Opferwissen - Horst Friedrichs - E-Book

Opferwissen E-Book

Horst Friedrichs

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Beschreibung

Sommer, Sonntag und das Ende einer Geburtstagsfeier: Das Erwachen der Langschläfer wird zum Schock, als sich herausstellt, dass eine Teilnehmerin der Party nicht mehr lebt. Scheinbar friedlich schlafend, ohne erkennbare Verletzungen, liegt die Tote auf dem Gästebett in der Wohnung ihrer Freundin Laura Feldmann. Laura aber, eine Studentin der Polizeiakademie Nienburg, ist verschwunden. Ebenso ihr Ex-Freund Jonas Winter, der sich überraschend und ohne Einladung unter die Feiernden gemischt hatte. Chefermittler Martin Morlock und seine Kollegen von der Nienburger Mordkommission spüren Winter noch an diesem heißen Sonntag auf, als er die Stadt an der Weser fluchtartig verlassen will. Ein solcher Erfolg innerhalb von achtundvierzig Stunden nach einer Tat kann zu einem raschen Abschluss des Falls führen. Das wissen die Kriminalbeamten aus Erfahrung. Doch während sich die Beweise gegen den Verdächtigen erhärten, bleibt Laura Feldmann verschwunden. Die Folgen der Fete ergeben mehr Ungereimtheiten als gesicherte Fakten, und Morlock glaubt bald nicht mehr an eine Beziehungstat. Er und sein Team verfolgen neue, verwirrende Hinweise, nur von Laura fehlt weiterhin jede Spur. Falls sie noch lebt, verfügt sie über jenes Wissen, das ihre tote Freundin nicht mehr preisgeben kann. Es ist das Wissen der Opfer, das nach Morlocks Überzeugung die Erklärung dafür liefern wird, warum aus einem Mann ein Mörder wurde. Denn bestürzende Nachrichten scheinen Morlocks Ahnung zu bestätigen, dass Laura Feldmann tatsächlich noch lebt. Doch damit verbunden ist eine furchtbare Gewissheit: Ihr bleiben nur noch drei Tage, bevor auch sie sterben muss …

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Veröffentlichungsjahr: 2012

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de

© 2012 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hameln

www.niemeyer-buch.de

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Carsten Riethmüller

Druck und Bindung: AALEXX Buchproduktion GmbH, Großburgwedel

Printed in Germany

ISBN 978-3-8271-9541-8

E-Book-Konvertierung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

E-Book ISBN 978-3-8271-9817-4

Der Roman spielt hauptsächlich in einer allseits bekannten Stadt an der Weser, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

 

 

Über den Autor:

Horst Friedrichs, Jahrgang 1943, arbeitet seit fünfundvierzig Jahren als freier Schriftsteller, davon fünfundzwanzig Jahre hauptberuflich. Seine Spannungsromane, Romane zu Kinofilmen und Fernsehproduktionen sowie Jugendromane und Kinderbücher haben eine Auflage von mehr als hundert Millionen Exemplaren erreicht. Zwanzig Jahre lang war er überdies als Reporter, Fotograf und Redakteur bei norddeutschen Tageszeitungen tätig. Nebenberuflich widmet er sich auch weiterhin journalistischen Aufgaben. Er lebt mit seiner Ehefrau Helen in Hoya im Landkreis Nienburg an der Weser. Als Jazzposaunist war er Mitglied mehrerer Bands in Bremen und Umgebung; seit mehr als zwanzig Jahren gehört er den „Happy Jazz Paraders“ in Nienburg an.

 

Für

Helen

TEIL EINS

EINS

Das Haus bebte. Bald musste es bersten vor lauter Lärm, Licht und Gedränge. Die Party dröhnte durch alle vier Stockwerke, vom Keller bis zum First. Der Mann sah, wohin es führte, wie in einem Film: Das Dach hob ab wie der Deckel eines zu heftig brodelnden Kochtopfs. Die Fensterscheiben flogen heraus, weil sie dem Schalldruck nicht mehr standhielten. Der wütende Waffennarr von nebenan feuerte scharfe Schüsse auf die Ruhestörer. Das Licht explodierte in einem gewaltigen Kurzschluss, Fußböden und Zimmerdecken stürzten ein unter der Last der tanzenden und tobenden Menschen. Subwoofer und hochtönende Boxen verendeten zerschmettert, gaben ein klägliches letztes Gurgeln von sich. Wasser rauschte aus gebrochenen Rohren.

Nun aber brach die Lärmhölle erst richtig los – jäh verändert jedoch. Der helle Glanz der Heiterkeit versank in Dunkelheit und Chaos.

Lachen, Kreischen und Johlen schlugen um in eine Stimmgewalt, die aus Angst und Schmerzen entsprang. Körperliche Nähe, eben noch erotisierend behaglich, verwandelte sich in Kampf.

Arme, Beine und Leiber verwickelten sich ineinander in entfesseltem Überlebenswillen. Und Blut, überall Blut.

Menschen als Spielbälle zwischen den Extremen ihres Daseins, obwohl sie in diesem Fall weder ihrem Übermut noch den Naturgewalten erlagen, sondern ihrer selbst erschaffenen Fehlerhaftigkeit.

Einerseits hätte er es ihnen gegönnt.

Andererseits wollte er es ihnen nicht wünschen, denn er wäre so gern dabei gewesen.

Er verließ sein Kopfkino und kehrte in die Wirklichkeit zurück, an seinen Platz in dieser abenddunklen Straße, unter einer lackglänzenden roten Korbmarkise, vor einem kleinen Schaufenster. In dem Laden dahinter brannte notdürftiges Licht, um Einbrecher abzuschrecken. Es wirkte wie ein wenig Erfolg versprechender Versuch, verglichen mit der prallen Helligkeit auf der anderen Straßenseite. Natürlich ging es dort viel harmloser und gesitteter zu als in den Bildern, die er sah. Musik und Stimmen drangen nur gedämpft nach draußen, und es kam keine Polizei wegen ruhestörenden Lärms.

Manchmal verfluchte er seine Vorstellungskraft, seine Eigenschaft, vorhandene Situationen zwanghaft in tausend Richtungen weiterzuentwickeln.

Der Frosch auf dem Straßenasphalt saß vielleicht nur da und sammelte seine Kräfte für den nächsten Sprung. Möglicherweise hoffte er, dass ihn nicht die Breitreifen eines heranrasenden Autos platt schmetterten. Ebensogut konnte sein Dasitzen aus der Tatsache herrühren, dass er gerade gebraten wurde, weil er aus Versehen auf einem Untergrund gelandet war, der die Hitze einer Herdplatte angenommen hatte. Es konnte auch passieren, dass er verdampfte, bevor er die andere Fahrbahnseite erreichte, weil er nicht mit der Glut eines Sonnenstrahls rechnete, der ihn aus einer plötzlich aufbrechenden Wolkenlücke heraus traf. Zu rechnen war auch mit dem Storch, der seinen Rückflug von einer Babyauslieferung mit einem Sturzflug unterbrach, um einen schon gut durchgegarten Frosch vom Asphalt aufzupicken und während des Durchstartens zu verschlingen. Denkbar war auch, dass der Frosch explodierte. Dahinter steckte dann ein garstiger kleiner Junge, der ihn am nahen Bachufer gefangen und ihm einen Silvesterknaller umgebunden hatte.

