Optimum - Kalte Spuren - Veronika Bicker - E-Book

Optimum - Kalte Spuren E-Book

Veronika Bicker

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Beschreibung

Wer auf hochdramatische Psychothriller steht, kommt an »Optimum« nicht vorbei. Im heiß ersehnten zweiten Band der mitreißenden Trilogie über eine mysteriöse Schule gerät die sympathische Heldin Rica in die Fänge eines Psychopathen. Absolut nervenaufreibend und mörderspannend! In den Osterferien werden Rica und einige andere Schüler in einer einsamen Berghütte von der Außenwelt abgeschnitten. Doch damit nicht genug: Plötzlich gibt es keinen Handyempfang mehr, Ricas Kamera verschwindet und findet sich mit gruseligen Fotos wieder, und schließlich taucht auch noch eine zweifelhafte Gestalt in der Nähe der Hütte auf. Was als Schulausflug beginnt, wird zum beklemmenden Psychoterror, bei dem die Jugendlichen an ihre Grenzen getrieben werden ...

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Seitenzahl: 466

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Inhalt

Titel

Widmung

Kapitel eins – Gewinner

Kapitel zwei – Blütenhof

Kapitel drei – Nathan

Kapitel vier – Piste

Kapitel fünf – Funkstille

Kapitel sechs – Fragen

Kapitel sieben – Fotos

Kapitel acht – Schnee

Kapitel neun – Unfall

Kapitel zehn – Kriegsrat

Kapitel elf – Fundstück

Kapitel zwölf – Abgeschnitten

Kapitel dreizehn – Verloren

Kapitel vierzehn – Kälte

Kapitel fünfzehn – Chaos

Kapitel sechzehn – Mob

Kapitel siebzehn – Angst

Kapitel achtzehn – Konfrontation

Epilog

Über die Autorin

Impressum

Für Nadine. Eine Extraportion Schnee.

Kapitel eins

Gewinner

»Die Ergebnisse kommen heute rein.«

»Habt ihr schon ans Schwarze Brett geschaut? Hängt die Liste aus?«

»Ist überhaupt jemand von unserer Schule dabei?«

»Als ich heute Morgen nachgesehen habe, war noch nichts da.«

Rica schüttelte den Kopf und schob sich eine Gabel voll Risotto in den Mund, als die nächste Gruppe aufgeregter Mädchen an ihrem Tisch vorbeilief.

»Ich weiß überhaupt nicht, was die alle an diesem verflixten Wettbewerb finden«, meinte Rica. »Als ob der die einzige Gelegenheit wäre, einen Ausflug zu machen. Ihr seid doch ständig irgendwo unterwegs. Lars sagte …« Doch sie brachte den Satz nicht zu Ende. Lars hatte viel gesagt, und Rica hatte ihn deswegen für einen Freund gehalten.

»Na, du hast doch auch teilgenommen!« Eliza hatte den Kommentar über Lars entweder nicht gehört, oder sie ging aus Rücksicht nicht darauf ein.

Rica zuckte mit den Schultern und nahm noch eine Gabel voll Risotto. »Alle haben mitgemacht. Ich kann ja wohl schlecht einfach aus dem Unterricht abhauen, während ihr alle an euren ›Forschungsprojekten‹ herumschraubt.« Sie schnaubte und schüttelte wieder den Kopf. Die »Agenda 2030« schien die gesamte Daniel-Nathans-Akademie in ein Irrenhaus verwandelt zu haben. Von einem Tag auf den anderen hatten alle Schüler die wildesten Ideen entwickelt, wie die Zukunft am besten zu gestalten wäre. Visionäre Technologien waren auf dem Papier und im Modell entwickelt worden, in den Klassenzimmern und auf den Fluren wurde über nichts anderes mehr gesprochen als über verbesserte Gentechnologie und Fließgewässersanierung. Selbst die Lehrer hatten sich von dem Hype anstecken lassen, und große Teile des Unterrichts wurden geopfert, damit die Schüler an ihren Projekten arbeiten konnten.

All das nur, weil es einen ziemlich langweiligen Skiurlaub zu gewinnen gab, abgesehen von der Teilnahme an einer Konferenz, auf der die besten Ideen vorgestellt werden sollten.

Auf beides war Rica von Anfang an nicht besonders wild gewesen, auch wenn ihr die Arbeit an einem eigenen Projekt Spaß gemacht hatte. Aber nachdem immer mehr ihrer Klassenkameraden einer Art fiebrigem Wahn verfallen waren und die irrwitzigsten Pläne entworfen hatten, war Rica die Lust an der ganzen Sache vergangen. Sie hatte ihr eigenes Projekt unmotiviert dahingeschludert und den Rest der Projektzeit damit verbracht, Fotos von der Schule zu machen, während alle anderen noch arbeiteten. Inzwischen ärgerte sie sich über sich selbst. Sie hätte mehr aus ihren Ideen machen sollen.

»Wollen wir nachsehen gehen, wer gewonnen hat?« Elizas Stimme klang vorsichtig. »Wer weiß, vielleicht …«

Rica schüttelte den Kopf. »Ich bin sicher nicht dabei«, murmelte sie. »Aber wenn es dir Spaß macht …« Sie schob ihren Teller von sich. Eliza sprang so eifrig auf, dass Rica ein schlechtes Gewissen bekam. Ganz offensichtlich hatte ihre Freundin die ganze Zeit darauf gewartet, zum Schwarzen Brett gehen zu können. Nur wegen Ricas offensichtlichem Unmut hatte sie sich zurückgehalten.

Vor dem Schwarzen Brett hatte sich eine kleine Traube aus Schülern gebildet, die sich alle bemühten, einen Blick auf die Liste zu werfen. Eliza stellte sich auf die Zehenspitzen, und versuchte, über die Köpfe der anderen hinwegzusehen, aber sie war viel zu klein. Rica dagegen konnte die Liste ohne weitere Mühe erkennen.

»Haben die hier die Gewinner aus dem ganzen Land aufgelistet, oder warum sind das so viele?« Sie hatte niemand Bestimmten gefragt, aber eines der Unterstufenmädchen vor ihr drehte sich um.

»Das sind nur die Gewinner der Daniel-Nathans-Akademie«, antwortete sie.

Rica überlegte, weiter die Unbeteiligte zu mimen, aber ein Blick auf Elizas verzweifeltes Gesicht reichte, um sie zu überzeugen. Sie begann, sich durch die anderen Schüler nach vorn zu kämpfen.

Doch noch bevor sie die erste Reihe erreicht hatte, schob sich eine Gestalt von vorn in ihre Richtung. Ricas Herz schlug schneller, als sie bemerkte, wer da auf sie zukam.

Robin.

»Hast du schon gesehen?« Er strahlte. Sein ganzes Gesicht schien dadurch wie in helles Licht getaucht zu sein, und seine Augen funkelten.

Ricas Mundwinkel zuckten unwillkürlich nach oben. Sechs Monate und ich fühle mich immer noch wie ein dummes kleines Mädchen, das zum ersten Mal verliebt ist, wenn ich ihn nur sehe.

»Ich nehme an, du bist dabei?«, versuchte sie von ihrer Verlegenheit abzulenken. »Herzlichen Glückwunsch.« Es kam nicht ganz von Herzen. Die Schüler, die gewonnen hatten, würden nächste Woche in die Berge fahren, für ganze zwei Wochen. Sie bekamen einfach schulfrei, während alle anderen weiterbüffeln mussten. Bei Ricas Freundeskreis war es sehr wahrscheinlich, dass sie die zwei Wochen allein in der Schule verbringen würde. Warum musstest du dir auch nur lauter Genies als Freunde aussuchen? Sie hatte gehofft, dass wenigstens Robin mit ihr hierbleiben würde, immerhin erreichten seine Noten nicht ganz den übermäßig hohen Schnitt wie Elizas. Aber offensichtlich hatte sie sich da geirrt.

»Nicht nur ich.« Robin packte sie sacht am Oberarm, um sie aus der Menge der Schüler heraus zu geleiten.

»Lass mich raten: Eliza, Torben, Sarah, Vanessa …«, fing Rica an.

»Ja, auch. Aber hör mir doch mal zu!« Er hatte sie in eine Nische zwischen der großen Treppe und einer Stellwand voller Fotos gezogen und ihr sanft die Hände auf die Schultern gelegt. Jetzt schüttelte er sie ganz leicht, um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. »Du bist dabei!«

Rica starrte sprachlos zu ihm auf. Sie dabei? »Bist du sicher?«

Robin ließ ihre Schultern los und verzog das Gesicht. Zu spät wurde Rica bewusst, dass sie vielleicht ein bisschen mehr Freude hätte zeigen sollen. Immerhin fuhr sie mit ihrem … was auch immer er für sie war … in Urlaub. Aber sie war dermaßen fassungslos, dass Robins Freude völlig an ihr vorbeigegangen war.

