Option Menschlichkeit - Andrea Roth - E-Book

Option Menschlichkeit E-Book

Andrea Roth

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Beschreibung

Evangelische Theologie kann Impulse für wirtschaftliches Handeln geben. Andrea Roth zeigt dies eindrucksvoll am Beispiel prekärer Ausbildungsbedingungen in der Hotel- und Gastronomiebranche. Sie entwickelt wirtschaftsethische Handlungsperspektiven, die verdeutlichen: "Menschlichkeit" ist eine Option, die sich gut mit ökonomischer Rationalität vereinbaren lässt. Den Rahmen bildet dabei der Ansatz der "Öffentlichen Theologie", dessen Anliegen es ist, christliche Perspektiven so in die aktuelle Weltwirklichkeit einzubringen, dass sie zur Förderung des Gemeinwohls beitragen. Am gewählten Beispiel führt dies insbesondere zur Anregung von Bildungsprozessen, die Menschen dazu befähigen, ökonomische Problemstellungen aus theologisch-ethischer Perspektive zu analysieren und zu beurteilen. [Philanthropy as an Option. Business Ethical Perspectives in the Context of Public Theology and Religious Education] Evangelical theology can indeed provide incentives for economic action. Andrea Roth illustrates this impressively using the example of questionable training conditions in the hotel and catering industries. She opens up economic-ethical perspectives demonstrating that it is possible for philanthropy to be made compatible with economic rationality. The framework for this conviction is provided by a 'public theology' approach which is concerned with importing Christian perspectives into current global reality in such a way as to contribute to the promotion of common welfare. On the basis of the cited example, this leads to a proposal in favour of educational processes which enable people to analyse and judge economic problems from theological-ethical perspectives.

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ÖFFENTLICHE THEOLOGIE

Herausgegeben von Heinrich Bedford-Strohm und Wolfgang Huber

Band33

Andrea Roth

OPTIONMENSCHLICHKEIT

WIRTSCHAFTSETHISCHEPERSPEKTIVENIMKONTEXTÖFFENTLICHERTHEOLOGIEUNDRELIGIÖSERBILDUNG

Andrea Roth, Dr. phil., Jg. 1969, studierte Lehramt an Beruflichen Schulen an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Ihre Fächer sind Pädagogik, Psychologie, Soziologie, Recht und Ev. Religionslehre. Von 2012 bis 2016 arbeitete sie als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Religionspädagogik und Didaktik des Ev. Religionsunterrichts in Nürnberg. Gegenwärtig ist sie als Oberstudienrätin an der Berufsschule tätig und übt eine Lehrtätigkeit am genannten Lehrstuhl aus. Andrea Roth ist Mitglied der Gesellschaft für wissenschaftliche Religionspädagogik (GwR).

Meinen Kindern Elisa und Marie gewidmet

Der vorliegende Band stellt die leicht überarbeitete Fassung der Dissertationsschrift »Option Menschlichkeit im Kontext ökonomischer Theorie und Handlungsrationalität. Theologischethische Perspektiven zum Hotel- und Gastgewerbe mit religionspädagogischen Implikationen« dar, die im Wintersemester 2015/16 von der Fakultät Humanwissenschaften der Otto-FriedrichUniversität Bamberg angenommen wurde.

Gutachter: Prof.Dr.Heinrich Bedford-Strohm, Otto-Friedrich-Universität Bamberg und Prof.Dr.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2017 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Cover: Kai-Michael Gustmann, Leipzig

Satz: Werner Haußmann, Veitsbronn

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017

ISBN 978-3-37404826-7

www.eva-leipzig.de

VORWORT

Der vorliegende Band gibt in leicht überarbeiteter Fassung meine Dissertationsschrift mit dem Titel »Option Menschlichkeit im Kontext ökonomischer Theorie und Handlungsrationalität«, die im Wintersemester 2015/16 von der Otto-Friedrich-Universität Bamberg angenommen wurde, wieder.

Mein großer Dank gilt meinem Doktorvater Prof.Dr.Heinrich Bedford-Strohm, der das Interesse für wirtschaftsethische Fragestellungen in mir geweckt und gefördert hat. Ihm verdanke ich den Zugang zu einem befreiungstheologischen Ansatz Öffentlicher Theologie, der mir die Wahrnehmung der in diesem Band vorgestellten Problemlage erst ermöglichte. Prof.Dr.Manfred L. Pirner danke ich ebenso für die intensive Beratung und Betreuung der Arbeit und den Impuls die religionspädagogischen Fragen und Inhalte aus der Perspektive einer Öffentlichen Religionspädagogik zu betrachten. Durch die Stelle an seinem Lehrstuhl hat er mir den Raum geschaffen, diese Arbeit zu schreiben.

Meinem Kollegen Dr.Werner Haußmann gilt mein Dank für seine vielfältigen Anregungen und die technische Unterstützung bei der Fertigstellung der Arbeit. Er schärfte meinen Blick für die Notwendigkeit verschiedene religionspädagogische Ansätze auf ihre Impulse für die Bearbeitung wirtschaftsethischer Fragestellungen zu analysieren.

Dr.Manfred Müller und OStD Ludwig Englert, meinen beiden Schulleitern, danke ich dafür, dass sie mich maßgeblich dabei unterstützt haben, diese Forschungsarbeit neben meiner Arbeit an der Schule zu beginnen. Ludwig Englert begleitete zudem die Arbeit an der Branchenanalyse fachlich kompetent. Sein Engagement für die Berufsschüler, um die es in dieser Arbeit geht, kann nicht hoch genug geschätzt werden. Er hat den Runden Tisch »Wertschätzende Ausbildung« ins Leben gerufen und ist damit das von mir untersuchte Problem praktisch angegangen.

Ein weiterer Dank gilt Prof.Dr.Dr.Dr. h. c. Rainer Lachmann für die stets motivierenden Gespräche zur vorliegenden Arbeit und für alles was ich von ihm lernen durfte. Ebenso gilt mein Dank meinem Studien- und Berufsmentor Hartmut Garreis M. A., der diese Arbeit aus wirtschaftswissenschaftlicher und aus Lehrerperspektive durch viele Impulse begleitete.

Heike Strohmann danke ich für die Diskussion konzeptioneller Fragen und die Einbringung einer soziologischen Perspektive.

Viele fruchtbringende Diskussionen fanden mit den Teilnehmern des Bamberger und des Nürnberger Doktorandenkolloqiums statt, den Teilnehmenden gilt mein besonderer Dank für die vielen Impulse.

Allen Kollegen des Lehrstuhls für Evangelische Religionspädagogik in Nürnberg sage ich herzlich Danke für die vielen aufmunternden Worte und Entlastungen. Mein besonderer Dank gilt dabei Brigitte Schaude, Bettina Pietsch und Lea Herbst für das Korrekturlesen von Teilen der Arbeit. Brigitte Schaude fertigte zudem das Lektorat für die Veröffentlichung an.

Ohne die Auzubildenden, die mir in ihrer schwierigen Ausbildungssituation Interviews gegeben haben hätte diese Arbeit in der vorliegenden Form nicht entstehen können und so danke ich allen, die sich für Interviews zur Verfügung gestellt haben.

Mein Dank gilt ebenso den Herausgeber der Reihe Öffentliche Theologie, Prof.Dr.Dr. h. c. Wolfgang Huber und Prof.Dr.Heinrich Bedford-Strohm für die Aufnahme in die Reihe. Für Publikationszuschüsse bedanke ich mich bei der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern.

Stets freundlich und geduldig begleiteten die Mitarbeitenden der Evangelischen Verlagsanstalt die Arbeit an der Publikation. Mein besonders herzlicher Dank gilt dabei Dr.Anette Weidhaas, Sina Dietl und Christina Wollesky.

INHALT

Cover

Titel

Die Autorin / Das Buch

Impressum

Vorwort

I. EINFÜHRUNG

1. Gegenstand und Bedeutung der Thematik

1.1 Darstellung des Forschungsstands

1.2 Anliegen, Fragestellung und Zielsetzung

1.3 Methodische Erläuterungen und Aufbau der Arbeit

2. Begriffs- und wissenschaftstheoretische Klärungen

2.1 Ethik im Kontext der Systematischen Theologie

2.2 Theologische und philosophische Ethik

2.3 Angewandte Ethik

2.4 Angewandte und Allgemeine Ethik

2.5 Wirtschaftsethik als angewandte Ethik

2.6 Empirie und Angewandte Ethik

2.7 Religionspädagogik und Systematische Theologie

3. Zusammenfassung und Diskussion

II. SEHEN

1. Ökonomie in der Gastronomiebranche

1.1 Vorklärungen – Ebenen ökonomischen Handelns

1.2 Ökonomie als Betriebswirtschaft

1.3 Schlussfolgerungen

2. Branchenanalyse und erste ethische Problemanzeigen

2.1 Die Branche – das Hotel- und Gastgewerbe

2.1.1 Segmente und Kennzahlen des Gastgewerbes

2.1.2 Branchenspezifische Rahmenbedingungen und betriebswirtschaftliche Implikationen (Kapazitätsproblem, Saison, Standort)

2.1.3 Personalmanagement und Personalwirtschaft

2.1.4 Mitarbeitende der Branche

2.1.5 Ausbildung im Hotel- und Gastgewerbe

2.1.6 Zusammenfassung

2.2 Arbeitsrechtliche Grundlagen und das ethische Problem

2.3 Zusammenfassung

2.4 Hermeneutische Reflexion

3. Situation der Auszubildenden in der Gastronomiebranche –Eine qualitative empirische Studie

3.1 Begründung der Fokussierung, Forschungsfrage und Ziel der Untersuchung

3.2 Der forschungsethische Hintergrund

3.3 Das Verständnis qualitativer Sozialforschung im Rahmen der Arbeit

3.4 Die Methodik der empirischen Untersuchung

3.4.1 Das Forschungsdesign

3.5 Kategorienbasierte Ergebnisdarstellung und –diskussion

3.5.1 Faktische Ausbildungssituation (Kategorie D)

3.5.2 Auswirkungen faktischer Arbeitsbedingungen (Kategorie F)

3.5.3 Physische Beanspruchung (Kategorie H)

3.5.4 Psychische Beanspruchung (Kategorie J)

3.5.5 Erleben von Wertschätzung oder Geringschätzung (Kategorie L)

3.5.6 Sonstiges (Kategorie N)

3.5.7 Erwartungen an die Ausbildung (Kategorie B)

3.5.8 Indikatoren menschengerechter Arbeit – ein Fazit

3.6 Diskussion der Ergebnisse im Vergleich mit Ergebnissen des Ausbildungsreports 2014

3.7 Diskussion der Ergebnisse in Auseinandersetzung mit der Stellungnahme des DEHOGA zu arbeitsrechtlichen Fragen

3.8 Gesamtfazit der Studie

III. URTEILEN

1. Philosophische und ökonomische Perspektiven zur Wirtschaftsethik

1.1 Die Frage nach dem Ausgangsparadigma

1.1.1 Das Konzept Karl Homanns

1.1.2 Das Konzept Peter Ulrichs

1.2 Die Frage nach der Anwendung: das Theorie-Praxis-Problem

1.3 Hermeneutische Reflexion

2. Theologische Perspektiven zur Wirtschaftsethik

2.1 Katholische Ansätze zur Wirtschaftsethik

2.2 Protestantisch-theologische Ansätze zur Wirtschaftsethik

2.2.1 Die Wirtschaftsethik Arthur Richs

2.2.2 Der wirtschaftsethische Ansatz von Eilert Herms

2.3 Ein anthropologisch-hermeneutischer Beitrag der Theologie –Die theologische Wirtschaftsethik Nils Ole Oermanns

2.3.1 Begründungen für eine neue Wirtschaftsethik in globaler Perspektive

2.3.2 Anliegen und Zielsetzung Oermanns

2.3.3 Theologische Grundlegung der Wirtschaftsethik Oermanns

2.3.4 Der Beitrag der Theologie zu einer Wirtschaftsethik im 21. Jahrhundert: Bewusstmachen, Erinnern, Mahnen und Motivieren zum Handeln

