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Giordano gelingt mit diesem Reisebericht ein eindringliches Porträt Ostpreußens, in dem bei unvergleichlicher Schönheit der Natur die Spuren des Krieges deutlicher sind als in einem anderen Land Europas. »Eine Liebeserklärung mit Trauerrand« Siegfried Lenz »Es gibt viele Bücher über Ostpreußen – keines aber gleicht dem einzigartigen Buch, das Ralph Giordano geschrieben hat.« Marion Gräfin Dönhoff »'Ostpreußen ade' ist ein sehr persönliches Buch geworden, eines, mit dem der Autor auch ein Stück seiner Seele enthüllt.« Der Tagesspiegel, Berlin
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Seitenzahl: 460
Veröffentlichungsjahr: 2015
Inhalt
TitelKarteMottoAnkunft im MaiPrologDie Geschichte der Sieglinde H.Nein, diese Herren sind mir nicht sympathischVon »Klein-Marienburg«, Parabolspiegeln und KopernikusDer Mord von HartigswaldeDreck, Läuse und JudenDie »Masurische Offenbarung«Von schwerer Küche, Bartos und CharlyUnterwegs (1)Dann wär’ unser Ostpreußen noch so schön, wie es einmal warWie zwei Schlüsselwörter entstandenEine ewige Minute langDie Apokalypse kommt näherDie Charta der VerdrängungDie Charta des Lew KopelewWir haben immer mit irgendwelchen Hoffnungen gelebt – vier Frauenporträts aus OlsztynEs war ja nicht der Hitler, der uns verschleppt hatteAber nach Ihrer Pfeife tanze ich nichtUnterwegs (2)»Aktion Weichsel«Von Sarajewo 1914 bis Sarajewo 1994Golde Hirschberg wurde nur achtzehnSonst hätte man uns ja wieder vertreiben könnenUkrainische TragödieOb Weißrusse, ob Rotrusse – sie sind alle gleichWer will denn wirklich zurück?Keine Familiennamen, keine OrtsangabenDie ukrainischen Ängste sind überall die gleichenWir haben unsere Koffer nie so richtig ausgepacktAber die erste Heimat war, ist und bleibt immer das Ukrainische»Aktion Weichsel« – das verdrängte DramaWeißrussische MiniaturNach Biskupiec 59 km, nach Olsztyn 53 kmUnterwegs (3)Kaliningradskaja Oblast – der doppelte AlbtraumDiese Sünde nehme ich auf meine SeeleWie können sich diese Stahlsärge nur über Wasser halten?Es heißt, hier lägen immer Blumen, meist RosenAber jetzt sind wir hierBis dahin reichte die Vorderseite des SchlossesSoll touristisch genutzt werden …Änderung ist verknüpft mit weiter Sicht nach vornDiese Stimmen können uns nichts als schadenWir kommen zurück, ohne GewehrSoll es bei dieser bestürzenden Bilanz bleiben?In dem Alter!Hier könnte ich den Rest meines Lebens zubringen, aber …Unterwegs (4)Ostpreußen adeEr war ein ehrenhafter Mensch… dass von diesem Volk nichts mehr zu befürchten warMentor meiner UnwirklichkeitenDann es lieber so lassen, wie es istHier gibt es ja nun wieder allesWir hoffen, dass es noch einmal ganz anders kommtIn einem freien Europa ohne Grenzen ist es sowieso egalVom Rochus des Walter AngrikWas hat der Mann seine Soldaten gelehrt?Noch einmal Pension »Krystyna«Ostpreußen adeUnterwegs (5)BuchAutorImpressumBei strahlender Sonne mit dem Wagen von Poznań (Posen) kommend, beginnt die Unruhe schon weit vor der Überquerung der Weichsel (Wisła), dort, wo das noch gut 200 Kilometer entfernte Olsztyn (Allenstein) zum ersten Mal ausgeschildert ist. Den breiten Strom, grün gesäumt, gewaltig, sehe ich von der großen Brücke in Toruń (Thorn) nur wie durch einen Filter. Ebenso dann, hinter der Stadt auf dem Wege nach Norden, immer nach Norden, die Eichen beiderseits der Straße, mächtige Stämme mit filigranem Junggrün; die prärieweiten Rapsfelder, eine Orgie in Gelb vor unendlichen Waldhorizonten; die blumenbetupften Wiesen; die Schulkinder in den Ortschaften, lärmend, bunt gekleidet. Das alles gleitet an mir vorbei wie in einem Stummfilm, beherrscht von der einen Frage: Wann kommt die Grenze, die alte Grenze, wann der Augenblick, in dem ich sie überschreite? Ist sie doch nicht mehr markiert im Polen von heute, und das schon ein Menschenalter lang, trennt sie doch nicht mehr zwei Staaten wie einst, sondern sieht sich aufgehoben durch die Geografie von Woiwodschaften mit ganz anderen Verwaltungsbezirken als den einstigen deutschen Kreisen.