»Natürlich bin ich sicher. Ich kann doch lesen. Ich dachte, du freust dich.«

»Tut mir leid.« Rica lächelte. »Es ist nur … Ich hab eine so schlechte Arbeit abgeliefert.« Sie musste lachen. »Wenn die mich genommen haben, müssen sie echt verzweifelt sein.«

Robin schenkte ihr einen langen Blick, dann grinste er und wuschelte ihr unvermittelt durchs Haar. »Mach dich nicht schlechter, als du bist«, meinte er. »Du bist dabei, und das ist doch alles, was zählt. Und alle anderen auch. Das wird ziemlich klasse, sage ich dir.«

»Steht da, wie viele Schüler es insgesamt sind? Ich meine, nicht nur von dieser Schule?« Irgendwas an dieser überlangen Liste und der Tatsache, dass ausgerechnet sie unter den Gewinnern sein sollte, störte Rica.

Robin schüttelte den Kopf. »Wenn das aus jeder Schule so viele Leute sind, bekommen die ein Problem, falls sie die alle in einer Skihütte unterbringen wollen«, erwiderte er und lachte. »Aber wer weiß, wen wir dort kennenlernen werden. Vielleicht sind ja irgendwelche hübschen Mädchen dabei.«

Rica boxte ihm freundschaftlich in die Rippen. »Man sollte meinen, du hättest hier alle hübschen Mädchen, die du brauchst.«

»Hm, ich weiß nicht.« Robin sah sich gespielt übertrieben um. »Ich kann hier keine sehen, du?«

»Was sehen?« Elizas Stimme unterbrach sie, bevor Rica Robin ernsthaft den Kopf zurechtrücken konnte. »Ich dachte, du wolltest herausfinden, wer mitfährt?«, wandte sie sich an Rica.

»Sorry.« Rica lächelte verlegen. »Ich war abgelenkt. Aber Robin sagt, wir sind alle dabei.«

»Robin sagt das?« Eliza klang spöttisch, doch die Anspannung, die gerade noch in ihrem Gesicht gelegen hatte, verschwand, und sie lächelte. »Na, dann ist ja gut, dass du mir das sofort weitergesagt hast.« Trotz des Spottes zwinkerte sie Rica verschwörerisch zu.

»Und? Freust du dich?«, wollte Robin wissen.

Im ersten Moment fragte sich Rica, wie Robin so eine dämliche Frage stellen konnte. Alles, wovon Eliza in der letzten Zeit geredet hatte, war dieser Wettbewerb gewesen.

Aber als sie nun in Elizas Gesicht sah, merkte sie, dass Robins Frage durchaus berechtigt gewesen war. Eliza sah eher ein bisschen nachdenklich aus.

»Ich freue mich, dass sie mein Projekt gut fanden«, antwortete sie. Sie war auf einmal sehr still, überhaupt nicht mehr so überdreht wie die Tage zuvor. Rica bemerkte die gleiche Ruhe auch bei den anderen Schülern vor dem Schwarzen Brett. Die Menschentraube löste sich langsam auf, und die meisten gingen ruhig ihrer Wege. Es gab erstaunlich wenig Jubelrufe und Hysterie, wie Rica sie eigentlich bei dem ganzen Hype zuvor erwartet hätte.

»Ich fahre gar nicht so gerne Ski«, gab Eliza jetzt auch noch zu, aber sie lächelte dabei. »Ich freue mich natürlich trotzdem. Vor allem, dass ihr beide mitkommt. Das wird bestimmt cool.«

Rica zuckte mit den Schultern. »Ich verstehe immer noch nicht, warum ich dabei bin.«

»Deine Idee war doch gar nicht so schlecht«, warf Robin ein.

»Aber ich habe sie überhaupt nicht ausgearbeitet«, wehrte Rica ab. »Gebt es zu: Ich habe eine miserable Arbeit abgeliefert, und ihr beide wisst das ganz genau.« Eliza und Robin hatten ihr bei der Ausarbeitung ihrer Idee geholfen und streckenweise auch beim Anfertigen der Planskizzen und Modelle. Beide hatten auf sie eingeredet wie auf ein krankes Pferd, sich doch ein bisschen mehr Mühe zu geben.

Robin und Eliza sahen einander ein wenig verlegen an, dann zuckte Robin mit den Schultern.

»Kann doch sein, dass sie die gute Idee erkannt und bewertet haben«, meinte er, aber es klang halbherzig. Jetzt war Rica klar, dass sich Robin ihren Namen auf der Liste auch nicht erklären konnte. Und obwohl sie wusste, wie schlecht ihr Projekt gewesen war, versetzte ihr diese Erkenntnis einen kleinen Stich. Er traut mir gar nichts zu. Ein anderer, sehr viel deutlicherer Gedanke war allerdings: Warum haben sie mich genommen? Ich fresse einen Besen, wenn die Ergebnisse nicht irgendwie manipuliert worden sind. Sie kniff nachdenklich die Augen zusammen. Wie sollte das denn gehen? Der Wettbewerb war von einer sogenannten Gesellschaft mit Namen »Weiter Horizont« ausgeschrieben worden, und obwohl keiner von ihnen zuvor von dieser Gesellschaft gehört hatte, war nach einer kurzen Internetrecherche herausgekommen, dass sie schon seit Jahren existierte. Sie schien sich vor allem mit zukunftsweisenden Technologien zu beschäftigen. Der Jugendwettbewerb war zwar ihre erste Ausschreibung dieser Art, aber das Konzept passte durchaus in das Bild, das die Gesellschaft von sich selbst zeichnete. Warum sollten sie also die Ergebnisse manipulieren, um eine ihnen vollkommen unbekannte Schülerin mit einem eher mittelmäßigen Projekt auf eine Skireise zu schicken?

»Das ergibt alles keinen Sinn«, murmelte Rica. Sie merkte erst, dass sie laut gesprochen hatte, als Eliza und Robin sie verwirrt ansahen.

Eliza verdrehte die Augen und berührte vorsichtig Ricas Oberarm. »Du siehst schon wieder Verschwörungen«, meinte sie. »Ich sehe es dir doch an der Nasenspitze an. Du denkst zu viel, Rica.«

»Wenn die Lehrer das nur auch mal so sehen würden«, erwiderte Rica, musste aber lachen. Gemeinsam mit den anderen machte sie sich auf den Weg in den Aufenthaltsraum.

Doch nachdem sie sich zu dritt eine Sofaecke erobert hatten, und Eliza verschwand, um Kaffee und Snacks zu besorgen, kehrten Ricas Gedanken wieder zu dem Wettbewerb zurück. Vielleicht war es gar nicht so, dass jemand sie unbedingt bei diesem Skiurlaub dabei haben wollte – vielleicht war das Ziel vielmehr, sie von der Daniel-Nathans-Akademie fernzuhalten. Immerhin hatte sie die letzte Zeit damit verbracht, heimlich Nachforschungen anzustellen. Seit dem Tod ihrer Freundin Jo im September und der Überführung ihrer Mörderin hatte Rica keine Ruhe gefunden. Zwar hatte der Ehemann der Mörderin und Mittäter, der Kletterlehrer Lars Bennett, ein Geständnis abgelegt, aber für Rica war damit noch lange nicht alles geklärt. Wann immer sie Zeit gefunden hatte, hatte sie sich mit einem Notizbuch hingesetzt und alles zusammengetragen, was ihr an den Ereignissen hier komisch vorkam. Zu einem echten Ergebnis war sie auf diese Weise allerdings noch nicht gekommen.

»Nimm die Falten von deiner Stirn, oder sie bleiben für immer da«, neckte Robin, und rutschte auf dem Sofa ein Stück zu Rica hin, um ihr den Arm um die Schultern zu legen. »Worüber grübelst du jetzt schon wieder nach?«

Rica lächelte und wagte es, sich ein wenig enger an Robin zu kuscheln. »Stelle ich zu viele Fragen, Robin?«

Robin zuckte mit den Schultern. »Manchmal. Manchmal aber auch nicht genug. Oder nicht die richtigen.«

»Ach ja?« Sie spürte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg. »Welche Fragen sollte ich denn stellen?« Ihr Herz begann wild zu klopfen. Im Grunde wusste sie genau, was er von ihr hören wollte. Aber bis jetzt hatte sie sich noch nicht dazu durchringen können. Die Erlebnisse vom Herbst und die ganzen Nachforschungen danach hatten irgendwie viel zu viel Raum eingenommen, sodass Robin immer wieder zu kurz gekommen war.

»Lass mich überlegen … Irgendetwas in die Richtung, ob wir beide nun eigentlich mal zusammen in die Stadt gehen wollen? Oder ob ich nicht Lust hätte, im Sommer allein mit dir campen zu fahren? Oder ob …« Robins Gesicht kam Ricas gefährlich nahe, und ihr Herz begann, Purzelbäume zu schlagen. Endlich. Endlich …

»Lehrer!« Eliza ließ sich neben Rica aufs Sofa fallen.

Robin zuckte zurück, rückte von Rica ab und setzte sich kerzengerade hin.

