Opus 77 - Alexis Ragougneau - E-Book
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Opus 77 E-Book

Alexis Ragougneau

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Beschreibung

Auf der Beerdigung ihres Vaters hält Ariane am Flügel inne, die gefeierte Konzertpianistin, belauert von der Trauergesellschaft. Eine dröhnende Pause, ein langes Atemholen, und Ariane setzt an – zu Schostakowitschs »Opus 77« und zu der Geschichte ihrer Familie. Ihr Vater, der große Dirigent, der Maestro, übermächtig in Orchester und Familie. Ihr Bruder, Geigenvirtuose, das blasse Gesicht verborgen hinter schwarzen Locken. Ihre Mutter, ehemals leuchtend, nur noch ein schwacher Schatten. Und sie selbst, verdeckt von der perfekten Inszenierung der unnahbaren Pianistin. Vom einsamen Gesang steigert sich Arianes Opus zu einem dämonischen Tanz, der die Ruhe zerreißt und die Missklänge der Vergangenheit aufwirbelt.

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Über dieses Buch

Eine dröhnende Pause, und Ariane setzt an – zu Schostakowitschs »Opus 77« und zu der Geschichte ihrer Familie. Der übermächtige Vater, der talentierte Bruder, die schwindende Mutter. Der perfekt inszenierte Mythos der genialen Musikerfamilie wird zerrissen von Arianes rhythmischer Erzählung, die sich steigert zu einem alles verschlingenden Tanz.

Zur Webseite mit allen Informationen zu diesem Buch.

Alexis Ragougneau (*1973) war als Schauspieler, Regisseur und vor allem als Dramatiker tätig, bis er 2014 sein Romandebüt gab. Für Opus 77 wurde er mit dem Prix Libraires en Seine und dem Prix de l’Union Interalliée ausgezeichnet und stand auf der Shortlist des Prix Femina und des Prix Goncourt.

Zur Webseite von Alexis Ragougneau.

Brigitte Große (*1957) übersetzt aus dem Französischen, u. a. Werke von Amélie Nothomb und Georges-Arthur Goldschmidt. Sie wurde mit dem Hamburger Förderpreis, dem Österreichischen Staatspreis für literarische Übersetzung und dem Hieronymusring ausgezeichnet.

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Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Hardcover, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Alexis Ragougneau

Opus 77

Roman

Aus dem Französischen von Brigitte Große

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Die Übersetzerin dankt dem Deutschen Übersetzerfonds für die Unterstützung ihrer Arbeit.

Die Übersetzung des Werks wurde unterstützt vom Centre National du Livre, Paris.

Lektorat: Anne-Catherine Eigner

Originaltitel: Opus 77

© by Viviane Hamy, Paris 2020

© by Unionsverlag, Zürich 2022

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Richard Ludwig (Unsplash)

Umschlaggestaltung: Peter Löffelholz

ISBN 978-3-293-31121-3

Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte

Produziert mit der Software transpect (le-tex, Leipzig)

Version vom 21.09.2022, 22:49h

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Inhaltsverzeichnis

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Inhaltsverzeichnis

OPUS 77

NocturneScherzoPassacagliaKadenzBurleske

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Nocturne

Georg staunte darüber, wie dunkel das Zimmer des Vaters selbst an diesem sonnigen Vormittag war.

FRANZ KAFKA, Das Urteil

Wir werden mit einem Schweigen beginnen.

Aber Schweigeminuten dauern ja, wie Sie wissen, nie volle sechzig Sekunden, genauso wenig wie Minuten stillen Gedenkens bei einer Beerdigung in einer Genfer Basilika. Schnell kommt Unruhe auf, obwohl die Trauergemeinde großteils aus Musikern des Orchestre de la Suisse Romande besteht, die sich per definitionem an das vom Maestro vorgegebene Tempo halten müssen. Doch diesmal steht Claessens nicht am Pult. Er liegt im Sarg vor dem Altar, bebrütet vom Blick eines Priesters, der zutiefst durchdrungen ist von seiner Mission: Den Künstler würdigen. Zwei, drei Worte über die potenzielle göttliche Inspiration verlieren; man weiß ja nie, kostet auch nichts, und ein bisschen Bekehrungseifer tut dem Verblichenen bestimmt nicht weh. Die Tochter, die ein paar Meter weiter am Flügel sitzt, wird schon nichts sagen, sie scheint ganz woanders zu sein.

Über der Tastatur ragt eine Jungfrau mit Kind aus einer steinernen Nische. An ihrem dem Kirchenfenster zugewandten Gesicht bleibt das Tageslicht hängen. Das Jesuskind, ein pausbäckiger Säugling mit lockigem Haar, starrt aus seinen Alabasteraugen hochmütig auf mich herab. Was er wohl denkt? Unter dieser Mutter mit ihrem Sohn wirke ich mit meinem für den Anlass etwas zu tief ausgeschnittenen schwarzen Seidenkleid und der roten Mähne über den Elfenbeintasten wohl ganz schön sündig, eine wahre Maria Magdalena. Ich bin hier, um etwas zur Beerdigung meines Vaters zu spielen. Und habe dafür einfach das erstbeste Abendkleid aus dem Schrank genommen. Dort hinten in der zweiten Reihe schnieft und heult jemand, das nervt ganz schön. Ich fühle mich so fremd, ja, wie in der Fremde, als gäbe ich, noch ganz betäubt vom Jetlag, einen Soloabend am anderen Ende der Welt, in Sydney oder Tokio. 