Aber dort, wo diese Grenze einmal verlief, südlich von Lipnica, dem früheren Leip, und dann auf der Straße nach Ostróda, dem ehemaligen Osterode, dort will mir die Landschaft sichtlich verändert vorkommen, habe ich das Empfinden, in einer anderen Welt zu sein.
Benommenheit deshalb auf der langen Strecke zur Unterkunft in Mrągowo (Sensburg), als hätte es mir die Sprache verschlagen. Das ermländische Olsztyn, die Stadt wird auf der Durchfahrt seltsam schemenhaft erlebt, Schloss und Rathaus als Konturen, als Licht- und Schattenfassaden, nur flüchtig besehen, um rasch hinauszukommen in die Landschaft.
Hinter Barczewo (Wartenburg) dann, mit einem Gefühl zwischen Traum und Wirklichkeit, klettere ich aus meinem Ford-Veteran und trete zum ersten Mal an das Ufer eines masurischen Sees. Ein großes blaues Auge unter einem warmen, wolkenbetupften Nachmittagshimmel; ein hölzerner Steg ins Wasser hinein, vorn überdacht; Schilf zur Rechten und zur Linken; noch ufernah ein Schwan, der in seinem Gefieder wühlt, eine Bewegung, die elegante Wellenkreise wirft. Ich rühre mich nicht vom Fleck. Warum? Was ist neu, was ist anders daran, welches unbekannte Element dazugekommen?
Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich tausend Seen erblickt habe in den klassischen Ländern der Seen, in Kanada, in Schweden, in Finnland. Aber keiner von ihnen, nicht einer, war so wie dieser – der Jezioro Dąbrąg (Debrongsee), für den ich auch auf alten deutschen Karten keinen Namen finde, nur den Ort Debrong (Dąbrąg) ganz in der Nähe.
Ich stehe hier am Ufer und gebe mir keine Mühe, meine Bewegung zu verbergen. Der strenge Sarkasmus gegenüber der eigenen Person, die bewährte Selbstironie, die eingefleischte Abneigung gegen jede Form von Sentimentalität, sie sehen sich weit abgeschlagen, alle drei irgendwo untergegangen in der glitzernden Fläche bis zur anderen Seeseite – ich bin da.
Ich bin da, wohin ich schon als Knabe wollte, aber siebzig werden musste, um den frühen Wunsch endlich erfüllt zu sehen – ich bin in Ostpreußen!
*
Am Anfang war ein Foto gewesen.
Schwarz-weiß war es und über eine Doppelseite gebreitet, fast in der Mitte jenes dickleibigen Buches, das von so herrlichen Unergründlichkeiten wie Paläontologie, Astronomie, Geologie, Archäologie und Geschichte kündete und das in meinem Leben schon eine Rolle gespielt hatte, lange bevor ich auch nur ein Wort buchstabieren konnte. Dafür aber war dieser Quell unstillbarer kindlicher Neugierde reich bebildert, Magnet eines Forschungsdranges, der sich nach meiner Alphabetisierung noch vertiefte, zumal eine gefällige Ausdrucksweise das Wissenschaftliche verständlich machte. Nicht, dass es in diesem Wälzer mit dem widerstandsfähigsten Einband, den ich je an einem Buch entdeckt habe, keine anderen eindrucksvollen Fotos gegeben hätte, einige davon sogar schon koloriert. Da war, zum Beispiel, die unendliche Hoheit des besiegten Inderfürsten Porus vor dem Thron eines ebenso blauäugigen wie unbesiegbaren Alexanders des Großen; war das Universum tropischen Regenwaldes, Millionen kugelige Baumwipfel, aufgenommen aus einem Flugzeug über Amazonien; waren Lokomotiven und ihre maschinelle Urkraft, glühende Triebköpfe endloser Wagenschlangen bis hinauf zum Mond. Und da waren schließlich, auch farbig, lauter exotische Früchte, mundwässernd aufgeschnitten und wunderbar zerlegt in ihre einzelnen Strukturen, so echt, so nah, als müsste jeden Moment der Saft aufs Papier tropfen – Wunder über Wunder.
Aber keine der Hunderte und Aberhunderte von Abbildungen reichte heran an diese eine – an jenes großformatige Foto ostpreußischer Landschaft: Seen und Wälder, leicht verschleiert und dennoch von magischer Gestochenheit, in unverwechselbarer Anordnung der Natur, Bäume, Wasser, Gräser, zwar für sich auch überall sonst anzutreffen, aber für mich doch gänzlich herausgehoben aus allen bisherigen Eindrücken.
Der Zauber wich selbst dann nicht, als ich über Jahrzehnte hin durch meine Fernseharbeit die überwältigenden Landschaften fremder Kontinente entdeckte, ihre überlegenen Gebirge und großartigen Wüsten, die üppige Vegetation des Äquatorgürtels, die Mirakel der Wildreservate, die großen Ströme und die kontinentalen Ebenen, die sie durchfließen – der Zauber blieb: Ostpreußen!