Im ersten Moment war Rica wütend auf Eliza. Hätte sie nicht mal fünf Minuten länger warten können? Aber ein Blick zur Tür des Aufenthaltsraums sagte ihr, dass tatsächlich eine der Aufsichtslehrerinnen das Zimmer betreten hatte. Noch hatte sie nur Augen für eine völlig überdrehte Gruppe von Sechstklässlern, die einen Schwamm aus einem Klassenzimmer geklaut hatten, und sich jetzt lautstark eine Schlacht damit lieferten. Aber wahrscheinlich hätte sie im nächsten Moment Rica und Robin entdeckt, und dann hätte sich die Frage gestellt, was ihr wichtiger war: die Schwammschlacht zu unterbinden oder die mögliche Knutscherei. In Bezug darauf hatte die Daniel-Nathans-Akademie nämlich ziemlich bescheuerte, aber unantastbare Regeln.

»Sorry«, meinte Eliza.

Rica brachte keine Antwort heraus, doch Robin gelang ein halbherziges Lächeln. »Schon gut«, murmelte er und sah Rica nicht an. »Wir haben ja vermutlich im Urlaub genug Zeit zum Reden.« Er warf einen flüchtigen Blick zur Lehrerin und stand dann auf. »Ich muss los. Hausaufgabenbetreuung.« Dann war er auch schon weg.

»Zum Reden, soso«, kicherte Eliza und zwinkerte Rica zu. »Bevor oder nachdem du ihm beim Skifahren in die Arme gestolpert bist?«

Rica funkelte sie an, aber Elizas Grinsen war so ansteckend, dass sie selbst lachen musste. »Vorher«, entschied sie. »Ich hoffe ja, dass wir danach nicht mehr viel reden müssen.«

Kapitel zwei

Blütenhof

»Das kann doch nicht deren Ernst sein!« Robin kletterte vor Rica aus dem Bus und sah sich um. Verschneite Bäume standen dicht an der Straße, und ein eisiger Windhauch ließ Pulverschnee über den Boden tanzen.

Zitternd und ungläubig standen die Schüler der Daniel-Nathans-Akademie um den gestrandeten Bus herum, während der Fahrer begann, Skiausrüstungen, Reisetaschen und Rucksäcke aus dem Gepäckfach zu räumen.

Rica sprang aus der Tür in den weichen Schnee, sodass er nach allen Seiten aufstob. Ein paar andere Schüler zogen sich fluchend und schimpfend ein paar Schritte zurück, aber niemand ging direkt auf Konfrontation. Sie alle waren zu müde und zu überrascht von dem plötzlichen Halt, um zu streiten.

»Es ist doch nur ein kurzer Fußmarsch«, versuchte Rica Robin zu trösten, doch auch ihr Mut sank, als sie den Berg von Gepäck betrachtete, der sich vor ihnen im Schnee auftürmte.

»Irgendjemand hätte ja wohl vorher prüfen können, wie breit die Brücke wirklich ist«, schimpfte Robin. »Und dann einen Bus mieten, der auch darüberpasst.«

Rica gab ihm insgeheim recht, aber sie zuckte nur mit den Schultern. Ihrer Meinung nach half es nicht viel, herumzujammern, ändern konnten sie es sowieso nicht.

»Müssen wir das wirklich alles den Berg raufschleppen?« Vanessa stand völlig fassungslos vor dem Berg an Gepäck. Sie hatte eine sehr modische, pinkfarbene Jacke an, die ihr das Aussehen eines Michelin-Männchens verpasste, aber trotzdem zitterte sie im kalten Wind. Vielen der Schüler schien es ähnlich zu gehen, bemerkte Rica. Keiner von ihnen trug schon seine Skijacke, stattdessen traten sie wie auf einer Modenschau auf: bunte Farben, angesagte Marken, coole Kleidungsschnitte. Aber gegen den Wind und die Kälte schienen sie nicht viel ausrichten zu können. Sie hatten ja auch alle nicht damit gerechnet, schon vor ihrer Ankunft in der Hütte für Aktivitäten im Schnee gerüstet sein zu müssen.

Glücklicherweise hatte Rica ihren warmen Parka, den sie mal in einem Armeeshop gekauft hatte, mit in den Bus genommen und eine Jeans über ihre Leggings angezogen, weil sie in den klimatisierten Reisebussen immer schrecklich fror. Sie fand es zwar immer noch ein bisschen kühl, aber auszuhalten.

So sehr man solche verdammte Kälte überhaupt aushalten kann, dachte sie und steckte die Hände in die Jackentaschen. Sie hasste die Kälte und den Winter. Wenn es nach ihr ging, könnte es das ganze Jahr über Sommer sein. Und jetzt, wo der verdammte Winter endlich fast vorbei war, wurde sie in die Berge in den Schnee geschickt.

»Ihr nehmt nur mit, was ihr sofort braucht«, erwiderte der Busfahrer. »Ich habe die Betreuer angerufen, sie lassen jemanden aus dem Tal mit einem Bulli kommen, um das ganze Zeug hochzubringen.«

»Können wir dann nicht auch damit hochfahren?«, fragte Sarah. Ihre Wangen waren jetzt schon von der Kälte und dem Wind gerötet, und ihre Augen glänzten verdächtig.

»Bei all dem Kram wird der Bulli so voll sein, dass wir nicht mehr reinpassen«, gab Torben zurück. Er war einer der wenigen, die nicht zu frieren schienen. »Kommt schon, das ist nun wirklich kein Weltuntergang.« Er schnappte sich einen Rucksack vom Stapel und schwang ihn über die Schulter. »Ihr wolltet doch Urlaub im Schnee, oder?«

»Aber nicht so«, maulte Celina. »Niemand hat uns gesagt, dass wir zu Fuß gehen müssen.«

»Es lässt sich nun mal nicht ändern.« Eliza trat nun auch an den Stapel Gepäck heran und suchte eine Weile darin herum, bis sie ihren Rucksack gefunden hatte. »Wenn wir weiter hier herumstehen, wird uns nur noch kälter. Also gehen wir einfach los. Wenn wir uns bewegen, wird uns schon warm werden.«

»Du klingst wie meine Mutter«, meinte Rica, aber auch sie fischte jetzt ihren Rucksack aus dem großen Haufen heraus.

Hier und dort war aus den Reihen der übrigen Schüler noch Murren zu hören, doch nachdem Torben, Eliza und Rica den Anfang gemacht hatten, suchte auch der Rest der elfköpfigen Gruppe ihr Gepäck zusammen, schulterte Rucksäcke und griff sich Reisetaschen.

Torben wandte sich an den Busfahrer. »Den Weg da rauf?«, wollte er wissen. »Und dann?«

»Immer dem Weg folgen«, meinte der. »Könnt ihr gar nicht verfehlen, sagt zumindest das Navi. Die Straße führt zum Blütenhof und endet da. Kann nicht sehr weit sein. Vielleicht drei, vier Kilometer.«

Drei, vier Kilometer! Rica sah das gleiche Entsetzen auf den Gesichtern ihrer Mitschüler, das sie auch empfand. Vier Kilometer im Schnee mit Gepäck den Berg hinauf – es würde dunkel sein, wenn sie auf der Hütte ankamen.

Torben zeigte sich unbeeindruckt. Er drehte sich zum Rest der Gruppe um und musterte einen nach dem anderen, als schätzte er ihr Durchhaltevermögen ab. »Also los!«, sagte er im Befehlston. »Vom Rumstehen wird der Weg nicht kürzer.«

Rica schüttelte den Kopf und wollte Torben schon vorwerfen, dass er sich anhörte wie ein Bundeswehroffizier, doch zu ihrer Überraschung schienen sich die anderen Schüler nicht an seinem Tonfall zu stören. Im Gegenteil, ein Schüler nach dem anderen wandte sich der Straße zu, die über die verschneite Brücke und von da an weiter bergauf führte. Sie schienen zu der stillen Übereinkunft gelangt zu sein, dass Torben hier den fähigsten Anführer darstellte.

Rica, Eliza und Robin waren die Letzten, die sich auf den Weg machten, vor sich eine bunte, weit auseinander gezogene Reihe von Schülern.

Die Brücke bestand aus alten Holzplanken, und selbst wenn sie breit genug für den Bus gewesen wäre, war Rica nicht sicher, ob sie ihm auch standgehalten hätte. Als sie die Bohlen betraten, rieselte ein kleines Rinnsal aus Pulverschnee durch die Lücken in die Schlucht unter ihnen. Schnee knirschte unter ihren Wanderschuhen, und als Rica einen Blick über die Brüstung warf, konnte sie tief unter sich Wasser glitzern sehen. Es rauschte eingerahmt und halb verdeckt von überhängenden Schneewehen dahin. Die Hänge der Schlucht fielen steil zum Bach hin ab, und schimmernde Eiszapfen zierten fast jeden Vorsprung.

»Wunderbare Winteridylle«, murmelte Rica und verzog das Gesicht.

»Ich find’s ganz schön«, erwiderte Eliza und beugte sich weit über die Brüstung. »So friedlich.«

»Friedlich? Sag das noch mal, wenn wir unter der ersten Lawine begraben werden.« Rica hob den Blick und sah die Straße entlang, die sich in eine tief verschneite Gebirgslandschaft hinaufschwang.