Wie mit einem Mausklick kehrte er zurück in die Realität. Es war ein warmer Sommerabend, ein Samstag. Sonnabend, wie man hier in Norddeutschland sagte. Die meisten Menschen waren noch auf den Beinen oder wenigstens auf Balkonen oder Terrassen unter freiem Himmel, zudem in der Gewissheit, dass dieses Wochenende ihnen eine weitere Tropennacht bescherte. In den Vorhersagen war der Begriff zum Standard geworden. Bald würden sie den Regen als Monsun bezeichnen, wenn er immer wieder wolkenbruchartig und mit schweren Gewittern über die Weserniederung kam und niedersächsische Staatsforsten zum Regenwald wurden. Doch vorerst herrschte Trockenheit, schon seit zwei langen Monaten. Das Marschland atmete seine Restfeuchtigkeit aus, dampfte Nebelfelder in die Nacht und umhüllte die Stadt am Fluss mit feinem Grau. Altstadt-Fachwerkhäuser, in höchster Perfektion restauriert, standen Schulter an Schulter unter der Hitzewelle, trutzig bereit, ihre Neuzeitnachbarn aus Stein und Beton mitzunehmen auf die Zeitreise in kommende Jahrzehnte und Jahrhunderte – in eine katastrophale Pessimistenzukunft mit immer heißeren Sommern, immer wärmeren Wintern und immer höheren Frühjahrshochwassern.

Er fühlte sich einsam, trotz des pulsierenden abendlichen Lebens in der Stadt. Sie war ihm vertraut und fremd zugleich. Letzteres schob er auf die Zeit seiner Abwesenheit, obwohl der ehrliche Teil seiner Seele wusste, dass dies weniger als die halbe Wahrheit war. Seine Gefühle sträubten sich dagegen, heimzukehren – an einen Ort, in dem er sein Zuhause nicht mehr finden wollte.

Das Haus dort drüben wirkte indessen ausgesprochen anziehend – auf ihn ebenso wie offenbar auf die vielen Leute, die die Straße, eine Fußgängerzone, bevölkerten. Die meisten der eben noch planlos Schlendernden ließen sich vom Partysound anlocken, steuerten unvermittelt zielstrebig auf das Haus zu und tauchten ein in die Musik, die sie durch die aufschwingende Tür ansog und mit ihnen dahinter verschwand. Niemand kam wieder heraus, alle schienen willkommen zu sein, ob mit oder ohne Einladung.

Ein alter Mann und sein Hund lösten sich aus dem Strom der Vorbeiziehenden und gesellten sich zu dem Einsamen unter der Markise, als hätte sich sein Platz in eine Bushaltestelle verwandelt.

„Die wissen, wie man feiert, was?“ Der alte Mann war es anscheinend gewohnt, solche Phrasen zu benutzen, um Fremde anzusprechen. Es hörte sich routiniert an.

Der jüngere Mann beneidete ihn um diese Fähigkeit. Er konnte hingehen, wo er wollte, ob an die Bar einer Airport Lounge oder zu einem festlichen Empfang, nirgendwo kriegte er auch nur ein Wort heraus, solange ihn niemand ansprach. Erst wenn ein anderer den Anfang machte, konnte er mit einer Antwort reagieren und das Gespräch fortsetzen. Aber nicht immer klappte es sofort. So wie jetzt.

„Ja“, erwiderte er, denn ihm fiel partout nicht ein, wie man die Beschreibung feiernder Menschen noch weiter ausschmücken konnte.

„Tja, die jungen Leute – da kann man neidisch werden.“ Der alte Mann musterte ihn prüfend. „Na, Sie nicht. Sie sind ja noch …“

„Man möchte direkt mitmachen“, fiel der jüngere Mann ihm rasch ins Wort, bevor er Schätzungen seines Alters über sich ergehen lassen musste. Der kleine Hund wärmte sein Herz, indem er zu ihm aufblickte, mit dem Schwanz wedelte und mit den Augen zu lächeln schien.

„Worauf warten Sie dann noch?“, sagte der Ältere und machte eine Handbewegung zur anderen Straßenseite hin. „Na los, gehen Sie rüber, und mischen Sie sich unters Partyvolk.“

„Aber ich habe keine Einladung.“

Sein Zufalls-Gesprächspartner lachte. „Sie sind nicht von gestern, oder? Eine Einladung! So was braucht heutzutage kein Mensch mehr. Jedenfalls nicht bei solchen Anlässen.“ Erneut deutete er auf die andere Straßenseite.

„Vielleicht bin ich nicht gern gesehen.“

„Wenn es dafür einen Grund gibt …“

„Nicht direkt …“

Der Ältere lachte wieder und klopfte ihm auf die Schulter. „Keine Angst, junger Mann, ich verlange nicht, dass Sie mir Ihren Lebenslauf verraten. Also noch mal: Gehen Sie einfach rein, die werfen Sie garantiert nicht raus. Ich finde, die jungen Leute von heute … sind ganz einfach nett zueinander. Viel netter als wir es früher waren. Das müssten Sie doch selber am besten wissen. Ich glaube, die da drüben würden sogar einen alten Knacker wie mich reinlassen.“

„Dann kommen Sie doch einfach mit.“

„Ach, du meine Güte! Jetzt möchten Sie, dass ich Sie an die Hand nehme? So schüchtern können Sie doch gar nicht sein.“

Der Jüngere bezwang seinen aufkeimenden Ärger, indem er sich selbst ablenkte und fragte: „Kennen Sie die Leute? Ich meine, den Gastgeber?“

„Wenn schon, dann Gastgeberin. Eine Polizeischülerin. Sie feiert ihren Geburtstag, und alle im Haus feiern mit, weil alle die Polizeiakademie besuchen, drüben am Schlossplatz. Namen weiß ich nicht, sind aber alles sehr nette junge Leute. Sehr ordentlich, sehr korrekt. Die haben ihre Fete schon vier Wochen im Voraus und im Umkreis von hundert Metern angekündigt. Künftige Ordnungshüter eben. Man sieht sie manchmal; ich wohne ja nur eine Straße weiter. Das Haus hier ist ein Neubau, die Wohnungen gerade richtig für Studenten, nicht zu groß und nicht zu klein.“

„Also sind es mehr oder weniger Bekannte, die reingehen.“

Der ältere Mann verdrehte die Augen. „Ich muss Sie wohl schieben, was?“

„Nein, nein, ich gehe ja schon.“ Der Jüngere setzte sich zögernd in Bewegung, drehte sich nach zwei Schritten noch einmal um und fragte: „Was meinen Sie, feiern da nur Frauen?“

