Ophelia und die Bernsteinchroniken - Mechthild Gläser - E-Book

Ophelia und die Bernsteinchroniken E-Book

Mechthild Gläser

0,0
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Warum kommt es uns manchmal so vor, als ob die Zeit unterschiedlich schnell vergeht?  Ophelia hat sich darüber nie wirklich Gedanken gemacht, bis sie eines Tages beginnt, die Zeit zu sehen. Denn Ophelia ist eine Zeitlose und besitzt die seltene Gabe, die Zeitströme zu beeinflussen. Doch kaum hat sie von diesen Fähigkeiten erfahren, spielt die Zeit plötzlich überall auf der Welt verrückt. Gemeinsam mit dem mysteriösen Leander muss Ophelia die Ursache für das Zeitchaos finden. Dabei kommen sie einem Geheimnis auf die Spur, das die gesamte Welt der Zeitlosen auf den Kopf stellen wird.  In ihrem Jugendbuch für Leser*innen ab 12 Jahren zaubert SERAPH-Gewinnerin Mechthild Gläser eine Geschichte voller Fantasie, Originalität und zarter Romantik, bei der man beim Lesen die Zeit am liebsten immer wieder zurückspulen möchte!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 510

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Prolog

Erster TeilStaub

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Zweiter TeilIm Bernsteinpalast

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Dritter TeilSekundenjagd

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Vierter TeilDer Herr der Zeit

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Fünfter TeilEwigkeit

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Epilog

Prolog

Der Herr der Zeit war alt geworden. Na ja, gut, alt war er schon beinahe so lange, wie er sich zurückerinnern konnte. Also schon eine ganze Weile. Dennoch lasteten die Jahre mit einem Mal schwerer auf seinen Schultern als zuvor. Der Arm, in dem er gerade eine Seele hielt, zitterte vor Anstrengung. Natürlich versuchte er, sich zusammenzureißen, sich nichts anmerken zu lassen. Es war die Seele eines guten Menschen, die er trug, und er wollte, dass sie sich sicher und geborgen fühlte, während er sie auf die andere Seite brachte. Nicht so, als würde ein schwächlicher Greis sie womöglich jeden Moment in die tosenden Fluten fallen lassen. Die Wellen leckten und zerrten heute besonders bedrohlich an seiner Barke.

Der Herr der Zeit schloss die Augen und atmete langsam ein und wieder aus. Mit der freien Hand fischte er eine Taschenuhr aus den Tiefen seines Gewandes und klappte sie auf. Es war ein eigentümliches Gebilde, schwer, groß wie eine Untertasse. In den goldenen Deckel hatte jemand Schriftzeichen eingraviert, die so alt waren, dass nicht einmal er sie noch lesen konnte. Und anstelle des Ziffernblattes prangte dort ein kompliziertes Etwas aus Zahlen und Zahnrädern, Federn und einer schier unüberschaubaren Anzahl von Zeigern. Manche davon drehten sich rasend schnell, andere so langsam, dass es aussah, als wären sie stehen geblieben, und wieder andere hüpften hin und her, als könnten sie sich nicht entscheiden, wohin sie wollten. Er kniff die müden Augen zusammen, um besser sehen zu können.

Ja, es war eindeutig an der Zeit, dass jemand anderes diesen Job übernahm. Der Herr der Zeit seufzte und wiegte die Seele in seinem Arm zur Beruhigung ein wenig hin und her, während er davon träumte, sich zur Ruhe zu setzen. Und weil die Zeit für ihn wie ein Kreis war, in dem zugleich alles schon geschehen war, noch geschehen würde oder haargenau in diesem Augenblick geschah, wusste er, dass es bald so weit sein würde.

Er wusste, dass es bereits begonnen hatte: Mit einem Jungen, der mit einer ungewöhnlichen und Furcht einflößenden Gabe auf die Welt gekommen war. Mit einem wundersamen Ort unter den Grundmauern eines Amphitheaters, den es eigentlich gar nicht hätte geben dürfen. Er wusste, dass es beginnen würde: Mit jenem seltsamen Tag, an dem in London die Uhr von Big Ben verkehrt herum laufen würde. Und er wusste, dass es jetzt, in diesem Augenblick, begann: Mit einem Mädchen, das drauf und dran war, alles, was es kannte, hinter sich zu lassen, um einem älteren Ehepaar in einen Abwasserkanal zu folgen.

Er hatte sogar ganz genau vor Augen, wie weit über ihm an der Erdoberfläche der dazugehörige Berliner Herbstmorgen stürmte und Laub über eine Straße im Stadtteil Spandau wirbelte. Das Mädchen beugte sich dort gerade tiefer über seinen Fahrradlenker und trat in die Pedale. Ophelia war nämlich wieder einmal viel zu spät dran. Die erste Stunde fing bereits in fünf Minuten an. Englisch, sie sollten heute einen Vokabeltest schreiben. Also biss sie sich auf die Unterlippe und legte noch einen Zahn zu. In Windeseile bog sie um die nächste Ecke, fuhr ein Stück über den Bürgersteig und nahm dann die Abkürzung durch den Park.

Sie war es natürlich gewohnt, sich abzuhetzen. Schon seit der ersten Klasse passierte es ständig, dieses Phänomen, das weder Ophelia selbst noch ihre Lehrer sich erklären konnten: Irgendwo auf dem Weg zwischen ihrer Haustür und dem Schulhof entglitt ihr die Zeit, sie schien einfach verloren zu gehen … Nur selten schaffte sie es vor dem Klingeln ins Gebäude.

Dabei war Ophelia keine Transuse, keine Träumerin. Sie führte mit ihren sechzehn Jahren sogar einen ziemlich tadellosen Kalender und hatte ihr Leben auch sonst recht gut im Griff, fand der Herr der Zeit. Hausaufgaben zum Beispiel gab sie stets pünktlich ab, Verabredungen mit ihren Freundinnen vergaß sie nie und bei den Aktionen der Umwelt-AG war meist sie es, die alle zusammentrommelte und Flyer oder Plakate organisierte. Überhaupt, niemand, der Ophelia kannte, wäre wohl auf die Idee gekommen, dass sie sich noch heute auf den Weg nach Paris machen und dort in eine ganz und gar merkwürdige Geschichte verstricken würde. Noch ahnte ja nicht einmal sie selbst etwas davon.

Noch hatte sie niemandem von dem Staub erzählt.

Dazu kam ihr das Ganze sowieso viel zu aberwitzig vor.

Der Kies des Weges knirschte unter den Reifen ihres Mountainbikes, während der Wind an ihren haselnussfarbenen Haaren zerrte und sie trotz der Anstrengung frösteln ließ. Es war nicht mehr weit, nur noch den Hügel hinauf, dann zwei Häuserblocks entlang und über die Kreuzung. Doch der Rest der Klasse ließ sich nun bereits an den Schultischen nieder und holte Stifte und Papier aus den Rucksäcken. Sie würde es nicht mehr rechtzeitig schaffen. Keine Chance.

Ophelia ärgerte sich über sich selbst und trat noch heftiger in die Pedale. Kurz hinter ihrer Lehrerin durch die Tür zu huschen, war das eine. Aber gleich mehrere Minuten zu spät zu kommen … So ein Mist!

Außerdem war da schon wieder dieser seltsame Staub, der in einem schmalen Rinnsal über ihre Bettdecke gekrochen war und sie beim Aufwachen erschreckt hatte. Dieses Mal wand er sich neben ihr durchs Gras, schlängelte sich wie ein Bach zwischen den Halmen hindurch, als wollte er sie begleiten. Das Zeug war eine Mischung aus silbrigen Körnchen und Spinnweben. Schmutz, der, nun ja, sich offenbar vorgenommen hatte, Ophelia zu verfolgen. So unglaublich das auch erscheinen mochte.

Schon seit Tagen hatte sie deshalb dieses mulmige Gefühl im Bauch, das ihr zuweilen vertraut vorkam. Angefangen hatte das Ganze letzte Woche ziemlich harmlos: hier ein verirrter Fussel, der im Wind an Ophelia vorbeitrudelte, dort ein paar Körnchen, die sich vorwitzig auf der Fußmatte im Treppenhaus breitgemacht hatten. Nichts Dramatisches.

Aber die Fusseln und Körnchen hatten sich rasch in feine Ströme verwandelt, die sich nun überall durch die Stadt und in jedes Zimmer schoben, das Ophelia betrat. Und am allermerkwürdigsten daran fand sie, dass niemand außer ihr diese komischen Flusen zu bemerken schien. Sie fragte sich, wie das überhaupt möglich war.

Und auch, wie, verdammt noch mal, der Bach jetzt plötzlich diesen Satz nach vorn machte? Wollte er ihr etwa den Weg abschneiden?

Ophelia bremste scharf, versuchte, den Lenker im letzten Moment herumzureißen. Was keine gute Idee war, bei der Geschwindigkeit, die sie inzwischen draufhatte. Herrje!

Der Herr der Zeit hielt den Atem an, während Ophelias Fahrrad unter ihr wegglitt. Das Profil der Reifen fand einfach keinen Halt mehr zwischen den Staubkörnchen.

Sie schrie auf.

Einen Wimpernschlag später landete sie hart im Kies und rollte noch ein Stück über Laub und Gras, die ihren Sturz leider kaum abdämpften. Ihre Tasche klatschte mehrere Meter von ihr entfernt zu Boden, das Fahrrad schlitterte noch etwas weiter. Unterdessen fuhr ein stechender Schmerz durch Ophelias Handgelenk und der Staub … Der Staub kroch leise davon, heimlich, wie er es immer tat, immer getan hatte und immer tun würde.