Am frühen Vormittag, als noch kein Trauergast in der Kirche war, wurde der Bösendorfer gestimmt – wenigstens hat der Priester mir das versichert. Ich wäre gern dabei gewesen und hätte mit dem Klavierstimmer über Temperierung und Mechanik gesprochen – ich liebe es, mich mit Instrumentenbauern, Technikern oder eben Klavierstimmern zu unterhalten. Ging nicht; zu der Zeit wurde ich im Bestattungsinstitut erwartet.

Wie verschrumpelt Claessens dalag, wie alt in seinem Sarg! Eine Mumie schon. All diese Mühen, sich seine Jugendlichkeit zu bewahren, all die Cremes, Haarimplantate und Schönheitsoperationen, alles durch Tod und Krankheit zunichtegeworden. Kurz bevor sie den Sargdeckel schlossen, legte ich seinen Stab hinein, weil ich dachte, es wäre vielleicht beruhigend, ihn dabeizuhaben, um dort, wo er hinginge, den Takt anzugeben, sechs Fuß unter der Erde, sonst nirgends mehr.

Die Orchestermusiker im Kirchenschiff nahmen spontan dieselbe Sitzordnung ein wie bei einem Konzert. Die Meute, wie Claessens sie nannte, stets bereit, dich beim geringsten Anzeichen von Schwäche zu zerfleischen, vergiss das nie, meine Tochter. Nein, Papa, das vergesse ich nicht. Nie vergesse ich das, an keinem Abend, an dem ich ein Konzert von Rachmaninow, Beethoven oder Mozart spielen muss. Die Streicher in den vordersten Reihen. Geigen links, Bratschen in der Mitte; rechts die mit dem großen Hubraum, Celli und Kontrabässe. Dahinter die »banda«, Klarinetten und Fagotte, Flöten und Oboen, Hörner, Trompeten, Posaunen, Tuben. Ganz hinten schließlich die, die man nicht oder kaum wahrnimmt, die Schlagzeuger, unter denen ich mich gern umsehe, nach dem Konzert und dem Signieren, nach den Empfängen in New York, Mailand oder Berlin, wenn es an der Zeit ist, ins Hotel zu gehen. Unter den heulenden Wölfen suche ich mir immer den unwichtigsten aus, der in der Rangordnung ganz unten steht, und lade ihn auf ein letztes Glas ein, nur um die Alphamännchen wahnsinnig zu machen vor Wut und Eifersucht.

Hier, in dieser Basilika, sehe ich einige von den Musikern des Orchestre de la Suisse Romande, über das mein Vater herrschte, im Frack der großen Konzertauftritte. Die Schweigeminute ist noch nicht vorbei, aber sie wollen wohl schon aufs Tempo drücken, um zur eigentlichen religiösen Zeremonie überzugehen. Von meiner Klavierbank aus sehe ich, wie sie auf ihren Stühlen herumrutschen, die Beine übereinanderschlagen und voneinander lösen; ich höre sie hüsteln, mit ihren Gelenken knacken, sich mehr oder weniger dezent schnäuzen (wobei ich dazusagen muss, dass Winter ist; o kaltes, feuchtkaltes Genf!). Ohne Instrument in ihren Händen wissen sie nichts mit sich anzufangen. Stille ist für sie unerträglich.

Erst aber werden sie mir zuhören müssen.

Gestern Abend gab man mir zu verstehen (wer, weiß ich nicht mehr, ein Typ in einem dunklen Nadelstreifenanzug, der Geschäftsführer des OSR vielleicht), es gehöre zum guten Ton, dass ich in der Kirche etwas zum Gedenken an meinen Vater spiele. Damit erwischte er mich auf dem falschen Fuß: Ich, Ariane Claessens, wusste nicht, was ich spielen sollte.

In den allerletzten Tagen wurde ich auf der Palliativstation zur Zuschauerin seines nahenden Todes. Die Konzerte waren vergessen. Ich versuchte, ihn löffelchenweise zu füttern und zum Trinken zu bewegen, aber er verweigerte alles. Ich sah den Pflegerinnen zu, wie sie seine Windeln wechselten und sein Bett machten, besonders einer, auch rothaarig, aber gefärbt, die ständig sagte, Lassen Sie mich nur machen, Mademoiselle Claessens, es ist nicht Ihre Aufgabe, mit Ihren Händen in seinem Kot zu wühlen (das waren ihre Worte), darauf ich, Doch, Madame, doch, ich kann Ihnen ja ein bisschen zur Hand gehen. Nur dass ich mich nicht aus meinem Winkel rührte.

Sie werden mir schon erst zuhören müssen, verehrtes, schwarz gekleidetes Publikum.

Als ich hierherkam, hatte ich vor, Liszts Trauermarsch zu spielen. Passend zum Anlass. Außerdem mag ich die forte-Passagen, ich mag es, bis zur Erschöpfung in die Tasten zu hauen. Damit hätte ich mich – an diesem Tag und in dieser Stimmung – gut abreagieren können. Aber dann gab es diese Beileidsbekundungen vor der Kirche, auf den Stufen, unter den Blicken einer Handvoll an ihre Schirme geklammerter Journalisten (draußen schüttet es wie aus Eimern; o kaltes, regnerisches Genf). Ich war darauf eingestellt, die ergriffenen Würdigungen des Maestros durch die Musikwelt entgegenzunehmen, verstehen Sie? Als letzte Überlebende sozusagen, die Letzte der Mohikaner oder, besser gesagt, der Claessens. Ariane, ein gut eingeschenktes Vierteljahrhundert. Ach was, mindestens hundert Jahre sind das bestimmt, trotz Pfirsichteint und Feuerschopf.