Der kindlich-tiefen gesellten sich später neue Dimensionen hinzu, Erweiterungen des Blickfeldes, Politisches, angestoßen durch Mächte unseres Jahrhunderts, die sich, wie mir bald schien, in einem immer unruhiger werdenden Deutschland und Europa dramatisch versammelten und schließlich mit der Gewalt eines historischen Erdbebens explodierten. Ich sah Hitler in Ostpreußen, das Fahnenmeer der Hakenkreuze, die hingerissenen Mienen der jubelnden Massen. Das geschah zwar nicht nur dort, gewiss, sondern bald auch überall im Land. Aber gerade da tat sie mir weher, die Zustimmung zu meinen Bedrohern, war sie nicht in Übereinstimmung zu bringen mit der Urzündung durch das geliebte Bild, das, immer schwerer durch die Wirklichkeit angegriffen, dennoch unantastbar weiterlebte. Nur wuchs etwa ab der zweiten Hälfte der Dreißigerjahre in mir die Überzeugung, dass sich der Nationalsozialismus in Ostpreußen tiefer eingewurzelt hatte als anderswo, ein Impuls, der hartnäckig fortlebte.
Es war die Geschichte unseres Jahrhunderts selbst, die mein Interesse an Ostpreußen wachhielt, trotz der immer weniger messbaren Distanz zwischen der kindlichen Imagination von einst und dem Einbruch einer Realität, in deren Strudel ich gerissen wurde. Da waren: die kriegerische Aggression Deutschlands mit bis dahin unbekannten Folgen für die Bevölkerung der eroberten Gebiete, und für mein eigenes Leben; die Wende des Zweiten Weltkrieges, der unaufhaltsame Vormarsch der Roten Armee seit dem Sommer 1943 nach Westen über die verwüstete, ausgemordete Heimat hin auf die Grenzen des Angreifers zu, die im Herbst 1944 erreicht wurden – in Ostpreußen. Da waren: das Drama der großen Flucht vom Januar 1945; das Inferno des Einmarsches; die Vertreibung; die hartleibige Verdrängungsdirektive der Landsmannschaften und ihrer Führung, die zwar stets den Schlussstrich unter die Vergangenheit forderten, aber die verlorenen Gebiete östlich der Oder-Neiße-Linie davon ausgenommen wissen wollten. Da war die mit Willy Brandts Namen verbundene neue Ostpolitik samt ihren unumkehrbaren Verträgen und schließlich der Zusammenbruch der Sowjetunion mit all der ungewissen Zukunft Osteuropas.
Kurz, seit dem verwunschenen Foto von damals hatte es keine Etappe meiner Biografie gegeben, in der das Interesse an Ostpreußen nicht wieder und wieder angefacht worden wäre, erlebte ich keinen Stillstand der zwiespältigen Gefühle eines Erwachsenen vor dem Hintergrund einer kindlichen Liebe und Faszination, die sich nicht besiegen lassen wollten.
*
Und natürlich war da Siegfried Lenz’ klingendes »So zärtlich war Suleyken«, 1955, vier Jahre, bevor unsere Freundschaft begann. Die Sprachkraft des Lokalkolorits hatte es mir sogleich angetan: »Dreibastigkeiten«, »jachrig«, »ihr Lachudders« – herrlich das in seiner knorrigen Gewachsenheit, so empfand ich, der mit Hamburger Platt aufgewachsen war. Ein anderer, ganz starker Gedanke bei der Lenzschen Lektüre war der, dass sich in diesen kauzigen Erzählungen sehr undeutsche Typen tummeln, verschroben und vermischt mit anderen Mentalitäten, Angehörige nicht einer Nation, sondern das Völkergebräu einer verwunschenen Ecke Europas, angesiedelt im südöstlichen Ostpreußen, in der Gegend um Lyck (wo Siegfried Lenz 1926 geboren wurde) – Masuren, das heute Mazury heißt.
Und erzählt wird das in einem höchst gelungenen »altmodischen« Stil, der exakt passt zu diesen Leuten, die lachlustig sind, festfreudig, historisch identifizierbar als Zeitgenossen nach 1918, aber noch vor 1933, und – weitgehend unpolitisch. Überhaupt erscheint in »So zärtlich war Suleyken« Politik nur ganz am Rande, nebenbei, aber wenn doch, dann millimetergenau treffend. So der Schneider Edmund Vortz, der in verbohrter Trockenheit hinwirft: Hindenburg sei »in seinen Augen nicht gebildeter als ein Suleyker Huhn«.
Damals, Mitte der Fünfzigerjahre, empfand ich die ausgesparte Politik als Defizit, fragte ich, nachdem ich das Bändchen wieder und wieder durchgelesen hatte: Wo waren die Konfrontationen und Kompressionen der Zwischenkriegszeit, die bald blutig aufeinanderstoßen würden? Wo eine Andeutung, dass Hitler schon demnächst gerade hier, im südlichen Ostpreußen, seine größten Wahlerfolge erzielen würde?