Benommen blieb Ophelia liegen und blinzelte in den wolkenverhangenen Himmel, während der Herr der Zeit die Szenerie mit einem Kopfschütteln aus seinen Gedanken wischte. Wäre er derjenige, der diese Geschichte erzählte, er hätte wahrscheinlich hiermit angefangen: mit Ophelia und dem Staub und diesem Herbstmorgen, an dem alles seinen Lauf nahm.

Aber natürlich musste er die Seele in seinem Arm abliefern und danach warteten bereits so viele andere auf seine Dienste! Er wäre ja gern noch geblieben, wenigstens für ein paar Minuten. Vielleicht auch, bis Ophelia sich etwas beruhigt und man im Krankenhaus festgestellt hätte, dass ihr Handgelenk nicht gebrochen, sondern lediglich verstaucht war. Oder sogar, bis Ophelias Mutter … Nein, das alles ging natürlich nicht. Auch wenn es ihm nicht gefiel, sie ausgerechnet jetzt allein zu lassen, er sollte lieber zusehen, dass er weiterkam. Am besten sofort.

Der Tod machte nun mal keine Pausen.

Und Ophelia würde es definitiv auch ohne ihn in diesen Abwasserkanal schaffen.

1

Die meisten Leute wären wegen eines bisschen Staubs sicher nicht gleich durchgedreht. Dass meine Mutter mich deswegen über den Rand ihrer Kaffeetasse hinweg musterte, als wäre ich ein Gespenst, beunruhigte mich daher schon ein wenig. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen, ihre Augen weit aufgerissen.

»Dein Verhalten in den letzten Tagen und nun auch noch dieser Unfall …«, stammelte sie. »Du siehst Staub, nicht wahr, Ophelia? Staub, wo keiner sein sollte?«

Überrascht strich ich mir das regennasse Haar aus dem Gesicht. Auf dem Weg vom Krankenhaus hierher hatte mich ein heftiger Schauer erwischt und nun tropfte ich Mamas frisch gewischten Küchenboden voll. Ich war mir sicher, dass ich bisher nicht erwähnt hatte, was genau mich und mein Fahrrad heute Morgen zu Fall gebracht hatte.

Immerhin weigerte ich mich ja selbst noch, mir einzugestehen, dass ein paar winzige Körnchen … In jeder Großstadt gab es schließlich schmuddelige Ecken, oder? Dreck sammelte sich an Straßenrändern oder in den hintersten Winkeln von Supermarktparkplätzen, unzählige Spinnweben hingen unter unzähligen Kellerdecken. Hinter Schrankwänden verbargen sich flusige Wollmäuse. Das alles war so normal, dass vermutlich niemand je groß darüber nachdachte. Warum sollte ich das also tun?

Wieso führte ich überhaupt diese Unterhaltung, anstatt mir trockene Klamotten anzuziehen und mit meiner besten Freundin Anna zu schreiben, um Pläne für das bevorstehende Pfadfindercamp an der Ostsee zu schmieden? Bis zu den Herbstferien war es schließlich nur noch eine Woche und wir freuten uns bereits seit Monaten auf das Zeltlager.

Doch auch jetzt krochen schon wieder ein paar dieser seltsamen Rinnsale auf mich zu. Genau wie in den letzten Tagen: gräulicher Staub, sehr fein, im Licht geheimnisvoll schimmernd und meistens irgendwo am Rande meines Sichtfeldes. Etwas, das ich nur aus dem Augenwinkel wahrnahm. Etwas durch und durch Merkwürdiges, das es eigentlich nicht geben konnte. Und doch war es da. Gerade zum Beispiel perlte das Zeug in zarten Tropfen über den Rand der Spüle. Waren das Halluzinationen? Wurde ich verrückt?

»Ob du Staub siehst?«, wiederholte meine Mutter und umklammerte ihre Tasse fester, während mein kleiner Bruder Lars im Nebenzimmer irgendetwas mit seinem Teddybären diskutierte.

Ich spürte, wie ich nickte und gleich darauf wieder den Kopf schüttelte. Das war doch total bescheuert! »Vermutlich habe ich bloß das Fahrradfahren verlernt«, sagte ich, zuckte mit den Schultern und versuchte mich an einem schiefen Grinsen.

Doch es war bereits zu spät. Mamas Blick durchbohrte mich. Einen Moment lang betrachtete sie mich, als sähe sie mich zum ersten Mal. Dann griff sie ohne ein weiteres Wort nach ihrem Handy.

»Äh«, machte ich. »Habe ich irgendetwas nicht mitbekommen?«

Sie seufzte und scrollte durch die Kontaktliste. Wir beide verstanden uns die meiste Zeit über nicht sonderlich, das hatten wir noch nie. Dennoch kannte ich meine Mutter gut genug, um zu wissen, wenn sie sich um mich sorgte. Sie bekam dann dieses Grübchen auf der linken Wange, das so aussah, als bisse sie von innen darauf. Und gerade bestand ihr Gesicht aus so ziemlich nichts anderem als diesem Grübchen.

»Was ist los?«, fragte ich. »Was machst du da?«

Tatsächlich hielt sie nun doch noch einmal inne und holte tief Luft, bevor sie tonlos erklärte: »Du solltest wohl etwas über unsere Familie erfahren.«

»Unsere Familie?« Ich runzelte die Stirn, während meine Mutter plötzlich sogar ein paar Tränen fortblinzelte, die sich in ihre Augenwinkel geschlichen hatten.

»Im Grunde weiß ich selbst nicht viel. Dein Vater hat einmal gesagt, dass, falls eine seiner Töchter eines Tages von merkwürdigen Staubformationen berichtet …«, murmelte sie und schaute wieder auf das Display ihres Smartphones. »Es ist, wie es ist, Ophelia. Tut mir leid.« Ihre Stimme wurde brüchig. »Du wirst von hier fortgehen müssen, um es zu verstehen.«

»Wie bitte?« Okay, irgendetwas lief hier schief. Und zwar gewaltig. In was für einen Albtraum war ich denn da nur hineingestolpert? Erst verfolgten mich diese komischen Staubflocken und nun sollte ich deshalb auch noch weggeschickt werden?

Mein Mund klappte auf und wieder zu.

»D…das ist doch ein Scherz!«, stieß ich schließlich hervor. Ich starrte meine Mutter an, die jetzt auf ein Freizeichen lauschte und mir bedeutete, still zu sein.

»Ich meine, was genau hat Papa denn über mich gesagt?«, versuchte ich es trotzdem weiter. Es geschah für meinen Geschmack ohnehin viel zu selten, dass jemand in diesem Haus über Papa sprach. Selbst acht Jahre nach dem Unfall schwebte sein Tod noch immer über uns, wie eine dunkle Wolke, von der wohl alle glaubten, sie könnte sich jederzeit in einen Gewittersturm verwandeln, falls wir ihr zu nahe kämen. Ich war die Einzige, die das anders sah. Vielleicht weil ich damals mit im Wagen gesessen hatte. Weil nur ich mitbekommen hatte, wie er gestorben war.

Auch nun tat meine Mutter wieder einmal so, als hätte sie mich nicht gehört, kaum dass ich meinen Vater erwähnt hatte. Das machte sie immer, wenn es um die wirklich wichtigen Themen ging. Ab einem gewissen Punkt ließ sie mich einfach allein damit klarkommen. Ich presste die Lippen aufeinander.

»Glaub mir, es ist bestimmt besser so. Für uns alle«, sagte Mama. »Jacques und Blanche werden sich in nächster Zeit um dich kümmern und dann sehen wir wei–«

»Die Pendulettes? Aber ich dachte …« Ich kannte meinen Großonkel und meine Großtante kaum, hatte die beiden das letzte Mal bei Papas Beerdigung gesehen. Damals hatten sie mir ein Märchenbuch geschenkt, vor dem ich mich so sehr gegruselt hatte, dass ich ein paar Wochen auf dem Fußboden vor dem Bett meiner älteren Schwester Grete hatte schlafen müssen. Ich war noch keine neun Jahre alt gewesen.

Gut, seit Grete dann Anfang vergangenen Jahres zu ihnen gezogen war, um irgendeine Superschule in Paris zu besuchen und nach dem Abschluss die Weltherrschaft oder so zu übernehmen, hatten die Pendulettes ab und zu hier angerufen und häufiger geschrieben. Aber bisher hatte Mama das nicht sonderlich gern gesehen. Ehrlich gesagt, behauptete sie hin und wieder sogar, dass die beiden nicht mehr alle Tassen im Schrank hätten und sie meiner Schwester nur erlaubte, dort zu wohnen, weil Grete ohnehin beinahe volljährig wäre und ihre eigenen Entscheidungen treffen könnte. Woher kam also dieser Sinneswandel?

