allem ihren Vater – hinter sich zu lassen.

Gabriel seufzte und vergrub das Gesicht in den Händen. Was eben zwischen ihm und seiner Tochter vorgefallen war, das war eine unbeschwerte Unterhaltung gewesen im Vergleich zu anderen „Gesprächen“, die nur zu oft darauf hinausliefen, dass sie sich beide anbrüllten und schließlich türenknallend voreinander flohen.

Häufiger noch – und vielleicht sogar schlimmer – war das Schweigen. Und schlimm war es zweifellos, denn es war schwierig oder sogar unmöglich, es zu durchbrechen, wenn man erst damit begonnen hatte. In der Stille wurden Gedanken geboren, hässliche Gedanken, die sich steigerten, je länger das Schweigen andauerte, bis sie sich einen Weg nach außen bahnten. Im Schweigen wurden kleine Gesten zu kühnen Herausforderungen, jedes Augenverdrehen ein Schlag ins Gesicht, jeder Seufzer eine Beleidigung.

Für das Brüllen war meistens Melissa verantwortlich.

Das Schweigen hingegen war Gabriels Metier. Bevor er ein böses Wort sagte, zog er es vor, nichts zu sagen. Leider gab es Zeiten, in denen sein Kopf voll war von bösen Worten – gegen sich selbst, gegen seine Tochter und gegen den Rest der Welt. Dies waren die Zeiten, die am schwierigsten durchzustehen waren. Zeiten, in denen sie sich nicht mehr in die Augen blicken konnten, weil sie Angst vor dem hatten, was sie darin entdecken könnten.

Gabriels Blick wanderte zu Melissas Teller, auf dem ihr Brot klebte wie ein zerquetschter Käfer auf der Windschutzscheibe eines Wagens. Orangefarbenes Blut. Ein Insekt voller Gift und Galle. Zerstampft vom Zorn der Melissa Seihndorf. Er schmunzelte ein wenig, zog den Teller über den Tisch zu sich heran und aß das Brot selbst. Eigentlich hatte er vorgehabt, Melissa rechtzeitig zu wecken, damit sie Zeit hatte, um in Ruhe zu frühstücken. Nur aus diesem Grund war er selbst in dieser Herrgottsfrühe auf den Beinen. Doch irgendwie hatte er es … vergessen. Nachdem er sich gewaschen und angezogen hatte, waren noch ein paar Minuten Zeit gewesen, und er hatte Melissa keine Sekunde Schlaf stehlen wollen. Während er hier gesessen und darauf gewartet hatte, dass die Zeit verstrich, musste er in eine Art Halbschlaf versunken sein. Zumindest in diesem Punkt hatte er die Wahrheit gesagt: Er hatte gestern bis zum Morgengrauen am Computer gesessen, und dementsprechend schwer waren seine Lider nun.

Wie schön wäre es gewesen, einfach wieder ins Bett zu gehen und bis in die Mittagsstunden zu schlafen, doch das verbot Gabriel sich. Melissa hatte recht, es wurde Zeit, dass er etwas tat, etwas Vernünftiges. Nicht des Geldes wegen, sondern um seiner selbst willen. Er musste Geist und Körper in Bewegung halten, andernfalls würde er vollständig in seinem seelischen Sumpf versinken und niemals wieder „etwas auf die Reihe kriegen“, wie Melissa es umschrieben hatte.

Er entschied, dass es wohl das Beste wäre, einen ausgiebigen Spaziergang zu machen, mit Notizbuch und Kugelschreiber in der Tasche. Nur für alle Fälle. Zwar verhielt es sich mit dem Notizbuch wie mit einem Regenschirm – wenn man einen dabei hatte, konnte man fast sicher voraussagen, dass es den ganzen Tag über staubtrocken bleiben würde –, aber er wollte vorbereitet sein, sollte sich die alte Dame namens Muse wie durch ein Wunder doch noch dazu entschließen, zu ihm zurückzukehren.

Mit einigen raschen Schlucken leerte er seinen eiskalten Kaffee, balancierte das schmutzige Geschirr auf dem fast mannshohen Stapel aus, der sich bereits neben der Spüle türmte, und holte seinen Mantel.

Als er die Haustür hinter sich zuzog, fiel sein Blick auf die Tür gegenüber, die einen Spalt geöffnet war. Ein neugieriges, mit Unmengen von Lidschatten und Wimperntusche verklebtes Augenpaar lugte daraus hervor. Gabriel fragte sich bereits, für welche der zwei zur Verfügung stehenden Strategien sich seine Nachbarin heute entscheiden würde – abrupte Flucht oder aufgesetzte Freundlichkeit –, als die Tür bereits vollends aufgezogen wurde.

„Guten Morgen, Herr Seihndorf“, flötete Marietta Teergruber. „Na, Besorgungen zu erledigen?“

Gabriel zwang sich zu einem höflichen Lächeln. „So ist es, Frau Teergruber.“

Sie zog den rosa Bademantel, der aussah, als hätte sie dafür ein Einhorn vom Zuckerwatteplaneten geschlachtet und gehäutet, enger um ihren absurd mageren Körper. „Ah, schön für Sie. Der Mensch braucht Aufgaben. Sonst wird er ganz meschugge.“ Sie lachte gackernd. „Ich werde dann auch gleich aufbrechen, die Kinder müssen ja zur Schule.“ Sie warf den Kopf herum und brüllte mit dröhnender Stimme in die Wohnung hinein: „Zieh deine Hose wieder an, David!“ Dann wandte sie sich wieder Gabriel zu, mit einem zuckersüßen Lächeln, das ihre nikotingefärbten Zähne zur Schau stellte. „Es war heute Morgen übrigens wieder etwas laut bei Ihnen. Mich stört das natürlich nicht.“

„Natürlich.“

„Aber die anderen Nachbarn könnten sich beschweren. Sie wissen ja, wie die sind. Plappern, plappern, plappern“, trällerte sie. „Und meckern, meckern, meckern. Sind eben nicht alle so genügsam wie wir, Herr Seihndorf.“

„Ja. Danke für den Hinweis, Frau Teergruber. Ich muss jetzt wirklich los.“

Sie quietschte ihre Zustimmung. „Natürlich, natürlich, ich ja auch! Wenn die Buben schon wieder zu spät kommen, werde ich wieder mit ihrer sterbenslangweiligen Lehrerin sprechen müssen, und ich habe einfach keine Zeit für so etwas! So viel zu tun! Waschen, Kochen, Einkaufen, es ist die Hölle.“

Wieder wieherte sie ihr schrilles Lachen, das Gabriel vermuten ließ, dass sie das Einhorn nicht nur gehäutet, sondern auch seine Überreste verschluckt hatte.

„Ihrer bezaubernden Tochter geht es hoffentlich gut?“ Ihre Augen blitzten tratschsüchtig. Natürlich hatte sie Melissa aus der Wohnung stürmen sehen und erhoffte sich nun einen saftigen Brocken Klatsch.

„Ähm, ja, alles in Ordnung. Frau Teergruber, ich habe wirklich keine Zeit, zu plaudern.“

„Ah, natürlich nicht! Ebenso wenig wie ich. Aber wenn wir endlich wieder etwas Luft haben, dann müssen Sie unbedingt auf einen Kaffee vorbeikommen. Man sieht Sie ja kaum noch, Sie Geheimniskrämer! Man könnte meinen, Sie hätten Leichen da drin versteckt.“ Sie deutete mit einer langen, sorgsam manikürten Kralle auf seine verschlossene Wohnungstür.

„Ein andermal gerne, aber jetzt muss ich weiter.“

„Ach, ich ja auch, ich ja auch!“ Sie wedelte mit der Rechten, als versuchte sie, die Zeit um ein paar Minuten zurückzuscheuchen. „Man findet ja heutzutage keine Zeit für gar nichts mehr, immer im Stress, immer was zu tun. Ein Albtraum.“

„Hat mich gefreut, Frau Teergruber.“

„Oh, und mich erst, Herr Seihndorf! Wenn Sie wüssten, wie selten ich Gelegenheit finde, mit jemandem aus der Nachbarschaft …“

Gabriel ließ den Wasserfall, der Marietta Teergrubers Stimme war, an sich abperlen und flüchtete an ihr vorbei zur Treppe. Hinter seinem Rücken ging wieder das Gezeter los, wahrscheinlich, da David Teergruber noch immer in Unterhosen durch die Wohnung lief. Er vermutete, dass es eine wahre Herausforderung war, seinen Kindern weiszumachen, dass sie sich anziehen mussten, wenn man selbst kaum ein Kleidungsstück am Leibe trug.