Dann, viel später, »Levins Mühle« von Johannes Bobrowski, dem viel zu früh Verstorbenen.
Das spielt zwar im Deutschen Kaiserreich von 1871 und mit der Erwähnung des nördlichen Bogens der Drewenz und Strasburgs eher diesseits als jenseits der Grenze Ostpreußens (wenngleich in unmittelbarer und vertrauter Verwandtschaft). Aber bei Bobrowski kommt ein dunkler Tenor hoch, wird ein Grollen hörbar, individualisiert sie sich, die unheimliche Seite der neuen Großmacht Deutschland, wird sie zu Fleisch und Blut einer von Europas Nationalismen bereits unverkennbar schwer versehrten Grenzbevölkerung.
Hintergründig hier jede Figur, ob nun Willuhn, Habedank oder Glinski. Sie alle müssen sich mühsam zügeln, dem anderen nicht anzutun, was man ihm antun möchte und wovor sich jeder fürchtet, dass es ihm selbst angetan werden könnte. Der alltägliche, der offene oder versteckte Aktionismus gegen den Nachbarn, gegen den Mitmenschen schlechthin ist das Exemplarische. Darin sehen sie sich summarisch vereint, die Lutheraner wie die Baptisten, die Methodisten wie die Mennoniten. Und welch ein Menschengewaber – stickig, ewig durstig, im eigenen Sud kochend, des Lebens ganze Scheußlichkeit und Dichte!
Wohl kommt gelegentlich Grundgütiges durch, aber eben nur gelegentlich, wie etwas Vergessenes, das sich mühsam ins Bewusstsein hinaufarbeiten muss – von Dauer jedenfalls sind solche Eigenschaften nicht. Ganz im Gegensatz zu der glaubhaften Abgründigkeit jener Akteure, die dem Levin an die Mühle, also an seine Habe, an seine Haut, seine Existenz gehen wollen, und einige auch an mehr. Hat doch der Jude, der unverschämte, statt »mit seinen sieben Koddern nach Russland abzuhauen«, den Johann in Briesen angezeigt – wegen Beschädigung mosaischen Eigentums. Deshalb: »Jetzt müssen die Deutschen zusammenhalten!«
Das gibt sich auch bei Bobrowski in dieser nordöstlichsten Ecke des damaligen Reiches nicht etwa reinrassig, definiert sich demografisch auch bei ihm keineswegs genau. Und dennoch sind die Kastenzeichen schon klar erkennbar, reckt sich dominant Deutsches auf, wird bereits der gelbe Stern entworfen, wie auch jenes »P«, das nur einen Lidschlag der Geschichte später Millionen zwangsverschleppten »Polacken« ans Revers geheftet werden sollte.
Noch mausert es sich, tastet erst, hält sich bedeckt, artikuliert sich latent in Nebensätzen, wie bei Pfarrer Glinski, der das Programm so umschreibt: »In unserm Abwehrkampf gegen die polnische Überfremdung, in unserer Position als Eckpfeiler unseres stolzen Reiches, ich will mal sagen: Die Gesetze reichen hier einfach nicht aus.«
Unbesorgt: Noch nicht! – aber die Zukunft bellt sich bereits ein. Denn da wird schon gedacht, was zu praktizieren die wilhelminische Gesellschaft nicht reif war. Da fehlen noch die Voraussetzungen, die mental gebastelte Bombe auch zu zünden, steht der Sprung vom Nationalismus in die Bestialität noch bevor.
Im Mikrokosmos von »Levins Mühle« schält sich kälteklirrend und regional jener deutsche Sonderweg heraus, der dann so überregional wie geschichtsbestimmend werden sollte – mit Folgen, von denen sich kein Teil Deutschlands schwerer getroffen sehen wird als Ostpreußen.
Nach der Lektüre beider Bücher war ich vollends ratlos: Dem einen, Lenz, fehlte der boshafte Biss, dem anderen, Bobrowski, jede Spur von Zärtlichkeit. Von diesem inneren Gegensatz zwischen den beiden Werken war mein Ostpreußenbild lange irritiert worden. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich erkannte, dass sich hier zwei Gesichter ein und derselben Erscheinung präsentierten, die Seiten einer Medaille, der Januskopf zusammengehöriger Gegensätze.
Ihre Aufspaltung war die Ursache meiner Verwirrung. Der für mich dann beides zusammenführte, war Siegfried Lenz – in jenem Buchdenkmal, das er den Masuren, Menschen und Landschaft, gesetzt hat: mit einem der gigantischsten Monologe in der Geschichte der deutschen Literatur, dem unstoppbaren Quartalsredefluss des Teppichwirkers Zygmunt Rogalla, der, aus guten Gründen, angezündet hatte, was ihm zum Liebsten seines Lebens geworden war – sein Heimatmuseum.