2.3.5 Kritische Würdigung

2.4 Impulse aus der Wirtschafts- und Unternehmensethik in der Urteilsbildung der EKD

2.4.1 »Gerechte Teilhabe« (2006)

2.4.2 »Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive« (2008)

2.4.3 »Wie ein Riss in einer hohen Mauer« (2009)

2.4.4 »Solidarität und Selbstbestimmung im Wandel der Arbeitswelt« (2015)

2.5 Hermeneutische Reflexion

3. Öffentliche Theologie im Kontext wirtschaftsethischer Überlegungen

3.1 Das Paradigma Öffentliche Theologie im Ansatz von Heinrich Bedford-Strohm

3.1.1 Theologischer Hintergrund

Kirche und Öffentlichkeit

Öffentliche Kirche im Kontext von Bildung

Kirche als Öffentlichkeit

Kirche als Öffentliche Kirche

3.1.2 Aufgaben Öffentlicher Theologie

3.2 Die Bedeutung Öffentlicher Theologie im Kontext wirtschaftsethischer Fragestellungen

3.2.1 Fünf Leitlinien im Kontext wirtschaftsethischer Fragestellungen

3.2.2 Konkretisierungen für das untersuchte Problem

4. Hermeneutische Reflexion

IV. HANDELN

1. Problembefund und religionspädagogische Rahmenbedingungen

1.1 Problembestimmung: die prekäre Situation der Auszubildenden

1.2 Religionspädagogischer Kontext: der Religionsunterricht der Berufsschule

1.2.1 Die Schüler – soziologisch und entwicklungspsychologisch

1.2.2 Die Lehrer

1.2.3 Die Schule

1.2.4 Die Kirche

1.2.5 Die Inhalte des Fachs

1.2.6 Die Betriebe

1.2.7 Die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände

1.3 Bestandsaufnahme: Wirtschaftsethische Bildung im Berufsschulreligionsunterricht

1.3.1 Potential und Grenzen des Lehrplans für wirtschaftsethische Fragestellungen am Beispiel des Bayerischen Lehrplans

1.3.2 Ansatz und Ziele der Lehrplananalyse

1.3.3 Methodik der Lehrplananalyse

1.3.4 Ergebnisse der Lehrplananalyse: Kriterienbasierte Auswertung und Interpretation

1.4 Zusammenfassung und Fazit

2. Wirtschaftsethische Bildung als Aufgabe des BRU: Grundzüge und Bezugsfelder

2.1 Wirtschaftsethische Bildung im Horizont religionsdidaktischer Ansätze und Perspektiven

2.1.1 Subjektorientierte Religionsdidaktik

2.1.2 Konstruktivistische Religionsdidaktik

2.1.3 Dialogisch-beziehungsorientierte Didaktik

2.1.4 Fazit

2.2 Wirtschaftsethische Bildung als Teilbereich ethischer Bildung im BRU

2.2.1 Ethisches Lernen - Ethische Urteilsbildung - Wertebildung

2.2.2 Konsequenzen für wirtschaftsethische Bildung

2.2.3 Fazit

2.3 Fächerübergreifende Bezüge

2.3.1 Bezüge zur ökonomischen Bildung

2.3.2 Bezüge zur politischen Bildung

3. Wirtschaftsethische Bildung im Kontext einer Öffentlichen Religionspädagogik

3.1 Systematisch-Theologische Bezüge

3.2 Der Öffentlichkeitsbezug und -begriff der Religionspädagogik

3.3 Orte Öffentlicher Religionspädagogik

3.4 Aufgaben Öffentlicher Religionspädagogik

3.5 Konsequenzen für wirtschaftsethische Bildung

4. Fokussierung: Wirtschaftsethische Bildungs- und Dialogmöglichkeiten im institutionellen Kontext der Berufsschule

4.1 Kirche und BRU

4.2 Kirche und Betriebe im Gastgewerbe

4.3  »Institutionalisierter Dialog«: »Runder Tisch – Wertschätzende Ausbildung«

4.3.1 Begriffsbestimmung »Runder Tisch«

4.3.2 Den Dialog beginnen

4.3.3 Erfahrungen aus der Teilnahme an zwei Sitzungen des »Runden Tischs – Wertschätzende Ausbildung« in Bayern

4.4 Fazit für eine institutionalisierte Dialogarbeit

5. Option Menschlichkeit! – Fazit und Ausblick

LITERATURVERZEICHNIS

FUSSNOTEN

I. EINFÜHRUNG

»Eine menschengerechte Arbeitswelt [ist] kein Widerspruch zu einem erfolgreichen Unternehmen, sondern seine Voraussetzung.«1

Diese These stellte Wolfgang Huber anlässlich der Verleihung eines Ethiksiegels der Evangelischen Kirche in Deutschland an Wirtschaftsunternehmen auf. Zunächst kann konstatiert werden, dass diese Aussage nicht unumstritten ist. Geläufiger ist doch gemeinhin eher die Gegenthese: Eine menschengerecht gestaltete Arbeitswelt ist ein Widerspruch zu einem erfolgreichen, gewinnerwirtschaftenden Unternehmen.

Warum sonst lassen Unternehmen in Ländern produzieren, in denen Arbeitsrechte von Mitarbeitenden in der Produktion kaum existieren? Warum sonst wurde und wird die Debatte um einen Mindestlohn in Deutschland hitzig geführt? Warum sonst leiden viele junge Menschen unter ihren Ausbildungsbedingungen in der Gastronomiebranche in Deutschland?

Die zuletzt gestellte Frage konkretisiert sich in der Beschreibung solcher Ausbildungsbedingungen eines jungen Auszubildenden, wie sie in einer Wochenzeitung zu lesen war:

»In eineinhalb Jahren hatte er zwei freie Wochenenden. Alle weiteren fallen zufällig in seine Urlaubszeit. 16-Stunden-Schichten, unbezahlte Überstunden, zwischendurch eine halbe Stunde Pause, sechs Stunden Schlaf bis zur Frühschicht, drei Tage in Folge. Daniel ist sich nicht sicher, ob das legal ist […]. Bei allen Unterschieden zwischen den Chefs des Familienunternehmens, erzählt Daniel: Alle schreien sie Angestellte und Lehrlinge an – als ›dämlich‹, ›dumm‹, ›nicht fähig logisch zu denken‹«.2

Wie das Beispiel deutlich werden lässt, werden nicht nur gesetzlich geregelte Bestimmungen des Arbeitsrechts in diesem Betrieb nicht beachtet3, sondern es wird auch keine Rücksicht auf die Bedürfnisse des jungen Menschen genommen, ein Würde achtendes Verhalten unterbleibt.

Häufig beruft man sich hier auf ökonomische Sachzwänge, die kein anderes Handeln als das beschriebene ermöglichen, will das Unternehmen erfolgreich, und das heißt gewinnbringend, wirtschaften. Unter Berufung auf solche ökonomischen Sachzwänge, die sich aus der Marktsituation heraus ergeben, wird dann auch mehr oder weniger die Notwendigkeit von Seiten der Unternehmen begründet, am geltenden Recht vorbei handeln zu müssen. Damit einher geht meist auch die Forderung nach der Veränderung rechtlicher Bestimmungen in Form von Flexibilisierung.

Fragt man hier nach dem Menschengerechten im Betriebsalltag, wird schnell deutlich, dass der junge Mensch, der am Beginn seines Berufslebens steht und eine Ausbildung in der Branche absolvieren möchte, seine Arbeitswelt keinesfalls als »menschengerecht« bezeichnen würde. Der Fall ist symptomatisch für die Gastronomiebranche und solche und ähnliche Berichte tauchen immer wieder in den Medien auf.

Viele der jungen Menschen fühlen sich durch die Nichteinhaltung der arbeitsrechtlichen Vorgaben wie Arbeitszeit, Pausenvorgaben etc. permanent unter Druck. Viel stärker noch fühlen sie sich durch einen rauen Ton und respektloses Verhalten von Seiten der Ausbildenden belastet.

Nun könnte davon ausgegangen werden, dass sie rechtliche Mittel anwenden, um geltendes Recht einzufordern. Die Situation gestaltet sich jedoch schwieriger als es zunächst erscheint. Einerseits kennen viele der Auszubildenden die rechtlichen Bestimmungen des Jugendarbeitsschutzes noch nicht, andererseits fürchten viele den Ausbildungsplatz zu verlieren, wenn sie auf rechtliche Grundlagen des Arbeitsschutzes in ihren Ausbildungsbetrieben hinweisen und trauen sich somit nicht ihre Rechte einzufordern. Diese Dilemmasituation führt in überproportional vielen Fällen dazu, dass junge Menschen ihre Ausbildung abbrechen. Die Abbruchquote ist in keinem anderen Ausbildungsberuf so hoch wie in der Gastronomiebranche. Das führt dazu, dass ich die Ausbildungsbedingungen als prekär bezeichne.

Exemplarisch zeigt dieses Problem eine Diskrepanz zwischen ordnungspolitisch festgelegtem, dem Menschengerechten verpflichtetem Recht4 und unternehmerischem Handeln.

Kommt man vor dem Hintergrund der geschilderten Problemlage nun noch einmal auf die Aussage Wolfgang Hubers zurück, dann lässt sich an ihrer Negierung feststellen, dass hier die beiden Konzepte »menschengerechte Arbeitswelt« und »erfolgreiches Unternehmen« in einem Widerspruch zu stehen scheinen. Doch was sind die Gründe dafür, dass solche prekären Ausbildungsbedingungen in vielen Betrieben der Branche herrschen? Ist die Schlussfolgerung, die daraus zu ziehen ist, dass Unternehmen nur dann Gewinne erzielen bzw. effizient wirtschaften können, wenn sie geltendes Recht unbeachtet lassen und den Menschen im Unternehmensalltag nur als Mittel zum Zweck der Gewinnerwirtschaftung definieren?

An diesen Fragen zeigt sich m. E. exemplarisch die sowohl in der öffentlichen Debatte, als auch in wissenschaftlichen Diskursen immer wieder propagierte Unvereinbarkeit zwischen Ethik und Ökonomie5. Ethik wird dabei von Huber in den Begriff »menschengerechte Arbeitswelt« gefasst. Das Modell des »erfolgreichen Unternehmens« repräsentiert in diesem Fall die Ökonomie.