Als Erster drückte mir ein Schlagzeuger die Hand. Einer von diesen Typen im Hintergrund, bei den Heizkörpern. Ach, Ariane, wie schnell doch das Ende gekommen ist! (Schnell? Im Ernst? War es nicht eher ein langes, schleichendes Siechtum?) Noch vor dem Sommer habe ich mit deinem Vater über die nächste Saison diskutiert. Ja, so schnell …

Wiewohl Schlagzeuger, hat er mich natürlich nie berührt. Das OSR ist Familie. Und mit seinem Paten geht man nicht nach zwei Uhr früh einen trinken, das hätte etwas Inzestuöses, die Geschichte mit dem Paten erzähle ich Ihnen gleich. So defilierten sie alle an mir vorbei, auf den Stufen der Notre-Dame de Genève, einen Steinwurf vom Bahnhof entfernt; alle drückten mir die Hand, gemäß der protokollarischen Reihenfolge, könnte man sagen, oder eigentlich gemäß der Sitzordnung eines Symphonieorchesters. Nur bei einem – mein Vater hatte ihn vor Jahren von der ersten zur zweiten Geige versetzt – war ich mir nicht sicher, ob er lächeln oder gleich zubeißen würde, wie er so mit gebleckten Zähnen auf mich zukam. Ein gigantischer Musiker. Ein gigantischer Verlust für die Musik. Und das meine ich vollkommen ernst, meine kleine Ariane. Dann tat er so, als wollte er in die Basilika hineingehen, wo die Orgel schwieg, weil ich bald auf den Bösendorfer eindreschen würde; schien sich aber im letzten Moment zu besinnen; wir beide standen als Letzte draußen, es regnete, regnete immer noch – o kaltes, düsteres Genf! –, da flüsterte mir die zweite Geige pianissimo ins Ohr: Kommt dein Bruder denn nicht? Ist aber auch kein Wunder, nach all dem, was passiert ist … Darauf ich, Was ist kein Wunder? … Und er, Dass er sich nicht einmal dazu aufrafft, seinem Vater Lebewohl zu sagen. Er kann damit nicht umgehen, nicht wahr? David konnte ja noch nie mit irgendeiner Art von Druck umgehen. Das war vorher auch schon so, aber seit Brüssel ist es natürlich noch schlimmer.

Ich blieb undurchdringlich, was ich meisterhaft beherrsche, während mich Trauer und Zorn überschwemmten. In dem Moment wurde mir klar, dass ich nicht Liszt spielen würde, sondern ein viel längeres Stück, viersätzig, wenn man die Solokadenz nicht mitrechnet, für Violine und Orchester, dessen Klavierauszug ich in- und auswendig kenne, weil ich es tausendmal mit meinem Bruder geübt hatte.

Opus 77.

Die Schweigeminute ist so gut wie vorbei, gleich bin ich dran. Sie ziehen mich mit ihren Blicken aus, nageln mich an den schwarzen Holzsarg mit dem Bösendorfer-Siegel. Was wird sie heute für uns spielen? Vor drei Monaten erst hat sie in Salzburg das Publikum von den Sitzen gerissen. Geschlagene sechs Minuten Applaus, und viermal musste sie wieder auf die Bühne. Und gleich danach in die Schweiz zurück an Claessens’ Sterbebett. Hier sehen Sie auch, nebenbei bemerkt, wie ich ständig belauert werde; auch wenn ich den Deckel nur aufklappe, um zur Beerdigung meines Vaters zu spielen, zücken die anwesenden Kritiker Stift und Notizbuch. Ich kann von hier aus ihre Vipernzungen zischen hören. Wie wird sie wohl sein an diesem besonderen Tag? Ob sie sich endlich öffnet, ob sie schwach wird und vor uns, den Eingeweihten, die Hüllen fallen lässt? Oder wird sie sich wieder in ihre gewohnte, fantastische Virtuosität flüchten, die sie für uns ewig unerreichbar macht? Für diese Leute bin ich allenfalls eine Art Jahrmarktsattraktion.

Langes Atemholen, bevor es losgeht. Das ist wie ein Apnoetauchgang in tiefste Tiefen. Kurz die Lider geschlossen und die Mähne nach hinten geworfen, damit sie alle einen Augenblick lang mein schönes Gesicht mit den Sommersprossen sehen können. Meine Finger streicheln die Tasten – a f e a, as g f c, h e c a, g a fis d. Sie brauchen keine fünf Sekunden, um das russische Opus zu erkennen. Wie? Schostakowitsch? Das will sie spielen? Ein Violinkonzert ohne Violine? Gibt sich diese international berühmte Solistin heute als schlichte Klavierbegleiterin? Das sollen wir also zu hören bekommen? Leere? Abwesenheit? Transparenz?

Jawohl, meine Damen, meine Herren. Genau das. Ich werde ganz allein das Orchester zu Diensten meines feingeistigen Bruders sein. David musste erst in Schweigen verfallen, damit ich endlich das Wort ergreife. Ich möchte Sie bitten, vor den sterblichen Überresten meines Vaters ein Minimum an Würde zu bewahren. Glauben Sie mir, Ihre Geduld wird belohnt werden. Hören Sie mir jetzt gut zu, hören Sie unsere Geschichte; die Geschichte von meiner Mutter, meinem Bruder und Ariane Claessens, die für Sie aus dem Gedächtnis spielt; diesmal, das verspreche ich Ihnen, werde ich die Hüllen fallen lassen, und Sie werden mich nackt sehen, wie Gott mich schuf.