Wie das in Tausenden von Einzelbildern zerlegt, aufgefächert und wieder vereint wird, sich eingefügt findet in die großen und die kleinen Zusammenhänge der masurischen und der Weltgeschichte, das offenbart, neben einem phänomenalen Gedächtnis und einer Fabulierkunst sondergleichen, vor allem die unzerreißbare Nabelschnur des seit 1945 in Hamburg lebenden Erzählers zu seiner ostpreußischen Herkunft.
Ich weiß nicht, wie oft ich nach der Lektüre von »Heimatmuseum«, also seit 1978, dem Freund innerlich (und ohne es ihm bis heute eingestanden zu haben) Abbitte geleistet habe – Abbitte dafür, dass ich dachte, er habe mit »So zärtlich war Suleyken« eine beschönigende, entpolitisierte Idylle beschworen – um es dabei zu belassen.
Nun ist es eingestanden.
Ich will nicht prahlen mit der Masse der Bücher, der Aufsätze, Essays, Reportagen in Funk und Fernsehen, die alle von Ostpreußen handelten und die ich über ein halbes Jahrhundert hin gelesen oder betrachtet habe. Es waren viele.
Aber – ich wollte es selbst wissen.
*
Ja, ich wollte es selbst wissen!
Es war wie ein Phantom, das man vor sich herschiebt und auf das die Schar derer, die davon eine Ahnung hatten, liebe Freunde darunter, im Lauf der Zeit immer nachsichtiger, immer gönnerhafter reagierten: »Ach so – das meinst du … Ostpreußen.«
Und so ging es mir damit wie mit meiner Hamburger Familien- und Verfolgtensaga »Die Bertinis«, an der ich vierzig Jahre arbeitete, von 1942, dem Jahr ihrer Idee, bis 1982, dem Jahr ihres Erscheinens. Niemand glaubte mehr daran, dass das über ein ganzes Leben hin mitgeschleppte Projekt dann auch verwirklicht, der Plan tatsächlich in die Tat umgesetzt werden würde. Bis auf den Autor – der wusste es.
Wusste auch, dass sein Ostpreußenbuch geschrieben werden würde – wenn nicht jetzt, dann später; wenn nicht in diesem Jahr, dann im nächsten, und wenn nicht in der laufenden Dekade – sie wäre ja nicht die letzte.
Es gab manche stichhaltigen Gründe, die Begegnung so dauerhaft aufzuschieben, und viele Vorwände dafür – wie vor einem lang ersehnten und doch auch gefürchteten Rendezvous. Nur eines gab es nie: Zweifel, dass es stattfinden würde.
Als ich dann endlich loszog, da nicht, um nach der Rückkehr ganz Neues zu verkünden, nicht, um den besserwisserischen Entdecker zu spielen. Was ich wollte, war, mir die frühe Sehnsucht zu erfüllen, die nie verblasst ist; war, die selbst gestellte Aufgabe auch durchzuführen; war, zu sehen, zu riechen und zu berühren, was seit dem Anblick jenes doppelseitigen Abbildes, seit meiner Kindheit in mir geleuchtet hatte – nun mit all den dramatischen Veränderungen aus Vergangenheit und Gegenwart.
In diesem Buch wird nicht vom »ehemaligen Ostpreußen«, sondern durchgehend von »Ostpreußen« die Rede sein, obwohl der Begriff heute weder in der polnischen Staatswirklichkeit noch im Bewusstsein der dortigen Bevölkerung existiert, ausgenommen die winzige Zahl der deutschstämmigen Minderheit (und ausgenommen natürlich auch die Millionen heute noch lebender einstiger Ostpreußen, die es kannten, ehe sie es verloren). Aber selbstverständlich fehlt das Adjektiv »ehemalig« nicht aus revisionistischem Grund – dass es ausgespart wird, ist vielmehr ein Ausdruck meiner Trauer und meines Zorns. Der Trauer über einen unwiederbringlichen Verlust und des Zorns gegen alle, die die Wurzel für ihn gesetzt haben: Hitler und seine Anhänger. Sie, ihre Politik, ihr Krieg und ihre Verbrechen sind primär verantwortlich für den Verlust der Gebiete jenseits der Oder-Neiße-Linie, also auch Ostpreußens. Sie schufen die Voraussetzungen für die Entscheidungen ihrer historischen Überwinder in Jalta und Potsdam, wie richtig oder falsch deren Entschlüsse auch immer gewesen sein mögen. Waren Trauer und Zorn aber schon lange vor meinen Reisen nach Ostpreußen in mir, so gesellte sich ihnen auf den 12000 Kilometern, die ich während eineinhalb Jahren kreuz und quer durch den polnischen und den russischen Teil Ostpreußens zurücklegte, noch eine Erfahrung hinzu, die von außen kam und die beide anderen Empfindungen in sich einhüllte: Melancholie.