Worin gründet sich diese scheinbare Unvereinbarkeit? Weit verbreitet ist die Annahme, ökonomisches Handeln sei in erster Linie Sachzwängen unterlegen, die, seit dem Voranschreiten von Globalisierungsprozessen stärker als je zuvor, richtungsweisend für wirtschaftliches Handeln seien. Im Modus neoliberaler Marktgestaltung6 gehe es nicht um Fragen ethischer Grundlagen oder Rahmenbedingungen von Marktprozessen im Blick auf Menschengerechtes, vielmehr sei der Markt an sich Ausgangspunkt der Betrachtungen und damit in wirtschaftswissenschaftlichem Sinne handlungsinitiierend und –strukturierend. Wachstum und Gewinnmaximierung sind dabei die obersten Prämissen. Thomas Bausch spricht hier vom »faktische[n] Primat der strategischen Zweckrationalität«7, nach dem Unternehmen in aller Regel agieren.

Hierin liegt zunächst noch kein ethisches Problem an sich begründet, doch werden die Unzulänglichkeiten einer rein auf ökonomische Theorie gegründeten Rationalität sichtbar, stellt man z.B. gerade mit Blick auf die zuvor geschilderten Probleme in der Gastronomiebranche folgende Fragen: Welche Auswirkungen zeigen sich bei einer strikten Orientierung am Wirtschaftsprinzip der Effizienz und Gewinnmaximierung8 bei denjenigen Menschen, die nicht vom Marktgeschehen profitieren?9 Was ist mit denjenigen, bei denen das Gewinnmaximierungsstreben von Unternehmen dazu führt, dass sie sich innerhalb des Arbeitsprozesses in den jeweiligen Wirtschaftsunternehmen unter vermeintlichen ökonomischen Zwängen der Ausbeutung preisgeben?10 Und was geschieht mit jenen, bei denen Auswirkungen dieser Marktprozesse körperliche oder psychische Belastungen für Leib und Seele hervorbringen, wie der Bericht über die Situation des Auszubildenden in der Gastronomiebranche zeigt?11

Diese Fragen verleihen dem Prinzip menschengerechter Gestaltung von Arbeit bereits erste Konturen und eröffnen eine ethische Dimension.

Andererseits bleibt jedoch festzustellen, dass die ethischen Implikationen dieser Fragestellungen innerhalb strategischer Wirtschafts- und Unternehmensplanung weltweit kaum eine Rolle spielen. Moralische Problemstellungen kommen in der ökonomischen Standardtheorie in der Regel nicht vor.12 Die Orientierung an einer menschengerecht gestalteten Arbeitswelt erscheint aus dieser Perspektive nahezu obsolet oder allenfalls wird sie nur insoweit beachtet, als durch sie wiederum die ökonomische Funktionalität gefördert werden kann, z.B. indem sich ein Unternehmen pro forma einen Ethikkodex zulegt, der strategisch jedoch nur als Marketingfaktor dient, der Vertrauen bei Kunden erhalten oder erwecken soll. Zunächst ist solch ein Funktionalitätsgedanke nicht prinzipiell abzulehnen, ist aber unter der theologisch-anthropologischen Annahme, der Mensch sei mehr als funktionaler Bestandteil von Wirtschaft und nie nur Mittel zum Zweck, unbedingt zu diskutieren. Dramatische Vergehen gegen Arbeitsschutzrechte von Mitarbeitern13 im In- und Ausland lassen Fragen nach einer allen Menschen verpflichteten und vor allen Menschen verantworteten Fundierung von Wirtschaft in der globalen Gemeinschaft lauter werden.14

Eine Öffentliche Theologie reflektiert diese Fragen im Horizont biblischer und theologischer Tradition. Sie konstatiert den Bedarf an einem gesellschaftlichen Orientierungsrahmen in den Grundfragen des Menschseins und bringt dazu »religiöse Orientierungen in den Diskurs«15 einer pluralistischen Gesellschaft ein, so Heinrich Bedford-Strohm.

Folgt man nun der Vision einer menschengerecht gestalteten Arbeitswelt Hubers, gilt es die als konfligierend erscheinenden Interessen zwischen Ethik und Ökonomie in einen Dialog über gemeinsame grundsätzliche Orientierungen zu bringen. Nur so kann eine möglichst intersubjektiv gültige Basis für ethisch verantwortetes wirtschaftliches Handeln definiert werden, die wiederum als Ausgangsbasis für einen Diskurs zwischen Ökonomie, Recht und Theologie über Konkretionen zu einer menschengerecht gestalteten Arbeit gesehen werden kann. Dabei ist es von zentraler Bedeutung, folgt man Peter Dabrock, »dass man sich der Mühe unterzieht, empirische Identifikatoren im Konfliktfeld ausfindig zu machen, die Differenzierungen und nicht nur Protest ermöglichen«16.

Die Gastronomiebranche steht hier exemplarisch dafür, dass auch in einem System sozialer Marktwirtschaft menschenungerechte Arbeits- bzw. Ausbildungsbedingungen herrschen können.

Hier konkretisieren sich moralisch fragwürdige Auswirkungen des bereits erwähnten ökonomischen Prinzips der Gewinnmaximierung und die damit verbundene Sachzwangslogik auf der Ebene des Unternehmens. Hier trifft es ein schwaches, weil in Abhängigkeit befindliches, Glied der Gesellschaft: Auszubildende junge Menschen. Mit der Fokussierung dieser Problemlage wähle ich einen expliziten Ort für die Suche nach Auswirkungen der strikten Orientierung an Gewinnmaximierung und ökonomischen Zwängen zur Beantwortung der zuvor gestellten Fragen. Stellt man zudem fest, dass der Graben zwischen Ethik und Ökonomie weder in der wissenschaftlichen noch in der gesellschaftlichen Debatte der letzten Jahre schmäler geworden ist17 und dass es weitgehend in den aktuellen philosophisch, theoretisch und praxeologisch orientierten Diskursen18 weiterhin fast ausschließlich um die Frage des Ausgangsparadigmas »Ethik oder Ökonomie« geht, dann versucht diese Arbeit einen Weg zu finden methodologisch über das Prinzip »Sehen-Urteilen-Handeln« eine Vermittlung hin zu einer Verständigung zwischen theologischethischen Orientierungen, wie sie die christliche Theologie bietet und der Ökonomie, mit ihrer spezifischen Theorie und Handlungsrationalität.

Dabei soll erstens nach der konkreten Kommunikabilität christlich-ethischer Grundannahmen im ökonomischen Kontext gefragt werden und zweitens nach einer theoretisch fundierten gemeinsamen Ausgangsbasis19 für den Dialog über Veränderungsmöglichkeiten hin zu einer menschengerechter gestalteten Wirtschaft, der drittens in einer Darstellung und Diskussion eines handlungsorientierenden bildungsorientierten Ansatz für die berufliche Praxis im Kontext beruflicher Bildung und Ausbildung mündet.

Auf dem Weg der Suche nach dem »Menschengerechten« in der Wirtschaft, in Form von Grundlagendiskursen über die moralische Legitimation von globalen Wirtschaftsstrukturen, Unternehmensleitbildern sowie von individuellen Handlungsvollzügen in Unternehmen, kann die protestantische Theologie als Öffentliche Theologie und Religionspädagogik – so eine zentrale These dieser Arbeit – einen wertvollen Beitrag leisten. Sie definiert wirtschaftliches Handeln als Teil menschlichen Handelns und damit als aktiv gestaltbaren Teil menschlichen Lebens und stellt menschliches Sein und Handeln in den Kontext einer Gottesbeziehung, die Impulse hin zu einem gelingenderen Leben, auch wirtschaftlichem Leben, zu setzen vermag.

1. GEGENSTANDUNDBEDEUTUNGDERTHEMATIK

1.1 Darstellung des Forschungsstands

Die Schilderung der Ausgangssituation für diese Untersuchung hat bereits deutlich werden lassen, dass es sich um eine Arbeit mit interdisziplinären Bezügen handelt. Den Forschungsstand für eine solche Arbeit zu verfassen, die einen interdisziplinären Ansatz zwischen Ökonomie, Theologie, Recht und Religionspädagogik verfolgt, stellt eine Herausforderung dar. Um einen möglichst systematischen Überblick zu bieten, erscheint es zunächst sinnvoll, den Forschungsüberblick anhand der verschiedenen beteiligten Disziplinen darzustellen. Dabei ergibt sich jedoch das Dilemma, dass bereits die Disziplin »Wirtschaftsethik« interdisziplinär ist. In ihr verbinden sich ethische (philosophischethische oder/und theologisch-ethische) mit ökonomischen Überlegungen und eine klare Trennung ist demnach nicht möglich. Daher erscheint es zielführend, in der Darstellung chronologisch dem Aufbau der Arbeit zu folgen.

Die allgemeine Betriebswirtschaftslehre stellt die Grundlage der ersten Analyse, die der Rahmenbedingungen der untersuchten Branche, dar und wird der Disziplin der Ökonomie zugeordnet. Die Analyse der Forschungslage zeigt, dass es hier keine Arbeiten gibt, die einen Zusammenhang zwischen der allgemeinen Betriebswirtschaftslehre und den prekären Ausbildungsbedingungen thematisieren. Im Gegenteil zeigen die Grundlagenwerke der klassischen Betriebswirtschaftslehre, dass es sich um eine immense Sammlung an Einführungen und Handbüchern handelt20, die grundsätzlich den Ansatz einer am ökonomischen Prinzip orientierten Lehre von Betriebsorganisation verfolgen. Dieser Ansatz ist normativ und bedarf daher keiner ethischen Reflexion, die von außerhalb dieser Lehre an sie herangetragen wird.

Hieraus wächst die Erkenntnis für vorliegendes Forschungsvorhaben, dass Studierende der Betriebswirtschaftslehre maßgeblich von diesem Ansatz geprägt werden und es Wirtschaftshandelnde bereits überwiegend sind. Dies wiederum ist für eine Diskussion über den Zusammenhang von Ethik und Ökonomie, wie sie hier erfolgen soll, zentral, da es ja demnach keiner Ethik von »außen« bedarf. Soll und kann also Theologie hier überhaupt Ansatzpunkte finden, die eine solche Diskussion zulassen und möglich machen?

Weiterhin zeigt es sich, dass, wie eingangs erwähnt, ein Ansatz der Produktionsorientierung21 und Gewinnmaximierung als ursächlich für die von mir angenommenen Missstände im Ausbildungsbereich bezüglich einer nicht menschengerechten Ausbildungssituation gesehen werden könnte, was zu prüfen ist.

Wesentlich bleibt in diesem Zusammenhang darauf hin zu weisen, dass das Spektrum der klassischen Betriebswirtschaftslehre durch Ansätze wie verhaltenstheoretisch, kulturtheoretisch begründete oder psychologisch fundierte Konzepte, deren erkenntnisleitende Interessen in aller Regel stärker den Menschen im Kontext wirtschaftlichen Handelns sowie sein Verhalten und seine Umwelt (Kultur) fokussieren erweitert wird. Hier könnte ein Ansatzpunkt für theologisch-anthropologische Vorstellungen liegen.22

Schaut man konkreter in den spezifischen Wirtschaftsbereich der Hotel- und Gastronomiebranche, dann sind in der Forschungsliteratur ebenso keine wissenschaftlichen Arbeiten zu finden, die sich mit Ausbildungsbedingungen der Branche befassen, bzw. mit problematischen Bedingungen innerhalb dieser. In der Grundlagenliteratur23 weisen jedoch Erkenntnisse aus den Bereichen »Personalmanagement« und »Unternehmensleitbild« über die große Bedeutung, die Arbeitsbedingungen (Arbeitszeit, -klima und -umgebung) für die Beschäftigten haben, darauf hin, wie wichtig es sein sollte, gute Arbeitsbedingungen auch zu gewährleisten. Für mein Forschungsvorhaben stellt sich damit ein Anknüpfungspunkt dar, wäre doch nun zu überprüfen, ob die Motivation zu Veränderungen hin zu einer Gestaltung einer menschengerechteren Arbeit neben betriebswirtschaftlichen Vorteilen auch in Handlungsmotivationen liegen könnte, die theologisch-ethisch begründet sind.