»Wieso?«, flüsterte ich, bekam jedoch keine Antwort. Ja, nicht einmal einen weiteren Blick gestand sie mir zu! Meine Hände ballten sich zu Fäusten, meine Verletzung begann wieder zu schmerzen. »Ich bin kein Kind mehr, okay? Du kannst also nicht einfach beschließen, mich zu irgendwelchen Verwandten – Mama?«

Sie drückte sich das Handy ans Ohr. »Vielleicht ziehst du dir in der Zwischenzeit etwas Trockenes an?«, schlug sie vor, noch immer, ohne mich anzusehen. »Bei diesem Regen Fahrrad zu fahren! Ich hätte dich doch vom Krankenhaus abgeholt, wenn du dich gemeldet hättest.«

Ich hielt mir das bandagierte und nun wieder fies pochende Handgelenk und kämpfte gegen den Impuls an, mir ihr Telefon zu schnappen und den Anruf zu unterbrechen. »Ich hab es auch so hinbekommen. Und ich werde bestimmt nicht –«

In diesem Moment meldete sich offenbar jemand am anderen Ende der Leitung. Meine Mutter atmete aus. »Es geht um Ophelia«, sagte sie, ohne meine Proteste weiter zu beachten. »Besser, ihr kommt sofort.«

Dass ich endgültig den Verstand verloren haben musste, wurde mir klar, als ich ein paar Stunden später tatsächlich hinter einer verrückten Alten aus einem Pariser Gulli kletterte. Ich war schließlich wild entschlossen gewesen, Mama und ihrem kryptischen Anruf bei unseren Verwandten die Stirn zu bieten. Doch stattdessen schob ich nun allen Ernstes meinen Fuß auf die nächste Sprosse einer rostigen Leiter, während meine Mutter mich zu Hause in Berlin bis auf Weiteres in der Schule krankmeldete. Über mir erkannte ich ein Stückchen dunklen Nachthimmel sowie den schillernden Turban meiner Großtante Blanche.

»Komm, Ophelia. Wir sind spät dran«, mahnte sie. Selbst wenn sie flüsterte, so wie jetzt (offensichtlich ließ man sich auch in diesem Land besser nicht dabei erwischen, wie man in der Kanalisation herumspazierte), war der französische Singsang in ihrer Stimme nicht zu überhören.

»Ich weiß«, wisperte ich zurück und stemmte mich mitsamt meinem prall gefüllten Wanderrucksack in die Höhe. Dass wir uns beeilen mussten, war natürlich meine Schuld, wie immer. Doch dieses Mal lag es nicht bloß an meinem »Unpünktlichkeitsfluch«. Die Situation war einfach zu absurd und meine Verwirrung darüber machte mich zusätzlich langsam. Darüber hinaus war der oberste Tritt der gammeligen Leiter so glitschig vor Herbstlaub, dass ich, als ich endlich oben ankam, ins Taumeln geriet. Für einen Moment verlor ich das Gleichgewicht und wäre beinahe wieder in den Kanalschacht gepurzelt.

Doch die Hand meines Großonkels, der sich als Erster von uns dreien nach oben gehangelt hatte, erwischte mich im letzten Moment und riss mich zurück.

»Hoppla«, murmelte Onkel Jacques.

Tante Blanche leuchtete mir derweil mit ihrer Taschenlampe direkt ins Gesicht. Während ich in das gleißende Licht blinzelte, versuchte ich herauszufinden, wo wir gelandet waren. Aber alles, was ich ausmachen konnte, war eine Art Hinterhof.

»Hattest du in eurer letzten Weihnachtskarte nicht erwähnt, dass du inzwischen eine geübte Kletterin wärst?«, sagte Tante Blanche, die ungefähr fünfmal so alt wie ich sein musste, mir mitsamt Turban gerade einmal bis zur Nasenspitze reichte und mich beim Aufstieg gnadenlos abgezogen hatte. Peinlich, peinlich.

Es stimmte, normalerweise liebte ich nichts mehr, als mich an einer Kletterwand in die Höhe zu schwingen und mir die Welt von oben anzuschauen. Ich war regelrecht süchtig nach diesem Kick, wenn es mir gelang, die eigene Angst zu überwinden, nach diesem winzigen Moment, in dem ich mich frei und unbesiegbar fühlte, losgelöst von allem. Aber das hier war nun mal keine Runde in der Kletterhalle, bei der es bloß darum ging, irgendeine Route zu meistern. Das hier war vollkommen beknackt. Meine Knie zitterten sogar, obwohl ich mich kaum hatte anstrengen müssen.

Höchstwahrscheinlich stand ich unter Schock oder so.

»Ich bin verletzt. Außerdem ist mein Gepäck echt schwer«, verteidigte ich mich mehr schlecht als recht. Mit der verbundenen Hand deutete ich auf den gewaltigen Rucksack, mit der anderen schirmte ich meine Augen ab. »Bitte, könntest du vielleicht irgendwo anders hinleuchten?«

Okay, das klang jetzt wirklich ein bisschen jämmerlich und so gar nicht nach mir. Ich musste dringend meine Fassung wiederfinden und zwang mich dazu, an etwas Schönes zu denken. Zum Beispiel daran, dass ich die Mathearbeit am Montag verpassen würde, weil ich gerade mit meinen Verwandten auf einem unterirdischen Fluss in der Kanalisation nach Paris geschippert war … Na, das funktionierte ja großartig!

»Oh, entschuldige.« Tante Blanche senkte den Lichtkegel herab, sodass ich wieder ihr vogelartiges Gesicht erkennen konnte. Ihre wässrigen Augen, die in Nestern aus Runzeln saßen, beobachteten mich. »Kann es denn jetzt weitergehen oder brauchst du eine Pause?«, fragte sie, schaffte es jedoch nicht, ihre Ungeduld zu verbergen. »Du bist blass. Ist dir übel?«

Hastig schüttelte ich den Kopf. Seit der Sache mit dem Märchenbuch hielt Tante Blanche mich wohl für eine ziemliche Memme. Und ich war momentan auf dem besten Weg, dieses Bild von mir erneut zu bestätigen.

»Mir geht’s prima. Ich kann es kaum erwarten, meine Schwester und euer Haus zu sehen«, fügte ich deshalb betont enthusiastisch hinzu (gerade so, als hätte mich die superunheimliche Geschichte von Rotkäppchen und dem bösen Wolf niemals zum Weinen gebracht).

»Schön.« Sie wirbelte herum und ich beeilte mich, mit ihr Schritt zu halten.

Alles in allem erinnerte Tante Blanche verblüffend an einen zerknitterten Papagei und der Eindruck verstärkte sich noch, als sie nun in ihrem changierenden Taftkleid, den lang gezogenen Schnabelschuhen und dem mit einem riesigen Bernstein geschmückten Turban zwischen zwei Müllcontainern hindurchflatterte – Pardon – -hastete. Ihre neonpinke Handtasche baumelte dabei von ihrem Arm und komplettierte ihr Outfit um eine schreiend grelle Komponente.

Dass die Pariser Mode abgedreht sein konnte, war natürlich allgemein bekannt. Doch von älteren, wohlhabenden Damen hätte ich, ehrlich gesagt, irgendwie etwas Gedeckteres erwartet. Ein Chanel-Kostüm vielleicht. (Und ich war mir sicher, dass Tante Blanche bei unserer letzten Begegnung etwas weniger bunt dahergekommen war. Nicht einmal sie ging wohl in Neonpink zu einem Begräbnis.)

Mein Großonkel Jacques sah übrigens kaum unauffälliger aus. Seine Cordhose war zwar nicht regenbogenfarben wie Tante Blanches Kleid, sondern schlicht braun, doch dazu trug er Filzpantoffeln und ein Hemd, das so ausgefranst war, dass man befürchten musste, es könnte jeden Moment auseinanderfallen.

»Keine Sorge, bald sind wir da«, sagte er. Wie Tante Blanche war auch er alt, mindestens achtzig, schätzte ich, doch noch immer hochgewachsen. Die Falten um seinen Mund zogen elegante Linien und verliehen ihm den Glanz eines Filmhelden aus vergangenen Zeiten.

Zu dritt umrundeten wir nun einen müffelnden Haufen Abfall, während ich versuchte, die Panik, die schon wieder in mir aufkeimen wollte, niederzuringen. Nichts hiervon war normal. Gar nichts. Aber zumindest befanden wir uns nun wieder über der Erde.

»Und wann erklärt ihr mir endlich, äh …« Ich suchte nach Worten, fand sie jedoch nicht. »Alles?«

»Nicht, wenn wir gerade Gefahr laufen, die Metro zu verpassen, weil du ja unbedingt noch einmal zurücklaufen musstest, junge Dame.« Jetzt wirkte Tante Blanche doch ein wenig außer Atem.

»Komm schon, Blanche, das ist ganz schön viel für die Kleine. Dann nehmen wir eben die nächste Bahn«, meinte Onkel Jacques, doch meine Tante schüttelte den Turban.

»Du weißt, dass ich mich mit Sybilla Cho zum Telefonieren verabredet habe.«

»Tut mir leid«, entschuldigte ich mich derweil nun schon zum insgesamt dritten Mal. Tante Blanche schien nicht einmal ansatzweise zu verstehen, wie krass der Staub und diese plötzliche Reise für mich waren. Dass ich Zeit brauchte, um all das zu verarbeiten.

Klar, sie hatten mich in Berlin nicht aus der perfekten Idylle gerissen. Natürlich waren wir keine Vorzeigefamilie. Wie auch, nach dem, was geschehen war? Papas Tod hatte eine zu große Lücke hinterlassen. Dennoch kamen wir zurecht, hatten inzwischen jede für sich einen Weg gefunden, damit umzugehen:

Mama hatte Mark getroffen und mit ihm vor fünf Jahren Lars bekommen. Grete war zum Wunderkind mutiert und hatte irgendwann ihr Geigenköfferchen gepackt, um in die Welt hinauszuziehen. Und ich, ich hatte eben gelernt, mich an Kletterwänden und Felsen in die Höhe zu hangeln, ging mit meinen Freunden Pizza essen und protestierte ab und an gegen die Abholzung der Regenwälder. Wie selbstverständlich war ich davon ausgegangen, dass mein Leben mehr oder weniger so weiterlaufen würde wie bisher.