Laura zog Kathrin aus dem größten Trubel heraus, in die Fensterecke beim Büfett, wo man einigermaßen ungestört reden konnte, weil keine Boxen in unmittelbarer Nähe dröhnten. Tanzende und laut lachende Gruppen von Partygästen hielten Abstand von der Schlange der mit Tellern Anstehenden. Laura war stolz, ein bisschen auch auf sich selbst. Sie hatte den Anstoß gegeben für diese Party, obwohl sie sich nicht unbedingt in den Vordergrund drängen wollte. Doch sie hatte nun einmal herausgelassen, dass ihr sechsundzwanzigster Geburtstag zugleich ihr erster als Studentin der Polizeiakademie Nienburg war. Nun würde es vergleichbare Anlässe natürlich noch öfter geben, aber die Idee war begeistert aufgenommen worden, und alle Hausbewohner und viele Freunde hatten ihren Beitrag zum Büfett geleistet. So bogen sich die zusammengestellten Tische unter Salaten, Snacks und Gebratenem. All die Köstlichkeiten waren auch für das Auge appetitanregend arrangiert worden. Obwohl keiner finanziell große Sprünge machen konnte, hatte die Gemeinschaftsleistung ein Ergebnis erbracht, das bestimmt ein paar Sterne verdiente. Vor allem darauf gründete sich Lauras Stolz: einen Platz in dieser jungen Gemeinschaft zu haben. Es gab ihr eine Vorahnung davon, welchen Rückhalt in der Gesellschaft sie sich in nicht allzu ferner Zukunft als Polizeibeamtin erarbeiten konnte.

Sie hatte Kathrin ins Epizentrum der Fete gelotst, in ihre Wohnung im zweiten Stock. Hier hatten die Wogen des heiteren Geschehens ihren Ausgangspunkt, von hier aus rauschten sie als Geräuschflut aus Reden, Lachen und Musik ins Treppenhaus, nach oben und nach unten, um dann seitwärts in die Flure und Wohnungen der übrigen Stockwerke zu schwappen, ins ganze Haus, einschließlich des kühlen Kellers.

„Du bist doch meine beste Freundin“, rief Laura in Kathrins Ohr.

„Du auch“, antwortete Kathrin auf die gleiche Weise. „Ist das eine Eröffnungsrede für irgendwas?“

Laura nickte und senkte die Stimme, sodass Kathrin sie gerade noch verstehen konnte. „Hast du ihn gesehen?“

„Wen?“

„Jonas.“

„Ja.“

Einen Moment lang sah Laura betroffen aus, als hätte sie diese Antwort nicht erwartet. Dann senkte sie den Kopf, drehte ihren Yellow Submarine zwischen den Fingern beider Hände und lehnte sich an den kalten Heizkörper. Angestrengt spähte sie in das Cocktailglas, als könnte sie dem kühlen Grüngelb der Limettenscheiben eine Erkenntnis entlocken, die ihr auf jede andere Weise verschlossen bleiben würde.

Die Lautstärke der Geräuschkulisse schien zuzunehmen und die beiden Freundinnen während ihres Schweigens einzuhüllen. Laura empfand es als eine körperliche Enge, der sie am liebsten auf der Stelle entflohen wäre. Oder war es Kathrin, die auf einmal dieses Gefühl in ihr erweckte? Unbehagen? Missstimmung? Was, in aller Welt, war in sie gefahren, dass sie sich vom unverhofften Auftauchen ihres Ex-Freunds aus der Spur bringen ließ? Dass sie es dann auch noch auf Kathrin übertrug, wunderte sie eigentlich nicht. Dabei war Kathrin ihre beste Freundin. Das stand unerschütterlich fest, auch wenn es Turbulenzen gegeben hatte. Nicht mal ein Jonas konnte zwischen sie kommen. Nie wieder.

Laura hob den Kopf. Sie musterte Kathrin und runzelte die Stirn. „Die kürzeren Haare standen dir besser. Jetzt ist es überhaupt keine richtige Frisur mehr. Hast du sie gefärbt?“

„Gefärbt?“, wiederholte Kathrin kopfschüttelnd. „So was kannst du mich in zwanzig Jahren mal fragen. Oder sehe ich aus wie meine eigene Großmutter?“ Sie strich eine Strähne ihres braunen Haars aus dem Gesicht nach hinten, über das linke Ohr.

Laura tat, als überlegte sie. „Hm … wenn du mich so fragst – du bist etwas blass um die Nasenspitze, deine Wangen sind vor Aufregung gerötet, und … ja, deine Augen sind noch etwas himmelblauer als normal.“

Kathrin bekam den Mund nicht wieder zu, dann lachte sie und rief: „Ach, dann sieh dich mal an! Immer noch das kleine Mädchen mit dem Pagenschnitt, das Haar so dunkel, dass da bestimmt einer nachgeholfen hat. Und irre ich mich, oder sehe ich da Lachfalten unter deinen nicht weniger blauen Augen?“

Laura ging nicht darauf ein. Stattdessen fragte sie: „Wo hast du ihn gesehen? Und wann?“

„Gerade eben. Vor zwei Minuten.“

Kathrin brauchte nicht zu überlegen.

„Das war, als du mich weggeholt hast, draußen im Treppenhaus. Wir standen beide am Geländer, mit vielen Leuten drumherum. Da war er noch im Erdgeschoss. Den Fahrstuhl hat er jedenfalls nicht genommen.“

„Also haben wir ihn zur selben Zeit entdeckt“, folgerte Laura. „Das Schlimme ist, er wird in Kürze vor uns stehen.“

„Wenn er sich traut.“

„Ins Haus hat er sich schon getraut.“

Kathrin nickte düster. „Mut hat er, das muss man ihm lassen.“

„Als ob mich das interessieren würde!“, rief Laura. Im nächsten Augenblick spielte sie Verzweiflung und bat: „Kathy, hilf mir! Was mache ich bloß? Soll ich ihn rauswerfen?“

„Das wäre kontraproduktiv. Hausrecht hast du nur über deine Wohnung. Er würde sich irgendwo hier im Gebäude einnisten, bei einer Nachbarin oder einem Nachbarn.“ Kathrin kicherte. „Das würde ich auch tun, an seiner Stelle. Wenn er merkt, dass er bei dir unerwünscht ist, was bleibt ihm dann anderes übrig, dem armen Kerl?“

„Mensch, Kathy!“, protestierte Laura. „Du weißt genau, dass er kein armer Kerl ist. Ich meine, du müsstest es doch am allerbesten wissen.“

Kathrin verzog das Gesicht wie unter Schmerzen. „Verderben wir uns jetzt bloß nicht gegenseitig die Stimmung. Wir sind auf dem besten Weg dazu.“

„Du hast recht.“

Laura nickte ernsthaft.