Im Bereich wirtschaftsethischer Literatur kann zwischen drei unterschiedlichen Disziplinen innerhalb der Wirtschaftsethik unterschieden werden: wirtschaftsethische Betrachtungen aus philosophischer, aus ökonomischer und aus theologischer Perspektive. In allen Bereichen gibt es Arbeiten, die Teilaspekte für die Beantwortung der hier zu stellenden Forschungsfrage liefern. Konkret zu der von mir untersuchten Problematik findet sich allerdings nichts.

Aus ökonomischer Perspektive werden sehr unterschiedliche Ansätze in die Debatte eingebracht, die teils völlig konträre Standpunkte vertreten. Die einen sind primär ökonomisch orientiert und vertreten den Ansatz eines Primats der Ökonomie vor der Ethik24, die anderen sind demgegenüber ethisch orientiert und propagieren ein Primat der Ethik vor der Ökonomie25. Zu unterscheiden sind hier noch einmal diejenigen Werke, die sich auf der Theorieebene befinden (die weitaus die Mehrzahl der Arbeiten darstellen), und diejenigen, die Anwendungsbezüge aufweisen. Grundsätzlich zeigt die Forschungslage, dass auch hier keine Ausführungen zur hier zu behandelnden Thematik zu finden sind.

Die Wirtschaftswissenschaftler Georges Enderle26 und Christopher Große27 bieten m. E. jedoch von ihrem Forschungsansatz her ein hohes Anknüpfungspotential für die vorliegende Arbeit. Beide zeigen durch ihre Versuche der Integration theologischer Überlegungen in ökonomisch-wirtschaftsethisches Denken -- Enderle28 am Beispiel der theologischen Wirtschaftsethik Arthur Richs und Große durch eine Befragung der christlichen Tradition – dass eine Integration möglich ist und auch von Seiten der Ökonomie Beachtung findet. Ebenso ist ihnen eine möglichst plausible Verbindung von Theorie und Praxis wichtig.

Wirtschaftsethische Konzepte oder Ansätze mit dezidiert protestantischtheologischer Fundierung stammen seit den 1980er Jahren von Arthur Rich29, Eilert Herms30, Traugott Jähnichen31 und Nils Ole Oermann32. Die erste grundlegende und systematische theologisch-wirtschaftsethische Betrachtung leistete Arthur Rich mit seinem zweibändigen Werk »Wirtschaftsethik«33. Rich prägte den Begriff des »Menschengerechten« für die theologische Debatte und bietet nach wie vor eine Grundlage für die aktuelle Auseinandersetzung mit wirtschaftsethischen Themen in theologischer Perspektive, indem er es zu einer zentralen Aufgabe machte, zwischen dem zu unterscheiden, was dem Menschen gerecht wird und dem was der Sache, hier der Ökonomie, gemäß ist. Rich bleibt auf der Theorieebene, liefert aber für vorliegende Arbeit den Impuls, das »Menschengerechte« im Kontext eines konkret-ethischen Problems zu konturieren.

Bei Eilert Herms Arbeiten ist es der Fokus, den er auf die anthropologische Dimension der Wirtschaftsethik richtet, der einen Ansatzpunkt für diese Arbeit, die sich auf die Suche nach Kriterien menschengerechter Ausbildungsbedingungen macht, bieten könnte. Als problematisch kann hingegen die von Herms vertretene Sicht auf das Bild eines homo oeconomicus-Modells der Ökonomie identifiziert werden, die es in einer Arbeit, die sich mit diesem Modell als Grundlage von Berechnungsmodellen in der Ökonomie beschäftigen muss, kritisch zu diskutieren gilt.

Der Theologe Traugott Jähnichen bietet mit seiner Bestimmung der Wirtschaftsethik als Bereichsethik eine Basis, von der ausgehend Wirtschaftsethik als Angewandte Ethik betrachtet werden kann. Dabei bleibt Jähnichen selbst jedoch auf der theoretischen Ebene der Reflexion wirtschaftsethischer Problemkonstellationen. Sein Ansatz eines »institutionalisierten Dialogs« zwischen den verschiedenen Fachwissenschaftsdisziplinen bietet hingegen einen Anknüpfungspunkt, den es im Rahmen einer interdisziplinären Arbeit weiter zu verfolgen gilt.

Nils Ole Oermann konzipiert als Theologe und Wirtschaftswissenschaftler eine theologische Wirtschaftsethik aus protestantischer Perspektive. Er integriert viele der wirtschaftsethischen Grundprämissen der anderen genannten Wirtschaftsethiker und verbindet auf plausible Weise theologische und philosophisch-ökonomische Ethik und Ökonomie miteinander zu einem Konzept Angewandter Ethik. Diese Forschungsarbeit zeigt, neben der Darlegung systematisch-theologischer Grundlagen speziell für eine Wirtschaftsethik, vor allem in einem empirischen Teil fünf Entwürfe für konkrete Anwendungsbezüge, die zwar auf eine globale Perspektive von Wirtschaftsethik ausgerichtet sind, aber dennoch den Anwendungsbezug, der in dieser Arbeit ebenso erfolgen soll, exemplarisch und damit impulsgebend veranschaulichen.

Zum Forschungsstand innerhalb der Theologie kann konstatiert werden, dass sich auch hier keine vergleichbaren Arbeiten finden lassen, die mein Forschungsanliegen aufgenommen hätten. Wobei die im Kontext theologischer Wirtschaftsethik vorgestellten Arbeiten mit den jeweiligen Bezügen, die sich zu dieser Arbeit herstellen lassen, ausgenommen werden müssen.

Teilweise für wirtschaftsethisch-theologische Erkenntnisse und hauptsächlich für die Charakterisierung des Paradigmas Öffentliche Theologie können zahlreiche Veröffentlichungen Heinrich Bedford-Strohms gelten, der ebenso durch die öffentliche Rede in Kirche und Gesellschaft zu Fragen der Bedeutung von Ökonomie Stellung bezieht34 und damit wichtige Impulse für die Verbindung von Öffentlichkeit, Bildung und Kirche gibt, die hier zentral aufgenommen werden sollen.35 Das Paradigma Öffentliche Theologie könnte damit zu einem Verbindungsglied zwischen Situationsanalyse der untersuchten Branche, theologischen Urteilskriterien und wirtschaftsethischer Bildung aus religionspädagogischer Perspektive werden, was geprüft werden muss.

Wendet man sich der Disziplin Religionspädagogik zu, so kann hier die Arbeit von Patrik Schneider36 »Wirtschaftsethik als Zündstoff für den Religionsunterricht in der dualen beruflichen Erstausbildung Baden-Württembergs« Erwähnung finden, ist es doch die einzige von theologisch-religionspädagogischer Seite, die sich dezidiert dem Berufsschulbereich und damit auch der Ausbildung zuwendet und sowohl Impulse wie auch Forschungslücken für die vorliegende Arbeit aufzeigt.

Schneider stellt fest, dass sich Ökonomie als didaktische und theologische Herausforderung für den Religionsunterricht an der Berufsschule erweist. Diese These teile ich und sie bildet einen Ausgangspunkt für mein Forschungsvorhaben im religionspädagogischen Teil der Arbeit. Weiter erkennt Schneider, dass die ökonomische Vorstellung selbst sich zum »dominierenden Marktparadigma« entwickelt habe und Ethik in diesem Kontext funktionalisiert werde. Wesentlich sei es von daher, dass religiöse Bildung den »Zusammenhang von Ökonomie und Demokratie erkennt«37 und auf das Gefahrenpotential, das in dieser Funktionalisierung von Ethik für den Einzelnen steckt, hinzuweisen. Er fordert daher »eine politische Didaktik, die erfahrungs-, subjekt-, lernprozess- und lösungsorientiert ist«38 und Schüler dazu befähigt, an der Entstehung einer humanen Gesellschaft mitzuwirken. Ebenso ist es ein Ziel, ihnen die »gesellschaftspolitische Bedeutung der biblischen Tradition«39 näher zu bringen. Hier setzt vorliegende Arbeit an, will aber in Erweiterung zu Schneiders Ansatz den Bildungsansatz wirtschaftsethischer Bildung weiter denken und auf den gesamten Bereich, d.h. alle beteiligten Personengruppen und Institutionen im Kontext beruflicher Bildung ausdehnen.

Das Feld religionspädagogischer Ansätze, die Impulse für wirtschaftsethische Bildung im Rahmen des Religionsunterrichts der Berufsschule geben, ist weit.40 So können Ausführungen über religionspädagogische Perspektiven zu ökonomischer Bildung, wie sie Thomas Retzmann und Thomas Schlag vorstellen, ebenso wie der Ansatz politischer Bildung aus religionspädagogischer Perspektive wichtige Erkenntnisse für Überlegungen zu wirtschaftsethischer Bildung im Kontext beruflicher Bildung geben, weil sie alle gemeinsam das Ziel verfolgen, durch Bildungsprozesse mündige Bürger und damit auch Wirtschaftsbürger zu ermöglichen.

Auch Arbeiten zu Ansätzen einer Öffentlichen Religionspädagogik haben sich in den letzten Jahren zunehmend etabliert und könnten daraufhin befragt werden, ob sie eine weitere Schnittstelle zwischen Erkenntnissen der Systematischen Theologie im Horizont einer Öffentlichen Theologie und dem wirtschaftsethischen Bildungsanliegen und -auftrag des Religionsunterrichts sein können.41 Ein Ansatz Öffentlicher Religionspädagogik könnte insofern Ansatzpunkte für das Forschungsvorhaben bieten, als er durch sein Übersetzungsanliegen versucht »christliche Perspektiven […] in allgemeinzugängliche Sprache und Argumentationsmuster öffentlicher Vernunft zu übersetzen«42, wie Manfred L. Pirner es formuliert. Damit verbindet sich »die spezielle Rationalität von Erziehung, Bildung und Schule«43 mit der Öffentlichkeit, der Theologie und der Religionspädagogik.

Die hier aufgezeigte Forschungslage zur Thematik prekärer Ausbildungsbedingungen in einer großen Wirtschaftsbranche als konkret-ethisches Problem begründet mein Forschungsanliegen, das Problem aus theologischethischer Perspektive mit der Frage der Integration ökonomischer Theorie und Handlungsrationalität und theologisch-ethischer Grundbescheide der jüdischchristlichen Tradition zu betrachten. Damit soll die Forschungslücke in diesem Bereich geschlossen werden, was ich nachfolgend in den Ausführungen zu Anliegen und Zielsetzung der Arbeit explizieren werde.