Als Tante Blanche und Onkel Jacques schließlich auf Mamas Anruf hin am späten Nachmittag bei uns aufgekreuzt waren, hatte ich jedenfalls beinahe gelacht. So abwegig war es mir noch immer vorgekommen, dass meine Mutter mich von einem Tag auf den anderen in verfrühte Ferien nach Frankreich abschieben wollte. Dass sie ernsthaft glaubte, ich würde dabei mitmachen!

Doch dann hatten meine Verwandten zwei äußerst schlagkräftige Argumente vorgebracht, die mich meine Meinung überdenken ließen. Das eine war der Staub. Staub, der sich auch hier gerade in glitzernden Rinnsalen zwischen Mülltonnen hindurch- und an Häuserwänden entlangschlängelte und bei jedem Schritt unter meinen Schuhen knirschte. Staub, von dem ich angenommen hatte, dass niemand außer mir ihn bemerkte.

Bis Onkel Jacques inmitten unserer Wohnung plötzlich einen großen Schritt über eines der breiteren Rinnsale gemacht hatte, das neuerdings durch die Diele floss. Bis Tante Blanche mich mit einem »Ophelia, Schatz, du bist ja groß geworden!« begrüßt hatte, während sie gleichzeitig ein paar zuvor nur für mich sichtbare Spinnweben von meiner Schulter zupfte!

Offensichtlich litten wir nämlich unter denselben abstrusen Halluzinationen … Nun ja, Onkel Jacques und Tante Blanche hatten versprochen, dass mich in Paris eine logische Erklärung für die staubigen Spukbilder erwartete. Und deshalb folgte ich den beiden auch jetzt noch weiter in die Dunkelheit, in die sich mehr und mehr das Licht von Straßenlaternen mischte. Der Hinterhof ging in einen steinernen Torbogen über, als Nächstes war da ein zweiter, kleinerer Hof, in den bereits der Lärm vorbeifahrender Autos drang. Und dann, dann standen wir plötzlich am Rande einer belebten Straße.

Mehr noch, es war nicht bloß irgendeine Straße, sondern das Herz Montmartres! Ganz in der Nähe erhob sich die hell erleuchtete Basilika von Sacré-Cœur über unseren Köpfen in den Nachthimmel und am Fuße des Hügels glitzerte uns die Stadt entgegen. Es sah tatsächlich so aus, wie ich es mir immer vorgestellt hatte!

Ich konnte einfach nicht anders, als schon wieder stehen zu bleiben.

»Willkommen in Paris, Ophelia Pendulette«, sagte Onkel Jacques, der sich mit einem Lächeln zu mir umgedreht hatte, während Tante Blanche ungeduldig auf den Zehen auf und ab wippte.

Paris! Also wirklich! In meiner Magengrube breitete sich ein Kribbeln aus. Die Härchen auf meinen Armen richteten sich auf, obwohl das Wetter hier deutlich milder (und vor allem trockener) war als zu Hause.

Onkel Jacques musterte mich einen Moment lang. »Aufregend, was?«

»Ja.«

Er nickte. »Weißt du, ich glaube, du bist sehr vernünftig für dein Alter. Vermutlich sogar vernünftiger als Grete. Du warst schon als Kind so ernst, aber … vielleicht wäre es einfacher für dich, das hier zuallererst als ein Abenteuer zu betrachten und dir das Grübeln für später aufzuheben?« Er zwinkerte mir zu. »Wie wäre es, wenn du einfach ein bisschen die Stadt genießt?«

Die Stadt … Ich war noch nie in Paris gewesen. Trotzdem war es ein Gefühl, wie nach Hause zu kommen, als wir kurz darauf durch die Straßen wanderten. Vielleicht, weil ich die ersten Jahre meines Lebens zweisprachig aufgewachsen war und die Schilder und Speisekarten von Bäckereien und Cafés mir deshalb wie ein Gruß von meinem Vater erschienen? Vielleicht auch schlicht, weil die Fassaden der gewaltigen Stadthäuser mit den schmiedeeisernen Balkonen, gepaart mit dem Akkordeonspiel eines Straßenmusikers, mir an diesem bisher merkwürdigsten aller merkwürdigen Tage meines Lebens zur Abwechslung einmal herrlich normal vorkamen.

Ich nahm einen tiefen Atemzug kühler Pariser Abendluft, dann einen zweiten und einen dritten, bis das schwummrige Gefühl in meinem Kopf, das mich seit dem Morgen nicht losgelassen hatte, endlich begann, ein wenig abzuflauen. Na gut, ein Abenteuer also. Abenteuer waren zumindest besser als Nervenzusammenbrüche, oder?

Möglicherweise hatte Onkel Jacques recht und ich war wirklich ein wenig falsch an die Sache herangegangen. Nun besuchte ich also meine Schwester in Frankreich, so was machten Leute doch andauernd. Man reiste hierhin und dorthin zu den unmöglichsten Zeiten. Anna war letztes Jahr auch zwei Wochen von der Schule beurlaubt worden, um bei der Hochzeit ihrer Cousine in Australien dabei sein zu können. Das Ganze war doch im Grunde gar nicht so spektakulär, oder? Recht unüberlegt und auch ein bisschen unorthodox zustande gekommen, okay. Aber, hey, durfte man nicht mal spontan sein?

Wir nahmen die Metro ins 3. Arrondissement und ich befürchtete, dass Tante Blanche wie ein exotischer Vogel zwischen den übrigen Fahrgästen wirken würde. Doch auf den Sitzen auf der anderen Seite des Gangs saßen zwei Punks, deren Haare sogar noch bunter waren als Tante Blanches Turban. Und Onkel Jacques’ Filzpantoffeln erschienen plötzlich geradezu seriös gegenüber den Plateaustiefeln aus weißem Lack, die eine Frau zusammen mit pflaumenfarbenem Lippenstift und einem knappen Kleid ausführte. Davon abgesehen befanden wir uns eindeutig in einer ganz normalen Großstadt und nicht in irgendeinem gruseligen Märchenwald oder so.

Zwar sah ich auch hier natürlich noch immer den Staub, der da und dort über einen der Sitze sickerte oder von der Aktentasche eines Geschäftsmannes tröpfelte, doch ich tat vorerst so, als bemerkte ich ihn genauso wenig wie beinahe alle übrigen Menschen.

Stattdessen nutzte ich die Gelegenheit, um meiner Mutter zu schreiben: Sind jetzt in Paris. Die Fahrt war ungewöhnlich, aber zu ertragen. Melde mich später noch mal.

Wie immer dauerte es lange, bis eine Antwort kam, weil Mama ihr Handy so gut wie nie bei sich trug, wenn sie sich um Lars kümmerte (um ihn vor schädlicher Strahlung zu schützen). Doch heute ärgerte es mich noch mehr als sonst, dass ich fast eine halbe Stunde warten musste, bevor sie mir ein knappes Okay sendete. Ich konnte noch immer nicht fassen, dass sie mich einfach so fortgeschickt hatte. Ohne dass überhaupt klar war, wie lange ich weg sein würde! In meiner Kehle bildete sich ein Knoten.

»Ich schätze, es ist noch genug Zeit für ein Abendessen, findet ihr nicht auch?«, unterbrach Onkel Jacques meine Gedanken.

Ich schaute auf meine Armbanduhr und nickte geistesabwesend. Tatsächlich war es gerade einmal halb acht, unsere gesamte bisherige Reise von Berlin nach Paris hatte also nur etwas über eine Stunde gedauert. Diese Bootsfahrt …

Anstatt mich jedoch erneut einem Thema zu nähern, das ich gerade erst beschlossen hatte zu ignorieren, konzentrierte ich mich darauf, meinen Rucksack aus der Metro zu wuchten, die Rolltreppe hinaufzufahren und Tante Blanche und Onkel Jacques weiter durch das Gewirr der Straßen und Gassen zu begleiten.

Nach einer Weile kamen wir an einem kleinen Gemüsegeschäft vorbei und bogen an einem Kiosk um die Ecke, in dessen Zeitschriftenauslage sämtliche Titelseiten natürlich über die kuriosen Probleme mit den Turmuhren auf der ganzen Welt berichteten: Seit ein paar Wochen gingen diese allerorten, von der Großstadt bis zum entlegensten Dorf, immer wieder falsch, stockten oder liefen gar für ein paar Minuten rückwärts. Und bisher hatte noch kein Uhrmacher die Ursache dieses Phänomens finden können …

Schließlich blieben wir vor einem Hotel mit bröckelnder Stuckfassade und einem von der Sonne gebleichten Baldachin über dem Eingang stehen. An der Hausecke glomm in Neonbuchstaben der Name Hôtel de la Pendulette. Allerdings waren das N und beide Ts unseres Familiennamens kaputt, weshalb man von Weitem lediglich »Hôtel de la Pedulee« las.

Die gläserne Drehtür schrappte über einen Teppichboden von undefinierbarer Farbe. Dahinter erwartete uns ein Tresen mit einer goldenen Klingel vor einer Wand voller nummerierter Schlüsselhaken. Die Rezeption war nicht besetzt, doch das schien niemanden zu stören.

Tante Blanche überlegte einen Moment, dann angelte sie einen der Schlüssel herunter und überreichte ihn mir. Der klobige Anhänger daran war aus abgegriffenem Metall und wog schätzungsweise ein Kilo.

»Zimmer 32«, verkündete sie. »Das wird dir bestimmt gefallen. Und jetzt entschuldige mich bitte, ich bin sowieso schon zu spät dran.« Sie verschwand hinter einem Vorhang in der Nähe des Eingangs.