„Genau das will er natürlich erreichen. Weshalb sollte er sonst hier auftauchen?“

„Vielleicht hat er ganz einfach von der Party gehört und will die Gelegenheit nutzen, mit uns beiden gemeinsam zu feiern.“

„Mhm. Um dann, wenn wir am allerwenigsten damit rechnen, in der Stille der Nacht, über uns herzufallen.“

Kathrin schüttelte den Kopf. „Warum tust du das?“

„Warum tue ich was?“

„Ihm immer nur das Schlechtestmögliche unterstellen.“

Laura schmunzelte. „Ein Erfahrungsgrundsatz, Baby. Ich war lange genug mit ihm zusammen.“

„Zwei Jahre!“

„Zweieinhalb Jahre.“ Laura trank einen Schluck von ihrem alkoholfreien Cocktail. „Außerdem solltest du die Letzte sein, die ihn in Schutz nimmt.“

Kathrin seufzte. „Siehst du! Es geht schon los. Wir verderben uns tatsächlich die Stimmung.“

„Ich weiß nicht, ob mich da eine Mitschuld trifft“, sagte Laura sachlich. „Du sagst selbst, er hat vielleicht von der Party gehört. Von wem denn? Du wohnst in Hannover, Jonas wohnt in Hannover. Liegt darin nicht schon die Erklärung?“ Sie löste eine Hand von ihrem Glas und zeigte auf das Gesicht ihrer Freundin. „Und du bist wirklich richtig rot geworden vorhin, wie jemand, der sich ertappt fühlt und ein schlechtes Gewissen hat.“

„Du meinst …“, Kathrin musste Luft holen, „ich habe ihn herbestellt, sozusagen? Nur, um dich zu ärgern?“

„Zum Beispiel.“ Laura nippte an ihrem zitronengelben Drink und machte eine unbeteiligte Miene.

„Ich glaube es nicht“, erwiderte ihre Freundin und atmete schwer aus. „Ich fasse es einfach nicht! Traust du mir das wirklich zu?“

Laura zog die Lippen zwischen die Zähne und zögerte. Dann sagte sie es: „Damals hätte ich dir auch nicht zugetraut, was … passiert ist.“

Kaum dass es heraus war, schlug sie sich die Hand vor den Mund. Erschrocken über sich selbst, starrte sie Kathrin entsetzt an. Nichts wünschte sie sich in diesem Augenblick mehr, als die gesagten Worte zurückholen zu können. Kathrin indessen war bleich geworden. Ein Licht, das sich im Fenster spiegelte, erzeugte einen glitzernden Reflex in dem Tränenfilm, der ihre Augen überzog. Sie wollte sich abwenden, wollte die Flucht ergreifen.

„Einfach lecker, dieser Salat!“, erscholl in diesem Augenblick eine kräftige Männerstimme vom Büfett her. „Grüne Oliven, schwarze Oliven, Paprika, Zwiebeln, Schafskäse … und die geheimen Zutaten, das kann nur das Werk von Laura sein … oder von Kathrin … oder von beiden!“

Die Freundinnen sahen sich an, und die Missstimmung wich so schnell wie sie entstanden war. Auf einen Schlag waren sie wieder Verbündete, einig in der Abwehr der geballten Unverfrorenheit, die da auf sie zukam, zugleich aber auch in der gemeinsamen Gewissheit, dass man diesem Kerl auf Dauer nicht böse sein konnte. Es ließ sich nicht durchhalten, das wussten sie beide. Bevor es zu spät gewesen war, hatten sie damals einen dicken Schlussstrich gezogen und sich im Guten getrennt.

Alle drei.

Jonas hatte sich mit einem Porzellanschälchen Olivensalat ausgerüstet und trug es wie einen Schutzschild vor sich her, als er näherkam. Eifrig schob er Olive um Olive zwischen die gespitzten Lippen, kaute genießerisch und schloss in kurzen Abständen die Augen, um den Genuss demonstrativ noch zu unterstreichen. Zusätzlich brachte er es fertig, wie ein Honigkuchenpferd zu strahlen.

Als wäre nichts gewesen, dachte Laura, er tut wirklich so, als wäre nichts geschehen. Andererseits – was sollte er sonst tun? In tiefster Zerknirschung herbeischleichen, mit einer Miene wie sieben Tage Regenwetter? Das wäre es auch nicht gewesen. Die einzig denkbare Alternative war, überhaupt nicht aufzutauchen. Aber er hatte sich nun einmal entschieden wie er sich entschieden hatte, ob Kathrin dahintersteckte oder nicht. Laura konnte es sich nicht wirklich vorstellen. Möglich, dass jemand ihren Partytermin über Facebook verbreitet hatte, obwohl sie selbst die Einladungen streng begrenzt hatte.

Die gütliche Trennung damals war ganz und gar nicht einfach gewesen.

Denn der Grund hieß Kathrin.

Laura hatte es nicht sofort glauben wollen, aber was abgelaufen war, hätte tatsächlich als Schicksalsstory in die Regenbogenpresse gepasst. Überschrift: „Mein Lebenspartner betrog mich mit meiner besten Freundin.“ Jonas hatte alle Schuld auf sich genommen, obwohl Laura in einem fernen Winkel ihrer Gedanken immer noch argwöhnte, dass es Kathrin gewesen war, die Jonas verführt hatte. Natürlich war es auf einer Party passiert, und man hatte es auf den Stimmungspegel zu fortgeschrittener Stunde geschoben. Fast zwei Jahre lag es nun schon zurück.

Es sah aus, als ob Jonas ihnen beiden einen Begrüßungskuss geben wollte, doch er beließ es bei einem freundlichen „Hi!“ und fügte verlegen lächelnd hinzu: „Ich habe lange überlegt, ob ich reinkommen soll.“

„Immerhin hast du Entschlussfreudigkeit gezeigt“, sagte Laura spöttisch, erwiderte aber dennoch sein Lächeln.

„Und er hat unseren Olivensalat gelobt“, bemerkte Kathrin. „Das können wir ihm zugutehalten.“

„Einverstanden“, erklärte Laura und stieß sich von der Heizung ab. „Du darfst bleiben, Jonas.“

„Wirklich?“, entgegnete er mit einer Mischung aus Freude und Zweifel. „Ich hätte mich gar nicht gewundert, wenn ihr mich mit vereinten Kräften vor die Tür gesetzt hättet.“

„Das kann immer noch passieren“, warnte Laura, entschärfte die Warnung jedoch mit einem Zwinkern.

„Herzlichen Glückwunsch erst mal“, versuchte er, das Gespräch in ruhigere Fahrwasser zu lenken. Linkisch gab er ihr die Hand, nachdem er Salatschälchen und Gabel umständlich auf der Fensterbank abgestellt hatte.

„Danke“, antwortete Laura kühl. Rasch nahm sie ihre Hand aus der seinen, als sie merkte, dass er Anstalten machte, sie zu sich heranzuziehen.