»Ach, sieh doch nicht immer alles so schwarz!« Eliza boxte sie freundschaftlich in die Seite. »Dafür gibt’s doch die Bergrettung.« Sie grinste.

Wie Rica vermutet hatte, kostete sie der Aufstieg zu ihrer Unterkunft fast zwei Stunden. Es mochten vielleicht nur vier Kilometer sein, wie der Busfahrer gesagt hatte, aber ihnen allen kam der Weg viel länger vor. Links und rechts der Straße lag der Schnee fast hüfthoch, und selbst die Fahrbahn war bedeckt von einer ordentlichen Schicht Neuschnee. Die Schüler, die nicht wie Rica, Torben und Eliza einen Rucksack für ihr Gepäck mitgenommen hatten, mussten ganz schön kämpfen, ihre schweren Koffer und Reisetaschen den Berg hinaufzuschleppen. Nur die wenigsten von ihnen trugen Wanderschuhe oder überhaupt geeignete Winterstiefel. Sie alle hatten damit gerechnet, vom Bus direkt vor der gemütlichen Hütte abgesetzt zu werden. Schon bald waren die meisten von ihnen vollkommen durchgefroren und hatten nasse Füße.

Die Straße schlängelte sich endlos bergan, und nachdem sie die letzten Bäume hinter sich gelassen hatten, wurde der stetige Wind, der über die Schneeflächen blies, richtig unangenehm. Winzige Eiskörnchen prasselten ihnen ins Gesicht und verschleierten ihr Blickfeld. Als ihre Unterkunft endlich in Sicht kam – ein malerisch auf einer kleinen Anhöhe gelegenes Fachwerkhaus – begann es urplötzlich zu schneien. Von einem Moment auf den anderen waren die Schüler der Daniel-Nathans-Akademie von dicken, weißen Flocken umgeben, die um sie herumwirbelten, sich in Haaren und dem Kunstpelzbesatz einiger modischer Anoraks festsetzten und das Haus wieder in unerreichbare Ferne rückten.

Eine weitere Ewigkeit verging, bis sich schließlich die Silhouette des Hauses erneut aus dem Schneetreiben schälte. Inzwischen war es so dunkel geworden, dass die Wand, die vor ihnen aufragte, eher bedrohlich als einladend wirkte, aber die Fenster waren erleuchtet, und drinnen konnte Rica schemenhaft Leute erkennen.

»Endlich.« Celinas Seufzer sprach Rica aus der Seele. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals so durchgefroren gewesen zu sein. Ihre Jeans war bis zu den Knien durchweicht und fühlte sich steif an, und sie war sich nicht sicher, ob sie alle ihre Zehen wirklich noch spüren konnte.

Torben war als Erster an der Hütte. Er klopfte, da nirgendwo eine Klingel zu sehen war. Kurze Zeit später schwang die Tür auf.

»Schnell, kommt rein! Ihr müsst ja vollkommen durchgefroren sein!« Eine Männerstimme, aber Rica nahm sich gar keine Zeit, den Sprecher genauer in Augenschein zu nehmen. In einem Knäuel aus Schülern drängte sie ins Innere des Blütenhofes. Wärme und Licht schlugen ihr entgegen, und Rica atmete erleichtert auf. Sofort begannen ihre Wangen zu glühen.

»Da drüben könnt ihr euer Gepäck ablegen. Wir verteilen euch nachher auf die Zimmer, jetzt könnt ihr erst mal etwas essen. Wir haben Suppe gekocht.« Der gleiche Sprecher wie schon zuvor, freundlich und mit einem unverwechselbaren lehrerhaften Unterton.

Rica sah sich um, während sie ihren Rucksack abstellte und ihre Jacke auszog.

Sie standen in einem großen Raum mit langen, robusten Tischen und Bänken. Im hinteren Teil gab es eine kleine Theke und eine Durchreiche, wahrscheinlich zur Hüttenküche. An den Wänden hingen fürchterlich kitschige Bilder von Almen und schneebedeckten Bergen mit niedlichen Fachwerkhäuschen, Kühen, glücklichen Menschen und was eben sonst noch zu einer perfekten Bergidylle gehörte.

Außerdem gab es Regale mit Spielen und Büchern, und das Beste war ein riesiger Kamin am hinteren Ende des Zimmers. Ein loderndes Feuer brannte darin. Am liebsten hätte sich Rica sofort einen Sitzplatz direkt am Feuer ergattert – nur das war leider unmöglich. Eine zweite Schülergruppe hatte sich die besten Plätze gesichert. Die Sitzenden starrten neugierig und ein wenig feindselig in Richtung der Neuankömmlinge. Das typische Verhalten von Leuten, die »zuerst« da gewesen waren.

Rica war das egal. Sie wollte nur ins Warme, und sie würde sich ganz bestimmt nicht von einem Haufen fremder Schüler einschüchtern lassen, die – zumindest auf den ersten Blick – auch noch fast alle jünger waren als sie selbst. Sie spazierte geradewegs auf die Sitzenden zu und ließ sich wie selbstverständlich auf einen freien Platz neben einem blonden Mädchen fallen, die als Einzige etwa in ihrem eigenen Alter zu sein schien.

»Ist hier noch frei?«, erkundigte sich Rica, nachdem sie sich schon gesetzt hatte.

Das Mädchen lachte. »Jetzt nicht mehr.« Sie musterte Rica unverhohlen von oben bis unten. »Und? Woher kommt ihr?«

»Daniel-Nathans-Akademie«, erwiderte Rica. »Nett von dir, dass du dich gleich vorgestellt hast.«

Das Mädchen lachte wieder, strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr und meinte dann: »Ich bin Saskia. Und im Gegensatz zu euch allen hier …« Sie machte eine umfassende Geste, die sowohl die schon sitzenden Schüler als auch die gerade erst eingetroffenen einschloss, »… komme ich nicht von irgend so einem Elitebunker.«

Rica zuckte mit den Schultern und wollte gerade fragen, woher Saskia wusste, was für eine Schule die Daniel-Nathans-Akademie war, als Robin auf der anderen Tischseite auftauchte. Rica spürte, wie sich ihr Gesicht unwillkürlich zu einem strahlenden Lächeln verzog. Saskia runzelte die Stirn und folgte Ricas Blick.

»Hey, Robin, das ist …«, begann Rica, aber Robin hörte ihr gar nicht zu.

»Saskia«, flüsterte er vollkommen entgeistert und starrte das Mädchen an, als habe er gerade ein Gespenst gesehen. Er trug immer noch seine Jacke, hatte die Kapuze aber heruntergeschlagen. Schneeflocken waren in seinen Haaren getaut und hatten winzige Tröpfchen hinterlassen, die nun darin festhingen. Sein Gesicht war totenbleich, und er hatte die Hände zu Fäusten geballt.

»Hallo, Robin.« Saskias Stimme klang völlig gleichmütig und heiter. »Lange her, nicht wahr?« Sie legte den Kopf ein wenig schief und sah von Rica zu Robin und wieder zurück. »Ihr seid Bekannte, nehme ich an?« Ihre Stimme hatte einen künstlichen Plauderton angenommen.

»Robin ist …«, fing Rica an, brachte aber den Satz nicht zu Ende, da sie nicht recht wusste, was sie sagen sollte. Mein Freund?So weit sind wir irgendwie noch nicht gekommen. »Wir sind Mitschüler«, sagte sie schließlich lahm.

»Mitschüler, soso.« Saskia musterte Rica wieder, und dieses Mal war ihr Blick nicht mehr so freundlich.

»Saskia«, wiederholte Robin, und schüttelte den Kopf, als wisse er nicht, was er sonst sagen sollte. »Saskia … Was ist … Wie kommst du hierher?« Dann, unvermittelt: »Wo ist Felix?«

Felix? Wo hatte Rica den Namen schon mal gehört? Es wollte ihr nicht einfallen.

Um sie herum füllten sich die Bänke mit Schülern. Eliza ließ sich neben Rica auf die Bank fallen, sah kurz von ihr zu Robin zu Saskia und legte dann ganz leicht ihre Hand auf Ricas, wie um ihr zu versichern, dass sie da war.

Saskia zuckte auf Robins Frage nur mit den Schultern. »Was interessiert dich das jetzt? Du hast dich seit Jahren nicht mehr bei ihm gemeldet.«

»Ich wusste doch nicht, wohin ihr gezogen wart. Niemand wollte mir Bescheid sagen.« Jetzt endlich setzte sich Robin auf die Bank Saskia und Rica gegenüber. Hilflos fuhr er sich mit einer Hand durchs Haar und versprühte Wassertröpfchen nach allen Seiten. »Ich habe wirklich versucht, euch zu finden, Saskia, ehrlich.«

Ich habe versucht, euch zu finden. Als Rica sich diese Sätze erneut durch den Kopf gehen ließ, rastete plötzlich etwas ein. Natürlich. Robin hatte ihr von einem Freund erzählt, mit dem er zusammen an der Daniel-Nathans-Akademie angefangen hatte. Ein Freund, der sich auf einmal völlig merkwürdig verhalten hatte und irgendwann dann gar nicht mehr aufgetaucht war. Dieser Felix war Robins Nachbar gewesen, aber niemand hatte ihm sagen wollen, wohin er verschwunden war.