»Äh«, sagte ich derweil zu Onkel Jacques. »Mir war gar nicht klar, dass ihr in der Tourismusbranche seid.«

»Sind wir auch nicht. Das hier ist so etwas wie unser Familiensitz«, erklärte er. »Im Grunde haben wir also bloß sehr viele Gästezimmer. Wir essen dann übrigens in einer halben Stunde, wäre dir das recht?«

»Sicher.«

»Gut.« Onkel Jacques nickte und streckte eine von Altersflecken bedeckte Hand nach mir aus. Mit den Fingerspitzen strich er über meine Schulter. Erneut zeichnete er wie selbstverständlich das gezackte Muster der Narbe nach, die sich unter dem Stoff meines Pullovers verbarg und seit acht Jahren wie die Zahnreihe eines gefährlichen Tieres über meine Haut zog, vom Ellenbogen bis zwischen die Schulterblätter. Ich versteckte diese Narbe stets unter allen Umständen vor den Augen anderer Menschen, und sofern doch einmal jemand einen Blick darauf erhaschte, behauptete ich allenfalls patzig, ich hätte sie bei eBay ersteigert.

Aber das hier war etwas anderes.

Federleicht fuhr Onkel Jacques über das stachelige Muster, genauso, wie er es heute Nachmittag schon einmal getan hatte. »Fühl dich ganz wie zu Hause, ja?«, sagte er leise. »Schon bald wirst du alles verstehen, das verspreche ich dir.«

Ich schluckte und hoffte sehr, dass er damit recht haben würde.

Bis heute hatte es schließlich nur einen einzigen Abend in meinem Leben gegeben, der auch nur ansatzweise so unerklärlich verlaufen war wie dieser hier. Es war jener schreckliche Abend gewesen, an dem ich Papa verloren und die Narbe bekommen hatte. Der Abend des Unfalls. Der Abend, an dem ich zum ersten Mal das Gefühl gehabt hatte, etwas um mich herum wäre nicht mit rechten Dingen zugegangen.

Und irgendwas in Onkel Jacques’ Blick sagte mir schon die ganze Zeit über, dass dies keine Täuschung gewesen war.

Natürlich hatten alle behauptet, meine Fantasie müsse mir damals einen Streich gespielt haben. Meine Mutter, Grete, die Lehrer … All die Jahre hatte man mir wieder und wieder versichert, dass ich noch ein Kind und traumatisiert gewesen wäre. Pure Einbildung wäre das alles gewesen, nicht mehr als ein böser Traum. Weil der Baum definitiv umgestürzt und nicht geflogen wäre und überhaupt …

So lange hatten sie es mir eingeredet – bis ich es eines Tages selbst geglaubt hatte.

Ich war also vernünftig geworden, weil alle das von mir erwartet hatten, hatte versucht, mein Leben weiterzuleben. Doch heute … Als Onkel Jacques mich am Nachmittag auf diese merkwürdige Weise angesehen und die Linie meiner Narbe nachgezeichnet hatte, war es mir mit einem Mal klar geworden: Was, wenn es einen Zusammenhang zwischen damals und heute gab? Zwischen jenem unerklärlichen Gewitterabend vor acht Jahren und den ebenso unerklärlichen Rinnsalen, die mich seit Neuestem verfolgten?

Wenn ich mir den schwebenden Baum genauso wenig eingebildet hatte wie heute den Bach, der mich zu Fall gebracht hatte?

Da formte sich nämlich so ein Ziehen in der Gegend um meinen Bauchnabel, wann immer ich diesen Staub anschaute. Genau wie damals, als ich den fliegenden Baum beobachtet hatte. Als würde etwas in meinem Innern auf einmal blinzeln und nur darauf warten, im nächsten Moment zu erwachen.

Und ebendieses komische Gefühl, diese Ahnung einer Verbindung, war das zweite Argument gewesen, das mich schließlich davon überzeugt hatte, mit nach Paris zu kommen. Viel mehr noch als all der Staub und die geisterhaften Spinnweben an sich.

Es war sogar der eigentliche Grund, weshalb ich mich auf diesen Wahnsinn eingelassen hatte.

2

»Mein Vater«, setzte ich an, aber Onkel Jacques schüttelte den Kopf.

»Später«, sagte er, beschrieb mir stattdessen den Weg zu meinem Zimmer und ließ mich allein zurück.

Einen Moment lang trat ich unschlüssig von einem Fuß auf den anderen, legte den Kopf in den Nacken und betrachtete den Kronleuchter unter der Decke, roch den Staub von Jahren, der überall in der Luft zu liegen schien. Dann fiel mein Blick auf einen Treppenaufgang und die Pfeile, die zu den verschiedenen Zimmernummern führten.

Irgendetwas in meinem Rucksack klapperte, während ich die Treppen hinaufstieg. Dieses Klappern und meine eigenen Schritte waren die einzigen Geräusche, die ich auf dem Weg nach oben hörte. Unter anderen Umständen wäre das alte Hotel mir wohl ein wenig unheimlich gewesen, doch im Augenblick war ich einfach nur froh darüber, dass der meiste Staub hier vermutlich tatsächlich daher rührte, dass schon länger niemand mehr geputzt hatte. Außerdem musste Grete irgendwo in diesem Gebäude sein …

Nummer 32 war ein schmaler Raum am Ende des Flures in der dritten Etage. Das Fenster befand sich auf Höhe des Neon-Hs des Hotelschildes und der Schrank war gerade groß genug für meine Klamotten. Im angrenzenden Badezimmer entdeckte ich die winzigste Dusche, die ich je gesehen hatte, sowie ein Waschbecken mit einem Sprung.

Ich wusch mir Hände und Gesicht mit kaltem Wasser, putzte mir die Zähne und band meine Haare zu einem kurzen Pferdeschwanz zusammen. Für einen Augenblick betrachtete ich meine Züge in dem fleckigen Spiegel. Im Gegensatz zu Grete hatte ich die großen braunen Augen und die gerade Nase unseres Vaters geerbt, beides wirkte ein wenig eigentümlich in Kombination mit der hohen Stirn unserer Mutter und trotzdem passte dieses Gesicht zu mir. Nicht hübsch, aber ungewöhnlich. Es war das Gesicht von jemandem, dem etwas höchst Merkwürdiges passiert war, das richtige Gesicht für ein Abenteuer. Oder?

Ich kehrte dem Bad den Rücken, ließ mich aufs Bett fallen und schloss die Lider.

Gestern war ich noch mit Anna beim Pfadfindertreffen gewesen, wo wir die Zeltbelegung für nächste Woche durchgegangen waren. Und jetzt?

Das Allerwichtigste, wenn man in einer unbekannten Umgebung überleben wollte (egal ob es sich nun um die Wildnis eines Lagers oder das seltsame Zuhause entfernter Verwandter handelte), war nicht zu wissen, wie man einen Unterstand baute oder Feuer machte. Das Allerwichtigste war, sich erst einmal einen Überblick über die Lage zu verschaffen. Und sobald mein Handgelenk nicht mehr so fies pochte, würde ich gleich damit anfangen.

Als ich das nächste Mal auf die Uhr sah, waren blöderweise bereits vierzig Minuten vergangen und ich hatte keine Ahnung, wo genau in diesem alten Kasten Tante Blanche und Onkel Jacques mit dem Essen auf mich warten wollten. Mist!

Ich hastete durch die schummrigen, verschachtelten Gänge aus Tapeten, vergilbt vom Atem der Jahrzehnte. Das Hôtel de la Pendulette besaß sechs Stockwerke und ich vermutete die Küche wie auch den Speisesaal in einem der unteren. Allerdings war es gar nicht so leicht, sich in diesem Wirrwarr von Fluren und Treppenhäusern zurechtzufinden, das keinerlei architektonischem Konzept zu folgen schien. So schnell ich konnte, arbeitete ich mich durch das Gemäuer, stieg Wendeltreppen hinab, bog um Kurven.

Irgendwann, irgendwo in der ersten Etage, hörte ich schließlich etwas. Stimmen? Ein Summen?

Ich näherte mich dem Geräusch, bis es sich in das rhythmische Wummern von Bässen verwandelte, das unter einer weiteren Zimmertür (Nummer 7) hervorwaberte. Die Beats vibrierten in meinen Zehen und ließen selbst die Luft vor den Spitzen meiner Turnschuhe merkwürdig flackern. Obwohl, das bildete ich mir vermutlich nur ein, oder?

»Ophelia?«, drang Onkel Jacques’ Stimme aus einem der Treppenhäuser. »Opheeeliaaaa!«

»Ich bin hier!«, rief ich zurück.

Auf der anderen Seite der Tür drehte jemand die Musik leiser, das Flackern hing noch einen Moment länger in der Luft, dann verschwand es ebenfalls.

»Grete?«, fragte ich in Richtung von Nummer 7, bekam jedoch keine Antwort. Nur ein leises Seufzen drang durch das Holz, eines, das eher nicht so klang, als käme es von einem Mädchen.

»Hast du dich verlaufen?«, erkundigte sich Onkel Jacques derweil brüllenderweise. »Wir sind hier oben! Ophelia? Hörst du mich?«

Der »Speisesaal« entpuppte sich als eine Art Gewächshaus auf dem Dach und ich wäre im Leben nicht auf die Idee gekommen, hier nach meinen Verwandten zu suchen. Zwischen Blumenampeln und Kübeln voller Palmen war ein Esstisch aufgestellt worden, an dem bereits eine junge Frau, fast noch ein Teenager, saß und Rotwein trank. Ihr blondes Haar reichte ihr bis zur Taille und zu einem dramatischen Lidstrich, der wohl von ihrer spitzen Nase ablenken sollte, trug sie ein Shirt, das über und über von kleinen Strass-Totenköpfen bedeckt war. Ich schätzte sie auf höchstens Anfang zwanzig, sie war vermutlich nur ein paar Jahre älter als ich, doch dann stellte sie sich allen Ernstes als meine Ururgroßmutter Pippa vor! (Ja klar, und ich war der Osterhase!)