1.2 Anliegen, Fragestellung und Zielsetzung

»Die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft bemisst sich nicht zuletzt daran, welche Perspektiven und Zukunftschancen sie ihrer Jugend gibt. Es geht um die Fragen: Wachsen junge Menschen in einem menschlichen Klima und unter günstigen Bedingungen auf? Erfahren sie die nötige Zuwendung, Annahme, Akzeptanz und Förderung?«44

Diese Fragen wurden im gemeinsamen Wort der Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland 1997 gestellt und erscheinen mir geeignet, das große Ziel dieser Arbeit, die Frage, ob eine aus theologisch-ethischer Perspektive definierte »Option Menschlichkeit« eine Option im Kontext ökonomischer Theorie und Handlungsrationalität sein kann, in der Potential für Veränderung hin zu einer menschengerechter gestalteten Arbeitswelt liegt, zu beantworten.

In einem weiten Sinne werden in dieser Aussage der Kirchen Fragen nach menschengerechter Arbeitsgestaltung und ethischer Bildung thematisiert: Was ist unter dem hier genannten »menschlichen Klima« in Gesellschaft oder Arbeitsleben zu verstehen? Wie kann dieses Klima erzeugt werden und wie sind die »günstigen Bedingungen« für die Jugend zu definieren?

Den Verfassern des Sozialwortes ging es um gesamtgesellschaftliche Bedingungen für Kinder und Jugendliche, ich fokussiere innerhalb dieses Bereichs die Berufsausbildung junger Menschen und so macht sich diese Arbeit auf der Basis der in der Einleitung genannten Problemlage prekärer Ausbildungsbedingungen in der Gastronomiebranche auf die Suche nach solchen »günstigen Bedingungen«, innerhalb derer die Attribute »Zuwendung, Annahme, Akzeptanz und Förderung« Realisierung und Anwendung im Kontext beruflicher Bildung finden.

Meine These dazu lautet:

Jungen Menschen die am Beginn ihres beruflichen Lebens stehen, müssen »Perspektiven und Chancen« durch die Praxis ihrer Ausbildung vermittelt werden, doch treffen die Attribute »Zuwendung, Annahme, Akzeptanz und Förderung« auf die Art und Weise, wie Ausbildung in vielen Unternehmen stattfindet, nicht zu.

So geht es zunächst darum, empirisch zu erfassen, wie sich die Ausbildungssituation der jungen Menschen konkret darstellt und wie sich die Bedingungen auf die Betroffenen auswirken. In einem zweiten Schritt besteht das Ziel darin, mögliche Gründe für die beschriebene Situation zu suchen. Eine weitere von mir vertretene These ist dabei:

Das im Unternehmensalltag als handlungsleitend propagierte ökonomische Prinzip der Gewinngenerierung und -maximierung anhand der Kriterien Effizienz und Rationalität führt dazu, dass Menschen in ihrem Arbeitsalltag unter der Umsetzung dieses ökonomischen Prinzips leiden und jungen Auszubildenden dabei Zukunftschancen und Perspektiven genommen werden.

Diese These werde ich exemplarisch an der Hotel- und Gastronomiebranche auf der unteren Ebene der Unternehmenshierarchie versuchen zu verifizieren.45 Dabei erwächst das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit auf der Basis der Erfahrungen meiner Schüler der Berufsschule.

Es soll jedoch nicht nur darum gehen, zu zeigen, wie die Anwendung des ökonomischen Prinzips dazu führen kann, dass Menschen unter ihren Arbeitsbedingungen massiv leiden oder Zukunftschancen verbaut werden, sondern ebenso darum, nach Optionen für Veränderungen von tradierten Argumentationsmustern innerhalb der Ökonomie zu suchen. Argumentationsmuster, die grundlegend für das Wissenschaftssystem der Ökonomie sind und damit auch in betriebswirtschaftlichen Konzepten auf der Unternehmensebene Anwendung finden. Häufig wird in diesem Kontext von sogenannten »Sachzwängen« gesprochen, die sich aus dem Gesamtsystem »Wirtschaft« zwangsweise für das Agieren in der Branche ergeben würden, wie eingangs bereits dargestellt wurde.46

Es mag nun den Anschein nehmen, es ginge hier um eine Fundamentalkritik der Marktwirtschaft oder marktwirtschaftlichen Handelns oder die Infragestellung von Gewinngenerierung und -maximierung und unternehmerischem Handeln in der Gesellschaft.47 Im Gegenteil wird das Wirtschaftssystem einer sozialen Marktwirtschaft, in reformierter Form, als durchaus geeignetes Modell sowohl für eine nationale als auch für eine globale Wirtschaft präferiert.48 Ebenso wird Unternehmertätigkeit und deren Bedeutung für die gesamte Gesellschaft hoch geschätzt und durchaus wahrgenommen, dass es Unternehmen gibt, die ihrer Ausbildungsverantwortung vorbildlich nachkommen. Das gilt auch für die hier betrachtete Branche. Es soll also gelingen, Probleme objektiv zu benennen, ohne dass dabei die ökonomische Theorie und die Komplexität wirtschaftlichen Handelns unbeachtet bleiben (Globalisierung, gegebene Marktstrukturen usw.). Nur auf dieser Basis können konstruktive Lösungen für Probleme erarbeitet werden.

Diesem Aspekt wird versucht Rechnung zu tragen, indem zunächst der betriebswirtschaftliche Rahmen der Branche dargestellt wird, um die realen Wirtschaftsbedingungen entsprechend wahrzunehmen und in die Bewertung und Urteilsbildung zu integrieren.49 Ziel ist es dann, das Problem im Ausbildungsbereich der Branche überhaupt als ein wirtschaftsethisches zu definieren. An dieser Stelle wird zum Beispiel auch der Frage nachgegangen, ob ein bestehender arbeitsrechtlicher Ordnungsrahmen ausreicht, um moralisches Handeln der Verantwortlichen in Unternehmen zu generieren, oder inwieweit vielleicht individuelle Verantwortungsübernahme der Zuständigen notwendig ist, um das im Sozialwort geforderte »menschliche Klima« für die Auszubildenden herzustellen. Also einer Frage, die den sozialethischen Rahmen, den das gewählte Zitat des Sozialwortes zunächst beschreibt, verlässt, und damit auch die Ebene individualethischer Fragen im Rahmen einer Verantwortungsethik thematisiert.

Dazu ist es ein zentrales Anliegen der Arbeit, die protestantische Theologie auf ihren inhaltlichen Gehalt für die Bewertung der aufgezeigten ökonomischen Situation zu befragen und zu überlegen, inwieweit ihr eine normgebende Funktion als Grundlage für die Entwicklung konkreter theoretischer Überlegungen sowie Handlungsalternativen innewohnt. Dabei unterscheide ich, in Anlehnung an Wilfried Härle, bei den vorliegenden Fragen und Problemstellungen jeweils individualethische sowie sozialethische Aspekte, zwischen denen eine grundsätzliche Wechselwirkung angenommen wird.

So ist beispielsweise die Person »Hotel-Unternehmerin« in ihrem Unternehmensalltag gefragt: »Was soll ich tun, wenn ich kein Personal zur Verfügung habe, Gäste im Haus sind und der 16-jährige Auszubildende bereits seine arbeitsrechtlich vorgegebene Ausbildungszeit für diesen Tag geleistet hat?«

Das hier aufgezeigte Dilemma enthält folgende, für eine Entscheidungsfindung wesentliche Aspekte:

Zunächst gilt es, den Aspekt der arbeitsrechtlichen Vorgaben zu beachten, der bei Zuwiderhandlung rechtliche Folgen nach sich ziehen kann. Weiterhin beinhaltet das Problem, ich nenne es das ökonomische Problem, dass Gäste im Haus versorgt werden müssen, die bestimmte Leistungen gebucht haben. Auch hier besteht wiederum ein Rechtsanspruch darauf, diese Leistungen zu erhalten. Die Gäste tragen aber auch dazu bei, dass Umsatz generiert werden kann.

Dieses Problem beinhaltet auf der individualethischen Ebene die Frage nach dem persönlichen Handeln der Unternehmerin als für den Auszubildenden Verantwortliche (ethische Dimension). Es macht aber auch die Verantwortung der Unternehmerin für das Wohl der Gäste als Kunden deutlich (ökonomische Dimension). Weitere Aspekte der ökonomischen Dimension sind die Einhaltung der Unternehmensaufträge, der Umsatz- bzw. Gewinngenerierung und der Wirtschaftlichkeit. An den akuten Fall anschließend stellt sich dann die Frage: Welchen Beitrag kann ich als Unternehmerin leisten um die Umstände, die zu solchen Situationen führen, entsprechend zu verändern?« (sozialethische Dimension).

Hieran wird deutlich, dass eine Trennung in zwei unabhängig voneinander zu betrachtende Ansätze von Ethik als Individual- und Sozialethik nicht sinnvoll erscheinen. Beide der aufgeworfenen Fragen lassen unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten und -ziele zu, deren Lösung in diesem Beispiel durch eine Person erfolgen soll – die Unternehmerin. Könnte sie als Privatperson handeln, würde sie sich, neben der rechtlichen Verpflichtung, vielleicht auch aus moralischen Gründen (»er ist noch zu jung und schon körperlich erschöpft«) dafür entscheiden, den Auszubildenden nach Hause gehen zu lassen. Qua Funktion, Rolle und Position ist sie jedoch verpflichtet zur Aufrechterhaltung des Systems »Unternehmen«50 beizutragen (beispielsweise auch zur Verwirklichung des »sozialen« Ziels der Sicherung von Arbeitsplätzen im gesamten Unternehmen). Dies führt in der Realsituation wirtschaftlichen Handelns zu inneren Konflikten, die das Entscheiden und Handeln beeinflussen und keinesfalls marginalisiert werden können. Das Beispiel lässt das Spannungsverhältnis transparent werden, in das sich Vorgesetzte oder Unternehmensverantwortliche durch bestimmte betriebliche Vorgaben und Erwartungen gestellt sehen.

Genau hier setzt diese Arbeit an und versucht deutlich zu machen, wie fundamental wichtig es ist, das grundlegende Menschenbild zu klären, das hinter ökonomischem Handeln steht. Um Veränderungsprozesse anzuregen, die dazu führen, das aufgezeigte Konfliktpotential zu verkleinern, ist es m. E. wesentlich, dass sich ökonomische Theorie mit Fragen des Menschenbildes, das hinter ökonomischer Handlungstheorie steht, auseinandersetzt. Dabei geht es um das Verständnis des Menschen, seiner Würde und seiner Bedürfnisse. Auf der Basis solcher Überlegungen wird es möglich, so meine Annahme, ethische und ökonomische Prämissen zu verbinden.

Für den konkreten Fall könnte dies bedeuten, dass sich Strukturen und Planungen verändern müssten, damit solche Situationen nicht an der Tagesordnung im Unternehmensalltag sind. Dazu bedarf es bspw. einer durchdachten Personaleinsatzplanung, um ein Instrument der Betriebswirtschaftslehre zu nennen. Grundlegend wäre hier jedoch zunächst die Einsicht, dass ein Veränderungsbedarf besteht. Erkenntnisleitend dafür könnte der Ansatz sein, menschliche Arbeit als wesentlichen Faktor für die »Beschaffung, Herstellung und Verteilung von Gütern«51 und Dienstleistungen zu definieren, folgt man Baumgartner, und die sich aus diesem Ansatz ergebenden Fragen nach einer humanen Gestaltung von Arbeit als grundlegende Fragen im Kontext ökonomischer Handlungstheorie zu bedenken.