Von einem Mädchen namens Saskia war allerdings nie die Rede gewesen. Was war nur los? Rica sah wieder von Saskia zu Robin. Die beiden schwiegen sich über den Tisch hinweg an. Saskia war ein merkliches Stück von Rica weggerutscht, so weit es eben ging, ohne den neben ihr sitzenden Schüler von der Bank zu drängen.

»Es tut mir leid«, flüsterte Robin. Seine Worte waren so leise, dass sie beinahe im allgemeinen Geplauder der Schüler untergingen.

»Dafür kann ich mir nichts kaufen«, meinte Saskia, und stand ruckartig auf. »Ich suche mir einen anderen Platz. Hier gefällt mir die Gesellschaft nicht.« Es fehlte nicht viel, und sie hätte Rica ihren Ellenbogen gegen den Kopf gerammt. Mit entschlossenen Schritten ging sie den Tisch entlang und quetschte sich zwischen zwei jüngere Schüler. Gleich darauf begann sie, sich mit einem der Jungen zu unterhalten, als sei nichts gewesen. Rica wollte sich schon wieder von ihr ab- und Robin zuwenden, als der Junge, mit dem Saskia sprach, aufblickte.

Sein Blick zog Rica in seinen Bann. Er wirkte viel zu erwachsen für so einen kleinen, schmächtigen Jungen. Die dunklen Augen unter dem braunen Haarschopf musterten Rica abschätzend, als versuche sich der Kleine, ein genaues Bild von ihr zu machen. Dann lächelte er plötzlich strahlend und winkte ihr kurz zu, bevor er sich wieder über seinen Teller mit Suppe beugte. Verwirrt sah Rica noch einen Augenblick lang zu ihm hin, bevor sie sich zu Robin umdrehte.

»Und was war das jetzt?«, wollte sie von ihm wissen.

Robin kaute verlegen auf seiner Unterlippe herum. »Das war Saskia«, erwiderte er schließlich.

»So viel habe ich wohl mitbekommen.« Rica verdrehte die Augen. »Woher kennst du sie?«

»Wir waren Nachbarn«, antwortete Robin wie aus der Pistole geschossen. »Sie ist die Schwester von Felix. Von dem habe ich dir doch erzählt, oder nicht?« Wieder sah er zu dem Platz, wo sich Saskia gesetzt hatte.

Von dem schon, aber dass er eine Schwester hat, hast du ganz zufällig ausgelassen. Warum?

Rica sah ebenfalls hinüber. Sowohl Saskia als auch der kleine Junge neben ihr hatten die Köpfe nun gesenkt und aßen. Keiner von beiden achtete noch auf sie oder Robin. Allerdings bemerkte Rica gerade erst, wie hübsch das Mädchen eigentlich war: kinnlange, naturblonde Haare, ein schmales, hübsches Gesicht mit ein paar Sommersprossen um die Nase herum, dazu eine gute Figur und – was ihr eben bereits aufgefallen war – unglaublich dunkle grüne Augen.

Sie verspürte einen völlig irrationalen Stich der Eifersucht, als sie Saskia ansah und sich vorstellte, dass diese lange Jahre im Haus neben Robin gewohnt hatte.

Wieder legte Eliza ihre Hand auf Ricas und drückte sie sacht. Offensichtlich setzte sie gerade an, etwas zu sagen, doch in diesem Moment klatschte jemand lautstark in die Hände, und das allgemeine Gemurmel am Schülertisch verstummte langsam. Ein Teller mit Suppe wurde über Ricas Schulter gereicht und vor ihr abgestellt. Als sie die dampfende Brühe mit den Nudeln und Fleischstückchen darin vor sich sah, meldete sich ihr Hunger mit einem vernehmlichen Knurren. Sie überlegte nicht lange, ob es höflich war, anzufangen, wo doch offensichtlich eine Rede gehalten werden sollte, und tauchte den Löffel ein.

»Schön, dass ihr alle hergefunden habt.« Der Sprecher war der Mann, der sie an der Hüttentür begrüßt hatte, und Rica schaute lang genug von ihrem Teller auf, um ihn in Augenschein zu nehmen. Er war schlank und mittelgroß, halbwegs jung für einen Lehrer und hatte rabenschwarzes, kurz geschnittenes Haar. Ganz in Ordnung, entschied Rica. Er hatte einen dicken blauen Ordner aufgeschlagen vor sich liegen und schenkte diesem einen kurzen, prüfenden Blick, bevor er fortfuhr.

»Ich bin Martin Röhling, und zusammen mit Herrn Muhlmann und Frau Friebe werde ich euch die kommenden zwei Wochen auf dieser Hütte betreuen.« Bei seinen Worten erhoben sich zwei andere Erwachsene kurz von ihren Sitzplätzen und nickten den Schülern zu. Ein zweiter Mann mit konservativ geschnittenen braunen Haaren und einem eher nichtssagenden Gesicht, und eine ältere Frau mit breitem Engelslächeln und dichten blonden Locken. Rica war froh, dass die beiden ihrem Kollegen die Rede überlassen hatten. Sie sahen todlangweilig aus.

»Wir sind von der Gesellschaft ›Weiter Horizont‹ eingestellt worden, um euch eine möglichst schöne Ferienzeit zu garantieren«, fuhr Herr Röhling fort. »Wir werden gleichzeitig eure Skilehrer sein – für die von euch, die noch nie auf den Brettern standen. Morgen früh geht es gleich los auf die Piste. Ihr werdet sehen, es gibt hier ganz unglaubliche Abfahrten, und das Panorama ist atemberaubend. Einer der Gründe, warum wir diese Hütte ausgesucht haben.«

»Dass es nicht die gute Straßenanbindung war, haben wir wohl gemerkt.« Celinas Stimme klang nur ein kleines bisschen spöttisch. Tatsächlich schenkte sie dem Lehrer einen anhimmelnden Blick.

»Die Panne mit dem Bus tut uns sehr leid«, griff Herr Röhling sofort das Thema auf. »Wir werden natürlich dafür sorgen, dass ihr am Abreisetag ein Fahrzeug zur Verfügung gestellt kriegt. Ab sofort gibt es keine Pannen mehr, versprochen.«

»Was ist mit …«, begann einer der jüngeren Schüler, der direkt neben dem Kamin saß, doch Herr Röhling winkte ihm, zu schweigen. »Ich denke, es ist an der Zeit, uns kurz vorzustellen.« Wieder warf er einen Blick in den Ordner und schlug eine Seite um. »Zuletzt angekommen sind die Schüler der Daniel-Nathans-Akademie. Steht ihr bitte mal auf, und stellt euch vor?«

Rica kam sich ein bisschen dämlich vor, dazustehen, und dem ganzen Raum ihren Namen mitzuteilen, aber wenigstens blamierte sie sich nicht vollkommen, wie ein paar ihrer Mitschüler, die meinten, noch gleich ihren ganzen Lebenslauf inklusive Hobbys herunterrattern zu müssen. »Rica Lentz«, dabei ließ sie es bewenden und setzte sich schnell wieder hin, noch bevor Herr Röhling offiziell die Erlaubnis dazu gegeben hatte.

»Dann haben wir eine Schülerin vom Bunsen-Gymnasium Heidelberg.«

Saskia erhob sich, nickte kurz in die Runde und sagte nur: »Saskia«, bevor sie sich wieder hinsetzte.

»Und der Rest unserer kleinen Gruppe kommt vom Avenir-Gymnasium bei Koblenz.«

Die jüngeren Schüler standen auf und stellten sich vor. Von ihnen hielt glücklicherweise keiner eine lange Ansprache.

Rica hörte auf, sich die Namen merken zu wollen. Nur bei dem braunhaarigen Jungen neben Saskia horchte sie noch einmal kurz auf, aber der sagte nur: »Simon«, ebenso knapp, wie Saskia sich vorgestellt hatte. Dann setzte er sich wieder und löffelte seine Suppe, als sei er am Verhungern.

Martin Röhling fuhr mit seiner Rede fort, erläuterte Hüttenregeln, erklärte noch einmal, dass sie hier oben Selbstversorger wären, erzählte etwas von einem bunten Abend und einer Disco, doch Rica hörte nicht mehr recht zu. Sie interessierte viel mehr, was der Junge am Feuer vorhin hatte sagen wollen, wobei er von Herrn Röhling unterbrochen worden war.

Sie stieß das Mädchen neben ihr, das jetzt an Saskias Stelle da saß, leicht mit dem Ellenbogen an.

»Was wollte euer Mitschüler da vorhin sagen? Von wegen Pannen?«, wollte Rica wissen. »Musstet ihr auch hier hochlaufen?«

Das Mädchen schüttelte den Kopf, warf einen kurzen, prüfenden Blick zu Herrn Röhling und beugte sich dann mit Verschwörermiene zu Rica herüber.