Draußen war es empfindlich kalt für diese Jahreszeit, und unvermittelt erschauerte Gabriel unter einem heftigen Windstoß, der seinen offenen Mantel aufblähte wie die Flügel einer übergroßen Fledermaus. Rasch schloss er den Mantel, schlug den Kragen hoch und ging mit gesenktem Kopf vorwärts. Seine plötzliche Sehnsucht nach Frischluft war bereits wieder fortgeblasen, doch nun war es zu spät. Er wäre sich schwach vorgekommen, hätte er auf dem Absatz kehrt gemacht und wäre wieder zurück in sein finsteres Loch gekrochen. Außerdem graute ihm davor. Die leere Wohnung tat ihm nicht gut. Die Stille war wie ein hungriger Wurm, der sich tiefer und tiefer in ihn hineinfraß, von innen nach außen, und eine schmerzende Spur durch seinen Magen, seinen Kopf und seinen Verstand zog.

Natürlich war er bereits vor Claras Verschwinden oft allein gewesen, denn im Gegensatz zu ihm hatte sie nicht zu Hause gearbeitet. Doch niemals hatte er sich einsam dabei gefühlt – so abgeschnitten von allem Lebendigen, dass es ihm selbst alle Lebenskraft entzog. Er brauchte den Lärm um sich, das Rauschen menschlicher Stimmen, um diese hallende Stille zu vertreiben, die von innen kam, musste das Leben um sich herum spüren, um es auch in sich selbst wieder zu entdecken.

Die Strecke bis zur nächsten U-Bahn-Station legte er in düstere Gedanken versunken zurück. Seine Augen glitten zwar über die Menschen hinweg, die ihm auf seinem Weg begegneten, doch sie fanden keinen Halt auf diesen hastenden, gesichtslosen Gestalten, und auch ihre Stimmen wehten ungehört an seinen Ohren vorüber. Auf dem Bahnsteig stank es intensiv nach Urin und Erbrochenem – zweifelsfrei Zeichen von Leben, doch nicht die Art von Zeichen, die Gabriel nun brauchte. Als der Zug einfuhr, wurde er von der Masse an Menschen rücksichtslos vorwärts geschoben, eingehüllt in einer Wolke aus Schweiß. Es schien, als wäre ganz Wien auf den Beinen, mit dem einzigen Ziel, so viele Waggons wie möglich zu füllen und als kleinen Zusatz noch ein paar Nasenbeine zu brechen. Klobige Rucksäcke drückten gegen seine Brust, spitze Ellbogen stachen in seine Seite, fremde Hintern pressten sich gegen seinen.

Gabriel hasste diese Stoßzeiten.

Trotzdem konnte er nicht bestreiten, dass die Anwesenheit so vieler Menschen auch etwas Gutes hatte. Die Stimme der Einsamkeit war nicht vollkommen verschwunden, doch zumindest war sie etwas leiser geworden, eingeschüchtert von den Massen, die Gabriel gegen die automatischen Türen pressten.

Er fuhr eine ganze Weile, und währenddessen füllte und leerte sich der Zug in regelmäßigen Abständen. Als er das Zentrum der Stadt hinter sich gelassen hatte, stieg er aus. Hier war der Geruch nicht ganz so aufdringlich, der Bahnsteig sauberer. Über eine Treppe verließ Gabriel die Station. Hier war die Stadt grüner und die Luft klarer, die Art von Umgebung, die er sich für einen Spaziergang wünschte. In unmittelbarer Nähe konnte er das klare, blaue Glitzern von Wasser sehen. Ein schönes Fleckchen Erde, das musste er zugeben.

Er war erst einige Meter weit gegangen, als der Himmel über seinem Kopf die Schleusen öffnete. Von krachenden Donnerschlägen begleitet, entleerten die Wolken ihre feuchte Last. Keine fünf Sekunden später war Gabriel bis auf die Knochen durchnässt. Er unterdrückte ein Seufzen und schlenderte weiter durch den strömenden Regen, nicht auf die Menschen achtend, die Hals über Kopf an ihm vorbeihasteten und nach einem Unterstand suchten. Vom Regen in die Traufe, das kam ihm sehr bekannt vor. Sein Leben war ganz ähnlich verlaufen.

Die Hände in den Manteltaschen vergraben, überquerte er die breite, überdachte Brücke, die sich über einen Arm der Donau spannte. Er verharrte nicht im Trockenen, sondern verließ die Brücke und strebte geradewegs auf das feuchtnasse Gras zu, das mit seinem saftigen Grün Gabriels Augen beruhigte. Um ihn herum schwoll der Regen noch weiter an, wurde zu einem steten Strom, immer wieder durchbrochen von weißen, stark verästelten Blitzen, die kraftvoll gen Erde stießen. Nun beschleunigten sich Gabriels Schritte doch, und er suchte blind in seinen Taschen nach etwas, das den Regen abhalten würde. Als sich seine Hände um einen handlichen Gegenstand schlossen, zog er ihn hervor und hob ihn über den Kopf. Ein weiterer Blitz, diesmal ganz nah, ließ die Erde erbeben. Schwärme großer, blütenweißer Vögel, wahrscheinlich Schwäne, stiegen aus dem Schilf am Ufer des Stroms und stoben in alle Himmelsrichtungen davon.

Durch seine vom Wasser verschleierten Augen sah er den Umriss eines Hauses als dunklen Schemen in der Ferne aufragen. Zitternd vor Kälte lief Gabriel auf den surrealen Scherenschnitt zu, während er sich insgeheim dafür verfluchte, nicht zurück ins Haus gegangen zu sein, als der erste heftige Windstoß ihn gebeutelt hatte. Klitschnass und außer Atem erreichte er seinen Unterstand und ließ sich mit den Rücken zur Wand an der rauen Mauer hinabsinken. Noch immer erreichte ihn der Regen, wenn ein starker Windstoß die Tropfen unter das Vordach wehte, doch zumindest reduzierte sich das Vollbad auf eine sanfte Dusche.

Erst jetzt betrachtete Gabriel das, was er in seiner Eile aus der Manteltasche gezogen hatte. Unvermittelt verdüsterte sich seine Miene, als er die Überreste seines Notizbuches erkannte. Das Papier war völlig durchgeweicht und löste sich unter seinen Fingern auf wie feiner Schnee. Die Schrift im Inneren des Büchleins war entweder restlos verschwunden oder zu widerlichen Schlieren zerlaufen, deren Bedeutung sich nicht einmal mehr erahnen ließ.

All seine Aufzeichnungen – fortgeschwemmt. Seine Gedanken – weggewaschen.

Es spielte keine Rolle. Er würde nichts mehr schreiben, nicht in den nächsten paar Jahren und vielleicht niemals wieder. Wem wollte er denn etwas vormachen, wenn er Kugelschreiber und Notizbuch stets bereithielt, als erwartete er ernsthaft, etwas aufzeichnen zu müssen? In ihm war nichts mehr. Wenn da jemals etwas gewesen war, so war es nun – wie die Tinte auf dem Papier – fortgewaschen.

Er seufzte erneut, wischte sich mit der einen Hand über das regennasse Gesicht und zerknüllte den Haufen Papiermatsch in der anderen.

Es war die Wahrheit gewesen, als er Melissa gesagt hatte, sie wären nicht in finanziellen Schwierigkeiten. Vorerst. Da Gabriel – vor unendlich langer Zeit, in einem anderen Leben – zu schreiben vermocht hatte wie ein Besessener, besaß er noch immer ein paar alte, unveröffentlichte Manuskripte, die er dem Verlag anbieten konnte, sollte das Geld seiner bisherigen Projekte nicht mehr ausreichen. Wenn er Glück hatte, konnte er noch drei oder vier Bücher abdrucken lassen, bevor irgendjemand auch nur Verdacht schöpfte, dass Gabriel Seihndorf der gefürchteten Schreibblockade erlegen war. Erst, wenn auch diese Quelle ausgeschöpft war, würde er beginnen, sich um die Zukunft seiner kleinen Familie zu sorgen. Im Augenblick wollte er über so etwas noch nicht nachdenken. Nicht auch noch darüber.