Onkel Jacques wies auf einen Stuhl. »Bitte«, sagte er, »Ich schaue mal, wo deine Tante bleibt. Ich bin gleich wieder da.«

Zögerlich ließ ich mich gegenüber der vermeintlichen Ururgroßmutter nieder. Außerdem fiel mir auf, dass lediglich vier Gedecke auf dem Tisch standen, wenn meine Schwester noch dazukam, war das definitiv eines zu wenig … Ganz zu schweigen von der Person, die im ersten Stock Metal hörte.

»Hi«, sagte Pippa noch einmal. »Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe. Schicker Pulli übrigens.« Sie deutete auf mein Sweatshirt, auf dem stand: I’m sorry for what I said when I was hungry.

»Danke. Habe ich selbst bemalt.«

»Cool.« Sie musterte mich einen Augenblick lang. »Willst du vielleicht einen Kaugummi? Ich habe noch welche mit Kirschgeschmack.«

Ich schüttelte den Kopf und blinzelte. »Entschuldige, wie sind wir noch mal verwandt? Sagtest du wirklich etwas von Ur-urur–«

»Zweimal ›Ur‹ reicht.« Sie grinste. »Und eigentlich ist das auch gar nicht so wichtig, oder?« Sie wickelte einen Kaugummistreifen aus seiner Folie und schob ihn sich in den Mund. »Du siehst ganz schön fertig aus. Harter Tag?«, fragte sie kauend.

»Ziemlich.«

Sie nickte. »Dieses Gefühl, wenn deine Welt sich plötzlich in eine Achterbahn verwandelt, die ohne Vorwarnung in einen Looping biegt, kenne ich. Das ist Kacke.«

»Ja?« War ihr wohl Ähnliches passiert wie mir? »Wir sind nämlich auf einem unterirdischen Fluss hergekommen«, platzte es aus mir heraus. »Kannst du dir das vorstellen? Es war ein Fluss aus Staub und wir mussten dazu in die Kanalisation runter. Obwohl, zwischendurch verlief die Fahrt auch oberirdisch, einmal haben wir, glaube ich, einen ICE überholt, aber –«

Ich brach ab. Laut ausgesprochen klang das alles doch verdammt lächerlich, sehr viel lächerlicher sogar als die Sache mit dem fliegenden Baum … Und mal ehrlich, was war eigentlich unrealistischer: geheime Flüsse aus Staub oder zwanzigjährige Urahninnen?

Pippa jedenfalls schien nicht im Mindesten überrascht davon, dass auch ich mich gerade als Verrückte geoutet hatte. »Les temps«, sagte sie und ließ eine Kaugummiblase platzen, »können einen am Anfang echt schocken. Das muss dir nicht peinlich sein.«

»Also kennst du … siehst du auch überall Staub, wohin du auch gehst?«

Pippa nickte erneut und ich wollte sie gerade fragen, wann und wie es bei ihr begonnen hatte, was es bedeutete und ob man es irgendwie wieder loswerden konnte, doch da kam Onkel Jacques zurück, im Schlepptau Tante Blanche, deren Haar ohne Turban zu einem Wust grauer Locken explodiert war. Die beiden setzten sich und Pippa schenkte ihnen Wein ein. Niemand machte Anstalten, einen weiteren Stuhl oder Teller herbeizuholen. Tatsächlich schienen alle davon auszugehen, dass wir nun vollzählig waren.

»Wo ist Grete?«, fragte ich daher einigermaßen verwirrt.

»Apfelschorle?«, fragte Onkel Jacques.

Ich reichte ihm mein Glas, kurz darauf nahm ich einen Schluck und sah in die Runde. Tante Blanches Wangen waren gerötet, als wäre ihr Telefonat recht aufregend gewesen, Pippa zupfte an einem der Totenköpfchen auf ihrem Ärmel herum und Onkel Jacques betrachtete eingehend seine Hände.

»Wird sie denn nicht mit uns essen?«, versuchte ich es noch einmal. Ich hatte es schon vor Jahren aufgegeben, Grete verstehen zu wollen. Obwohl uns altersmäßig nur anderthalb Jahre trennten, waren wir ziemlich verschieden. Trotzdem war sie meine große Schwester, und da ich heute kurzerhand beschlossen hatte, zumindest für eine kleine Weile zu ihr zu ziehen, hatte ich schon so etwas wie eine Begrüßung erwartet. Ich verschränkte die Arme vor der Brust.

»Grete ist –«, begann Onkel Jacques, aber Tante Blanche fiel ihm ins Wort.

»Nicht hier«, sagte sie. »Deine Schwester wird derzeit anderswo gebraucht.«

»Was soll das heißen?«, fragte ich.

Zu meiner Linken quietschte und ruckelte ein altmodischer Speisenaufzug heran, der Geruch von süßen Crêpes stieg mir in die Nase und erinnerte mich daran, wie hungrig mich die Ereignisse der letzten Stunden gemacht hatten. Doch ich bemühte mich, das Knurren meines Magens zu ignorieren, indem ich mich auf die erste Überlebensregel besann: Verschaffe dir einen Überblick über deine Lage.

Ich schloss die Augen. »Okay«, sagte ich schließlich. »Erklärt es mir, bitte!«

Tante Blanche und Onkel Jacques tauschten einen Blick. Es war ihnen anzusehen, dass sie sich fragten, wie viel sie mir wohl würden zumuten können. (Wahrscheinlich hatte der Vorfall mit dem Märchenbuch sie vorsichtig werden lassen. Und möglicherweise auch die Tatsache, dass ich den Großteil unserer Fahrt auf dem unterirdischen Fluss mit dem Kopf zwischen den Knien verbracht hatte.)

»Bitte«, wiederholte ich. »Versucht es einfach, ja?« Ich setzte mein abgeklärtestes Mich-kann-nichts-schocken-Gesicht auf. »Was immer es ist, ich … werde mich bemühen, es zu verstehen. Deshalb sollte ich doch herkommen, oder? Also, was hat es mit diesem komischen Staub auf sich? Was ist das für ein Zeug?«

Da, endlich, holte Tante Blanche tief Luft, mit dem Daumen rieb sie über eine Falte zwischen ihren Brauen und strich sie glatt. Dann begann sie mit der abstrusesten Geschichte, die ich je gehört hatte.

»Ophelia, die Zeit ist ein Fluss«, sagte sie. »Ein mächtiger Strom, der den gesamten Erdball umspannt, der über und unter der Erde, in jedem Gebirge und am Grunde der Meere fließt. Ein gigantischer Ozean, der sich bis in die hintersten Winkel jedes noch so entlegenen Zimmers zerfasert. Zeit ist Staub.«

Sie deutete auf ein schmales, gräuliches Rinnsal auf dem weißen Tischtuch zwischen uns. Es kräuselte sich, als sie mit dem Zeigefinger einen Bogen in der Luft darüber beschrieb. »Die meisten Leute haben davon natürlich keine Ahnung. Ihnen fällt höchstens auf, dass sich die Zeit nicht überall gleich anfühlt, dass es Orte gibt, an denen es ihnen so vorkommt, als würde sie dahinkriechen und gar nicht vergehen. In Schulen und bei Zahnärzten zum Beispiel. Oder, dass es andersherum auch wieder Orte gibt, an denen die Zeit nur so zu rasen scheint. Auf Urlaubsinseln. Oder in großen Städten. Sie denken, das sei bloß Einbildung, irgendein psychologischer Effekt oder dergleichen. Niemand von ihnen würde wohl darauf kommen, dass die Zeit auf Autobahnen normalerweise davonsaust, es jedoch zu Staus kommt, wenn der Zeitstrom ins Stocken gerät.«

»Äh«, sagte ich und starrte auf die Flocken auf der Tischdecke. Hatte ich das gerade richtig verstanden? »Dieser Staub ist Zeit?«

»Ja.« Onkel Jacques nickte. »Und du gehörst, wie wir, zu den wenigen Menschen, die sie sehen und lenken können. Unsere Familie entstammt einer der berühmten Bernsteinlinien, in denen diese Fähigkeit bereits seit vielen Jahrhunderten weitervererbt wird. Doch nicht jeder unserer Nachkommen ist ein solcher Sans-Temps, ein Zeitloser, verstehst du? Nicht selten überspringt die Gabe sogar mehrere Generationen, bevor sie wieder in einem unserer Nachfahren hervortritt. Dass Grete und du beide zu den Auserwählten zählt, ist wirklich außergewöhnlich.«

Grete! Ich schluckte. »Deshalb habt ihr uns also hierhergeholt?«, fragte ich leise. »Weil wir Zeit sehen?«

Mir wurde ein wenig schwindelig, doch ich erinnerte mich rasch wieder an mein Überlebenstraining. Gut, mein gesamtes Weltbild wurde zwar gerade über den Haufen geworfen, aber ich geriet deshalb nicht gleich in Panik. Stattdessen verschaffte ich mir einen Überblick und erst danach würde ich entscheiden, ob es sinnvoll war, in Panik zu verfallen. Ha!