»Wir haben auf dem Hinweg kurz im Dorf haltgemacht«, flüsterte sie. »Ein paar von uns wollten noch Einkäufe erledigen, und wir waren sowieso früh dran. Also waren wir im Supermarkt. Und da … na ja … Wir haben gehört, wie sich ein paar Leute unterhalten haben. Es hat hier in den letzten Monaten ein paar Todesfälle gegeben, haben sie gesagt. Gewaltsame Todesfälle, wenn du verstehst.« Das Mädchen machte eine kleine Pause, als wolle es den Effekt der Worte auf Rica testen. Als die nichts sagte, fuhr es rasch fort: »Sie sagten, es treibe sich ein Psychopath in der Gegend hier herum. Ein Serienmörder. Und er hat es besonders auf Kinder abgesehen.«

Kapitel drei

Nathan

Der Rest des Abendessens verlief eher ruhig. Robin sprach nicht viel und wich Ricas Fragen nach Saskia immer wieder aus. Als es nach dem Essen an die Zimmerverteilung ging, verzog er sich rasch und tauchte auch nicht wieder im Gemeinschaftsraum auf. Rica blieb noch eine ganze Weile lang dort und wartete, aber vergeblich. Enttäuscht sammelte sie ihr Gepäck auf, das inzwischen angekommen war, und machte sich, von Eliza begleitet, auf den Weg zu ihrem Zimmer.

Eine Treppe führte ins Obergeschoss des »Blütenhofs«, und einmal dort oben angekommen mussten sie einem scheinbar endlosen Flur folgen, bis sie schließlich eine kleine Kammer im Giebel des Hauses erreichten. Das Zimmerchen war winzig und hatte schräge Decken, unter die man gerade noch zwei Betten hatte klemmen können. Alles bestand gänzlich aus altem Holz, das so übersät mit Astlöchern war, dass man das Gefühl hatte, von allen Seiten angestarrt zu werden. Es war eng, aber urgemütlich, und Rica fühlte sich ein kleines bisschen besser. Sie warf ihren Rucksack auf eines der Betten und trat an das einzige Fenster in der Giebelwand. Blasses Mondlicht, von der dicken Schneedecke reflektiert, schien ins Zimmer und tauchte alles in ein unbestimmtes, silbernes Licht.

»Was hat Robin mit dieser Schnepfe am Hut?«, fragte sie niemand bestimmten. Sie sah Eliza nicht an. Es fehlte noch, dass ihre Freundin sah, wie rot sie geworden war.

»Woher soll ich denn das wissen?«

»Keine Ahnung. Du kennst ihn doch schon länger als ich. Vielleicht hat er ja mal was von ihr erzählt.« Rica war sich bewusst, dass ihre Stimme aggressiv klang, doch angesichts der Tatsache, dass sie jetzt gerade am liebsten irgendjemandem den Hals umgedreht hätte, war sie ziemlich stolz auf ihre Selbstbeherrschung.

Eliza schwieg. Ihr Bett quietschte. Rica konnte ihre leisen Atemzüge hören und wurde sich im gleichen Moment bewusst, dass ihr eigener Ärger ein wenig zu schwinden begann. Ganz unwillkürlich passte sich ihr eigener Atemrhythmus Elizas an.

»Hör auf damit!«, knurrte sie.

»Womit?«

»Du weißt genau, was ich meine. Diese komische Sache, die du immer machst. Irgendwie schaffst du es immer wieder, Leute zu … Ach, ich weiß nicht. Glaub nicht, dass ich das nicht gemerkt habe. An meinem ersten Tag an der Schule hast du schon damit angefangen. Weißt du noch, die Schlägerei in der Mensa?« Rica atmete tief durch. Bei dem Wenigen, was sie über die Ereignisse an der Daniel-Nathans-Akademie zusammengetragen hatte, war sie immer wieder auf eine Sache gestoßen: Eliza und ihre Fähigkeit, Einfluss auf andere zu nehmen. Nach allem, was sie wusste, war Eliza bei Weitem nicht die Einzige, die zu so etwas fähig war. Aber sie war ihre einzige enge Freundin, und Rica war ziemlich verärgert, dass sie ihr immer noch nichts verraten hatte.

Eliza schwieg. Nicht einmal das Bett gab noch ein Geräusch von sich.

»Und dann unser Streit. Nach dem Einbruch in Frau Jansens Büro. Wir waren so wütend aufeinander – und nachher habe ich gemerkt, dass ich gar nicht wusste, warum eigentlich. Ich glaube, ich war wütend, weil du wütend warst. Du weißt das ganz genau. Also hör auf, mich zu manipulieren!« Rica presste die Lippen fest aufeinander und starrte weiter das Fenster an.

Eliza schwieg noch immer. Gerade wollte Rica sich zu ihr umdrehen und sie ein für alle Mal zu einer Antwort auffordern, als sie die Bettfedern quietschen hörte. Hastige Schritte durchquerten den Raum, und gleich darauf schlug die Tür zum Flur zu.

Rica wirbelte herum, aber natürlich war das Zimmer leer. Verärgert biss sie sich auf ihre Unterlippe. Warum hatte sie das nun wieder alles gesagt? Warum musste sie ihren Ärger an Eliza auslassen, wo sie doch eigentlich wütend auf Robin war? Und vor allem – was hatte sie jetzt wieder kaputt gemacht?

* * *

Elizas Herz raste. Ricas Worte dröhnten noch in ihrem Kopf nach. Dabei hatte Eliza dieses Mal wirklich nichts getan. Zumindest glaubte sie das. Sie hatte sich geschworen, nie wieder auf Ricas Verhalten Einfluss zu nehmen und sich am Riemen zu reißen. Aber gerade im Zimmer hatte sie sich gewünscht, dass Rica sich ein wenig abregte. Hatte allein schon der Wunsch gereicht?

Ich habe es nicht mehr unter Kontrolle. Der Gedanke kreiste immer wieder durch ihren Kopf wie ein lästiger Ohrwurm. Ich habe es nicht mehr unter Kontrolle. Meine Gedanken und Gefühle greifen auf andere über, und ich kann nichts dagegen tun.

Eliza ballte ihre Hände zu Fäusten und öffnete sie wieder. Ihr Kopf schien zu glühen. Rica wird nie wieder mit mir reden wollen. Warum bin ich einfach weggelaufen? Warum habe ich nicht mit ihr gesprochen?

Aus dem Aufenthaltsraum drangen Gelächter und laute Stimmen. Offensichtlich waren die ersten Schüler dabei, Kontakte zu knüpfen. Eliza hatte nicht die geringste Lust, dabei zu sein. Sie drehte der Tür zum Aufenthaltsraum den Rücken zu und lief den Flur entlang zur Hintertür neben der Küche. Hier war es dunkel und wie ausgestorben, niemand trieb sich jetzt noch hier herum, nachdem die Küchencrew abgezogen war. Eliza hatte keine Jacke mitgenommen, aber direkt neben der Hintertür hingen ein paar alte Wolljacken, die vermutlich den Betreibern der Hütte gehörten. Eliza griff sich kurzerhand eine davon und warf sie sich über. Der Stoff war schwer und stank nach nassem Schaf und Zigarettenrauch, doch er war warm. Eliza schob die Tür auf und trat ins Freie.

Der Schnee glitzerte im Mondlicht, eine endlose, unberührte Fläche. Ein Stück hinter der Hütte lag ein kleines Wäldchen, die Umrisse der Bäume hoben sich wie Scherenschnitte vor dem ewigen Weiß ab. Die Kälte biss in Elizas Wangen. Lange würde sie es hier draußen nicht aushalten. Aber ein bisschen Zeit zum Nachdenken brauchte sie jetzt einfach.

Kurz entschlossen stapfte Eliza in den unberührten Schnee hinaus. Er knirschte unter ihren Schritten, als Eliza in Richtung Wäldchen stapfte. Die kalte Luft half ihr, einen klaren Kopf zu bekommen.

Ich muss einfach besser aufpassen, dachte sie. Wenn Rica recht hat, beeinflusse ich jetzt schon Leute, wenn ich gar nicht darüber nachdenke. Wenn es mir gelingt, gezielt daran zu arbeiten … Sie wagte kaum, ihren Gedanken freien Lauf zu lassen. Das war genau das, was Jo vor einigen Monaten versucht hatte. Und wie hatte das geendet? Mit Jo als blutiger Leiche hinter der Musikhalle.

Aber daran arbeiten musste sie, so viel war wohl klar. Und wenn sie nie wieder jemanden beeinflussen würde, nur, weil sie diese Fähigkeit jetzt unterdrückte, dann war das auch in Ordnung. Im Grunde wollte Eliza diese Gabe ja überhaupt nicht.

Langsam wurde sie ein wenig ruhiger und entspannte sich. Sie hoffte, dass Rica nicht allzu böse auf sie war, die Chancen standen gut, dass ihre Freundin schon wieder alles vergessen und vergeben hatte, wenn Eliza zurück ins Zimmer kam. Rica war selten nachtragend.