Lange Zeit saß Gabriel bewegungslos unter dem Vordach des Hauses und sah dem Regen zu, während er in einer Hand noch immer den durchweichten Block knetete. Mittlerweile war das Kältegefühl in seinen Gliedern schon zu so etwas wie Schmerz angewachsen. Bald würde er einer allumfassenden Taubheit gewichen sein, die ihn daran zweifeln lassen würde, ob sein Körper überhaupt noch existierte.

Als sie ihn verlassen hatte, da hatte es auch geregnet.

Clara.

Wie er sie dafür hasste, dass sie ihn im Stich gelassen hatte …

Ein lautstarkes Schnarchen knapp neben seinem Ohr ließ Gabriel zusammenschrecken. Er fuhr herum und blickte vollkommen perplex in den aufgerissenen Rachen eines Mannes, der neben ihm an der Hausmauer kauerte. Das Rauschen des Regens war offenbar laut genug gewesen, um die Geräusche, die der Mann im Schlaf von sich gab, zu übertönen, und Gabriel war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, um von ihm Notiz zu nehmen.

Misstrauisch betrachtete er den Schlafenden, der so unbesorgt im Schmutz saß. Sein Haar war lang und verfilzt, ebenso sein Bart, der das Gesicht beinahe vollständig verbarg. Die Wangen waren von blauen und violetten Äderchen durchzogen, und nun, erst darauf aufmerksam geworden, nahm Gabriel auch den aufdringlichen Geruch von altem Schweiß und noch älterem Alkohol wahr.

Als würde er die missbilligenden Blicke Gabriels auf sich spüren, öffnete der andere plötzlich die Augen. Gabriel konnte nicht verhindern, dass er ein wenig zurückrutschte, als ihn der hellwache Blick des Mannes traf.

„Tut mir leid, wenn ich Sie geweckt habe“, sagte er, da er das drängende Gefühl hatte, dass der andere von ihm eine Rechtfertigung erwartete.

„Ka Problem.“ Der Langhaarige nuschelte ein wenig, als wäre seine Zunge ungeübt. Dass er in einem breiten, wienerischen Dialekt sprach, erleichterte das Verständnis nicht gerade. „Hab sowieso an unruhign Schlaf, wast. Da kannst ned viel dafür, is halt aso.“

Gabriel nickte zögerlich und räusperte sich. Er wich dem Blick des anderen aus, sah hinaus in den Regen.

„Was für a Hundswetta, ned wahr?“, fragte dieser neben ihm. Er saß wirklich unangenehm dicht bei Gabriel. „Hat di überrascht, da Regen, wies ausschaut. Ned wahr?“

„Ja“, gab Gabriel zerstreut zurück. „Ja, das hat er wohl.“ Wieder räusperte er sich.

„I bin da Michl. Konnst Mü zu mir sogn.“

Zuerst hatte Gabriel über das Rauschen des Regens „Müll“ verstanden, ein Missverständnis, das ihm sofort ein schlechtes Gewissen bereitete, als er seinen Irrtum erkannte. „Lieber nicht“, lehnte er ab. „Wohnen Sie … hier?“ Zögerlich wandte er sich nach dem anderen um.

Dieser zuckte mit den Schultern. „Jo, a.“

Gabriel, der den Wink verstand, hatte nur wenig Lust, das Thema weiter zu vertiefen. Sein Blick glitt zum zweiten Mal am verhärmten Gesicht seines Gegenübers ab, verlor sich in den seidigen Regenschleiern. Die schwarze Wolkenlandschaft, die sich quer über den Himmel zog, versprach nichts Gutes. Das schien ein sehr lang anhaltender Schauer zu werden.

„Und wos is mit dir?“, fragte der Fremde neben ihm.

„Was, ich? Ich wohne nicht hier.“

„Warum gehst dann ned zhaus, ins Trockne? Nimms ma ned übel, oba du frierst wira Schneida, des seh i doch.“

Langsam schüttelte Gabriel den Kopf. „Ich will nicht heim. Ich kann nicht.“

„Kannst ned? Warum? Is ned des da Sinn von am Zhaus? Dass ma imma wieda zrück kann?“

„Das war einmal“, sagte Gabriel. „Die Zeiten haben sich geändert. Seit ein paar Jahren ist alles etwas kompliziert. Meine Frau …“ Unvermittelt hielt Gabriel inne. Was tat er da eigentlich? Schüttete er tatsächlich gerade einem Penner sein Herz aus?

„I vasteh scho“, sagte dieser, und Gabriel glaubte zu hören, wie er wissend nickte. „Du host an Krach ghabt, ned wahr? Sie hat di sitzn lassn, und des wahrscheinlich a no mit am Haufn Gschroppn, und jetzt host den Scherbn auf.“

„Hören Sie, ich denke nicht, dass ich im Augenblick darüber sprechen möchte.“

„Ned mit mir, meinst“, erwiderte der andere, und aus den Augenwinkeln sah Gabriel, wie er seine rissigen Lippen zu einem Lächeln verzog. „Is scho guat. Erzähl halt, was di druckt. Es wird no a ganze Weile so weitagiaßn, und wies ausschaut, ham wir zwa sowieso nix Bessres ztuan. Also zier di ned. Wovor host Angst? Dass i des irgendwem erzähl?“ Er lachte ein heiseres, von Zigarettenrauch gefärbtes Lachen.

„Ich möchte nicht darüber sprechen“, wiederholte Gabriel. „Nicht mit Ihnen, und auch mit niemandem sonst.“

„Guat, kane Frogn zu deina Oidn. Aber sagst ma dann wenigstens, warumst ned zhaus wüst? Da dei treues Waberl nimma durt is, kanns ja ned ihretwegen sein.“

„Dicke Luft“, sagte Gabriel knapp.

„Kenn i a. Kenn i alles.“

„Glaub ich kaum.“

„Dann glaubst ebn falsch.“

„Was wollen Sie eigentlich von mir?“

„Nix, nur redn. Ich red halt gern, nur leider hab ich ned oft die Gelegenheit. Kann sein, dass i aus da Übung bin, bestreit i gar ned. Aber a Mensch sollt nie aufhörn, mit anderen Menschn zreden. Is schlecht fürs Gmüt, wast? I hab Leut gsehn, dies versucht ham. Net sche.“

Gabriel schwieg, den Blick starr auf die rauschende Welt aus Wasser gerichtet. Im Gegensatz zu Mü empfand er die Stille oft als die einzig richtige Antwort.

„Na gut, du bist wohl ned sehr gsprächig. Muss ja a ned sein. Manchmal ists ganz gut, ned ois auszusprechn, was anem durchn Blutza geht. Kann anem a Menge Ärger ersparn. Host scho amal Ärger kriegt, weilst deine Gedanken laut ausgsprochn host? I frag nur, weilst mir wira Mensch vurkumst, dems mal so richtig die Goschn gstopft habn. Net bös gmeint jetza.“

„Ich wüsste nicht, was Sie das angeht.“ Gabriel konnte nicht verhindern, dass sein Tonfall allmählich auch noch den letzten Rest an Höflichkeit einbüßte.

„Ned viel, wahrscheinlich. Na guat, wiast wüst. Dann lass mas halt bleibn. Aber ans werd i dia no mit aufn Weg gebn. Loss da von am alten, abgfetztn Sandler an Rat gebn – besuch dei Frau, wo auch immers grad is, und sprechts eich aus. Spring über dein Schatten und spuck einfach aus, was da auf da Seel liegt. Die Welt warat vü afocha und schena, wennd Menschn einfach mitanander redn täten.“

„Ich glaube kaum, dass …“, setzte Gabriel an, wurde jedoch mit einem Kopfschütteln unterbrochen.