»Die Zeitströme können wild werden, manchmal treten sie über die Ufer, ein anderes Mal bilden sich plötzlich Engstellen. Als Zeitlose versuchen wir, sie im Zaum zu halten, damit der Zeitfluss auf der Welt im Gleichgewicht bleibt«, erklärte Tante Blanche weiter, während ich mich darauf konzentrierte, regelmäßig ein- und wieder auszuatmen, ein und wieder aus …

»Also«, stammelte ich. »Angenommen, ich habe wirklich diese … Gabe … Warum kann ich die Zeit denn erst seit ein paar Tagen sehen?« Und warum war Grete nicht diejenige, die mir das hier erklärte, wo sie doch anscheinend schon länger davon wusste?

»Darüber streiten sich die Wissenschaftler noch«, sagte Onkel Jacques. »Der Zeitpunkt, zu dem die Fähigkeiten eines Zeitlosen deutlich werden, ist bei jedem unterschiedlich: Manche erkennen die Ströme schon als kleine Kinder, andere erst mit fünfzig oder sechzig Jahren. Innerhalb der Bernsteinlinien sind viele der Auffassung, dass wir die Zeit schon von Geburt an unterbewusst wahrnehmen, unsere Sinne jedoch Jahre benötigen, um sich ausreichend zu schärfen, sodass sie in unser Bewusstsein dringt.

Andere hingegen glauben, dass es an einem Gen liegt, das erst eine gewisse Reife erlangen muss, um in unseren Zellen abgelesen zu werden, und wir dadurch sozusagen erst im Laufe unseres Lebens irgendwann zeitlos werden.« Onkel Jacques nippte an seinem Rotwein. »Ich für meinen Teil halte diese Diskussion und ihre Feinheiten allerdings für relativ müßig.«

Und ich für meinen Teil hielt sie für komplett irre. Genau wie diese ganze Geschichte. »Wieso nennt ihr euch denn ausgerechnet zeitlos, obwohl ihr die Zeit doch sehen könnt?«, fragte ich trotzdem weiter, denn das kam mir am unlogischsten vor.

»Nun, da wir eben genau erkennen können, wo die Zeit langfließt und wie sie es tut, können wir uns natürlich auch an jedem beliebigen Punkt innerhalb und außerhalb der Ströme aufhalten. Quasi losgelöst von der Willkür des Zeitflusses und nicht in ihm gefangen wie die übrigen Menschen, die wir als ›Zeiter‹ bezeichnen«, war Tante Blanches wirre Antwort.

»Also reist ihr ab und zu in die Vergangenheit, oder was?«, fragte ich. Ernsthaft? Zeitreisen?

Zum Glück schüttelte meine Tante entschieden den Kopf. »Wir können natürlich nicht durch die Zeit reisen. Aber mit ihr sehr wohl. Und, na ja, ich zum Beispiel bin 138Jahre alt und Jacques wird nächsten Monat 217.«

Okay.

Stopp.

Unsterblichkeit?, schrillte es irgendwo in den Tiefen meines Hirns. UNSTERBLICHKEIT?

»Aber …« Meine Nasenflügel blähten sich, als ich viel zu heftig einatmete. »Tut mir leid, aber … Wie bitte?«

Eine Gänsehaut kroch über meinen Rücken und hinauf zwischen meine Schulterblätter. Wäre es nicht vielleicht doch vernünftiger, das Hotel so schnell wie möglich zu verlassen und den nächsten Zug zurück nach Berlin zu nehmen? Andererseits gab es da immer noch diese Dinge, die ich mich schon seit jenem Tag vor acht Jahren fragte, an dem mein Vater und ich auf dem Weg zum Schwimmunterricht gewesen waren und plötzlich dieser Baum …

»Papa war auch ein Zeitloser, oder?«, fragte ich ohne Umschweife.

Doch noch während ich sprach, verwandelten sich Tante Blanches Lippen in einen schmalen Strich. »Nein, war er nicht«, sagte sie bestimmt.

Nicht? Ich schluckte. »Er konnte den Staub also nicht sehen? Aber irgendetwas aus eurer Welt muss damals –«

Tante Blanche schüttelte den Kopf.

Ich sah zu Onkel Jacques herüber, der meinem Blick auswich.

Was sollte denn das jetzt schon wieder? Wieso diese Geheimniskrämerei? Ich schnaubte. »Dann verratet mir doch wenigstens, wo Grete ist!«, forderte ich eine Spur zu schrill, als sich plötzlich meine viel zu junge Ururgroßmutter einschaltete: »Ich finde ja, wir sollten uns alle wieder beruhigen und erst einmal ein paar Crêpes essen.« Zu mir gewandt fügte sie hinzu: »Du wirst alles erfahren, wenn es so weit ist, versprochen.«

Mit silbern lackierten Fingernägeln griff Pippa nach einer der Hauben im Innern des Speisenaufzugs und beförderte eine Platte mit dampfendem Süßgebäck zutage. Sie kippte etwa die Hälfte der Leckereien auf meinen Teller, wo diese einen kleinen Berg bildeten. »Madame Rosé und ich haben das schon vorausgesehen. Etwas so Wichtiges beredet man einfach nicht mit leerem Magen. Ich meine, Ophelias Pullover spricht doch wohl Bände. Madame Rosé findet im Übrigen auch …« Pippas dunkle Augen wurden groß und rund und starrten mit einem Mal irgendwie ins Leere. »Oh, guten Abend …«, hauchte sie nun, doch Tante Blanche fiel ihr ins Wort: »Ich bitte dich. Du hast gerade selbst betont, wie überfordert Ophelia ohnehin schon ist.«

Unterdessen neigte sich Onkel Jacques zu mir herüber und erklärte: »Pippa hat im Ersten Weltkrieg in einer Schrapnellfabrik gearbeitet, wo ihr und ihren Kolleginnen ein paar von den Dingern um die Ohren geflogen sind. Seitdem spinnt sie ein bisschen.« Er senkte die Stimme zu einem Flüstern herab. »Leidet unter Verfolgungswahn, hört Stimmen in ihrem Kopf – das volle Programm.«

»Ich teile mir diesen Körper gelegentlich mit dem Geist einer toten Baroness namens Madame Rosé, einem Medium aus dem 18.Jahrhundert«, informierte Pippa mich derweil mit einem strahlenden Lächeln. »Und schon seit zwei Wochen erzählt mir die Gute, dass du zu uns kommen wirst, Ophelia.«

Ich hatte keinen Schimmer, wie ich darauf reagieren sollte.

»Nun ja, wie gesagt«, murmelte Onkel Jacques und machte mit dem Zeigefinger eine kreisende Bewegung in der Nähe seiner Schläfe.

Da ich derzeit genug damit zu tun hatte, nicht selbst komplett durchzudrehen, beschloss ich, mich vorerst nicht mit den gespaltenen Persönlichkeiten anderer zu belasten. Stattdessen schnitt ich mir ein Stück von einer mit Orangensoße gefüllten Teigrolle ab, spießte es auf meine Gabel und schob es mir in den Mund. Der süße Geschmack auf meiner Zunge war geradezu erschreckend real und vertrieb auch die letzte Hoffnung, dass dies womöglich bloß ein bizarrer Traum sein könnte.

»Jedenfalls sind die Baroness und ich der Meinung, dass du vorsichtig sein solltest. Wegen der Ströme und der fürchterlichen Klauen, die nach dir greif–«

»Pippa!«, riefen Tante Blanche und Onkel Jacques gleichzeitig.

Noch immer verwirrt, kaute ich die Crêpes, trank von meiner Apfelschorle und betrachtete anschließend eine Weile lang den Staub, der aus allen Richtungen auf mich zuzukriechen schien, aus Blumentöpfen perlte und kleine Pfützen auf dem Boden bildete.

Auch die anderen hatten sich nach und nach ihren Tellern zugewandt. Onkel Jacques erkundigte sich, ob der kleine Gemüsehändler inzwischen wieder Petersilienwurzeln führte, und Pippa zeigte Tante Blanche ein paar Fotos auf ihrem Smartphone. Eigentlich war es sogar gar nicht so schlecht, hier mit meinen Verwandten zu essen. Zu Hause saßen wir so gut wie nie gemeinsam an einem Tisch, meistens schnappte ich mir lediglich eine Schale Cornflakes oder wärmte mir etwas in der Mikrowelle auf, das ich dann mit in mein Zimmer nahm. Die Kindergartenzeiten meines kleinen Bruders diktierten leider einen Rhythmus, der sich weder mit meinem Schulschluss noch mit Marks Feierabend vereinbaren ließ – und nichts und niemand war nun einmal so wichtig für meine Mutter wie Lars.

»Was denkt denn Mama, weshalb ihr Grete und mich zu euch geholt habt?«, fragte ich, als ich mich schließlich wieder etwas gefangen hatte. Ich war stolz darauf, dass meine Stimme nur noch ganz leicht zitterte.

»Natascha kennt natürlich die Wahrheit.« Ein Schatten huschte über Tante Blanches Vogelgesicht. »Euer Vater hat ihr erzählt, was für einer Familie er entstammte, dass er selbst zwar nicht über die Gabe verfügte, doch seine Kinder möglicherweise eines Tages beginnen würden, Staub zu sehen. Eure Mutter wusste, was zu tun war. Wann es, nun ja, notwendig sein würde, uns anzurufen.«

»Verstehe.« Ich strich mir die Fransen meines Ponys aus der Stirn. »Und wie lange werde ich hierbleiben müssen?« Grete war immerhin schon seit über einem Jahr fort …

»Wir bringen dir bei, mit deiner Gabe zu leben, das kann schon ein paar Wochen oder Monate dauern«, sagte Onkel Jacques.