Sie liegt wie ein ungeheurer Mantel über allem, was mit Ostpreußen zu tun hat, diese Melancholie – über Menschen, Landschaften und Geschichte; über dem, was war, und dem, was ist; über Städten wie über Weihern. Sie hat fast alle Gespräche durchzogen, die ich geführt habe, und die eigenen Gedanken mehr und mehr durchtränkt. Sie war allgegenwärtig bei der Arbeit an diesem Buch.
Nicht, dass Begegnungen mit Kraft und Hoffnung gefehlt hätten; nicht, dass kein Lachen, keine Freude, keine Zuversicht zu spüren gewesen wären – wie denn? Natürlich ist all das da, wie überall, wo Menschen sind, und alltäglich. Aber mir schien das Licht verdunkelt und die Anstrengungen zu ihm hin mühsamer als irgendwo sonst.
Ich habe überall, wo ich war und von wo ich berichtete, versucht, ehrlich zu sein. Aber nirgends war der Zwang dazu so stark wie hier. Deshalb lautet der Titel auch nicht »Ostpreußen ade?«. Das Buch gibt die Antwort, warum das Fragezeichen fehlt.
*
Es hätte nicht geschrieben werden können ohne die Zusammenarbeit mit Barbara Barlog aus Poznań (Posen). Über mehr als achtzehn Monate, auf vier großen Reisen, ungeachtet erheblicher Strapazen und während aller vier Jahreszeiten, hat die polnische Germanistin gedolmetscht, organisiert, Verbindungen geknüpft, hat sie mitgedacht und mitgehandelt. Ohne ihren Beistand wären die Vorarbeiten für das Buch nicht möglich gewesen.
Deshalb an dieser Stelle auch meinen öffentlichen Dank an Barbara Barlog, die »Koautorin«.
Erste Begegnung.
Sie steht da, etwa auf der Mitte des ziemlich steilen Abhangs, der auf einer langen Treppe vom Hotel »Mrongovia« zum Ufer des Sees hinunterführt, an dessen Südzipfel Mrągowo liegt. Sieglinde H. steht da und bietet Stickereien feil, Bernsteinketten, die »Puppe in der Puppe«, kunstvoll aus Stroh geflochtene Kästchen, billige Broschen, Muscheln – eine Art Bauchladenangebot, das rasch ein- und ausgepackt werden kann. Eine große Tasche, mehr ist dazu nicht nötig. So steht sie hier, stundenlang, oft von morgens bis abends, in der Hoffnung, dass die Touristen aus dem Hotel zum See hinabsteigen und ihr etwas abkaufen.
Der Anblick von Sieglinde H. berührt mich. Sie ist gedrungen, eine bäuerliche Erscheinung mit einem breiten, pausbäckigen, grundgutmütigen Gesicht, und sie ist die erste Beziehung, die ich hier zu einem deutschstämmigen Menschen knüpfe. Ihre Muttersprache klingt schwerfällig, hat einen harten Akzent, entspricht aber nicht dem Dialekt, den ich als typisch ostpreußischen im Ohr habe.
Sieglinde H. ist freundlich, aber ihr Vertrauen nicht leicht zu erringen. Schließlich ist sie bereit, über ihr Leben zu sprechen, weigert sich jedoch, das an ihrem Arbeitsplatz zu tun. Auf den Vorschlag, ins Hotel zu kommen, sagt sie: Danach sei sie »nicht angezogen«. Als Sieglinde H. dann doch kommt, ist ein Unterschied in ihrer schweren Kleidung nicht auszumachen. Erst als sie den Mantel auszieht, wird eine Wolljacke sichtbar, mit weißen und organgefarbenen Streifen kreuz und quer grell durchzogen, aber nagelneu.
Langsam, karg, ungeschult, wie in weiter Distanz zum eigenen Schicksal, entblättert sich nach und nach ihr Lebenslauf.
Sieglinde H. wurde 1938 geboren als Kind deutscher Eltern. Der Vater fiel im Zweiten Weltkrieg, wo, weiß sie nicht. Die Mutter floh mit ihr am 27.Januar 1945 bei tiefem Frost vor dem Einmarsch der Roten Armee, da war sie sieben Jahre. Als sie nicht übers Frische Haff, dem heutigen Zalew Wiślany, kamen, kehrten sie zurück, vier Tage nach der Eroberung von Sensburg. »Die Stadt brannte, es lagen viele Tote herum, Blut floss in den Rinnstein«, erinnert sie sich. »Aber meine Mutter ging die Hauptstraße herunter, ohne Angst. Sie ging da ohne jede Angst.«
Es hört sich an, als wäre es gerade geschehen.