„Denk drüber nach. Denk drüber nach, als warat ned i es gwesen, ders da gsagt hat.“

Die plötzliche Eindringlichkeit in der Stimme des Penners ließ Gabriel den Blick wenden, und das, was er in seinem Gesicht las, ließ ihn nachdenklich verstummen. Unter der ledergegerbten, dreckverschmierten Haut dieses menschlichen Wracks verbarg sich, kaum sichtbar und verwahrlost, doch noch immer vorhanden, das Antlitz eines aufrichtigen, überraschend intelligenten Mannes.

Gabriel seufzte und fuhr sich mit einer Hand über den Nacken. Dabei tropfte das eiskalte Regenwasser von seinen Haaren in den Kragen. Er erschauerte.

„Wissen Sie, wenn ich genau darüber nachdenke, habe ich sie wirklich schon eine ganze Weile nicht mehr besucht. Mir graut etwas davor, um ehrlich zu sein.“

Mü lächelte milde. „Ka Surg, du bist ned da Erste, der vor sana Oidn zittert. Ich kenn kan Kerl, der sich ned zumindest vor ana Frau in seim Lebn anscheißt, und wenns nua die eigene Mutti is. Aber diese Frauen sands, die ma am meisten lieb habn.“

„Da haben Sie nicht ganz unrecht …“ Gabriel fuhr sich mit beiden Händen durch das nasse Haar. „Ich glaube, es wird Zeit, mich wieder auf den Weg zu machen.“

„Jetzt, wo du a Ziel host, konnst des leicht.“

Gabriel verzog die Lippen. „Das schlimmste an dem Unsinn, den Sie von sich geben, ist, dass Sie damit verdammt richtig liegen.“

Mü zeigte eine Reihe gelbstichiger Zähne. „Is eine meina leichtesten Übungen, Meista. Und nun moch, dass d verschwindst. Was redst noch mit am bsoffenen Sandler, wost doch scho long bei deina Frau sein kunntast?“

„Gutes Argument.“ Umständlich richtete Gabriel sich auf. „Viel Glück noch. Auf Wiedersehen sage ich besser nicht.“

„Verlang i a net. Mochs guat, Meista. Mochs guat …“

Es war kälter geworden. Fast erwartete Gabriel, Eisblumen an den Fenstern ringsum erblühen zu sehen. Stattdessen sah er nur dunkle, einsame Räume, verborgen hinter einem Netz aus Regentropfen. Er ließ sie an sich vorüberziehen, passierte das schmiedeeiserne Tor, ging langsamen Schrittes seinem Ziel entgegen. Seine Finger waren klamm vor Kälte. Er ballte die Hände zu Fäusten.

Die Erde unter seinen Füßen war nass und schlammig, trotzdem ließ Gabriel sich in die Hocke sinken und streckte eine Hand nach dem glänzenden Marmor aus. Seine Wangen waren feucht vom Regen. Zumindest redete er sich selbst ein, dass es der Regen war.

„Hallo, Clara. Ich weiß, wir haben schon eine ganze Weile nicht mehr miteinander gesprochen. Es tut mir leid, dass ich nicht eher gekommen bin. Aber ich glaube, es war besser so. Ich bin zornig auf dich, und das möchte ich nicht sein. Es steht mir nicht zu. Solange ich diesen Zorn nicht unter Kontrolle habe, kann ich dir nicht gewissenhaft unter die Augen treten. Verstehst du das?“

Grabesstille antwortete Gabriel. Er seufzte und schloss die Augen. Die Dunkelheit hinter seinen Lidern schien sich zu drehen und zu biegen. Der Regen prasselte auf sein heißes Gesicht.

„Verstehst du?“

Er zwang sich, die Augen zu öffnen und den weißen Grabstein zu fixieren. Die Buchstaben, die in den Stein gemeißelt waren, waren schmerzhaft frisch.

CLARA SEIHNDORF 1971-2008

Allein gelassen. Sie hat uns allein gelassen. Gabriel hasste jene vertraute, anklagende Stimme in seinem Kopf, die vor etwas mehr als drei Jahren zum ersten Mal aufgetaucht war. Er hasste sie, weil sie so kalt war, so ungerecht und selbstsüchtig, doch am meisten hasste er sie wohl, weil sie die Wahrheit sprach.

Es war nicht richtig von ihr gewesen, einfach so aus dieser Welt zu scheiden, ohne sich auch nur mit einem Wort zu verabschieden. Gabriel wusste nur zu gut, dass dieser Gedanke ihr gegenüber nicht fair war. Doch war sie etwa fair zu ihm gewesen? Zu Melissa? Gabriel schüttelte zornig den Kopf.

Als er sie an jenem Morgen in der Garage gefunden hatte, war seine erste Reaktion keineswegs Trauer gewesen. Nein, er hatte Wut empfunden. Enttäuschung. Sogar einen Anflug von Hass. Weil sie nicht die Kraft besessen hatte, zu kämpfen, und sie bei Gabriel so selbstverständlich voraussetzte.

Der Rettungswagen traf mehr als fünf Stunden zu spät ein – Claras Körper war längst erkaltet, ihre Augen für immer geschlossen. Man sprach von einem Unfall. Sie war wohl auf eines der hohen Regale geklettert, hatte vielleicht etwas gesucht, dann das Gleichgewicht verloren. Im Fall hatte sich das dicke Stromkabel, das die Deckenleuchte versorgte, um ihren Hals geschlungen. Sie war qualvoll erstickt.

Ein Unfall. Tragisch, aber nicht vorherzusehen. Beileidsbekundungen der Rettungskräfte. Des Bestattungsinstituts. Der Verwandten. Was für ein Schicksalsschlag, was für ein Unglück! Sie ist jetzt an einem besseren Ort. Der Herr gibt und der Herr nimmt.

Gabriel wusste es besser. Er hatte die Tabletten in ihrer Schublade gefunden und dabei zugesehen, wie sie dünner und dünner wurde. Einmal hatte er geglaubt, sie im Bad leise weinen zu hören, doch er war sicher gewesen, sich geirrt zu haben. Er hatte die Zeichen nicht zu deuten gewusst. Hatte erst alles begriffen, als es zu spät gewesen war.

Bis heute wusste er nicht mit Sicherheit, was es gewesen war, das so an Clara gefressen hatte. Er wusste nur, dass sie immer stiller geworden war, in sich gekehrt. Nichts mehr hatte ihr Freude bereitet. Sie hatte viel gelesen, zu viel und die falschen Bücher.

Die Rettungskräfte, das Bestattungsinstitut, die Verwandten – sie lagen doch richtig, wenn sie davon sprachen, Clara hätte den Halt verloren.

„Nicht ein einziges Mal bist du zu mir gekommen“, murmelte Gabriel. „Nicht einmal.“

Weil sie darauf gewartet hatte, dass er von sich aus kam. Weil sie sich darauf verlassen hatte, er würde kommen, irgendwann. Mittlerweile hatte Gabriel dies erkannt. Dass es nicht geschehen war, musste für sie schwerer gewogen haben als all die Ödnis des Lebens. Das war es gewesen, was ihr letzten Endes das Genick gebrochen hatte. Nicht die Schwerkraft. Gabriels Schweigen.

Oh, es war wichtig, dass es so gekommen war, der Schriftsteller in ihm wusste das. Was wäre die Welt nur ohne Familientragödien? Sie machen das Leben interessant, vermarkten sich gut, füllen ganze Regale in Buchläden. Nichts lockt Menschen mehr als ein großes Unheil, je schrecklicher und sinnloser, desto besser. Er selbst hatte zahlreiche Bücher nach diesem Rezept geschrieben und erfolgreich verscherbelt. Schund, alles Schund. Keine Tiefe, nur Sensationslust. Niemals wieder konnte er schreiben, solange dieser glühende Pfeil in seiner Brust stak. Das Leben selbst war grausam genug. Wozu also auch noch Papier mit Blut beflecken, die weiße Reinheit beschmutzen? Sollten andere ihre Hände im Rot baden. Er konnte es nicht mehr.

Clara. Weit aufgerissene Augen, so groß und rund wie Kugeln aus Glas. Ein verzerrter Mund, aufgedunsen, so dunkel. Weiße Haut wie Kalk. Aschfarbenes Haar. War es denn nicht blond gewesen, als die Sonne noch schien? Nun fiel nur noch Regen …

„Clara.“

Seine Fäuste fuhren auf den Stein nieder. Die Haut an den Knöcheln platzte auf. Tränen liefen über sein Gesicht.