Erst, als Eliza den Waldrand erreicht hatte und sich umdrehte, merkte sie, wie weit sie sich bereits vom Haus entfernt hatte. Der Weg zurück schien auf einmal endlos, ihre einsame Fußspur im Schnee verloren und irgendwie traurig. Ganz davon abgesehen, dass wirklich jeder im gesamten Umkreis sehen konnte, wohin Eliza gelaufen war. Haben sie nicht etwas von einem Psychopathen gesagt, der hier sein Unwesen treibt? Eliza schauderte und sah sich rasch um. Die verschneite Landschaft lag still und verlassen da. Das muss ja ein ziemlich optimistischer Psychopath sein, wenn er bei diesem Wetter draußen herumläuft und auf Opfer wartet. Trotzdem zog Eliza die Wolljacke enger um sich und machte sich auf den Rückweg. Sie musste sich ja nicht absichtlich blöd anstellen.

Die Hintertür war nur noch wenige Meter entfernt, als sie sie hörte. Schritte, die durch den Schnee knirschten. Leise, aber deutlich. Jemand schlich um das Haus herum. Eliza erstarrte. Ihre Gedanken rasten, aber ihre Beine schienen nicht zu reagieren. Der Psychopath. Ich bin ihm direkt in die Arme gelaufen. Vielleicht blieb ja doch noch Zeit, sich zu retten.

Sie sprintete los. Schnee stob unter ihren Füßen weg, sie verlor das Gleichgewicht, schwankte und wäre beinah gestürzt, hätten sie nicht zwei kräftige Hände gepackt und aufgefangen. Ohne überhaupt hinzusehen, um wen es sich handelte, versuchte Eliza, sich loszureißen.

»Vorsicht!« Die Stimme klang viel jünger als erwartet. Jung und irgendwie entfernt bekannt. Elizas Herzschlag beruhigte sich ein bisschen. Sie gewann ihr Gleichgewicht wieder zurück und richtete sich langsam auf. Der Fremde blieb ruhig stehen und tat gar nichts. Als Eliza einigermaßen ihre Fassung zurückgewonnen hatte, wagte sie es, ihn anzusehen.

Es war ein Junge.

Ein ganz normaler Junge, vielleicht ein kleines bisschen älter als Eliza selbst, auf jeden Fall noch nicht volljährig. Er trug einen dunklen Ski-Anorak und passende Ski-Hosen, hatte einen Wanderrucksack auf den Schultern und einen Teleskopstock in einer Hand. Unter seiner geringelten Mütze lugten wirre blonde Haare hervor. Sein Gesicht war irgendwie seltsam. Eliza ertappte sich dabei, wie sie ihn anstarrte und darüber nachgrübelte, was ihr so merkwürdig vorkam. Es war ein ziemlich normales Gesicht, schmal, mit einer etwas spitzen Nase und ein paar blassen Sommersprossen. Ein durchaus attraktives Gesicht, aber eigentlich nicht ungewöhnlich. Eliza konnte nicht den Finger darauf legen, was ihn so bemerkenswert machte, bis er sie anlächelte. Es war ein breites, fröhliches, absolut ehrliches Lächeln, das seine Augen zum Funkeln brachte. Ein ansteckendes Lächeln, vielleicht ein wenig rebellisch.

Er sah aus wie Rica.

Vielleicht waren es nur die hellen Haare und die Art zu lachen, doch gerade in diesem Moment hätte der Junge Ricas Bruder sein können.

»Wer bist du denn?«, rutschte es Eliza heraus.

Der Junge hörte zu lächeln auf, und die unheimliche Ähnlichkeit mit Rica schwand. »Du hast ja eine freundliche Art, Leute zu begrüßen«, stellte er fest. »Ich bin Nathan. Soll hier Skiurlaub machen. Und du?«

Eliza spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. »Eliza«, antwortete sie. »Ich bin Eliza. Tut mir leid, ich bin normalerweise nicht so …« Aber sie wusste nicht, wie sie den Satz beenden sollte, und zuckte nur hilflos mit den Schultern.

»Ach so also«, meinte Nathan und grinste wieder auf diese Weise, die Eliza total an Rica erinnerte. Ihr Gesicht wurde noch heißer, und sie blickte peinlich berührt auf ihre Schuhspitzen.

»Sorry«, sagte der Junge. »Ich wollte dich nicht in Verlegenheit bringen. Weißt du, wie man hier reinkommt? Ich bin ein bisschen spät dran.«

»Ich wusste gar nicht, dass überhaupt noch jemand kommt.« Gierig stürzte Eliza sich auf das angebotene Gesprächsthema. »Vorhin haben sie nichts davon gesagt.«

»Ich bin wohl ein Last-Minute-Ersatz«, erwiderte Nathan. »Ein anderer Schüler ist krank geworden, ich stand auf der Warteliste.« Er zuckte mit den Schultern. »Lässt du mich jetzt vielleicht rein? Mir wird allmählich kalt.«

* * *

Rica sprang von ihrem Bett auf, als Eliza ins Zimmer zurückkehrte. Ihr erster Impuls war, der Freundin um den Hals zu fallen, so erleichtert war sie. Doch dann bemerkte sie die Gestalt, die hinter Eliza im Türrahmen stehen geblieben war. Ein wenig verwundert musterte sie den Jungen, den Eliza da mitgebracht hatte. Sie hatte ihn noch nie zuvor gesehen, und sie war sicher, dass er ihr im Aufenthaltsraum aufgefallen wäre. Er war einfach zu präsent, um einfach in einer Menge unterzugehen. Ganz davon abgesehen, dass er teure Skiklamotten trug, einen Wanderrucksack über den Rücken geworfen hatte und Schnee in seinen Haaren zu kleinen Tröpfchen getaut war.

»Weißt du, wo die Betreuer sind?«, fragte Eliza. »Ich konnte sie im Aufenthaltsraum nicht finden, und Nathan hier muss doch wissen, wo sein Zimmer sein soll.«

»Nathan?« Rica musste an den Namen ihrer Schule denken.

»So heiße ich nun mal. Beschwer dich bei meinen Eltern, wenn dir der Name nicht gefällt.« Trotz seiner harten Worte zwinkerte Nathan Rica freundlich zu.

»Ich glaube, ich darf am wenigsten darüber sagen. Mir haben sie ›Ricarda‹ verpasst«, erwiderte sie. »Aber nenn mich lieber Rica.«

»Okay«, erwiderte der Junge. »Trotzdem brauche ich ein Zimmer.«

Eliza, die etwas unschlüssig im Eingang stehen geblieben war, sah von Rica zu Nathan, als lieferten sich die beiden gerade ein Tennismatch. »Ich gehe dann mal jemanden suchen«, sagte sie, wirbelte herum und verschwand den Flur hinunter, bevor Rica sie aufhalten konnte.

»Was ist denn mit der los? Ist sie immer so schüchtern?« Nathan sah Eliza hinterher. »Ich hab sie doch wohl nicht zu sehr verängstigt, oder?«

»Eliza hat manchmal vor ihrem eigenen Schatten Angst«, antwortete Rica. »Das musst du nicht so ernst nehmen.« Sie musterte den Jungen, der sich immer noch nicht aus dem Türrahmen wegbewegt hatte. Sie konnte nicht sagen, warum, aber er war ihr auf Anhieb sympathisch. Er wirkte cool.

»Von welcher Eliteschule bist du?«, wollte sie wissen. Bestimmt stellte sich jetzt gleich heraus, dass er nur cool aussah, in Wirklichkeit jedoch ein fürchterlicher Snob war. Reiß dich zusammen, Rica. Eliza und deine anderen Freunde sind doch auch keine Snobs, obwohl sie auf die Daniel-Nathans-Akademie gehen.

»Keine Eliteschule«, erwiderte Nathan. »Aber vermutlich zählst du Hauslehrer auch in die gleiche Kategorie, oder?«

Es war unheimlich. Beinah, als könne er ihre Gedanken lesen und hätte sofort verstanden, was sie sagen wollte.

»Hauslehrer? Klingt ungewöhnlich. Ich wusste nicht, dass es so was noch gibt.«

»Ich bin eine Waise«, erwiderte Nathan. »Eine Waise mit einer ganzen Reihe von Pflegeeltern, wenn man das so ausdrücken kann. Ich bin von einer Gesellschaft adoptiert worden.«

»Das geht?«

Nathan zuckte mit den Schultern. »Offensichtlich.«

»Welche Gesellschaft?« Rica fragte, obwohl sie schon eine Ahnung hatte.

»›Weiter Horizont e. V.‹.« Nathan grinste. »Die waren vielleicht sauer, dass ich bei ihrem eigenen Wettbewerb nur auf die Warteliste gekommen bin. Aber die Jury war unabhängig, also konnten sie nichts machen.«

Rica runzelte die Stirn. Das Ganze kam ihr doch ziemlich seltsam vor. Konnte es wirklich so viele Zufälle geben? »Wie ist das, wenn man von einer Gesellschaft adoptiert wird?«

Nathan zuckte wieder mit den Schultern. »Okay. Bisschen seltsam vielleicht, aber ich hab sowieso keine Ahnung, wie es sich anfühlt, in einer richtigen Familie zu leben. Ich wohne halt mit ein paar anderen in einer Art Heim, wir haben einen eigenen Lehrer, und sonst … na ja, machen wir halt, was man so tut.« Er sprach gelassen, ein bisschen gelangweilt, und gab sich ganz offensichtlich Mühe, cool zu wirken, aber dieses Mal war es Rica, die ihn durchschaute. Das Thema war ihm unangenehm. Und er wünschte sich, es wäre anders.