Eine meiner ältesten Erinnerungen ist eine, die nichts mit mir zu tun hat. Ich muss etwa vier Jahre alt gewesen sein, David also sechs. Seit zwei, drei Monaten, auf jeden Fall aber seit unserer Ankunft in Genf, klimperte mein Bruder jeden Morgen zwischen seinem Müsli und seinem Abgang zur Schule unter Claessens’ zärtlichen Blicken im Wohnzimmer auf dem Steinway. Meine Mutter schloss sich schon damals in ihrem Zimmer ein, wenn einer nur den Deckel aufklappte. Ein Sechsjähriger konnte sie damit in Angst und Schrecken versetzen. Ihr eigener Sohn, der doch nur spielte, und zwar im ursprünglichen Sinn des Wortes, wie ein Kind eben spielt mit einem lackschwarzen Riesending für zweihunderttausend Schweizer Franken.

In meiner Erinnerung war es kurz vor vier. Ich weiß das, weil David um diese Zeit von der Schule abgeholt werden musste. Normalerweise kümmerte sich die Nanny darum, aber an diesem Nachmittag, keine Ahnung, warum, kam Yaël wie ein Orkan aus ihrem Zimmer gestürmt, Lippen und Lider grell bemalt, in einem knallroten Kleid, als ob sie gleich für irgendeine Kitschproduktion der Carmen auf die Bühne müsste. Dabei hatte sie nur mal wieder den Mut gefunden, das Haus zu verlassen. Ich hatte mich wie immer unter dem Klavier verkrochen und fuhr mit einem kleinen Auto die geometrischen Motive des iranischen Teppichs nach (ich war nie der Barbie-Typ). Yaël brach in meine Zuflucht ein, ihre Absätze, lackglänzend wie das Instrument, hämmerten in den Fußboden. Kommst du, Schatz? … Wohin, Maman? … Wohin, wohin? Deinen Bruder abholen. Und dann machen wir noch einen Überraschungsbesuch bei Papa. Sie hatte immer noch ihren rauen Akzent. Den sie nur beim Singen ablegen oder verbergen konnte, weil sie dann die Möglichkeit hatte, die Rs zu rollen. Aber meine Mutter, die Sopranistin, sang immer seltener.

Wie der Wind waren wir bei der Schule. Davids Gesicht, als er Maman ankommen sah, aufgeputzt wie ein Weihnachtsbaum, mit mir an der Hand wie mit einem Paket, das man von Geschäft zu Geschäft schleppt! Davids Gesicht, sage ich Ihnen!

Wir gingen noch kurz ins Remor, und da hörte ich – mein Bruder war Zeuge –, ich hörte Yaël für uns die Casta Diva trällern, während der Kellner Gebäck und heiße Schokolade brachte. Mit vollem Bauch und Kakaobart mussten wir nur noch den Boulevard überqueren. Autos bremsten, Beschimpfungen flogen durch die Luft, Hupen ertönten – Wer ist diese Irre mit ihren Bälgern? Drüben das bombastische Eingangstor mit den Namen aller Gründerväter: links oben Händel, darunter Bach, Mendelssohn, Mozart, Schumann, rechts Wagner, Liszt, Beethoven, Chopin, Berlioz. Mein Bruder hatte mir beigebracht, ihre Namen zu entziffern.

Drinnen, im Foyer, waren Musikfetzen zu hören, bald auch Toilettengeräusche (David hatte wie so oft in diesem Gebäude Durchfall; Das kommt vom zu heißen Kakao, erklärte Maman). Dann die steinerne Treppe. Schließlich der Saal: goldverschnürter karmesinroter Samt. Victoria Hall – eine Rokoko-Bonbonniere in einer Schuhschachtel mit dem Aussehen eines Bunkers.

Und dort oben, auf der Bühne, zwischen Himmel und Erde, das Orchestre de la Suisse Romande mit seinem neuen Chefdirigenten, meinem Vater. Ich habe nicht die geringste Erinnerung, was sie gerade probten. Sicher ein Klavierkonzert, denn Claessens saß am Flügel. Es war die Zeit, da mein Vater noch für ein paar Monate vom Klavier aus dirigierte. Ich glaubte zu wissen – oder zu fühlen –, dass abends ein Konzert stattfinden sollte. Das hatte etwas mit dem Grad der Konzentration und diesem Hauch von Unruhe und Angst zu tun, der in der Luft lag. Zunächst sahen wir nur Claessens’ Profil, eingelassen in den riesigen schwarzen Ozeandampfer; doch bald drehte er sich zu uns um, vielleicht – wer weiß? – vom verblüfften oder amüsierten Blick eines Musikers gewarnt, oder er hatte ein inneres Alarmsystem, das immer anschlug, wenn meine Mutter irgendwo auftauchte. Jedenfalls rotierte Claessens auf seinem Hocker und tauchte mit seinen Blicken in den Zuschauerraum, während seine Hände weiterspielten, wie ein von der Bäuerin geköpftes Huhn weiterrennt. Sein Gesicht, als er uns durch den Mittelgang kommen sah! Die rothaarige Yaël auf ihren High Heels mit einem Kind an jeder Hand, immer noch die Norma auf den Lippen. Sein Gesicht, sage ich Ihnen! Das werde ich nie vergessen, Papa.

Das mechanische Klimpern brach ab, und das Orchester fiel auseinander. Viertel- und halbe Noten pladderten auf die Bühne wie ein Platzregen. Schließlich kamen die Instrumente auf einem fetten Schenkel oder in einer feuchten Achselhöhle zur Ruhe.

Genauso hat es sich abgespielt. Ich beschreibe das Ganze wie in Zeitlupe, weil ich es so erlebte. Vor meinen Kinderaugen, verehrtes Publikum, hat diese Szene bestimmt tausend Stunden gedauert, verstehen Sie? Und vielleicht ist sie noch immer nicht zu Ende.