„Ich hasse dich. Clara.“

2

Melissas Schreie

Ihre Fingernägel fuhren über die Oberfläche ihres Handrückens, drangen tiefer, noch etwas tiefer, noch kam kein Schmerz. Ihr Blick war starr auf einen Punkt am anderen Ende des Raumes gerichtet, die Gedanken weit fort. Aus den Kopfhörern in ihren Ohren dröhnte hämmernder Bass, die Stimme des Sängers wand sich in Kapriolen hinter ihrer Stirn. Sie mochte es, wenn er von Liebe sang, doch das tat er selten. Meistens sang er von Gewalt, Leid, Trauer. Selbst jene Lieder, die von Liebe handelten, hatten stets einen bittersüßen Beigeschmack, der sich wie Kupfer in ihrem Hals festkrallte. Fröhlichere Texte und Melodien machten sie bloß wütend. Alle waren sie falsch und verlogen, und sie hasste Lügen.

Ihre Hand zuckte hoch, auf ihren Fingernägeln glänzte Blut. Verärgert leckte sie den oberflächlichen Kratzer sauber. Es schmerzte, aber nur ein bisschen. Nicht schlimm. Sie hatte bloß nicht aufgepasst, wie so oft. Ihre Hände brauchten Beschäftigung, und Melissa vermochte ihnen diese Beschäftigung nicht immer zu geben. Und dann suchten sie sich eigenständig eine Aufgabe.

Melissa würgte ihren MP3-Player ab, wickelte das Kopfhörerkabel auf und verstaute alles in ihrer Tasche. Dabei stieß sie mit der Hand an ein zerlesenes Taschenbuch. Es handelte sich um eines der ersten Bücher ihres Vaters, die Geschichte eines Mädchens, einer Einzelgängerin, die gezwungen ist, sich aus ihrem selbst gegrabenen Kaninchenbau zu wagen und die Welt vor dem drohenden Untergang zu bewahren. Das Buch war alt, fast so alt wie Melissa selbst, und ihr Vater verteufelte es als stümperhaften Groschenroman, als Jugendsünde. Melissa dachte anders darüber. Ihr gefiel die Geschichte, sie mochte das Mädchen, dessen leeres Leben auf wundersame Weise einen Sinn erhielt, mochte auch die fast kitschig anmutende – weil so perfekte – Liebe zwischen ihr und dem zweiten Auserwählten, der sie so vergötterte. Ja, die Geschichte war klischeehaft, schlicht in der Handlung, platt, vorhersehbar. Aber das machte nichts. Melissa hatte das Buch schon viermal gelesen, und sie würde es noch weitere viermal lesen, wenn nicht öfter.

Das Mädchen war sechzehn, wie sie selbst.

Warum konnte es ihr nicht ähnlich ergehen? Sicher, dem Mädchen wurden schwere Prüfungen auferlegt, aber am Ende ging doch alles gut aus. Wenn ihr Leben doch nur einem Roman gleichen könnte …

Gabriel wusste nicht, dass sie dieses Buch noch immer besaß, es wieder und wieder las, und sie wollte auch nicht, dass er es erfuhr. In diesen Geschichten kam eine Seite seiner Persönlichkeit zum Vorschein, die sie nie an ihm kennengelernt hatte, eine Seite, von der sie befürchtete, dass sie nur auf dem Papier existierte. Der wahre Gabriel war ein Feigling, ein Schwächling, der das Leben fürchtete. Vor Gefühlen schrak er zurück, als könnte er sich daran verbrennen.

Manchmal wünschte sie sich, er würde ein Buch schreiben, das nur für sie bestimmt war, ein Buch, in dem all jene Dinge standen, die er ihr nicht von Angesicht zu Angesicht sagen konnte, weil ihm der Mut fehlte. Doch das würde er nicht. Er würde überhaupt keine Bücher mehr schreiben. Melissa wusste das, und obwohl sie es ihm immer wieder vorhielt, hatte sie sich längst damit abgefunden. Mit dem Tod ihrer Mutter war auch jener letzte Teil in ihrem Vater gestorben, der emotional, voll heißer Glut, ja, wirklich lebendig gewesen war. Nun war er nur noch eine leere Hülle wie die vielen anderen Menschen, die mehr existierten denn lebten.

Sie selbst war da keine Ausnahme.

Melissa konnte sehr wenig an sich selbst leiden. Sie nahm an, dass es den meisten Menschen so erging. Sie hasste ihr Aussehen, den Klang ihrer Stimme, die Hitze in ihren Wangen, sobald sie jemanden ansprach, der ihr überlegen war (also praktisch jeder), die Art, wie sie sich bewegte. Vor allem hasste sie an sich, dass sie nichts tat, was ihre Anwesenheit auf dieser Welt in irgendeiner Form rechtfertigte. Sie hatte noch nie besonders viele Freunde gehabt, und seit ihrem Umzug vor drei Jahren und dem damit verbundenen Schulwechsel hatte sie nicht einmal mehr Bekanntschaften. Ihre Klassenkameraden hatten relativ bald begriffen, dass Melissa keinerlei Interesse an den kleinen, nichtssagenden Vergnügungen hatte, mit denen sich Jugendliche in ihrem Alter gewöhnlich die Zeit vertrieben, und ignorierten sie gekonnt. Das Desinteresse beruhte auf Gegenseitigkeit. Selbstverständlich hatte Melissa noch nie geliebt und glaubte auch nicht daran, dass es möglich war, wirklich zu lieben. Wahre Liebe existierte vielleicht zwischen zwei Buchdeckeln und war dort auch recht unterhaltsam, doch in der Realität? Sie konnte es nicht glauben. Die Realität war grau, und sie war voller Heuchler.

Ihr Blick wanderte auf die Uhr an ihrem Handgelenk. Dies war die letzte Unterrichtsstunde, und darüber war sie heilfroh. Jeder Schultag fraß sich in ihre Gedärme wie Säure, jede Stunde bereitete ihr Kopfschmerzen. Sie war keine schlechte Schülerin, im Gegenteil, der Unterricht war schon lange keine Herausforderung mehr für sie, und genau das war es, was sie betrübte. Sie verschwendete ihre Zeit in diesen Räumen, wusste, dass sie schon lange nichts mehr hier zu suchen hatte, doch das Wissen darum half nicht. Weil sie morgen wieder hier sitzen würde, und übermorgen, und den Morgen darauf, und das noch zwei Jahre lang. Danach würde sie gehen, um auf einem anderen Stuhl Platz zu nehmen, mit einer neuen Aufgabe, die noch sinnleerer war.

Und immer war sie dabei umringt von Menschen, die sie von sich stießen, sie mit missgünstigen Blicken betrachteten, die Nasenflügel blähten, wenn sie mit ihnen sprach. Vielleicht wäre es besser für ihr Seelenheil gewesen, mehr Kontakt zu ihren Altersgenossen zu haben, doch sie ließ es lieber sein, hatte sich zu oft blamiert, um es auf einen weiteren Versuch ankommen zu lassen. Sie war ein schwer umgänglicher Mensch, so schien es ihr manchmal, sprach zu viel oder zu wenig oder das Falsche, nie tat sie das, was gerade gefragt war. Ihre Versuche, Freundschaften aufzubauen, stürzten sie bloß in Depression.

Abgesehen davon waren die meisten ihrer Klassenkameraden ohnehin viel zu naiv für ihren Geschmack. Sie waren nicht in der Lage, hinter die Oberfläche der Dinge zu blicken, das große Nichts zu sehen, das seinen Rachen unter ihren Füßen aufsperrte. Selbst wenn sie mit ihnen hätte umgehen können, Melissa glaubte nicht, dass sie auf Dauer in einer blinden, tauben und stummen Gesellschaft zufrieden sein würde.

Der Lehrer verspätete sich, fünf Minuten nach dem Läuten traf er ein. Melissas Gehirn schaltete sich aus, ihre Finger betasteten die frische Kruste an ihrem Handrücken, kratzten daran. Frontalunterricht. Die höchste Form der geistigen Folter, die je von einem menschlichen Verstand ersonnen worden war. Sein wiederholter ungeduldiger Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass nicht einmal der Lehrer selbst sonderliche Lust auf seinen Unterricht hatte.