Sie trat einen Schritt zurück, von ihm weg, denn sie erinnerte sich noch gut daran, wie sie sich über dieses Ritual einig gewesen waren, damals. Eine im Grunde alberne Angewohnheit von Verliebten war es gewesen. Mit der Begrüßung durch Händeschütteln hatten sie sich über die Förmlichkeiten der etablierten Welt lustig gemacht. Dann hielt Jonas ihre Hand fest und zog sie zu sich heran. Gleichzeitig legte er seinen linken Arm um ihren Rücken, und dann, während er sie schon küsste, umschloss er sie auch noch mit dem rechten Arm. Sofern sie dabei unter sich waren, endete diese Zeremonie stets auf dem nächst erreichbaren Liegemöbel.

Dieses Ziehen beim Händedruck war folglich eine Art wortloser Geheimcode und bedeutete: „Ich will Sex. Jetzt.“ Wenn sie sich ziehen ließ, hieß das in logischer Konsequenz: „Ja, ich auch.“ Zu Jonas’ Ehrenrettung musste Laura in ihrer Erinnerung auch der umgekehrten Möglichkeit Raum geben. Natürlich hatte sie das Recht gehabt, auch ihrerseits den Hand-Zug-Code anzuwenden. Doch so oder so, beide Spielarten waren Vergangenheit. Für immer.

Deshalb musste Laura ihren aufkeimenden Ärger bezwingen. Was fiel ihm ein, sie mit dieser Vertraulichkeit von damals herauszufordern, noch dazu in Kathrins Gegenwart! Womöglich hatte er ihr davon erzählt und wollte ihr nun demonstrieren, dass ihre beste Freundin noch immer darauf abfuhr und schwach wurde. Unerhört! Aus Kathrins Gesichtszügen war allerdings nicht abzulesen, dass sie etwas mitbekommen hatte. Und er? Mit Unschuldsmiene nahm er den gepriesenen Olivensalat wieder an sich und tat, als könnte er kein Wässerchen trüben.

Er hatte sich kein bisschen verändert. Das rotblonde Haar reichte ihm hinten bis auf den Hemdkragen und sah so verwuschelt aus wie immer. Die graugrünen Augen blickten schelmenhaft spitzbübisch und erzeugten zusammen mit den Mundwinkeln einen Ausdruck ständiger Amüsiertheit. Weniger wohlwollende Zeitgenossen attestierten ihm ein Dauergrinsen. Und diejenigen, die ihn gar nicht leiden konnten, bezeichneten es als ein einfältiges Dauergrinsen.

„Es ist mir echt peinlich“, nuschelte er zwischen zwei Oliven. „Ich habe leider kein Geburtstagsgeschenk.“

„Weshalb bist du dann hergekommen?“, mischte sich Kathrin scheinbar schroff ein. Mit einem kaum merklichen verschwörerischen Seitenblick zu ihrer Freundin setzte sie noch eins drauf: „Was ist denn das für eine Art? Du kommst mit leeren Händen, bringst nicht mal einen Blumenstrauß, geschweige denn eine geklaute Vorgartenrose.“

„Blumen hätten vielleicht … äh … missverstanden werden können“, stammelte Jonas.

Laura nahm Kathrins Faden auf, indem sie ihn anfuhr: „Missverstanden? Weshalb sprichst du im Passiv? Du meinst doch mich, oder?“

„Ja … ja, schon.“

„Warum sagst du dann nicht: ,Laura hätte es missverstehen können.‘?“

„Das meinte ich aber“, rechtfertigte er sich trotzig. „Und ich war noch nicht fertig.“

„Womit?“

„Mit dem, was ich sagen wollte. Über das fehlende Geburtstagsgeschenk.“

„Na, dann sag es endlich“, befahl Kathrin im Ton eines Hausdrachens.

Jonas ruckte herum. Einen Atemzug lang hatte es den Anschein, als wollte er den Salat von sich schleudern und auf Kathrin losgehen. Doch er beherrschte sich, wenn auch mit großer Mühe. Laura beobachtete ihn genau, wechselte einen Blick mit Kathrin und fragte sich, ob sie den Bogen nicht überspannten. Jonas’ kraftvolle Finger entkrampften sich, und das Weiß seiner hervorgetretenen Knöchel nahm wieder eine gesunde Hautfarbe an. Laura und Kathrin wussten, dass er vor seinem Studium der Architektur als Maurer gearbeitet hatte.

„Ich bin einfach in die S-Bahn gestiegen“, erklärte er schuldbewusst. „Ehrlich gesagt habe ich gar nicht genug Geld eingesteckt, um noch etwas zu kaufen. Deshalb lade ich dich zum Essen ein, Laura. Irgendwann demnächst, ganz ohne Hintergedanken. Einfach aus alter Freundschaft.“

„Danke für die nette Absicht“, erwiderte sie besänftigt. „Aber wir wissen beide, dass wir über solche Dinge hinaus sind – und, dass du chronisch knapp bei Kasse bist. Ich würde ein schlechtes Gewissen kriegen, wenn ich deine Einladung annehme.“

„Außerdem haben wir dich in eine Ecke manövriert, in die du gar nicht wolltest“, lenkte nun auch Kathrin ein. Sie klopfte ihm auf die Schulter. „Also nichts für ungut, okay?“

Jonas atmete erleichtert auf. Er gewann seine Selbstsicherheit zurück. Zumindest hatte Laura diesen Eindruck. Während sie in seinen Gesichtszügen nach einem deutlicheren Hinweis suchte, kramte sie in ihrem Gedankenarchiv. Die Zeit mit ihm lag eine Ewigkeit zurück, so kam es ihr vor. Trotzdem hatte sie noch nicht jenen Punkt erreicht, an dem, wie sie gelesen hatte, die positiven Erinnerungen die negativen zu überlagern begannen. Bei aller Sympathie, die sie durchaus noch für ihn empfand, war der Schlussstrich unverändert wirksam als innerer Grenzwall, der so stark war, dass er sich wohl niemals würde einreißen lassen.

Sie hatten es sich damals mit beruflichen und daraus resultierenden räumlichen Gründen erklärt. Aus den Augen, aus dem Sinn. Das Sprichwort hatten sowohl seine als auch ihre Eltern bemüht, als sich abzeichnete, dass die schon gehegten Träume von der Schwieger- und Großelternphase zerplatzen würden. Dabei war es keine Weltreise von Hannover nach Verden, wie sie sich geradezu gebetsmühlenhaft gegenseitig versichert hatten. Die Bahnverbindungen hätten kaum besser sein können, und auch mit dem Auto fand man schnell zueinander, wenn die Sehnsucht übermächtig wurde. So hatten sie argumentiert, die lieben Eltern, die ja nicht ahnen konnten, welche Rolle Kathrin gespielt hatte.

Jonas stammte aus Morsum, einem Ort in der Nähe von Verden, wo er das Domgymnasium besucht hatte, wie Laura und Kathrin auch, allerdings eine Klasse über den beiden Freundinnen. Laura war in Verden selbst geboren, und dorthin, wo ihre Eltern wohnten, war sie zurückgekehrt, nachdem sie ihr Studium der Sozialpädagogik in Bremen abgeschlossen und in der Stadt an der Aller einen Job gefunden hatte. Zu dem Zeitpunkt hatte Jonas dort gerade seine Maurerlehre beendet und weiter in dem Handwerksberuf gearbeitet. Laura und er hatten sich ineinander verliebt, und ihre Beziehung bestand noch, als er schon sein Architekturstudium in Hannover aufgenommen hatte. Mittlerweile war er ein richtiger Hannoveraner, und die niedersächsische Landeshauptstadt war sein neuer Lebensmittelpunkt geworden.