Ein Ziel dieser Arbeit besteht darin, am konkreten »Fall«, der Ausbildungssituation in der Gastronomiebranche, diese Möglichkeiten einer Vermittlung aufzuzeigen. Denn, provokativ formuliert, muss man bis zu einer Integration dieser beiden Aspekte sagen: So lange wirtschaftliches Handeln am Menschen und seinen Bedürfnissen im Unternehmensprozess vorbei agiert und diese nicht integriert, so lange ist eine Auflösung dieses Spannungsverhältnisses nicht in Sicht. So lange gilt die skeptische Äußerung seitens der ökonomischen Wissenschaft, Ökonomie und Ethik seien nicht zu vereinen.

Wie bereits erwähnt sehe ich in der evangelischen Theologie das Potential enthalten, aus einer ethischen Perspektive mit anthropologischen Grundlegungen eine Vermittlung zwischen ökonomischer Theorie und Handlungsrationalität und theologischen Erkenntnissen zu Mensch und Wirtschaft zu leisten.

Theologie aus der Perspektive der Ethik übernimmt demnach in dieser Arbeit52 drei Aufgaben:

1. Sie übersetzt das christliche Ethos in die aktuelle Weltwirklichkeit ökonomischen Handelns.

2. Sie beurteilt aktuelle ethische Fragen, hier die nach prekärer Ausbildung in einer bestimmten Wirtschaftsbranche, aus der Perspektive des christlichen Ethos.

3. Sie bringt das, was sie aus der Perspektive des christlichen Ethos als geboten erkennt in die gesellschaftliche Debatte, hier konkret in die Debatte mit Branchenvertretern ein, lässt sich dabei jedoch auch im Kontext der Ökonomie von anderen Wirklichkeitsverständnissen selber hinterfragen.53

Dies entspricht dem Ansatz einer öffentlichen Theologie nach Bedford-Strohm, bei dem es darum geht, theologische Erkenntnisse oder Glaubensannahmen zu einem »guten« Zusammenleben von Menschen, hier innerhalb des Systems Wirtschaft, so darzustellen, dass sie mit Vertretern des entsprechenden Systems, in diesem Falle aus der Ökonomie, kommuniziert werden können. Dass dies mit einem fundierten Wissen um das System Wirtschaft verbunden sein muss, erscheint naheliegend.

Sprechen wir von eingangs erwähnten Indikatoren menschengerecht gestalteter Arbeit oder Ausbildung, wird die christlich-ethische Tradition, wie sie sich in Bibel, kirchlichen Dokumenten und theologisch begründeten wirtschaftsethischen Modellen darstellt, auf ihre Relevanz für die Bestimmung dieser Indikatoren überprüft.

Ein weiteres Ziel verfolgt diese Arbeit damit, dass sie Überlegungen dazu anstellt, wie Sensibilisierungs- und Bildungsprozesse im weiteren Rahmen des Religionsunterrichts der Berufsschule, als einem Bezugsort von Ausbildung, angeregt und zu einer theologisch-ethisch gegründeten Handlungsfähigkeit von Schüler, Lehrenden und Ausbildungsverantwortlichen führen können. Es geht dabei um Fragen, ob und inwieweit eine als Öffentliche Religionspädagogik definierte Religionspädagogik Schule und Betrieb als Ebenen, auf denen wirtschaftsethische Bildungsprozesse stattfinden, adressieren kann und Bildungsprozesse demnach auch über den unterrichtlichen Rahmen hinaus initiiert werden können, z.B. in Bezug auf die Unternehmensverantwortlichen in Form von Ethikschulungen für Unternehmer oder, wie ich exemplarisch darstellen werde, in Form eines Runden Tisches »Wertschätzende Ausbildung« mit allen an der Ausbildung beteiligten Stellen.

Die bisher aufgezeigten Fragestellungen legen ein interdisziplinäres Vorgehen nahe. Versteht man Wirtschaftsethik wie Traugott Jähnichen prozessorientiert, »als institutionalisierte[n] Dialog von Ethik und Ökonomik«54, dann soll meine Arbeit einen Beitrag zu einem im Sinne Jähnichens methodisch reflektierten Dialog leisten. Dieser Dialog findet dann zwischen Unternehmensverantwortlichen der Gastronomiebranche, die hier exemplarisch für Wirtschaftsunternehmen stehen, und Vertreter die sozial- und verantwortungsethische Vorstellungen der protestantischen Tradition vermitteln können, statt. Grundlegend für einen solchen Dialog von theologischer Seite, ist das Verständnis, das Würde als eine von Gott her rührende Würde betrachtet wird und das den Einsatz der »Stärkeren für die Schwachen« als grundlegend betrachtet.

Ziel ist es dabei, zukünftig Veränderungen im Ausbildungsprozess durch Bewusstmachen der Problematik und das Angebot von Handlungsalternativen anzubahnen. Denn auch gerade im Sinne einer Öffentlichen Theologie55 gehe es darum, so Bedford-Strohm, »die Auswirkungen wirtschaftlichen Handelns auf die soziale Balance in einer Gesellschaft zu reflektieren«56 und dieser Gesellschaft Orientierungswissen zu vermitteln.

Zur Verwirklichung einer menschengerecht gestalteten Arbeitswelt bedarf es genau dieses Orientierungswissens. Dazu formuliere ich die folgenden drei Thesen:

1. Menschen, die Verantwortung in Unternehmen tragen, bedürfen ethischer Orientierung und Kompetenzen ethischer Urteilsbildung, um die Arbeitsbedingungen und Arbeitsabläufe in diesen Unternehmen menschengerecht mit zu gestalten.

2. Die protestantische Theologie bietet der traditionellen Ökonomie eine Perspektive, aus der sie den Menschen nicht nur in seiner Rolle als Marktteilnehmer betrachtet, sondern bewusst macht, in welchen anderen Rollen und Bezügen er denkt und handelt.57 Dieses Bild vom Menschen entwickelt und reflektiert sie auf der Basis theologischer Orientierungen.

3. Der Religionsunterricht an der Berufsschule, als einem Ort öffentlichen Handelns von Kirche, kann und soll junge Menschen für die Wahrnehmung von menschenwürdigem und menschenunwürdigem Handeln in Unternehmen sensibilisieren. Ebenso besteht hier die Möglichkeit, Optionen für ein gelingenderes Handeln auf der Basis theologischer Ethik im Kontext ökonomischen Agierens zu entwickeln.

Dies erscheint sowohl deshalb besonders bedeutsam, da es sich bei den jungen Menschen um zukünftige Verantwortungsträger im Wirtschaftsunternehmen Hotel oder anderen Betrieben der Branche handelt und davon ausgegangen werden kann, dass sie diese Kompetenz der Urteilsbildung nutzen werden, um selber in ihrem individuellen Verantwortungsbereich unter der Annahme der Vereinbarkeit ethischer und ökonomischer Prinzipien Veränderungen herbeizuführen. Ebenso geht es aber darum nicht nur im Sinne eines Schutzes für die Schwachen zu agieren oder sie für eine zukünftig eintretende Situation als Ausbilder vorzubereiten. Vielmehr muss es ebenso ein Anliegen sein, sie zu befähigen, die Probleme, die eine prekäre Ausbildungssituation mit sich bringt, im Sinne einer »Theologie der Befreiung« aktiv zu bewältigen. Meine Vision besteht darin, dass zukünftig die Ausbildung in der Gastronomiebranche das Label »prekär« verliert und ein von der Branche beklagter Fachkräftemangel58 auch durch Veränderung von Ausbildungsbedingungen behoben werden kann.59

Dazu noch einmal ein Zitat aus dem Sozialwort, das in der Formulierung eines Rechtsanspruchs eine Zuspitzung der eingangs präsentierten Aussage beinhaltet: »Junge Menschen erwarten zu Recht, daß [sic!] sie über Ausbildung und Beruf eine ökonomische und soziale Perspektive entwickeln können, die ihnen ein sinnvolles und eigenverantwortliches Leben ermöglicht«.60

Versteht man Religionspädagogik analog zu einem Ansatz Öffentlicher Theologie als Öffentliche Religionspädagogik, wird hier auch nach religionspädagogischen Impulsen für Bildungsprozesse mit Auszubildenden, Lehrenden und Unternehmensverantwortlichen in Bezug auf ethische Urteilsbildung auf einer Basis theologischer Ethik zu suchen sein. Ebenso geht es darum, zu fragen, welche Übersetzungsleistung sowohl eine Öffentliche Theologie wie auch eine Öffentliche Religionspädagogik für das Einbringen theologischer Optionen in säkular-ökonomische Diskussionen erbringen kann.

Wie erwähnt handelt es sich um eine exemplarische Analyse einer bestimmten Branche, deren Ergebnisse sicher nicht deckungsgleich für andere Branchen zu übernehmen sind. Das soll jedoch nicht heißen, dass diese nicht dem dargestellten Prozess ethischer Urteilsbildung in ähnlicher Weise, bezogen auf ihren spezifischen Kontext, folgen könnten. Zu beachten sind hier dann die eigenen Rahmenbedingungen und deren Auswirkungen für die jungen Menschen. Auch hierbei werden wieder die in der protestantischen Theologie zugrundegelegten anthropologischen Grundbescheide von Menschenwürde, Gerechtigkeit u.a. m. befragt und können beispielsweise in einem unternehmensspezifischen Ethikkonzept, auf der Basis vorgestellter theologischer Grundbescheide, münden.

Visionär sollten diese Analysen jenseits von moralisch-appellativen Dimensionen in einen Dialogprozess mit den solchermaßen handelnden Wirtschaftsverantwortlichen führen. Anzustreben ist ein Dialogprozess, dessen Ziel es ist, zu einer sensiblen Wahrnehmung der jeweiligen Interessen und der sich aus ihnen ergebenden Kollisionen zu gelangen, um Veränderungsprozessen mit dem Ziel einer menschengerecht gestalteten Arbeitswelt Vorschub zu leisten.

Die in dieser Arbeit explizierten Indikatoren für eine menschengerecht gestaltete Arbeitswelt in der Gastronomiebranche sollen auch für andere Branchen Möglichkeiten eröffnen, an der Lebenswelt ihrer Auszubildenden ansetzend, wirtschaftsethische Problemlagen zu thematisieren, ethische Urteilsbildung einzuüben und damit Handlungsoptionen zu entwickeln. Die Option Menschlichkeit kann damit zu einer echten Option im Kontext ökonomischer Theorie und Handlungsrationalität werden.

Aus dem bisher Dargestellten ergeben sich zusammenfassend folgende Fragestellungen für die Arbeit:

Wie sehen ökonomische Rahmenbedingungen und Richtlinien der Branche aus und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Ausbildungssituation?

Welche Auswirkungen sind bei den jungen Auszubildenden, die unter den beschriebenen Bedingungen arbeiten müssen, festzustellen?

Inwiefern können ökonomische Prinzipien von Gewinnerwirtschaftung und Effizienzsteigerung in einen Widerspruch zu menschengerechten Arbeitsbedingungen geraten und auf welche Weise können ökonomische mit ethischen Prinzipien vereinbart werden?