Plötzlich riss David sich von Yaëls Hand los und lief durch den Mittelgang nach vorn. Man hörte nur das Tappen seiner Schritte auf dem Teppich, das Orchester war ja verstummt. Über die rechte Treppe kletterte mein Bruder auf die Bühne, und Claessens’ Gesicht wechselte von düster zu hell, als hätte ein Beleuchter soeben den stärksten Scheinwerfer auf seine weißen Zähne gerichtet. Vor dem versammelten OSR rannte David los; Claessens lächelte wie auf einer Zahnpastawerbung; er ging mit einem Knie zu Boden und breitete die Arme aus, um den kleinen Körper, dies Fleisch von seinem Fleische, seine Reproduktion en miniature, an die Brust zu drücken. Doch David ignorierte munter den Pianisten samt Flügel, bog links ab zu den zweiten Geigen und schnappte sich eine – ich spreche vom Instrument, nicht von Musikern –, barg sie, so gut er konnte, an seinem Hals, der viel zu kurz war für dieses Riesentrumm Holz, und begann, die vier Saiten mit wüsten Bogenstrichen zu traktieren.

Und so erklang in Victoria Hall, wo schon Kogan, Menuhin, Milstein oder Ferras auf der Bühne gestanden hatten, ein Klangbrei, ein Solo aus erschreckenden Quietsch- und Kreischtönen, hervorgebracht von einem strahlenden Sechsjährigen. Das wars, David Claessens hatte sich für sein Instrument entschieden. Er würde Geiger werden. 

Sein Vater erhob sich und fegte mit der Hand über die Hose, als wollte er einen unsichtbaren Schmutzfleck entfernen. Der Scheinwerfer auf seinem Gesicht war erloschen. Das Reklamelächeln verschwunden.

Und währenddessen sang meine Mutter weltvergessen im Mittelgang des Zuschauerraums noch immer Casta Diva.

Eines Abends ist es passiert, vor ungefähr drei Monaten, mitten in einem Konzert: Mein Vater hatte einen Hänger.

Keine Tragödie, werden Sie sagen. Vergessen ist doch nur menschlich. Muss man darin wirklich den Anfang vom Ende sehen? Wie viele Milliarden Noten lässt ein Dirigent sein Orchester im Laufe seines Berufslebens spielen? Was bedeutet es schon, wenn ihm dann einmal zwei, drei oder auch zehn Takte entfallen? Er kann ja einfach in die Partitur schauen, oder?

Nein.

Lassen Sie mich das richtigstellen.

An diesem Abend hatte Claessens einen Hänger.

Dazu ist es wichtig zu wissen, was er machte, wenn er die Bühne betrat, seinen modus operandi zu kennen. Ob Konzert, Oper oder Symphonie, das Ritual war seit mehr als zwanzig Jahren, seit er nicht mehr Klavier spielte und sich ganz aufs Dirigat konzentrierte, immer das gleiche: Der Maestro strebte eilends auf sein Podest, als wollte er den Saal möglichst schnell im Rücken haben. Und zwar nicht aus Arroganz oder Snobismus, sondern um das Mysterium, sein Mysterium, zu bewahren – das verstand jeder, und deshalb nahm es keiner übel. Der Dirigent steht mit dem Rücken zum Publikum – ein von der Musik besessener Schattenriss. Sein von Licht und Schweiß übergossenes Antlitz erblicken die Zuschauer erst ganz am Ende, wenn die letzte Note verklungen ist und der Beifall zu prasseln beginnt wie ein Gewitterregen auf dem Bürgersteig, um sich im Donner der Zugabe-Rufe vom Balkon bis ins Parterre triumphal zu vollenden.

Claessens kehrte der Menge den Rücken und stand dem Orchester gegenüber. Vor ihm das Pult mit der Partitur, aufgeschlagen auf der letzten Seite. So musste sie ihm der Orchesterwart immer hinlegen. Die Hände über dem Schambein gefaltet, wartete er geduldig, bis der Auftrittsapplaus abgeflaut war, und nutzte die Zeit, um jedem Orchestermitglied kurz in die Augen zu blicken. Dann, wenn wieder Ruhe eingekehrt war, schlug er die Partitur zu, und zwar so, dass es ordentlich knallte. Um sie dann mit betont ausholender Geste an den Rand des Pults zu schieben, damit im Orchester wie im Zuschauerraum jeder sehen konnte, dass er auswendig dirigieren würde.

Als ich (da war ich noch keine zehn) ihn einmal fragte, warum er darauf bestand, dass die ohnehin überflüssige Partitur nicht auf der ersten, sondern auf der letzten Seite aufgeschlagen sein müsse, antwortete er, damit sie in den Ohren des Publikums besser knallt. Das Gewicht der Seiten, verstehst du, Rotschöpfchen? Das Gewicht der Noten. Es ist der Moment, in dem das Konzert beginnt. Claessens hatte ein fantastisches Gedächtnis. Er sah sich als Bewahrer der großen Meisterwerke klassischer Musik.

Als er an diesem Abend den Faden verlor, spielte das Orchester einfach ohne ihn weiter. Er bewegte noch seine Arme, als ob nichts wäre, aber das OSR war ihm völlig entglitten, außer Kontrolle geraten wie ein führerloser Zug, es entschied für sich über die Tempi und ließ seinen Chef dastehen wie einen fleischlosen Hampelmann, einen schwarz befrackten Automaten. Im Saal hatte niemand etwas bemerkt. Aus dem Orchester kam kein Vorwurf, besonders, da der nächste Abend ohne Zwischenfälle verlief. Aber natürlich machten sich etliche Gedanken, besonders unter den Geigen.