Die Vertreibung der Deutschen bis 1949, die verschiedenen Schübe, die trügerischen Hoffnungen auf Erleichterung, als Władysław Gomułka 1956 Chef der polnischen Kommunisten wurde – all das ging an Sieglinde H. vorbei. Anfangs wollte sie mit der Mutter noch nach Deutschland, aber ohne Nachdruck, wie sie sagt. Sie seien auch nie dort gewesen. Bis zu ihrem siebten Lebensjahr konnte sie nur deutsch, dann musste sie polnisch lernen – die Sprache, die nun überall gesprochen wurde. »Aber ich habe deutsche Märchenbücher gelesen. Ich kann auch Deutsch schreiben. Und mit der Mutter habe ich immer Deutsch gesprochen, bis zu ihrem Tod.« Sie stockt, zählt nach, sagt dann: »Das war 1975. Seither bin ich allein. Ich habe nie geheiratet.«
Sieglinde H. hat in einem Krankenhaus gearbeitet, siebzehn Jahre lang, war Briefträgerin gewesen und danach in einem Kinderheim beschäftigt. »Aber einen Beruf, einen richtigen Beruf, habe ich nie erlernt.« Mit dreißig ging sie in die Abendschule, es hat ihr nicht geholfen. »Ich habe nie genug verdient, um mir auch nur vernünftige Kleidung zu kaufen.«
Sie sitzt da in ihrer schrecklich karierten Wolljacke, auch auf dem Stuhl noch von mächtiger Statur, rotbäckig und sehr präsent in dem sterilen Hotelzimmer. Dann und wann huscht ein Anflug von Lächeln über das breite Gesicht, als wollte sie sich entschuldigen, keine besseren Nachrichten mitteilen zu können.
»Die haben das Hotel so um 1980 aufgemacht, seither kommen Touristen, meist deutsche. Mit denen kriegt man nur schwer Verbindung, aber manchmal kaufen sie etwas, Stickereien und anderes. Meine Rente ist sehr klein.« Es dauert eine Weile, bis heraus ist, wie klein: umgerechnet 75Mark im Monat. Als Sieglinde H. die Summe nennt, hat sie die Augen niedergeschlagen.
Früher, sagt sie, hätten die Leute sich mehr geholfen, seien mehr füreinander da gewesen.
»Früher?«
»Ja, als die Deutschen noch hier waren.« Das sei nun nicht mehr so. Dann, zögernd: »Aber vielleicht sind die Menschen ja überhaupt schlechter geworden auf der Welt.«
Auf die Frage nach ihrer Identität antwortet sie, vorsichtig: Nein, als Polin fühle sie sich nicht, aber ebenso wenig sei sie noch eine »eindeutige Deutsche«. Dann, spontan: »Ich möchte, dass es so wird wie in meiner Kindheit. Aber so wird es nicht wieder. Wenn meine Generation ausstirbt, ist das Deutsche sowieso weg – dann ist schon keine Spur mehr da.«
Es klingt wie eine Bilanz, aber ohne Feindschaft ihrer Umgebung gegenüber. Und gleich danach, von sich aus, nicht ausgelöst durch eine Frage, sagt Sieglinde H.: »Es war ein mühseliges, schweres Leben.«
»Aber das Lächeln haben Sie nicht verlernt.«
Erstaunen. »Ja? Es kommt mir trotzdem traurig vor, mein Leben, wenn ich so zurückdenke, sehr traurig.«
Ich sah sie dann noch oft, vom Ufer oder von oben her, am Abhang zwischen dem Hotel und dem Jezioro Czos (Schoßsee), ihre dürftigen Waren ausgebreitet und geduldig, unverdrossen auf Käufer wartend – Geschichte eines ungelebten Lebens.
Aber hier, zu Beginn meines Aufenthalts auf ostpreußischem Boden, hatte ich keine Vorstellung davon, wie viel typischen Ingredienzen erst noch zu erwerbender, weit über die Einzelperson hinausgehender, dann aber bleibender Eindrücke ich in Sieglinde H. begegnet war.
Das gewaltige Bauwerk ist schon von Weitem zu sehen – dräuende Türme, Wehrmauern, rote Dächer groß wie Fußballplätze über einem Riesenberg von Backsteinen. Näher wird der Blick möglich in einst wassergefüllte Tiefen, Schluchten, Abgründe von Gräben, und dann über die Holzbrücke und unter dem Fallgitter mit den eisernen Gegengewichten hindurch in die einstige Feste des Deutschen Ritter-Ordens – die Marienburg, heute Malbork!
Eine Museumsreise soll das nicht werden – ich will zu den Urgesteinen, den sichtbaren Zeugnissen der ebenso höllisch heißen wie tief verfrosteten Geschichte Ostpreußens.