Pippa ergänzte mit rauchiger Stimme: »Die Baroness glaubt allerdings, dass es nur ein paar Tage sein werden. Ja, ja, überhaupt nicht lange und du wirst dieses Haus wieder verlassen. Die Klauen kratzen bereits –«

Ich stieß einen kleinen Schrei aus, weil mich in diesem Augenblick tatsächlich etwas am Fuß kratzte. Etwas Kleines mit nadelspitzen Zähnen hatte mich in den Knöchel gezwickt und kletterte nun eilig an meinem Hosenbein herauf. Ein weißer Körper, winzige rote Augen, ein haarloser Schwanz.

Mein Stuhl stürzte polternd zu Boden, als ich aufsprang.

Doch die Albino-Ratte ließ sich nicht beirren. Sie krallte sich in meinen Pullover, huschte weiter nach oben bis auf meine Schulter. Ihre Schnurrhaare kitzelten an meinem Hals.

Ich erstarrte. Wagte es nicht einmal mehr zu atmen.

»Nicht schon wieder!«, seufzte Tante Blanche, die als Erste die Worte wiederfand. »Kusch!« Sie fuchtelte in der Luft herum. »Leander muss dieses Tier wirklich dringend in den Griff bekommen.«

»Oder es endlich ertränken«, schlug meine Ururgroßmutter vor. Sie streckte die Hand nach der Ratte aus, doch diese spürte wohl, dass Pippa ihr nicht unbedingt wohlgesonnen war, und hieb ihr herzhaft die Zähnchen in den Handrücken. »Aua!«

Schon strichen die Schnurrbarthaare wieder über meine Haut, die Nase schnüffelte an der Stelle, wo mein Puls hämmerte, als würde er sich jeden Augenblick selbst überholen.

Ich atmete noch immer nicht.

»Tu doch etwas!«, wandte sich Tante Blanche an Onkel Jacques. »Du hast immerhin schon Raubkatzen durch Reifen springen lassen.«

»Mein letztes Engagement beim Zirkus ist über neunzig Jahre her«, entgegnete Onkel Jacques.

»Na und?«, rief Tante Blanche und in Gedanken pflichtete ich ihr bei. Heute war echt nicht mein Tag, und dass er womöglich damit endete, dass ein wild gewordenes Nagetier sich in meiner Kehle verbiss, war so ziemlich das Letzte, was ich noch gebrauchen konnte. Es würde dem Wahnsinn schlicht die Krone aufsetzen.

Das schien allerdings auch das Schicksal einzusehen, denn plötzlich machte die Ratte auf meiner Schulter keinerlei Anstalten mehr, mir die Halsschlagader zu zerfetzen. Stattdessen roch sie noch einmal an meinem Ohrläppchen, ihre winzigen Krallen brachten meine Ohrringe zum Klimpern. Dann rollte das Vieh sich in meiner Halsbeuge zusammen und schmiegte sich an mich. Eine Minute später war es eingeschlafen.

»Okay«, sagte ich schließlich und tastete erschöpft nach meinem Stuhl. »Gibt es eigentlich noch Nachtisch?«

3

In dieser Nacht träumte ich von Papas Beerdigung. Was ungewöhnlich war, denn normalerweise führte mich mein Unterbewusstsein stets an den Abend des Unfalls zurück, nicht zu dem, was danach geschehen war.

Doch heute stand ich plötzlich wieder auf dem Friedhof am Stadtrand. Genau wie damals trug ich mein Hexenkostüm aus buntem Tüll, genau wie damals war es mir viel zu klein und kniff unter den Armen. Aber ich konnte mich noch immer gut an den Urlaub erinnern, in dem Papa uns die Kleider gekauft hatte: eine Prinzessinnenrobe mit Krönchen für Grete und ein Flickengewand mit Hut und Besen für mich.

Mama und Grete waren natürlich auch da. Mamas langes dunkles Haar fiel ihr wie ein Vorhang vor das Gesicht, so dicht, dass ich mir nicht sicher war, ob sie überhaupt noch dahinter zu finden war. Sie hatte keinen Ton hervorgebracht, seit es passiert war. Nicht vor Grete oder mir und auch nicht vor den Nachbarn, Freunden oder den Arbeitskollegen von Papa, die sich nun ebenfalls um das offene Grab scharten. Eine schwarze, traurige Masse, aus der mein Hexenkleid viel zu laut hervorleuchtete.

Grete weinte stumme Tränen, während der Pfarrer irgendetwas sagte, das ich nicht verstand und auch gar nicht verstehen wollte. Tante Blanche (die ihren schillernden Turban tatsächlich gegen einen in schlichtem Anthrazit eingetauscht hatte) reichte meiner Schwester ein Taschentuch und wollte auch mir eines in die Hand drücken, doch ich nahm es nicht.

Stattdessen taumelte ich ein paar Schritte nach vorn, ganz nah an die Kante des Erdlochs heran, in das sie Papas Sarg versenkt hatten. Das Loch, in dem sie ihn einfach so verbuddeln wollten …

Ich stolperte so sehr über meine eigenen Füße, dass ich beinahe selbst in die Erde gefallen wäre. Jede Bewegung jagte einen scharfen Schmerz meinen Arm hinauf bis zu der Stelle zwischen meinen Schulterblättern. Die Wunde war noch frisch, die Fäden noch nicht gezogen. Und der Schmerz erinnerte mich daran, dass ich noch immer lebendig war, auch wenn sich alles andere in mir taub und tot anfühlte.

Ich beugte mich vor, betrachtete das glänzende Holz des Sarges, auf dem sich bereits ein paar schmutzige Krumen breitgemacht hatten.

Ein Geräusch entrang sich meiner Kehle. Im ersten Moment glaubte ich, es sei ein Schluchzen. Doch dann begriff ich, dass ich geschrien hatte. Dass ich noch immer schrie. Ich wollte Papa zurück! Plötzlich legte sich eine große Hand auf meinen Rücken. Es war Onkel Jacques, der mit einem Mal neben mir stand, um meinem Vater etwas auf seine letzte Reise mitzugeben.

Damals, vor acht Jahren, hatte ich das nicht begriffen, weil ich es nicht gesehen hatte, nicht hatte sehen können. Doch nun, im Traum, erkannte ich, was da aus der Hand meines Großonkels rieselte und sich wie ein Nieselregen auf den Sargdeckel ergoss: Es war fein und grau und unheimlich.

Es war Staub. Zeit, die sogleich ein winziges Rinnsal bildete, sich schlängelte und wand und eine glitzernde Spur über das Holz zog.

Mein Schrei erstarb.

Gemeinsam betrachteten wir den silbrigen Strom und ich begann mich zu fragen, aus welchem Grund Onkel Jacques ausgerechnet diesen Abschiedsgruß gewählt hatte.

Als ich aufwachte, lag ich verknotet in den Laken in meinem Bett in Zimmer Nummer 32. Die Sonne fiel durch das ungeputzte Fenster herein und tauchte mein Kopfkissen in ein warmes Leuchten. Auch das Fell der Ratte, die sich neben meinem Gesicht zusammengerollt hatte, wirkte heute Morgen seidig, beinahe hübsch. Die Ohren des Kleinen zuckten, als ich mich aufsetzte, doch er behielt die Augen geschlossen, schlummerte noch ein wenig, während ich im Bad verschwand und die Erinnerung an meinen unheimlichen Traum unter der Dusche fortspülte.

Etwas später angelte ich im Kleiderschrank nach einer Jeans und dem karierten Flanellhemd, von dem Anna fand, dass es mich wie einen Jungen aussehen ließ. Ich allerdings liebte den weichen Stoff und den weiten Schnitt und fühlte mich darin absolut cool. Außerdem erschien mir die große Brusttasche wie geschaffen für meinen neuen Freund.

Ich hatte beschlossen, die Ratte Jack zu nennen, weil mich ihre Mundpartie an Johnny Depps Piratenlächeln in den Fluch der Karibik-Filmen erinnerte. Mit einem bröseligen Müsliriegel, den ich in einem der Seitenfächer meines Rucksacks gefunden hatte, weckte ich Jack schließlich und lockte ihn in meine Hemdtasche. Dann machte ich mich auf die Suche nach einem Frühstück für Menschen.

Es stellte sich jedoch bald heraus, dass das Gewächshaus auf dem Dach wohl nur zu besonderen Anlässen als Esszimmer diente. Denn als ich die unzähligen Treppen dorthin erklommen hatte und hungrig durch die Palmblätter linste, war da von einem Tisch und Stühlen, geschweige denn von meinen Verwandten oder ein paar Croissants, leider nicht die geringste Spur.

Weiter unten im Haus herrschte ebenfalls Stille. Nicht einmal aus Zimmer 7 war heute das Wummern der Bässe zu hören. Trotzdem blieb ich einen Moment vor der Tür stehen und betrachtete die angelaufene Messingklinke. Grete war nicht beim Abendessen gewesen, weil sie irgendetwas für die Zeitlosen hatte erledigen müssen. Und vielleicht stimmte das.

Aber vielleicht war Grete auch einfach immer noch sauer wegen dem, was an Mamas Geburtstag vor drei Wochen passiert war, und würdigte mich daher nicht einmal eines kurzen Hallos? Obwohl ich mich natürlich längst entschuldigt hatte. Außerdem hatte ich den Ton des Laptops ja auch nicht absichtlich auf stumm geschaltet, sodass niemand Gretes kompliziertes Geigenständchen hatte hören können, das sie als Überraschung via Videostream vorgespielt hatte. Ich war bloß aus Versehen an das Touchpad gestoßen, als ich den Computer beiseitegeschoben hatte, um besser an die Torte zu kommen.