In der Woche darauf stockte Claessens wieder, in einer Passage ohne besondere Schwierigkeiten, und blätterte zum ersten Mal in seiner gesamten Berufslaufbahn während eines Konzerts in seiner Partitur.

Als er nach der Vorstellung aus der Dusche kam, verlor er das Gleichgewicht. Der Verwalter in seinem ewigen Leichenbestatteranzug fand ihn nackt, zitternd und feucht glänzend wie ein Neugeborenes auf den Fliesen.

Er wurde in die Notaufnahme hinter Plainpalais eingeliefert und verbrachte die Nacht unter Beobachtung. Am nächsten Morgen wurde eine ganze Reihe von Untersuchungen an ihm vorgenommen, darunter ein Hirnscan.

Es war schon dunkel, als er mich aus seinem Krankenhauszimmer anrief, um mir von seinen letzten vierundzwanzig Stunden zu berichten. Ich war in Paris und kam gerade von der Probe für eine Hörfunkaufnahme in der Salle Cortot. Die Luft war so mild, dass ich zu Fuß nach Hause gehen wollte.

Mit tonloser Stimme sagte er am Telefon, dass er sein Konzert am nächsten Abend verschieben müsse. Auf unbestimmte Zeit.

Manchmal gebe ich Meisterklassen. Im Allgemeinen auf Einladung einer renommierten amerikanischen Stiftung, die sich gemeinsam mit ihrem Partnerinstitut, einem renommierten Konservatorium, von Zeit zu Zeit gern für eine Stunde mit der Aura renommierter Solisten schmückt. Im wohlverstandenen allseitigen Interesse und mit ein paar finanziellen Anreizen obendrauf. Der Kurs ist reich dotiert. Die Schüler sind brillant, nervös, respektvoll bis zum Exzess; dabei sind wir fast gleich alt. Nur, ich habe die Kluft überwunden, über die ein Großteil von ihnen nie hinwegkommen wird: Ich bin berühmt. Sie werden exzellente Musiker werden, einige auch Solisten von internationalem Rang, aber nur wenige werden die Stufe erklimmen, auf der ich stehe.

Wenn wir unter dem Blick der Kameras und eines handverlesenen Publikums an Schuberts B-Dur-Sonate arbeiten (ein großer russischer Pianist bezeichnete sie mit einem Wort: Horror), fühle ich immer diese stumme Frage in ihren Augen und vielleicht noch mehr in ihren Händen. Sie haben diesen Hochmut der Jugend. Manchmal kommen sie von weit her, vom anderen Ende der Welt, aus Russland, Argentinien oder China, um mit den Besten der Besten die Kunst des Klavierspiels zu studieren. Die Konkurrenz ist unerbittlich. Das Ausmaß an Arbeit phänomenal, die Hingabe total, aber notwendig, eine conditio sine qua non. Und hinter jeder Phrasierung, die wir analysieren und gemeinsam wiederaufnehmen, verbirgt sich die unvermeidliche Frage: Du, mit deiner Kraft und deiner Ruhe, wie hast du es geschafft, ganz nach oben zu kommen?

Einer von hundert Schülern sticht aus der Masse hervor: durch eine trotz seines jugendlichen Alters ausgefeilte Technik, durch Klugheit und Reife des Spiels. Er ist schon ein ernsthafter Interpret, ein Musiker, der sich unerschrocken des Rohstoffs bemächtigt, den der Komponist hinterlassen hat, ihn sich zu eigen macht, voller Respekt, aber ohne Komplexe, um einen unverwechselbaren Ton hervorzubringen. Und darüber hinaus lässt er ein Charisma erahnen, das er als sein kostbarstes Gut kultivieren muss. Wenn ich auf so jemanden stoße, dann bin ich geneigt, ihm, diesem raren, einzigartigen Individuum, alles zu gestehen. Dann empfinde ich die unwiderstehliche Versuchung, mich vor den Augen seiner so brillanten wie mittelmäßigen Kommilitonen, vor den Augen des von vornherein eroberten Publikums, vor den Kameras, die meine roten Locken und meine Lektion für die Nachwelt einfangen, neben ihn zu setzen und ihn ganz, ganz fest zu umarmen, damit er mein Herz unter der eisernen Rüstung spüren kann, mein bis zum Zerspringen klopfendes Herz.

Manchmal gelingt es mir sogar, den ersten Schritt zu tun oder zumindest anzudeuten: Ich setze mich zu dem jungen Schüler auf den Hocker, ganz, ganz nah, dass sich unsere Schultern, unsere Hüften, unsere Schenkel berühren. Gebe vor, in die Noten zu schauen, warte bis zum Ende der Phrase, die er zum Weinen gediegen spielt, um mich zu ihm umzudrehen und ihn zu umarmen. Aber etwas hält mich davon ab. In seiner Schulter, seiner Hüfte, seinem Schenkel fühle ich mein Zittern, meine Panik und begreife, dass er es längst weiß – er und ich sind alte Komplizen.

Der wahre Virtuose pisst sich vor Angst fast in die Hose, tritt aber trotzdem allein und ohne mit der Wimper zu zucken, vor dreitausend Zuschauern auf, um Ravel, Chopin oder Rachmaninow vorzutragen.

Sofort fuhr ich nach Hause, um ein paar Sachen zu packen; nahm die Schlüssel für den Porsche und dann die für die Genfer Wohnung im Tranchées-Quartier aus der Schublade im Flur. Ich schaute nicht einmal nach, ob es noch einen Zug oder ein Flugzeug in die Schweiz gab. Ich hatte das Bedürfnis, selbst zu fahren, die fünfhundertfünfzig Kilometer, die mich von meinem Vater trennten, zu überwinden, die Autobahnschilder, die nacheinander im Licht meiner Scheinwerfer auftauchen würden, der Reihe nach über mich hinwegfliegen zu sehen.