Seine Hände drängten sich ins Bild, wie gerade eben, diese großen, kräftigen Hände.

Hatte sie diese Hände damals, gegen Ende ihrer Beziehung, nicht als subtile Bedrohung empfunden, als Auslöser der Frage „Was wäre, wenn?“ und aller daraus abzweigenden schreckensbildhaften Vorstellungen? Nein, nein, nein. Laura rief sich innerlich zur Ordnung. Jonas hatte ihr gegenüber niemals auch nur andeutungsweise zu Gewalt geneigt, nicht einmal in Worten. Und anderen gegenüber? Auch daran konnte sie sich nicht erinnern. Nichtsdestoweniger hatte sie in ihm den starken Beschützer gesehen. An seiner Seite, in seiner Gegenwart, hatte sie sich stets geborgen gefühlt. Mit ihm war sie durch die dunkelsten Tunnel und die düstersten Stadtviertel gegangen, ohne auch nur einen Hauch von Angst zu haben.

Komm runter, dachte sie, sonst zerfließt du gleich vor Mitleid, oder du fällst ihm um den Hals. Hey, Laura, Jonas ist mit Vorsicht zu genießen! Schon vergessen? Wie jeder andere nette Kerl hat er seine Leichen im Keller.

Seine Launen waren es gewesen, diese seltsamen Verhaltensänderungen, die ihn von einer Sekunde auf die nächste in einen Fremden verwandelt hatten. Kein Mensch, der nicht mit ihm zusammenlebte, konnte sich das vorstellen. Wahrscheinlich auch Kathrin nicht, denn eine richtige Beziehung hatte sie zu ihm wohl nicht gehabt. Laura konnte sich durchaus vorstellen, dass sie die Einzige war, die sein wahres Ich kennengelernt hatte. Soweit sie wusste, hatte er vor ihr auch nur flüchtige Bekanntschaften gehabt.

Eben noch der liebenswerteste Mensch der Welt, konnte seine Stimmung in eine erschreckend kühle Sachlichkeit umschlagen. So, als würde er ihr zum ersten Mal begegnen. Gleichzeitig wiederum hatte er sie dann mit bissig-spöttischen Bemerkungen bis ins Mark getroffen. Ja, er war in solchen Momenten auf eine beiläufig herablassende Weise verletzend gewesen, ohne dabei eine echte Aggressivität an den Tag zu legen. Zu häufig hatte sie sich dann eher verachtet gefühlt, unbedeutend, nebensächlich.

Sie hatte ihn gefragt, ob sie ihm so gleichgültig geworden war, dass er sich nicht mehr scheute, ihr seine hässliche Seite zu zeigen. Er hatte geantwortet, dass eine Partnerschaft oder eine Lebensgemeinschaft, egal, wie man es nennen wollte, so etwas aushalten müsse. Dann war der Tag gekommen, an dem sie ihm klargemacht hatte, dass ihrer beider Beziehung eine solche Belastung nicht mehr aushielt.

Rufe, die sich durch das ganze Haus fortpflanzten, holten Laura aus ihren Gedanken heraus. Während Kathrin und Jonas noch über die Zubereitung des Olivensalats fachsimpelten, hörte Laura das Wort „Jazzclub“ heraus, und bald darauf waren weitere Einzelheiten bis zum Büfett durchgedrungen. Im Jazzkeller, der nur ein paar Schritte entfernt war, spielte eine Bluesband aus Hamburg, und der Andrang war riesig. Das berichteten neue Partygäste, die gerade von dort kamen.

Es dauerte nicht lange, bis ein „Auf zum Jazzclub!“ laut wurde, und der Herdentrieb besorgte den Rest. So strömten die Feiernden bald in Scharen aus dem Haus und durch die mittlerweile belebtere Fußgängerzone. Nur eine kleine Nachhut blieb zurück. Alle Menschen schienen sich inzwischen im Freien aufzuhalten; nach der Backofenhitze des Tages deutete sich endlich ein wenig Abkühlung an. Zwar lag die Temperatur noch immer über zwanzig Grad, doch nach den fünfunddreißig Grad des Nachmittags war es in der Tat eine gefühlte Frische, die jetzt einkehrte. Wie die meisten ihrer Freundinnen zogen sich Laura und Kathrin leichte Jacken über, während einige Männer sich Pullover über die Schultern warfen und ebenso viele mit ihren Hemden oder T-Shirts vorliebnahmen. Auch Jonas beließ es bei seinem sommerlichen Holzfällerhemd.

Restaurants und Eiscafés hatten Hochbetrieb. Stimmen und Musik erfüllten die Stadt. Über ihren Lichtern wölbte sich ein nachtblauer Abendhimmel, an dem keine einzige Wolke den Sternenglanz und den Mondschein trübte. Dieselgeräusche von Binnenschiffen, für die es keine Pause gab, pflanzten sich weit über das Wasser fort und ließen die Wetterkundigen an den Ufern des Flusses wissen, dass die Hitzewelle noch lange andauern würde. Unterdessen beflügelte die Leichtigkeit des Lebens Laura und ihre Freunde auf dem Weg von den lockeren Rhythmen des Partysounds zu den mitreißenden und zugleich klagenden Klängen des Blues.

Die Band spielte nicht im Keller des Jazzclubs, sondern davor, unter den hohen Bäumen des Fresenhofs mit seiner anheimelnden Fachwerkkulisse. Der Club als Veranstalter dieses sommerlichen Konzertabends hatte im Gebäudewinkel eine Bühne aufgebaut und zwischen Bäumen und Hauswänden Sonnensegel gespannt. Jetzt, bei Dunkelheit und von Lichterketten erhellt, wirkte der gepflasterte Hof dadurch wie ein großer, festlich illuminierter Saal. Es gab eine kleine Tanzfläche aus Brettern, Stehtische wurden von den Besuchern umlagert, und in einem regen Pendelverkehr zwischen Theke und Tischen schafften einzelne von ihnen unablässig Nachschub an Bier und anderen Getränken heran. Gespräche erzeugten einen Geräuschpegel, der von der Verstärkeranlage der Band ohne Schwierigkeiten übertönt wurde.