Nach der ersten Viertelstunde zog Melissa Gabriels Buch aus der Tasche und begann, unter der Bank zu lesen. Das tat sie häufig. Erwischt wurde sie nie, und selbst wenn, die Konsequenzen wären harmlos gewesen. Lehrer haben keine wirkliche Macht über ihre Schüler, nach zehn Jahren als Schülerin hatte Melissa das nur zu deutlich erkannt.

Die Schulglocke schrillte. Während der Lärmpegel um Melissa herum anschwoll und sich der Saal rasch leerte, las sie in aller Ruhe ihren Absatz zu Ende, legte dann ihr abgenutztes Lesezeichen ein und klappte das Buch zu. Mit langsamen Handgriffen packte sie ihre Tasche, streifte ihre Jacke über und schob ihren Stuhl an den Tisch. Auf ihrem Handrücken klebte halb eingetrocknetes Blut. Sie hatte nicht bemerkt, dass sie die Wunde im Laufe der Stunde wieder aufgerissen hatte. Verstimmt biss sie die Zähne zusammen. Es war seltsam. Während sie mit ihren Nägeln die Haut vom Fleisch rieb, spürte sie nie etwas – erst wenn sie damit aufgehört hatte, machten sich die kleinen, aber tiefen Kratzer unangenehm bemerkbar. Melissa wusste, dass dies dazu führte, dass sie die Verletzungen immer wieder von Neuem aufriss, ihnen nicht die Gelegenheit gab, sich zu schließen, weil sie den kleinen, stechenden Schmerz nicht fühlen wollte, der der Heilung vorausging. Das war eine gute Lösung, ja, die bestmögliche aller Lösungen. Einzig das fließende Blut selbst war lästig, da es Buchseiten verunreinigte und Melissa – manchmal hatte sie diesen Eindruck – für die anderen brandmarkte. Seht euch die Verrückte an, schienen die kleinen Wunden auszurufen, diese Irre, die sich ständig selbst verletzt.

Sich selbst verletzt … Dabei tat sie das gar nicht – nicht absichtlich. Sie ritzte sich nicht mit Rasierklingen, schlug ihren Kopf nicht mehr gegen die Wand, seit sie vierzehn war. Sie hatte sich unter Kontrolle, ganz gleich, was andere glauben mochten.

Rasch schob sie die Hände in die Taschen und senkte den Kopf.

Im Gang schlängelte sie sich durch die Gruppen plaudernder Schüler – vertraute, fremde Gesichter – und bahnte sich ihren Weg zu den Toiletten, wo sie kaltes Wasser über ihre Hand laufen ließ, ungeduldig darauf wartend, dass der dünne, aber stete Blutstrom versiegte.

Sie stellte den Hahn ab, hob den Blick. Ihre Augen trafen auf ihr Konterfei im Spiegel. Blass, doch nicht von vornehmer Blässe, vielmehr ein teigiges, unansehnliches Weiß. Schwache, rote Flecken auf den breiten Wangenknochen. Braune Augen, uninteressant, keine unergründeten Tiefen. Breite Nase, schmale Lippen. Glanzloses Haar, ebenfalls braun, feldmausbraun. Sie schnitt sich selbst Grimassen, übte ein Lächeln. Es wirkte steif, gezwungen, nicht herzlich, sondern verkrampft. Rasch ließ sie es bleiben, die Mundwinkel nach unten gezogen. Noch schlimmer, ein stumpfer, fast herausfordernder Blick. Wirkte sie überheblich auf andere? Musste sie wohl.

Sie blickte an sich hinab, konnte keine femininen Eigenschaften entdecken, die man als schön bezeichnen würde. Wenig Brust, breite Hüften und Schultern, es fehlte ihr an weiblicher Zartheit. Mit den Händen mochte man Fliegen totschlagen.

Ihre noch nassen Finger krallten sich an den Seiten ihrer Jacke fest, ihre Zähne knirschten. Immer dasselbe, fade Gesicht im Spiegel. Warum konnte sie nicht eines Tages aufwachen und ein anderes vorfinden? Dieser Anblick war ihr schon so schrecklich zuwider. Sechzehn Jahre mit sich selbst, ein unvorstellbar langer Zeitraum, und ein noch viel längerer lag noch vor ihr. Was würde sie darum geben, zumindest für kurze Zeit eine andere sein zu können, sich selbst auszuweichen, wie einem langjährigen Freund, von dessen Gesellschaft man übersättigt ist.

Übereilt stürzte Melissa aus der Toilette. Plötzlich hatte sie es sehr eilig, der beklemmenden Enge des Schulgebäudes zu entfliehen. Vielleicht war es auch die Enge ihrer eigenen Hülle, die sie niederdrückte. Doch vor dieser gab es kein Entkommen.

Vor dem Schulgebäude hüllte sie eine Wolke blauen Dunstes ein. Die älteren Schüler standen vor dem Tor und rauchten, eine einzige, schwere Qualmwolke, die sich aus vielen einzelnen Rauchfäden zusammenballte. Der Rauch brannte in Melissas Kehle und ihren Augen, und sie ging rasch weiter, versuchte erst gar nicht, die Aufmerksamkeit der anderen auf sich zu ziehen.

Und wohin nun? Natürlich heim.

Heim. Der Gedanke drehte ihr den Magen um. Wo sie ganz mit sich allein war, es keine Möglichkeit für sie gab, sich selbst auszuweichen? Wo sie dem Schweigen hilflos ausgeliefert war? Natürlich, da war noch Gabriel, doch seine Gesellschaft war ihr noch unerträglicher als ihre eigene. Nein, auf gar keinen Fall wollte sie heim.

Für einen sehr kurzen Moment stellte Melissa sich vor, wie es wohl wäre, wenn ihre Mutter sie dort erwarten würde. Ihr sanftes Gesicht tauchte vor Melissas innerem Auge auf, ihre strahlenden Augen. Dann vertrieb sie das Bild mit Gewalt aus ihrem Kopf. Es war vergangen, und das nicht erst seit Claras Tod. Schon sehr viel früher war das Strahlen in ihren Augen erloschen. Sie war ebenso schweigsam geworden wie Gabriel, es hatte an mütterlicher Wärme gefehlt. Natürlich war Melissa nicht unempfindlich gegen das Unglück, das ihre Familie zerrissen hatte, im Gegenteil. Die Nachricht von Claras tödlichem Unfall hatte Melissa den Boden unter den Füßen weggezogen, hatte sie in Richtung eines bodenlosen Abgrunds gestürzt. Doch sie hatte gelernt, am Rande dieses Abgrunds zu existieren, hatte den Schmerz mit den Jahren abgetötet oder zumindest betäubt, und nun mühte sie sich, die Erinnerungen an Clara nicht zu sehr zu idealisieren. Melissa war realistisch genug, um zu wissen, dass ihr Leben mit einer Mutter nicht besser oder schlechter gewesen wäre. Es hätte wohl keinen Unterschied gemacht, so wie nichts wirklich einen Unterschied machte. Die Welt blieb die Welt. Und Melissa sie selbst.

Melissa schlenderte durch die Straßen, ging am Abgang zur U-Bahn-Station vorbei, ohne auch nur aufzublicken. Ein eisiger Wind schnitt durch die Gassen, doch die Kälte in Melissas eigenen vier Wänden war schlimmer, und so ignorierte sie den Schauer, der sie beutelte, als sie stur und ohne Ziel vor Augen weiterging.

Auf diese Weise verstrichen die Stunden – eine, zwei, dann drei. Die Sonne sank langsam tiefer. Melissas Augen glitten über die Menschen hinweg, die an ihr vorbeidrängten, ihr Geist griff nach den vorüberhuschenden Gesichtern, wog sie prüfend ab, betastete sie und verwarf sie wieder.