Ich fahre einen 911 Targa in Grünmetallic von 1977.

Porsche ist Tradition für eine Menge internationaler Solisten. Und manche Dirigenten. Ich weiß nicht, ob es wirklich Karajan war, der die Mode aufbrachte. Seiner war jedenfalls berühmt, weil er jedem, der es hören wollte, erklärte, dass er gern unmittelbar vor seinen Konzerten damit fahre. Und sich dann auf der Bühne bemühe, die technische Perfektion seines Sportwagens einzuholen. Wenigstens war das die Geschichte, die er den Journalisten auftischte.

Bei mir ist es eher umgekehrt. Ich fahre gern nachts mit meinem Targa, nachdem ich mich zur Schau gestellt habe. Dann sinke ich in den beigeledernen Schalensitz, den Kopf noch benommen vom Applaus und das Herz geflutet von Unzufriedenheit und dem Wunsch, es noch besser zu machen, noch näher an diese Grenze zu kommen, das Geländer zu streifen, unter dem nur abgrundtiefe Leere ist. 

Aber warum, werden Sie fragen, habe ich mir einen Oldtimer zugelegt statt eines nagelneuen Boliden? Das hat doch wohl nichts mit meinen finanziellen Möglichkeiten zu tun, oder doch?

Nein.

Der neue 911 ist ein Juwel der Modernität, ein stählerner Blitz, vollgestopft mit Elektronik und Sicherheitssystemen. Das Porsche Stability Management mit ABS (Antiblockiersystem), ASR (Antriebsschlupfregelung), MSR (Motorschleppmomentregelung) und ABD (Automatischem Bremsendifferenzial) beherrscht alle erdenklichen Gefahrensituationen. Der Spurhalteassistent passt auf, dass man auch bei den unsinnigsten Spurwechseln nicht von der Straße abkommt. Heute verfügt jeder 911 neben einer höchstfesten Karosserie über einen Curtainairbag zum seitlichen Aufprallschutz. Die Vier-Kolben-Aluminium-Monobloc-Festsattelbremsen bremsen einfach phänomenal. Und der Bremsassistent warnt und bremst im Notfall das Auto selbsttätig. Das alles soll optimalen Schutz für die Passagiere bieten.

Eben.

Unter der Motorhaube meines Porsche von 1977 befindet sich eine kleine Drei-Liter-Bombe mit sechs gegenüberliegenden Zylindern und hundertfünfundneunzig PS. Sonst nichts. Kein Sicherheitssystem. Kein Wet Mode. Bei Regen tanzt das Auto wie Seife auf der nassen Straße. Kein Airbag, kein Überrollsensor. Gar nichts. Den Sicherheitsgurt vergesse ich auch immer. Nicht einmal die Gendarmerie erinnert mich daran.

Nachts, nach dem Konzert, fahre ich gern wie ein Henker, vor allem auf nassen und kurvenreichen Straßen.

Bei der Porte d’Asnières nahm ich die Ringautobahn. Es war kurz vor dreiundzwanzig Uhr. Immer mit der Lichthupe auf der linken Spur unterwegs, war ich in kürzerer Zeit um Paris herum, als man benötigt, diesen Satz auszusprechen. Mit Pipipause in Dijon brauchte ich weniger als vier Stunden. Ich kannte die Strecke in- und auswendig. Denn ungeachtet meines Konzertprogramms fuhr ich seit vielen Jahren winters wie sommers im immer gleichen Tempo jeden zweiten Montag von Paris nach Genf.

Ich versuchte, meinen Bruder anzurufen.

In der Schweiz, auch der französischsprachigen, wird man auf Deutsch über Telefonstörungen informiert: Bitte rufen Sie später an, der gewünschte Teilnehmer kann momentan nicht erreicht werden.

Die vierspurige Autobahn war so gut wie leer. Das Lenkrad vibrierte unter meinen Fingern. Ich legte die von Argerich 1979 eingespielte Englische Suite Nr. 2 ein, drehte auf volle Lautstärke und trieb die Maschine bis an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit. Die Autobahnlichter zogen immer schneller über der Windschutzscheibe vorbei, je weiter ich mich von Paris entfernte. Dann verschwanden sie vom Mittelstreifen, und ich fuhr plötzlich allein durch die Nacht, nur das Strahlenbündel meiner Scheinwerfer durchdrang das Dunkel. Ich hielt den Wagen auf der gestrichelten weißen Linie und drückte noch ein bisschen mehr aufs Gas.

Ein Raum mit gekalkten Wänden. Wie ein Krankenhauszimmer aus früheren Zeiten, eine Art Blockhaus aus dem Krieg oder eine Klosterzelle. Hinten in einer Ecke ein Blechspind mit Vorhängeschloss. An der Wand eine Garderobe mit drei Haken. An einem hängt ein brauner Dufflecoat an seiner Kapuze. Am Revers fehlt ein Knebelknopf. Sonst keine Kleidung (außer vielleicht im Schrank). Ein aufgebockter Tisch unter einem winzigen Oberlicht oder besser einer hermetisch verschlossenen Luke aus Glasziegeln, durch die das graue Licht des zu Ende gehenden Tages auf einen Stoß eng beschriebener Seiten fällt. Obenauf liegen Bleistifte und ein kleines Schweizermesser. Eine Architektenlampe mit Gelenkfuß und ein Stuhl mit einer Sitzfläche aus Stroh, vielleicht ein Kirchenstuhl, vervollkommnen das Stillleben in dieser Ecke des Raums.