Laura, Kathrin und Jonas gesellten sich zu Freunden aus dem Mietshaus, die einen frei gewordenen Tisch ergattert hatten. Jonas und Tommy, einer der Freunde, machten sich auf den Weg, um Bier zu besorgen. Laura und die anderen beschränkten sich währenddessen darauf, sich erst einmal mit der Umgebung vertraut zu machen. Die Band brachte die Leute mit kraftvollem Groove in Fahrt, auf der Tanzfläche entstand bereits Gedränge. Unter dem Segeldach, zwischen Bäumen und Hauswänden, begann die Luft zu vibrieren von der Energie der Musik, die sich auf Tanzende und Zuhörer übertrug. Deren Begeisterung strahlte zurück zur Bühne und feuerte die fünf Mitglieder der Band zu immer neuen instrumentalen Höhenflügen an. Der Sänger mit seiner rauchigen Bluesstimme bescherte Laura eine Gänsehaut und das Bild von geschundenen Sklaven auf Baumwollfeldern am Mississippi vor ihrem geistigen Auge.

Die beiden Getränkeholer kehrten mit weißen Plastikbechern zurück, aus denen Schaumkronen frisch gezapften Biers ragten. Sie verteilten die Becher und belohnten sich mit einer Zigarette, nachdem sich alle zugeprostet hatten. Laura und Kathrin verschluckten sich fast.

„Du rauchst?“, riefen sie unisono und zeigten anklagend auf das Corpus Delicti zwischen Jonas’ Zeigefinger und Mittelfinger.

„Er auch“, rechtfertigte sich der Gescholtene, indem er auf Tommy wies, Lauras blondgelockten Wohnungsnachbarn aus dem ersten Stock.

„Alle anderen auch“, rechtfertigte sich Tommy prompt und machte eine ausladende Handbewegung zur Zuhörermenge hin. Natürlich verschätzte er sich stark, aber es waren doch zahlreiche Raucher zu sehen, die den Tabak in seinen verbreitetsten Formen glimmen ließen – von Zigaretten über Zigarillos und Zigarren bis hin zu umständlich gestopften Pfeifen.

„Kein Wunder“, sagte Kathrin. „Unter freiem Himmel wagen sie sich alle aus ihrem Versteck.“

„Aber Jonas …?“ Laura schüttelte verständnislos den Kopf und sah ihren Ex-Freund an. „Du hattest es aufgegeben. Du warst ein überzeugter Nikotingegner geworden, hast auf jeden eingeredet, sich ein Beispiel an dir zu nehmen.“

„Und jetzt dies“, pflichtete Kathrin ihr bei.

„Es ist ein Unterschied“, erklärte Jonas und blickte beifallheischend in die Runde, „ob man unter der Fuchtel einer überzeugten Nikotingegnerin steht oder seinen Willen frei entfalten kann.“

Natürlich hatte er die Lacher auf seiner Seite, darüber wunderte sich Laura gar nicht, denn sie erinnerte sich nur zu gut daran, wie er es mit seinem jungenhaften Charme in geselligem Kreis stets schaffte, im Mittelpunkt zu stehen. Sie sandte ihm daher einen gespielt bösen Blick zu, und Kathrin, die neben ihm stand, knuffte ihm mit dem Ellenbogen in die Seite.

Die unvermeidliche Diskussion über Gefahren und Folgen des Nikotingenusses setzte nun ein und führte über die Frage, ob das Rauchen auch auf öffentlichen Plätzen verboten sein sollte, zu der Erkenntnis, dass die Luft auch ohne Tabakrauch verschmutzt genug sei, um die Menschen mit Krankheit und Tod zu strafen. Laura beteiligte sich nur halbherzig an dem Gespräch. Für sie war das Thema ausdiskutiert, und sie gehörte nicht zu denen, die anderen ihre Meinung aufzuzwingen versuchten.

Klar, dass Jonas aus Gründen seiner beabsichtigten Publikumswirksamkeit maßlos übertrieb, wenn er sie als überzeugte Nikotingegnerin bezeichnete. Sie hatte ihm nie Vorschriften gemacht, und sie hatte auch nie versucht, ihn von Grund auf zu ändern, wie es die meisten Frauen angeblich mit ihren Männern taten. Dass es zwischen ihnen dennoch nicht geklappt hatte, stand auf jenem anderen Blatt, das nur Jonas und sie kannten.

Laura sah sich um, während die anderen sich über Rauchen und Nichtrauchen ereiferten. Verteilt auf das dicht gedrängt stehende Publikum sah sie die vielen bekannten Gesichter ihrer Partygäste. Etliche andere waren ihr fremd, aber die meisten Bluesfans kannte sie vom Sehen, da sie schon öfter im Jazzclub gewesen war. Laura registrierte Männerblicke, die sie trafen; von interessiert bis bewundernd und schwärmerisch war alles dabei, doch sie reagierte auf keinen von ihnen. Sie wusste, dass sie eine gewisse Ausstrahlung hatte und auf das starke Geschlecht als der Typ des niedlichen kleinen Mädchens wirkte, das ob seiner schlanken und beinahe zierlichen Statur unbedingt einen heldenhaften Hünen an seiner Seite brauchte.

„Starren sie wieder?“, fragte Kathrin, die für sich den Schluss der Rauch-Debatte beschlossen hatte.

Laura sah ihre Freundin verschmitzt an. „Stell dir mal vor, es würde wirklich Stielaugen geben!“ Sie hielt sich die Hand vor den Mund, um nicht loszuprusten.

„Du meinst, so ausgefahrene Glubscher … wie die Nase bei Pinocchio?“ Kathrin musste ebenfalls an sich halten. Sie ließ ihren Blick über die Köpfe der Umstehenden schweifen. „Na, da hätten wir aber so einige Stielaugen-Kandidaten!“

Die Freundinnen sahen sich an und konnten einfach nicht mehr ernst bleiben. Es war wie früher, auf dem Schulhof, wenn sie über etwas, das nur sie beide verstanden, plötzlich schallend losgelacht hatten.

Jonas drehte sich zu ihnen um. „Ich will auch lachen. Bitte noch mal, den Witz.“

Laura und Kathrin erklärten ihm die Sache mit den Pinocchio-Augen.

„Ah!“, rief er und hob den Zeigefinger, als würde ihm ein Licht aufgehen. „Was ihr meint, ist eine Augenerektion. Die gab es früher nur in Naturvölkern, breitet sich inzwischen aber auch unter zivilisierten Mitteleuropäern aus. Solche Kerle sind dann augengesteuert, statt … na ja, ihr wisst schon.“

Laura und Kathrin wollten sich ausschütten vor Lachen. Es war eine regelrechte Lachattacke, die sie erlitten. Jedesmal, wenn sie sich den Publikumsreihen zuwandten und die Blicke bemerkten, die ihnen galten, mussten sie geradezu zwanghaft von neuem loskichern.