Sie war bereits tief in einen der innersten Bezirke Wiens vorgedrungen, als sie plötzliche Müdigkeit übermannte. Ihre Beine wurden schwer, ihre Lider sanken ohne ihr Zutun herab, eine angenehme, wohlige Schwärze wollte sich in ihren Gedanken ausbreiten. Ihr Körper, der das lange Marschieren nicht gewohnt war, forderte seinen Tribut. Mit einem schweren Seufzer ließ Melissa sich in einer dunklen Ecke nieder und bettete die Stirn auf die Knie. Die Straße war nass, es musste vor Kurzem geregnet haben. Der scharfe Geruch von Hundeurin stieg ihr in die Nase, um sie herum gurrten einige Tauben, die auf Essensreste hofften. Auch Menschen hörte sie, das leise Säuseln von Stimmen und Schritten.

Nur kurz ausruhen, dachte sie. Kurz ausruhen, dann gehe ich zurück.

Die Kälte kroch ihr in die Glieder, breitete sich in ihren Adern aus. Die Gerüche und Geräusche der Stadt machten sie schläfrig. Gerade, als sie sich zu fragen begann, ob Gabriel sie wohl vermissen würde, wenn sie eines Tages einfach nicht mehr heimkam, schlief sie ein.

Melissa träumte.

Sie stand am Grab ihrer Mutter, umgeben von unzähligen schwarzen, gesichtslosen Gestalten. Eiseskälte lag zwischen den gebückten Leibern, eine Totenstille, in der nicht einmal die Trauer atmete. Die Grube, die in der Friedhofserde klaffte, war noch nicht zugeschüttet, Melissa konnte den ebenhölzernen Deckel des Sarges erkennen, erschreckend glatt poliert, rein, ganz anders als der Tod, den er verbarg.

Aus den Augenwinkeln betrachtete Melissa die übrigen Anwesenden, versuchte vergeblich, ihnen Gesichter und Namen zuzuordnen. War ihr Vater unter ihnen? Sie vermochte es nicht zu sagen, zu einheitlich war die schweigende Prozession, zu düster das Licht. In ihrer Mitte saß ein schwarzer Hund.

Melissa wandte sich ab, ihr Blick stürzte am Rand der Grube hinab, schlug hart auf dem Sargdeckel der Mutter auf. Sie versuchte sich vorzustellen, wie Clara nun aussehen mochte, ihr Gesicht, ihr Körper – vor allem ihr Gesicht. Hatte der Tod es verzerrt, verunstaltet, für immer zerstört? Begannen bereits die Würmer in ihre Körperöffnungen zu kriechen, sich einen Weg durch den Kadaver zu bahnen, sich durch Fleisch und Innereien zu fressen?

Mühsam riss Melissa ihren Blick von der Grube und dem, was sie beherbergte, los. Als sie aufsah, hatte sie den Eindruck, als hätte sich die Versammlung schwarz gewandeter Menschen etwas gelichtet, doch das mochte täuschen. Der Hund saß in ihrer Mitte.

Ein schneidend kalter Wind kam auf, trug wispernde Stimmen heran. Melissa fühlte, dass ihre Wangen feucht wurden. Sie schloss die Augen, stemmte sich gegen den Wind.

Als sie die Augen wieder aufschlug, waren die Gestalten verschwunden. Angst fuhr Melissa durch Mark und Bein. Wo eben noch mehr als drei Dutzend Menschen gestanden hatten, tanzten nur noch blass glühende Nebelschwaden.

Inmitten des Nebels saß ein schwarzer Hund.

Es war das erste Mal, dass Melissa das Tier bewusst wahrnahm. Gesehen hatte sie es bereits zuvor, doch seine Anwesenheit innerhalb eines Lidschlages vergessen.

Er war sehr groß, stehend mochte er einem hochgewachsenen Mann bis an die Taille reichen. Im Augenblick jedoch stand er nicht, sondern saß aufrecht, den gedrungenen Schädel geradeaus gerichtet. Sein Fell hatte die Farbe von flüssigem Teer. Zwischen seinen gewaltigen Pranken ruhte ein bleicher menschlicher Schädel.

Auf einer tiefen Ebene ihres Bewusstseins wusste Melissa, dass der Anblick sie eigentlich hätte schockieren müssen, doch dem war nicht so. Was sie erbeben ließ, war nicht der Hund und seine grausige Beute, sondern einzig und allein der kräftige Wind, der die Nebelschwaden vor sich hertrieb.

In der kalten Winterluft erhob sich ein Tosen, der Wind wühlte wie mit Klauenhänden Staub vom Boden auf. Melissa musste hastig ihr Gesicht mit dem Unterarm bedecken und taumelte einige Schritte rückwärts. Durch ihre zu Schlitzen verengten Augen nahm sie wahr, wie der Hund die Lefzen nach oben zog, sein weißes Gebiss zu einem grotesken Grinsen bleckte. Der Schädel zwischen seinen Pranken rollte, vom Sturm ergriffen, hohl klappernd davon und entzog sich ihrem Blick.

Da riss ein besonders heftiger Windstoß den Deckel des Sarges fort, der den Leichnam bisher vor Melissas Blicken verborgen hatte. Die Holzplatte wurde gen Himmel getragen, höher, immer höher, tanzte im Wind mit der Unbeschwertheit welken Herbstlaubs.

Der Sarg war leer.

Melissa spürte, wie sie den Mund öffnete, doch wenn sie schrie, so riss der Sturm ihr die Laute von den Lippen. Für einen Moment konnte sie die Schrift, die erst kürzlich in den weißen Marmor über dem Grab gemeißelt worden war, mit ungewöhnlicher Deutlichkeit erkennen. Der Name auf dem Stein war nicht der ihrer Mutter.

Es war ihr eigener.

Im selben Moment, als Melissa die grausige Botschaft entziffert hatte, geriet der Boden unter ihren Füßen in heftige Bewegung. Der Rand des Abgrunds, an dem Melissa stand, löste sich, und sie fühlte sich von der bloßen Gewalt der Erde mitgerissen. Mit einem Mal fiel sie, fiel und fiel, viel zu lange, die Augen in den von tosenden Wolkenwirbeln erfüllten Himmel gerichtet, eine blau-schwarze, wallende Masse. Dann folgte der Aufprall. Im selben Moment, in dem Melissas Hinterkopf auf dem Boden der Totenkiste aufschlug, erstarb der Wind, und der Sargdeckel, den die Kraft der Naturgewalten bislang in der Luft gehalten hatte, schoss herab, um mit einem satten Knall an seinem Platz zu landen.

Finsternis.

Indessen war der brechende Abhang noch immer nicht zur Ruhe gekommen, Erdmassen regneten herab, versiegelten Melissas Sarg für die Ewigkeit. Als das Tosen der nachrutschenden Erde erstarb, schloss die Stille ihre erstickende Hand um Melissas Kehle. Sie hob die Hände, drückte gegen den Sargdeckel, versuchte, ihn in die Höhe zu stemmen – vergebens. Ihre Fingernägel schabten über das Holz, kratzten so lange daran, bis warme, feuchte Sturzbäche ihre Hände hinabrannen.

Irgendwann gab Melissa ihre fruchtlosen Versuche auf. Zitternd und schweißgebadet sank sie zurück, lauschte. Sie hörte keine Gesänge, kein Weinen, kein Klagen. Weder Mensch noch Engel kam, um an ihrem Grab zu wachen.

Als sie den Mund öffnete, um zu schreien, spürte sie, dass keine Luft in ihren Lungen war, nur Staub, Asche und Würmer, die sich in ihre Gedärme gruben, von außen nach innen und von innen nach außen.

Da begriff sie, dies war der Tod.

Gabriels Augen öffneten sich, sein Kopf fuhr hoch. Für einen Moment war ihm, als würde sich die Realität mit erschreckender Geschwindigkeit von ihm entfernen, die Welt kippte, der Boden unter seinen Füßen entzog sich ihm. Ein hoher Summton pfiff in seinen Ohren.

Er schüttelte den Kopf und fasste sich an die Stirn, versuchte, den Schwindel zu vertreiben. Sein Blick erfasste den Grabstein, vor dem er kniete, wischte über die Schrift im weißen Marmor wie eine nach Halt tastende Hand.

MELISSA SEIHNDORF 1995-2011

Eine Welle der Übelkeit stieg in Gabriel empor, er presste eine Hand vor den Mund. Wieder schüttelte er den Kopf, blinzelte heftig. Noch immer war er von dem widerlichen Gefühl erfüllt, schwerelos durch den Äther zu treiben.