Gegenüber, an der Türseite, ein sehr schlichtes Bett. Ohne Rost, nur eine Holzplanke auf vier Betonbausteinen mit einer dünnen Matratze. Darauf eine kratzige beigefarbene Decke. Eine Kiste mit der Aufschrift Zerbrechlich dient als Nachttisch. Auch hier eine Lampe mit Gelenkfuß. Die ganze spartanische Einrichtung riecht deutlich nach Secondhand, nach Großmutters Trödel, nach Sozialkaufhaus, manches wurde womöglich auch aus dem Müll gefischt.

Ich habe das Wichtigste vergessen.

Über dem Bett hängt, mit einer um den Wirbel gewickelten Schnur an einem Nagel befestigt, anstelle des üblichen Kruzifixes eine Geige an der weiß gekalkten Wand.

Bitte rufen Sie später an, der gewünschte Teilnehmer kann momentan nicht erreicht werden. In diesem Moment färbte ein Blaulicht von draußen die Wände im Bunker meines Bruders. Ich drückte auf den Ausknopf meines Telefons, legte den Sicherheitsgurt an und senkte den Blick auf den Tacho, der hundertfünfundsiebzig Stundenkilometer zeigte. Dann tauchte ein uniformierter Motorradfahrer vor meinem Seitenfenster auf und bedeutete mir, dass ich die Ausfahrt Richtung Avallon nehmen sollte.

Ich kann mich auch noch genau an diesen Moment nach deinem Halbfinale in Brüssel erinnern. Dein Auftritt war grandios. Wir haben noch auf die Bekanntgabe der zwölf Finalisten durch den Jury-Vorsitzenden gewartet. Diese von Älteren und Gleichaltrigen Auserwählten erhalten Zugang zur legendären Chapelle Musicale, um sich sieben Tage lang in strenger Abgeschiedenheit auf das Finale vorzubereiten. Danach wird bei einem Konzert auf der Bühne des Palais des Beaux-Arts über ihre Karriere, das heißt, über ihr Leben entschieden.

Zu diesem Zeitpunkt sahen wohlinformierte Beobachter dich schon unter den Finalisten; manche sprachen von dir auch als einem aussichtsreichen Anwärter auf den Sieg. Allerdings gab es da noch diesen Koreaner, der sich seit den Ausscheidungsrunden in Position gebracht, sich sozusagen vor dem Treppchen aufgebaut hatte, das am Anfang einer internationalen Solistenkarriere samt rotem Teppich und Vertrag mit einem großen Klassiklabel im Hintergrund stand. Würde sich der Rest der Bewerber mit den Brosamen zufriedengeben? Würde im Finale womöglich noch alles ganz anders kommen? Sollten diejenigen, die der Meinung waren, der diesjährige Violinwettbewerb wäre von vornherein entschieden, sich umsonst ins Zeug gelegt haben? 

Dieser David Claessens zum Beispiel, von dem man nicht so genau wusste, ob er eigentlich Franzose, Belgier oder Schweizer war – ja, genau, der Sohn des Dirigenten! –, der junge Claessens also hatte so ein gewisses Etwas, das noch für eine Überraschung sorgen könnte. Eine besondere Originalität in seinem Spiel, eine Hypersensibilität, verbunden mit einer stupenden Technik. Im Finale jedoch müsste er die Nerven behalten, um die Jury für sich zu gewinnen. Der Koreaner mit dem unaussprechlichen Namen hingegen, dessen Kaltblütigkeit bereits für Gesprächsstoff sorgte, schien in dieser Hinsicht unerschütterlich.

In den Gängen des Studio 4 von Flagey, wo das Halbfinale stattfand, kursierten die verschiedensten Vorhersagen. Der Concours Reine Elisabeth ist nicht nur prestigeträchtig, sondern auch sehr populär; es ist wohl der einzige Musikwettbewerb der Welt, bei dem auf junge Musiker gewettet wird wie auf Rennpferde.

Und was machst du in dieser ganzen Aufregung, während alle anderen herumrennen wie ein aufgescheuchter Hühnerhaufen?

Du sitzt, den Geigenkasten brav zwischen den Füßen, in diesem Musikern und akkreditierten Gästen vorbehaltenen Foyer und tunkst einen Teebeutel in eine Blümchentasse. An deinem Hals ein roter Fleck, wo du die Violine ansetzt, das Brandmal der Weltklassegeiger, das vom stundenlangen Üben vor dem Konzert zeugt. Du wendest mir den Kopf zu und starrst mich aus deinen schwarzen Augen an. Und da ich dich in- und auswendig kenne, weiß ich, dass das eine Einladung ist, mich zu dir zu setzen.

Du sprichst nicht gern, gleich nachdem du gespielt hast. (Das ist, neben vielen anderen Dingen, etwas, das uns verbindet, den großen Bruder und seine kleine Schwester, dieses Verstummen, aus dem uns für eine gute halbe Stunde niemand herausreißen kann.) Unser Schweigen macht uns zu Komplizen, seit unserer Kindheit, seit Ewigkeiten. Und wenn die ganze Stadt in Schutt und Asche fällt, die beiden Claessens werden ihre geteilten Reflexe beibehalten, die gespannte Ruhe vor und das Abklingen nach dem Spiel, Pausen, in denen die Welt auf Distanz bleibt und unsere Gemeinsamkeit zu einem Bollwerk mit engen Grenzen und streng kontrolliertem Zugang wird. Zwischen diesen Zeiten bauen wir uns eine innere Festung aus Noten, unüberwindlich und uneinnehmbar, auch wenn sie sich von außen noch so schön anhört.