Jonas half ihnen, ein Ende zu finden, indem er Kathrin zum Tanzen aufforderte. Beide tranken noch schnell einen Schluck Bier, ehe sie im Gedränge Richtung Tanzfläche verschwanden. Immer mehr Menschen fanden sich auf dem lauschigen Fresenhof ein, und entsprechend wuchs auch die Zahl derer an, die die Tanzfläche bevölkerten. Es hatte Laura einen Stich versetzt, dass Jonas Kathrin und nicht sie aufgefordert hatte. Im selben Atemzug hasste sie sich dafür. Wie in aller Welt konnte sie sich dazu versteigen, auf Kathy eifersüchtig zu sein! Mit Jonas hatte sie nichts mehr zu tun. Punkt. Ihre Sekunden-Selbstanalyse erbrachte ein klares Ergebnis: Es war verletzte Eitelkeit. Natürlich hatte sie mit Jonas nichts mehr am Hut, aber wenn er schon jemanden zum Tanzen aufforderte, dann hatte es gefälligst, sie, Laura, zu sein, wenn sie gerade zur Verfügung stand. Es war ihr Wohnungsnachbar Frank aus dem dritten Stock, der sie ihren Selbstbezichtigungen entriss und mit sich winkte.

Getanzt wurde – aus Platzmangel auf der Bretterfläche – mittlerweile auch auf dem Steinpflaster des angrenzenden Hofs. Bis unmittelbar vor die Bühne reichte nun schon die Schar derer, die sich zu rockigen und groovigen Klängen austobten oder im langsameren Takt der balladenhaften Stücke wiegten. Nach vier Titeln entschieden sich Laura und Frank gemeinsam für eine Pause; sie kehrten zum Tisch zurück, löschten ihren Durst und verschnauften. Augenblicke später tauchte Kathrin auf, mit Tommy an der Hand. Sie hatte ihre Jacke abgestreift, warf sie auf den Tisch und war nach einem eiligen „Passt mal drauf auf!“ mit ihrem Begleiter schon wieder unterwegs in Richtung Tanzfläche.

„Wo hast du Jonas gelassen?“, rief Frank den beiden nach.

„An der Theke, wo sonst?“, war Kathrin noch schwach zu hören, dann schloss sich bereits wieder das Gedränge um sie und Tommy.

Laura war Frank ausgesprochen dankbar dafür, dass er nach Jonas gefragt hatte. Sie selbst wollte sich nicht schon wieder dazu verleiten lassen, Interesse für ihren Ex zu zeigen. Himmel noch mal, nur weil er sich selbst für ein gelungenes Geburtstagsgeschenk hielt, musste sie doch nicht mit einer Neuauflage ihrer Beziehung anfangen!

Sie war mit dem Gedanken noch nicht vollends fertig, als er plötzlich auftauchte. Freudestrahlend breitete er die Arme aus, doch auf diese Weise ließ sie sich schon gar nicht locken. Er ließ die Arme sinken und rief:

„Einen Friedenstanz kannst du mir nicht abschlagen, okay?“

„Das geht auf keinen Fall“, half Frank ihm auch noch und lachte. „Sonst wird der arme Kerl uns noch depressiv.“

Laura fügte sich seufzend, und während sie sich von Jonas an die Hand nehmen ließ, fragte sie sich, wie er es schaffte, von jedem als armer Kerl bedauert zu werden. Gleich darauf blieb für Gedanken und erst recht für tiefschürfende Gedanken keine Zeit mehr, denn der Aufenthalt auf dem Bretterboden wurde für Laura zum reinsten Workout. Die Begeisterung des Publikums war endgültig auf die Musiker übergesprungen, und so heizten sie Tanzenden und Zuhörern ein, dass die Sommernacht zu kochen begann. Schließlich regelte die Band von einem heißen alten Rock ‘n’ Roll herunter auf einen langsamen Blues.

Laura gab der Stimmung nach und wehrte sich nicht gegen Jonas’ starke Arme und seine Nähe. Es stimmte sie wohlwollend und versöhnlich, dass er sich hütete, ihre Hand zu nehmen und sie zu sich heranzuziehen. Er schien wahrhaftig dazugelernt zu haben. Sie erschrak über diesen Gedanken; auf welchem hohen Ross saß sie eigentlich, um so selbstherrlich über ihn zu urteilen?

Immerhin, so überlegte sie, hatten auch Männer gewisse Rechte. Innerlich lachte sie über ihre satirische Anwandlung, während sie sich mit ihm im sanften Rhythmus wiegte und seine Wange an der ihren spürte. Behutsam aber doch mit der notwendigen Entschiedenheit schob sie ihn von sich, als er sie zu küssen versuchte.

Bereitwillig ließ er sich von ihr zurück an den Tisch bugsieren. Kathrin und Tommy waren inzwischen zurückgekehrt. Falls Jonas so etwas wie Verlegenheit empfand, nutzte er die Situation, um sie zu überspielen, indem er auf die Bierbecher zeigte und lärmend anordnete: „Los, austrinken! Ich muss Nachschub holen!“ Seine Zuhörergemeinde am Tisch befolgte den Befehl lachend, und Tommy und Frank schlossen sich Jonas zur Bierbeschaffung an. Als sie mit neuen, vollen Bechern zurückkehrten, hatte die gute Laune einen Dämpfer erhalten.

Kathrins Jacke war verschwunden. Eine hektische Suchaktion hatte bereits eingesetzt. Kathrin, Laura und ihre Freundinnen eilten umher, fragten jeden, spähten in Ecken und Winkel und ließen auch den Clubkeller nicht aus, wo Laura eine Notiz mit ihrer Telefonnummer ans schwarze Brett heften ließ. Jonas und die anderen hatten die frisch bezapften Becher an Freunde verteilt und machten bei der Suchaktion mit. Doch die Jacke blieb verschwunden. Als sie sich am Tisch wiedertrafen, gestand Kathrin beschämt, dass sich der Zweitschlüssel für Haustür und Wohnung, den Laura ihr gegeben hatte, in der Jacke befand – zwar in einer verschließbaren Innentasche, doch was nützte das, wenn das ganze Kleidungsstück gestohlen worden war?

Laura tröstete ihre Freundin. „Mach dir jetzt keinen Kopf, verstanden? Außerdem haben wir alle ein bisschen Schuld; ich selbst am meisten. Du hast uns laut und deutlich darum gebeten, auf deine Jacke aufzupassen.“ Sie sah die anderen an und erntete ein beipflichtendes Nicken. Zuversichtlich fuhr sie fort: „Hier beim Club findet sich alles wieder an. Bestimmt hat jemand die Jacke aus Versehen angezogen und bringt sie morgen zurück.“

Kathrin mochte nicht recht daran glauben. Trotzdem blieb ihr nichts anderes übrig, als sich mit dem Stand der Dinge zufriedenzugeben. Weil Laura ihr keine Vorwürfe machte, gelang es ihr sogar, sich nicht länger über ihren Fauxpas zu ärgern. Dazu trugen allerdings auch die späte Stunde, ihre eigene Müdigkeit und Lauras ansteckendes Gähnen bei. Die Bluesband spielte ihre letzte Zugabe, und den Freundinnen wurde bewusst, was für einen anstrengenden Tag sie hinter sich hatten. Als sie sich gemeinsam mit den anderen auf den Heimweg machten, stellten sie fest, dass sie praktisch die Nachhut der Partygemeinde waren. Die Mehrheit hatte den Fresenhof schon vorher verlassen, um den Abend in kleinerem Kreis ausklingen zu lassen.