MELISSA SEIHNDORF 1995-2011

Seine Zähne knallten schmerzhaft aufeinander. Das Schwindelgefühl wurde übermächtig und Gabriel sackte in sich zusammen, ein schwarzer Vorhang zog sich vor seine Augen.

Dann war es vorüber, das Gefühl der Schwerelosigkeit verschwand, sein Blick klärte sich. Zitternd stemmte Gabriel sich hoch, sein Herz raste, sein Atem ging keuchend und unregelmäßig. Auf seinem Gesicht mischte sich kalter Schweiß mit heißen Tränen.

Bei Gott, was war das?

Angstvoll glitt sein Blick zurück auf den Grabstein, hielt sich, Buchstabe für Buchstabe, an der Inschrift fest, zog sich daran langsam und vorsichtig wieder fort von dem gähnenden Abgrund namens Wahnsinn.

CLARA SEIHNDORF 1971-2008

Nicht Melissa. Clara. Einbildung, nichts als Einbildung. Es war nicht real gewesen. Er sagte es sich vor, wieder und wieder, klammerte sich verzweifelt an diese einfachen Worte. Es – war – nicht – real – gewesen. Nicht real. Nicht real.

Allmählich beruhigte sein Puls sich wieder, das Zittern, das seinen Leib schüttelte, wurde schwächer. Trotzdem blieb etwas in Gabriel zurück, ein bitterer Nachgeschmack, der in einer Ecke seines Gehirns klebte und einfach nicht weichen wollte.

Etwas Seltsames war ihm widerfahren, während er vor Claras Grab gekniet hatte. Kurz bevor der Schwindel in seinem Kopf eingefallen war, war ihm gewesen, als hätte er etwas gehört. Eine Stimme. Einen Schrei.

Ein Schaudern fuhr durch Gabriels Glieder, und er beeilte sich, auf die Füße zu kommen. Seine Kleidung war schwer von Nässe und Schlamm, und als ein heftiger Windstoß seinen Mantel blähte, fühlte er sich, als würden sich unzählige Klauen aus Eis in seine Haut graben.

Das hatte er ja prima hingekriegt. Nicht nur, dass er offensichtlich den Verstand verloren hatte – nun würde er sich auch noch eine saftige Erkältung einfangen.

Fröstelnd rieb Gabriel sich die Oberarme und wandte sich zum Gehen. Als er das schmiedeeiserne Tor erreichte, blickte er noch einmal zurück zum Grab seiner Frau. Dichter Nebel war aufgekommen und hüllte den Gottesacker in ein Gespinst aus filigranen Spinnweben. Gabriel runzelte die Stirn. Ihm war, als hätte er zwischen den Gräbern eine huschende Bewegung wahrgenommen, doch nicht die eines Menschen. Er kniff die Augen zusammen, versuchte, den dichten Nebel mit Blicken zu durchdringen.

Die Bewegung wiederholte sich, diesmal an anderer Stelle. Da erkannte Gabriel, was es war: ein Hund. Ein gedrungenes, rabenschwarzes Ungetüm von einem Hund, das mit seinen mächtigen Pranken die Erde aufwühlte. Vermutlich ein Streuner auf der Suche nach etwas Fressbarem.

Angewidert verzog Gabriel die Lippen. Der Gedanke, dass diese Kreatur frische Gräber aufbuddelte, verursachte ihm Übelkeit. Er stieß einen Pfiff aus und klatschte in die Hände, stampfte mit den Füßen auf. Der Hund ließ sich nicht stören, sondern grub unbeirrt weiter in der schlammigen Erde, ganz in seine Tätigkeit versunken. Mit leisem Schrecken erkannte Gabriel, dass das Loch, das der Hund gegraben hatte, erstaunlich tief in die Erde reichte. Zwar bezweifelte er, dass das Tier tatsächlich den Grund eines Grabes erreichen konnte, doch die bloße Vorstellung war ihm zuwider.

Wieder stieß Gabriel einen Pfiff aus. „Scher dich weg, du Kalb!“

Da hob der Hund den Blick und sah ihn an. Eine sehr kalte, sehr nasse Hand schien sich in seinen Nacken zu legen. Der Blick des Tieres war ruhig und durchdringend. Zwar konnte Gabriel durch den dichten Nebel kaum die Augen des Hundes ausmachen, doch allein die Art, wie er das schwere Haupt hob, die kurze, breite Schnauze nach ihm umwandte, ließ ihn erschauern. Kein Tier sollte einem Menschen mit einer solchen Ruhe und Sicherheit in die Augen blicken. Es war falsch. Und es jagte ihm Angst ein.

Gabriel machte eine wegwerfende Handbewegung, schüttelte den Kopf und wandte sich vollends um. Sollte sich jemand um diesen Streuner kümmern, der dafür zuständig war. Er fror sich hier den Allerwertesten ab, es war höchste Zeit, dass er ins Warme kam. Vielleicht würde er einen Film ansehen. Oder ein Buch lesen. Oder einfach nur schlafen.

Hauptsache, er hatte endlich wieder seine Ruhe.

3

Herr der Puppen

Melissa wurde von Kälte geweckt. Sie hatte sich tief in ihren Gliedern eingenistet und ihnen jegliches Leben entzogen. Ihre Finger und Zehen waren steif gefroren, ihr Gesicht taub. Im Schlaf hatte sie sich zu einem festen Knäuel zusammengerollt, nun war ihr Körper so verkrampft, dass es ihr kaum gelang, sich aus dieser Position zu lösen.

Durchdringender Gestank kroch ihre taube Nase hinauf, explodierte wie ein Feuerwerk in ihren Sinnen. Melissa schlug die Augen auf. Noch immer hallte das Echo des grausigen Traumes in ihren Gedanken nach, und so tat ihr Herz einen schmerzhaften Sprung in der Brust, als sie direkt in zwei dunkle, glühende Augen blickte.

Der Hund blies ihr seinen heißen Atem ins Gesicht, seine Nase zuckte. Nun erkannte Melissa auch die Quelle des Gestanks, der in der Luft hing – er entstieg dem Fell des Hundes, der sich nun neugierig schnüffelnd über sie beugte. Rasch rappelte Melissa sich auf und wich zurück. Ein schmerzhaftes Prickeln schoss durch ihre von der Kälte taub gewordenen Glieder, als das Blut darin wieder zu zirkulieren begann. Sie ignorierte es, so gut sie konnte.

Unvermittelt durchfuhr sie ein heftiger Schauer, als sie das schwarze Ungetüm vor sich genauer betrachtete, das dem aus ihrem Traum auf so unheimliche Weise glich.

„Was willst du von mir?“, stieß sie hervor. „Ich hab nichts zu fressen. Verschwinde!“

Der Hund, der bereits dazu angesetzt hatte, ihr nachzukommen, verharrte und taxierte sie mit stummen Blicken. Innerlich gemahnte Melissa sich zur Vorsicht. Das Tier war groß genug, sie zu Boden zu werfen und ihr mit seinen kräftigen Kiefern das Genick zu brechen, wenn sie den Fehler beging, es zu provozieren.

Doch der Hund tat nichts dergleichen. Anstatt weiter auf Melissa einzudringen, senkte er den Kopf, wandte sich um und trollte sich. Melissa atmete auf, und bereits im nächsten Moment schüttelte sie innerlich den Kopf über ihre eigene Hysterie. Obwohl der Hund groß gewesen war, hatte er zu keinem Zeitpunkt eine Bedrohung dargestellt. Er war schlichtweg hungrig gewesen und hatte auf einen Bissen gehofft, nicht mehr und nicht weniger.

Ja, vielleicht auf einen Knochen, wisperte eine hämische Stimme in Melissas Hinterkopf. Hastig vertrieb sie das Bild (der bleiche Totenschädel zwischen zwei gewaltigen Pranken, ein breites, zahnfleischloses Grinsen im Gesicht), das vor ihrem inneren Auge Gestalt annehmen wollte. Es war nichts weiter als ein Traum gewesen, ein Traum, den sie bereits in wenigen Stunden vollkommen vergessen haben würde.