Welche theologisch-ethischen Überlegungen können in die öffentliche Debatte mit Vertretern aus Ökonomie und Politik eingebracht werden und in welcher Weise können diese in eine der aktuellen Debatte gemäße Sprache gebracht werden, um als normativ-ethische Orientierungen Anerkennung im gemeinsamen Prozess ethischer Urteilsbildung zu erlangen?

Wie kann ein Dialog zwischen den beteiligten Gruppen angebahnt, gestaltet und institutionalisiert werden und wie gestaltet sich dabei die Rolle von Kirche im Sinne eines Ansatzes von Öffentlicher Theologie auch im Zusammenhang mit der Diskussion um ein bestimmtes Grundverständnis von Ökonomie?

Wie können Anregungen für Veränderungen tradierter Muster ökonomischen Handelns konkret im Kontext der Ausbildung von Jugendlichen, im Rahmen wirtschaftsethischer Überlegungen, im weiteren Rahmen des Religionsunterrichts der Berufsschule aus der Perspektive einer Öffentlichen Religionspädagogik aussehen?

Welche Impulse kann die Öffentliche Religionspädagogik für Bildungsprozesse mit Auszubildenden, Lehrenden und Unternehmensverantwortlichen in Bezug auf ethisches und politisches Lernen und ethische Urteilsbildung geben?

1.3 Methodische Erläuterungen und Aufbau der Arbeit

Der Aufbau der Arbeit folgt der Struktur des Dreischrittes zur ethischen Urteilsbildung »Sehen-Urteilen-Handeln«.61 Dabei implizieren diese die Arbeit strukturierenden Bereiche zugleich ein methodisches Vorgehen.62 Dieses methodische Vorgehen ist für eine Arbeit im Kontext protestantischer Systematischer Theologie eher ungewöhnlich.63 Das mag zum einen daran liegen, dass sie katholischen Ursprungs ist und innerhalb eines spezifischen Kontextes – der katholischen Arbeiterjugend (CAJ) – entstanden ist, und zum anderen daran, dass sie innerhalb der lateinamerikanischen Befreiungstheologie verortet wird und sich insbesondere dort zu einer wissenschaftlichen Methode weiterentwickelte.64

Innerhalb der ökumenischen Zusammenarbeit der Kirchen hat sich die Methode jedoch in besonderer Weise in der Arbeit an dem gemeinsamen »Sozialwort« der EKD »Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit« von 1997 bewährt.65 Dort orientieren sich die Kapitel zwei bis fünf an diesem, hier als Strukturprinzip bezeichneten Vorgehen. Das Vorgehen in diesem Sozialwort erscheint mir für meine Arbeit ebenso impulsgebend wie geeignet, ihr eine überschaubare Struktur zu verleihen. Es impliziert aber auch ein methodisches Vorgehen, dessen Vorteil darin gesehen werden kann, dass von der konkreten Lebenswirklichkeit nicht nur ausgegangen wird, wie im Falle klassischen induktiven Vorgehens, sondern dass diese Wirklichkeit selbst Einfluss auf die Analyse und Interpretation der Situation und die daran anschließenden Schritte ethischer Urteilsbildung nimmt. Das Spezifikum des Vorgehens nach dem weiterentwickelten Dreischritt besteht m. E. unter anderem darin, dass hier sowohl die Involviertheit der/des Forschenden (innerhalb der lateinamerikanischen Befreiungstheologie sind dies die Theologen) als auch der Einbezug der Erfahrungen der Beteiligten (in der lateinamerikanischen Debatte »die Armen«) methodisch integriert werden. Damit erhalten die Erfahrungen der Beteiligten Relevanz für die weitere Interpretation der Situation und werden somit inhaltlich relevant für die Urteilsbildung. Gustavo Gutiérrez, Befreiungstheologe der ersten Stunde lateinamerikanischer Befreiungstheologie, ist der Ansicht, man käme »nie zu einer echten Theologie der Befreiung […] wenn die Unterdrückten nicht selbst frei ihre Stimme erheben und sich unmittelbar […] in Gesellschaft und Kirche äußern können«.66

Neben diesen diagnostizierten Vorteilen bietet auch die Rezeption der Methode im religionspädagogischen Kontext Anlass, sie in dieser Arbeit anzuwenden. Im vierten Teil geht es unter dem Handlungsaspekt auch um religionspädagogische Perspektiven. In der Religionspädagogik seien exemplarisch Rainer Lachmann und Bernd Schröder von evangelischer Seite sowie Rudolf Englert und Norbert Mette von katholischer Seite genannt, die sich auf diese Methode ethischer Urteilsbildung beziehen, beziehungsweise sie dezidiert als Methode vorschlagen. So heißt es bei Schröder im Vorwort seines Grundlagenwerkes »Religionspädagogik«:

»Die religionspädagogische Theorie wählt gegenwärtige (aber auch geschichtliche) Probleme und Phänomene als Ausgangspunkte, geht dann aber auf Abstand, um Gesichtspunkte zu entwickeln oder zusammenzuordnen, deren Berücksichtigung ein Sehen, Urteilen und Handeln angesichts dieser Probleme und Phänomene ermöglicht […]«67

Englert spricht dabei von einer »Verschränkung empirischer und hermeneutischer Verfahren«68, was den Kern meiner methodischen Verfahrensweise trifft.

Im Folgenden expliziere ich das methodische Vorgehen in dieser Arbeit, um deutlich zu machen, welche methodischen wie auch inhaltlichen Impulse ich verschiedenen Ausprägungen der Methode »Sehen-Urteilen-Handeln« entnommen und für mein Vorhaben modifiziert habe. Dazu betrachte ich im Wesentlichen drei Ansätze aus der befreiungstheologischen Debatte: 1. den Ansatz Joseph Cardijns, 2. den Ansatz Clodovis Boffs und 3. den Ansatz Raúl Fornet-Betancourts - und mache deutlich, wie diese Ansätze und die sich daraus ergebenden Impulse, mit der Theorie ethischer Urteilsbildung des evangelischen Theologen Wilfried Härle als viertem Ansatz, zusammengedacht werden können.

Im Anschluss daran stelle ich die Struktur der Arbeit unter Rekursnahme auf die zuvor erörterten methodischen Hinweise vor.

Ich beginne zum Ersten mit dem historischen Ursprung der Methode, die in der von Joseph Cardijn konstruierten Methode des Dreischrittes zur ethischen Urteilsbildung: »Sehen-Urteilen-Handeln« zu sehen ist. Dadurch wird einerseits der Weg der Entwicklung hin zu einer wissenschaftlichen Methode nachvollziehbar, andererseits deutlich, warum und inwieweit ich einige Impulse aus dieser ursprünglichen Fassung der Methode entnehme.

Ad 1. Dem Priester und Theologen Joseph Cardijn69 war es zu Beginn des letzten Jahrhunderts ein Anliegen, inspiriert durch den christlichen Glauben, jungen christlichen Arbeiterinnen und Arbeitern in prekären Arbeitssituationen (zumeist in Fabriken) dazu zu verhelfen, sich mit der eigenen Arbeitssituation auseinanderzusetzen und nach Veränderungsmöglichkeiten auf der Basis des christlichen Glaubens zu suchen. Dafür setzte er sich aktiv ein.70

Seine theologischen Überzeugungen des Einsatzes für die Schwachen fanden dabei Eingang in höchste lehramtliche Verlautbarungen: in die Sozialenzyklika »Mater et Magistra« sowie in das Zweite Vatikanische Konzil.71 Dabei hatte er niemals eine systematische Abhandlung über seine Methode verfasst, über die Aufnahme in die lehramtlichen Dokumente fand sie jedoch Eingang in das sozialethische Überlegen und Handeln der Katholischen Kirche. Festzuhalten bleibt hier: die Methode hat sich bis heute vielfach verändert, wie ich zeigen werde, die Bezeichnung »Sehen-Urteilen-Handeln« hingegen ist geblieben und wird daher in der klassischen begrifflichen Fassung hier verwendet.

Im Zusammenhang mit diesem ursprünglichen Entwurf der Methode taucht immer wieder der Vorwurf mangelnder Wissenschaftlichkeit auf, die bei Cardijn auch nicht intendiert war. Bei ihm handelte es sich dezidiert um eine Bildungsmethode, deren Ziel in der Selbstbildung und der Glaubensbildung junger Menschen der Arbeiterschaft lag. Dabei sah sie Cardijn, durch ihre das Subjekt aktivierende und befähigende Intention, als politische Bildungsmethode72. Die Subjekte – der junge gläubige Arbeiter/die junge gläubige Arbeiterin – sollten in die Lage versetzt werden, selbst Urteile über ihre Situation zu fällen.73

So verwende ich die Methode Cardijns nicht in der von ihm gefassten Weise, da in dieser Untersuchung nicht von jungen gläubigen Menschen auszugehen sein wird, sie enthält jedoch zwei für meine Arbeit zentrale Leitimpulse: die Subjektorientierung im Kontext ethischen Nachdenkens und die Verknüpfung von ethischen und pädagogischen Perspektiven. Insofern ist bereits im historischen Ursprung der Methode diese Verknüpfung von zentraler Bedeutung – die auch in meiner Arbeit eine wichtige Rolle spielt. Diese Impulse greife ich sowohl durch den Einbezug der Beurteilung der Ausbildungssituation durch die Auszubildenden selbst als auch in besonderer Weise im Kontext der Bildungs- und Befähigungsfrage in Teil IV dieser Arbeit auf, wenn es darum gehen wird, wie jungen Auszubildenden Kompetenzen zu vermitteln sind, die sie befähigen die eigene Situation zu reflektieren und Optionen zur Veränderung dieser Situation auf der Basis des christlichen Glaubens zu entwickeln. Bereits hier wird deutlich, dass das wesentliche Moment des methodischen Vorgehens in Vermittlungen liegen wird: Vermittlungen zwischen den einzelnen Ebenen »Sehen-Urteilen-Handeln«, was im Folgenden zu explizieren sein wird.

Das methodische Vorgehen in dieser Arbeit bezieht sich also teilweise auf die Methode Cardijns, integriert jedoch weiterführend verschiedene Impulse aus der lateinamerikanischen Befreiungstheologie im Zusammenhang mit der Methode »Sehen-Urteilen-Handeln«.

Ad 2. Boff erhebt den Anspruch, die Methode als wissenschaftliche Methode einer Theologie der Befreiung für den lateinamerikanischen Kontext entwickelt zu haben.74

Im Unterschied zu Cardijn geht es Boff nicht mehr ausschließlich um die Betroffenen – bei Cardijn die jungen Arbeitenden –, sondern eben auch um die an der Befreiung aus den Verhältnissen beteiligten Theologen und ihre Rolle im Befreiungsgeschehen.75 Er geht letztlich von zwei Polen aus: von der befreienden Praxis – dem aktiven Engagement an der Seite der Armen – einerseits und der Glaubensreflexion andererseits. Diese Glaubensreflexion, so Boff, werde mit unterschiedlichen Mitteln auf unterschiedlichen Ebenen betrieben: auf wissenschaftlicher, pastoraltheologischer und populartheologischer Ebene.