»Eine Familie ist auch nicht immer das Coolste«, meinte sie, und sofort hatte sie wieder das Gefühl, dass Nathan in ihr wie in einem Buch las. Sie war darauf gefasst, eine abfällige Antwort zu bekommen, er lächelte jedoch nur ein wenig, wie um ihre Anstrengung anzuerkennen.

»Kann ich reinkommen? Der Rucksack wird allmählich ein bisschen schwer, und hier auf dem Gang zieht’s«, sagte er.

Rica zögerte nicht einen Augenblick. »Klar.« Erst, als sie das Wort ausgesprochen hatte, fiel ihr ein, dass hier Jungenbesuch auf Mädchenzimmern sicher nicht gern gesehen wurde. Aber da war Nathan schon ins Zimmer getreten, hatte seinen Rucksack auf den Boden geworfen und sich kurzerhand auf Ricas Bett gesetzt. Sie blinzelte verwirrt, überlegte einen Moment, ob sie sich nun auf Elizas Bett setzen sollte, beschloss dann aber, dass das doch ziemlich albern wäre. Sie setzte sich neben Nathan, allerdings ein gutes Stück weit von ihm weg. Nicht dass er noch auf falsche Ideen kam.

»Möchtest du was? Schokolade oder so?« Rica begann, in ihrem eigenen Rucksack zu kramen, noch bevor Nathan antworten konnte. Sie wusste, was er sagen würde. Natürlich wollte er Schokolade. Diese Situation schrie nach Schokolade.

Eigentlich hatte sie nach der Tüte mit Mini-Snickers gesucht, die sie noch kurz vor der Abfahrt eingesteckt hatte, aber was ihr als Erstes in die Hand fiel, war eine Schachtel mit Schokoladen-Meeresfrüchten, die Robin ihr auf der Fahrt geschenkt hatte. Rica liebte die Dinger, und als sie sah, dass auch Nathan einen gierigen Blick darauf warf, zog sie die Schachtel einfach heraus, riss die Folie ab und klappte sie auf.

»Danke«, meinte Nathan, schnappte sich die Schachtel und nahm gleich drei kleine Schoko-Muscheln aus der Verpackung.

»Keine Ursache, ich …«, begann Rica, als sie wieder Schritte auf dem Gang hörte. In der Erwartung, dass Eliza mit einem der Betreuer zurückkehrte, sah sie auf, den schuldbewussten Ausdruck schon auf dem Gesicht. Eine Erklärung, warum sie einen Jungen in ihr Zimmer gelassen hatte, lag ihr schon auf der Zunge.

Aber es war keiner der Betreuer.

Es war Robin.

Er wollte gerade durch die Tür treten, als er Nathan auf Ricas Bett entdeckte. Mit der Pralinenschachtel noch in der Hand. Robin hielt inne, als habe ihn ein Pferd getreten, starrte erst Nathan an, dann Rica.

»Hey«, begann Nathan, »ich bin Nathan.«

Robin erwiderte nichts. Er presste die Lippen aufeinander, drehte sich um und stapfte den Flur entlang in die Richtung, aus der er gerade gekommen war.

»Shit«, meinte Nathan. »War das dein Freund?«

»So was in der Art«, murmelte Rica und stand auf. »Ich laufe ihm besser nach. Und … sorry, aber vielleicht solltest du dir doch einen anderen Platz zum Sitzen suchen. Zumindest, bis ich das geklärt habe.«

»Schon okay«, erwiderte Nathan, legte die Pralinenschachtel weg und erhob sich. »Geh nur. Ich mache mich dann auch dünne.«

Rica schenkte ihm noch einen dankbaren Blick und lief dann Robin hinterher.

Kapitel vier

Piste

»Guten Morgen zusammen. Jetzt gibt es erst einmal ein schönes Frühstück, und dann geht es ab auf die Piste. Ich freue mich schon auf unseren ersten gemeinsamen Tag.« Herr Röhling sah unverschämt gut gelaunt aus an diesem trüben Morgen. Das Licht, das durch die Fenster in den Aufenthaltsraum fiel, war blassgrau und nicht sehr einladend. Außerdem war es viel zu früh. Die meisten Schüler hingen noch müde auf den Bänken, und Rica musste immer wieder gähnen. Es hatte eine Weile gebraucht, bis sie am Abend zuvor Robin davon hatte überzeugen können, dass Nathan wirklich keine Konkurrenz für ihn war.

Rica fragte sich, warum eigentlich nicht. Nathan sah gut aus, und er war witzig und Rica auf Anhieb sympathisch gewesen, aber irgendwie fühlte sie sich nicht mehr zu ihm hingezogen als zu einem guten Freund. Ganz im Gegensatz zu Eliza, die neben ihr am Frühstückstisch saß und nicht zu wissen schien, ob sie lieber Torben oder Nathan anhimmeln sollte. Rica wünschte, sie würde sich für Nathan entscheiden. Torben war seit den Ereignissen mit Jo ein wenig seltsam geworden.

Robin saß auf Ricas anderer Seite und schenkte Nathan ebenfalls ab und zu einen Blick. Nur waren diese eher abschätzend und nicht sehr freundlich. Nathan selbst kümmerte sich nicht darum. Er hockte Rica gegenüber, schaufelte mit glücklichem Gesichtsausdruck Müsli in sich hinein und versuchte gleichzeitig, Rica ein Ohr abzuquatschen.

»Du solltest dich mit dem da zusammentun«, meinte Rica und deutete in die Richtung von Herrn Röhling. »Der scheint genau so ein Frühaufsteher zu sein wie du.«

»Ich bin kein Frühaufsteher«, protestierte Nathan. »Aber in den Betten hier kann man ja wohl nicht länger als nötig schlafen. Außerdem will ich raus an die frische Luft. Ich hab mich schon ewig nicht mehr bewegt.«

»Du bist gestern Abend im Dunkeln hier hochgelaufen«, widersprach Eliza. »War das nicht Bewegung genug?«

»Das war gestern Abend. Heute ist heute.«

»Wenn die beiden jungen Damen und der Herr dort mir auch zuhören wollen?«, drang Herrn Röhlings Stimme in ihre Unterhaltung. »Dann könnten wir auch den Tagesablauf besprechen.«

Etwas schuldbewusst drehte sich Rica wieder zur Stirnseite des Tisches um, doch tatsächlich schien der Lehrer ihnen nicht richtig böse zu sein. Er zwinkerte Rica sogar zu, während er weitersprach, den Tagesablauf erklärte und ein wenig zum geplanten Wochenprogramm erzählte. Vielleicht werden diese Ferien ja gar nicht so schlimm, dachte Rica. Klingt nach guter Unterhaltung, Herr Röhling sieht nett aus, und ich brauche auch einfach mal eine Auszeit, um mein Hirn freizupusten.

Sie wandte sich Robin zu und lächelte ihn an. Erleichtert sah sie, wie er zurücklächelte.

»Ich bin noch nie Ski gefahren«, gestand sie ihm. »Ist das schwer?«

Robin grinste und schüttelte den Kopf. Nachdem er sich kurz versichert hatte, dass Herr Röhling nicht zu ihnen herübersah, wagte er es sogar, Rica einen Arm um die Schultern zu legen und sie kurz an sich zu ziehen. »Wenn du stürzen solltest, fange ich dich auf«, flüsterte er Rica ins Ohr. Sein Atem kitzelte sie am Hals, ein seltsames, kribbliges Gefühl, und Rica musste kichern. Im nächsten Moment fing sie einen Blick von Saskia auf, der einen ganzen See zum Gefrieren bringen konnte. Rica versuchte sich an einem Lächeln, aber Saskia wandte sich nur angewidert von ihr ab.

Bis sie das Frühstücksgeschirr weggespült, alle Skiausrüstungen eingesammelt und sich umgezogen hatten, hatte sich der trübe Morgennebel verzogen. Die Schneefelder lagen in strahlendem Sonnenschein und glitzerten einladend. Rica musste zugeben, dass es sehr hübsch aussah.

Während Herr Muhlmann mit den erfahreneren Skiläufern eine anspruchsvollere Piste suchte und Frau Friebe die wenigen Schüler, die sich an Langlauf versuchen wollten, auf einen Pfad scheuchte, zogen die Anfänger mit Herrn Röhling los. Es waren hauptsächlich jüngere Schüler, Rica stellte wohl überrascht fest, dass sich auch Robin und Nathan der Gruppe anschlossen, gefolgt von Saskia.

»Ich dachte, du könntest schon Ski laufen«, wandte sie sich an Robin. »Du hast doch gesagt …«