Er bestimmt also drei Formen76 von Theologie der Befreiung: professionell, pastoral und popular.77 Auf der professionellen Ebene bezeichnet er die Methode als wissenschaftliche Methode: »Sozialanalytische Vermittlung – Hermeneutische Vermittlung – Praktische Vermittlung«78. Die Vermittlung wiederum bezeichnet er als Instrument oder Mittel theologischer Konstruktion.79 Den klassischen Dreischritt ordnet er, ähnlich wie Cardijn, als Bildungsmethode der pastoraltheologischen Ebene zu, also der Ebene von Pastoralinstituten und Bildungseinrichtungen.80

In seinen wissenschaftstheoretischen Betrachtungen weitet Boff dabei den Horizont der ursprünglichen Methode Cardijns, indem er konstatiert, dass Betroffene mehr seien, als das, was durch Wissenschaftler von ihnen wahrgenommen werde. Es handle sich bei ihnen um eigenständige Subjekte mit eigenen Sichtweisen und Wahrnehmungen zu ihrer spezifischen Situation der Unterdrückung, die sie in eine sozialanalytische Vermittlung mit einbringen sollen. Ebenso geht es nach Boff nicht nur darum, das Urteilen auf bloßes Beurteilen einer Situation auf der Basis des Evangeliums zu begrenzen, sondern vielmehr, sich auf die aktive Suche nach Hoffnungsmomenten aus dem Evangelium heraus zu machen, die es sinnvoll erscheinen lassen, die vorfindliche Situation zu ändern. Er bezeichnet dies als »Hermeneutik der Befreiung«81, die sich in einer wechselseitigen Interpretation, einem hermeneutischen Zirkel zwischen den Armen und den Worten der Schrift vollziehe.82 Zuletzt eröffne die wissenschaftliche Theologie Optionen und Perspektiven für das praktische Handeln, vollziehe jedoch keine Akte der Befreiung an den »Plätzen der Geschichte«83, vielmehr gehe es darum, »kontextuell eingebundene Strategien mittlerer Reichweite«84 zu entwerfen.

Auch diesen Aspekt werde ich innerhalb meiner Untersuchung gewichten, indem ich Auszubildende als eigenständige Subjekte ihre eigenen Sichtweisen und Wahrnehmungen zu ihrer spezifischen Situation, die sie selber als »Unterdrükkung« bezeichnen, in eine sozialanalytische Vermittlung mit einbeziehe. Es geht nicht nur darum, sozusagen »von außen«, aus der Perspektive der Wissenschaftlerin, eine Situation, die andere betrifft, nämlich die der Auszubildenden, zu analysieren und zu beurteilen, sondern darum, gerade ihre persönliche Wahrnehmung in die Untersuchung zu integrieren und danach zu fragen, inwieweit diese persönlichen »Fälle« dazu beitragen, ein moralisches Problem zunächst erst einmal als ein solches zu definieren. Weiter geht es darum, herauszufiltern, ob, und wenn ja welche, allgemeine moralische Überzeugungen dahinter stehen könnten, die diese »Fälle« als moralisch fragwürdig erscheinen lassen.85 Zu denken wäre hier an intuitive Theorien der Moral86 der Betroffenen wie z.B. das persönliche Verständnis/Konzept von »Würde«. Das geschieht in dieser Arbeit unter Einsatz sozialwissenschaftlicher Forschungsmethoden der Erhebung und Auswertung konkret durch die von mir geführten problemzentrierten Interviews zur persönlichen Wahrnehmung von problematischen Ausbildungssituationen (als Erhebungsmethode).

Neben dieser Integration der Subjektperspektive indiziert die Methode von Boff die Auseinandersetzung mit der Frage der »Selbst-Involviertheit« der Forscherin – bei Boff sind das die Theologen. In dieser Untersuchung betrifft dies mich in den beiden Rollen: einmal als Forscherin wie auch als Beteiligte. Ausgangspunkt für diese Forschung war, wie bereits erwähnt, die Tatsache der Wahrnehmung von prekären Verhältnissen meiner Schüler in der Ausbildung, die ich als Lehrerin, und damit als Beteiligte, im Unterricht bei Arbeitsrechtsthemen oder Fragen nach dem Verhältnis von Arbeit und Freizeit im Rahmen des Religionsunterrichts aus deren Äußerungen wahrgenommen habe. Daraus folgt zunächst eine, durch meine Einbindung bedingte, dezidiert anwaltschaftliche Positionierung. Mein Anliegen besteht zunächst darin, aktiv zur »Befreiung aus den Verhältnissen« beizutragen. Patrik Schneider erweitert dazu den methodischen Dreischritt um einen Schritt.87 Schneider geht es darum: »Sehen, Urteilen und Handeln […] im Kontext einer genuin theologischen und anwaltschaftlichen Leseweise, die selbst offengelegt werden muss […]«88 zu bestimmen. Hierin zeigt sich, dass die drei Bereiche nicht wertneutral und unabhängig von jeglicher Positionierung dargestellt und analysiert werden (können)89 oder mit den Worten des Ethikers Lienemanns gesprochen: »Eine voraussetzungsfreie Ethik ist nicht möglich.«90 Aus der persönlichen Motivation zu dieser Untersuchung heraus liegt es nahe, den »anwaltschaftlichen« Gedanken als Klammer, die sich um alle Darstellungen fügt, zu sehen oder diesen Gedanken als wertgebundene Perspektive zu betrachten, aus der heraus die Analyse erfolgt. Bruno Kern formuliert dabei, dass die »methodischen Schritte eine untrennbare dialektische Einheit bilden«91. Dabei verwendet er das Bild einer Klammer und stellt so die zweifache Verankerung in der Praxis – als Ausgangspunkt und Ziel – dar.92 Das macht weiterhin deutlich, dass bereits die Auswahl der analysierten Bereiche durch bestimmte Wertprämissen gelenkt ist und stellt heraus, dass »Beobachtungen und Darstellungen […] von Erkenntnisinteressen gesteuert [werden]«93, wie Lienemann es formuliert. Um dieses Vorgehen zu plausibilisieren zitiere ich dazu abschließend die katholische Theologin Marianne Heimbach-Steins:

»Das ›Sehen‹ ist an die Perspektive desjenigen gebunden, der etwas sieht (das gilt für Vertreter des kirchlichen Lehramtes ebenso wie für Wissenschaftlerinnen). Die Perspektive wird durch verschiedene Faktoren bestimmt: durch Erfahrungen und Überzeugungen, durch Voreinstellungen, durch bereits vorhandene normative Orientierungen und sittliche Urteile, die aus der Vermittlung zwischen dem überlieferten Wertwissen und der Lehre der Kirche mit dem zeitgenössischen Wissensbestand über die zur Debatte stehenden Sachverhalte gewonnen werden. Spontane Wahrnehmungen werden durch wissenschaftliche Problembearbeitung unterstützt, verfeinert, eventuell auch korrigiert«.94

Weiter konstatiert sie, dass es um eine möglichst exakte Wahrnehmung gehe, die es erst ermögliche, das Problem genau und umfassend zu betrachten. Dies sieht sie als Voraussetzung dafür an, eine sachlich und ethisch angemessene Beurteilung leisten zu können. »[…] angemessene Antworten und Lösungsansätze können nur gefunden werden, wenn konkrete Erfahrung, Sachanalyse und ethische Bewertungskriterien im Prozess der ethischen Urteilsbildung miteinander vermittelt werden«.95

Neben der Subjektorientierung und der Beachtung der Forscherperspektive entnehme ich dem Ansatz Boffs einen weiteren, dritten Aspekt. Es geht ihm bei seiner Methode nicht darum, das Urteilen auf bloßes Beurteilen einer Situation auf der Basis des Evangeliums zu begrenzen, sondern vielmehr darum, sich auf die Suche nach Hoffnungsmomenten aus dem Evangelium heraus zu machen, die dazu motivieren können, die vorfindliche Situation zu ändern.

Diese Methode leitet mein Vorgehen sowohl bei der Frage nach theologischen Grundbescheiden, die für einen Diskurs zwischen Theologie und Ökonomie Relevanz erhalten könnten (im Teil »Urteilen«), als auch bei der Suche nach Kriterien und Möglichkeiten für spezifisch wirtschaftsethische Bildung auf der Basis der christlichen Theologie (im Teil »Handeln«). Inhaltlich und daraus folgend methodisch wird dies in den Kontext einer »Öffentlichen Theologie« im Ansatz Heinrich Bedford-Strohms gestellt, was im Teil »Urteilen« näher erörtert werden soll.

Ad 3. Der dritte impulsgebende Ansatz für das methodische Vorgehen stammt von dem Philosophen Raúl Fornet-Betancourt. Dieser kritisiert zunächst die Dreiteilung der Ebenen (wissenschaftliche, pastoraltheologische und populartheologische) bei Boff und spricht ihnen ab, weitere Differenzierungsmöglichkeiten zuzulassen. Er protegiert hingegen die Beibehaltung des Dreischritts »Sehen-Urteilen-Handeln« als Grundstruktur weiterer wissenschaftlicher Überlegungen und sieht diese durchaus bei Boff auch auf der professionellen Ebene gegeben. Diese Grundstruktur müsse nur »unter den Bedingungen heutiger unterschiedlicher Kontexte bestimmt werden«96. Er erkennt in ihr ein geeignetes Reflexionsinstrument, das sich nun auf einen bestimmten, anderen Kontext (die Armen in den lateinamerikanischen Ländern und nicht mehr die jugendlichen Arbeiterinnen und Arbeiter bei Cardijn) bezieht. Dabei sei nach Auffassung Fornet-Betancourts die Methode in sich flexibel »um neue Kontextualisierungen der theologischen Reflexion adäquat ermöglichen zu können«97.

Folgt man Klein, so kommt er, zu einer »kreativen Neubestimmung [kursiv im Text] der Methode des Dreischritts«98. Es gehe ihm darum,

»auf der Grundlage einer breiter angelegten Interdisziplinarität, die zudem wirklich interaktiv praktiziert werden sollte, die befreiungstheologische Reflexion in eine neue Beziehung zu den Sozialwissenschaften zu setzen, damit die durch den Rekurs auf die Sozialwissenschaften gewonnene sozialanalytische Vermittlung als das integriert werden kann, was sie tatsächlich ist, nämlich eine wissenschaftliche Teil-Rationalität, welche die wissenschaftliche Qualität des ›Sehens‹ allein nicht gewährleisten kann.«99

Das heißt, im ersten Schritt »Sehen« ist wesentlich davon auszugehen, dass keine der Rationalitäten der Wissenschaften, in dieser Untersuchung im Wesentlichen die der Ökonomie oder der Theologie, das Zentrum wissenschaftlicher Erklärungen bilden. »Die in diesem Prozeß [sic!] notwendige Komplementarität ist vielmehr vom Beginn an zu berücksichtigen, und zwar im Sinne einer ursprünglichen Implikation wissenschaftlicher Reflexion«.100

Erweiternd fügt Fornet-Betancourt die Erkenntnis hinzu, die sozialanalytische Vermittlung auch in den Kontext der Kulturen zu stellen. Diese zentrale Erkenntnis erlangt beispielsweise Bedeutung bei der Frage nach der kulturellen Prägung eines Verständnisses vom Menschen, also einer Bestimmung des Menschenbildes. Hier unterscheiden sich individualistische von kollektivistisch geprägten Kulturen in bedeutsamer Weise.101 Die kulturellen Prägungen, und das damit einhergehende jeweils unterschiedliche Verständnis von Welt, haben einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Frage z.B. von Verantwortungsübernahme in Unternehmen102