Im Innenhof des Mittelschlosses dann, rechts, die Fassade des Hochmeisterpalastes und des Großen Remters, vor mir das Hochschloss mit dem Kapitelsaal und der Marienkirche – geronnener Herrscherwille. Das schießt hier steil aufwärts, mauergeschützt, mit Rundtürmen und Spitzdächern, Erkern und Säulen, dass es einem die Sprache verschlagen will. Und da sind sie auch schon, martialische Gestalten, bronzepoliert, nicht nur Deutsche Ordensritter schlechthin, sondern die berühmtesten Hochmeister des Ordens: Hermann von Salza, Friedrich von Feuchtwangen, Winrich von Kniprode und Markgraf Albrecht von Brandenburg-Ansbach. Bis vor Kurzem noch hatten sie vernachlässigt in einer Hofnische gestanden, wie bestellt und nicht abgeholt. Aber nun sind sie eindrucksvoll postiert im Herzen ihrer Hauptfeste und in großer Nähe zu Haufen von steinernen Kugeln, bei deren Anblick man sich fragt, wie diese planetenschweren Rundbrocken wohl in Kanonenläufe gelangt sein konnten. Das allerdings war noch nicht die Sorge der Kreuzritter, die 1198 den geistlichen Ordo domus Sanctae Mariae Theutonicorum mit Sitz im morgenländischen Akko aus der Taufe gehoben hatten – dieses Zeitalter kannte noch kein Schießpulver. Dabei hätten die Deutschritter das Monopol darauf gut brauchen können, denn das Ende des Kreuzzugtaumels war bereits absehbar – den Rittern drohte Arbeitslosigkeit.
Deshalb wohl kam Hermann von Salza 1226 nur zu gern dem Ersuchen des polnischen Herzogs Konrad I. von Masowien nach, ihm gegen die »heidnischen Prußen« zu Hilfe zu eilen. Der Preis: die Herrschaft des Ordens über das Culmer Land.
Beschweren konnte sich der Fürst wahrlich nicht – die Deutschen kamen ihrem Auftrag der Unterwerfung und Christianisierung so gründlich nach, dass nur wenige Prußen übrig blieben.
Mir wird übrigens immer ganz schlecht, wenn ich in diesem Zusammenhang von den »heidnischen Prußen« lese – als wären für sie die geharnischten Christen keine Heiden gewesen!
Aber nun war es vorbei mit dem prußischen Göttertriumvirat Perkunos, Potrimpos und Pikollos, mit dem Baumgott Puschkaytos und mit Pergubrios, der das Laub und das Gras wachsen ließ. Auch die Kornmutter Babainsa wurde vom Kreuz gleich mit erschlagen, ebenso wie Topich, der Wassergeist, den die Prußen sich vorstellten als ein kleines Männchen mit rotem Anzug, ewig nassem Haar und immer bereit, sein nächstes Opfer erbarmungslos in einem seiner tausend Seen zu ertränken.
Genauso außer Kraft gesetzt vom Schwert der Deutschritter waren die siebzehn Gebote des Kriwaitos, obwohl sie doch in manchem stark an die zehn des Alten Testaments erinnerten. Zum Beispiel, dass das Weib dem Manne untertan und Ehebruch natürlich nur der Frau zur Last zu legen sei. Was allerdings ganz in diesen Geboten fehlte, war die Nächstenliebe. Aber das hatte schließlich nichts anderes zu bedeuten, als dass die Prußen sich nicht ständig mit dem Hauptproblem von Christen herumzuschlagen hatten, nämlich ihrem schlechten Gewissen angesichts all der guten Taten, die man hätte tun sollen, aber nie getan hat.
Trotz gemeinsamem Glauben kam es dann zwischen Herzog Konrad und den Deutschrittern zu schwerem Zwist – wollten die Sieger doch nach getaner Arbeit nicht mehr bloß seine Lehensleute, sondern autonome Herren sein. Spätestens bei dieser Eröffnung dürfte dem Herzog aufgegangen sein, welch eiserne Laus sich da mit seiner Hilfe im polnischen Pelz festgebissen hatte.
Dazu noch hatte sich das Zentrum des Ordens innerhalb von vierzig Jahren in bedrohliche Nähe verlagert. Als Montfort, die letzte Christenfeste im Orient, 1271 endlich gefallen war, quartierten sich die Deutschritter erst nach Venedig um und 1309 von dort dann, berstend vor Reichtum und Energie, auf die Marienburg.
Deutsche Lexika, Schul- und Historienbücher pflegen an dieser Stelle rege Kultivierung und Besiedlung des Ordenslandes zu vermerken; löbliche Zivilisierung und Missionierung der Einheimischen oder, genauer, ihrer Reste; einen blühenden Aufschwung der Wirtschaft, der unter dem Hochmeister Winrich von Kniprode in der zweiten Hälfte des 14.Jahrhunderts dann unzweifelhaft einen Höhepunkt erreichte. Aber die Geschichte der Deutschritter und den Schwerpunkt ihres Wirkens vor allem aus diesem Blickwinkel zu beurteilen (wie es die Vertriebenenpresse seit eh und je kategorisch tut), bestätigt nur wieder jene selektive Wahrnehmungsfähigkeit, die in der Sackgasse deutschtümelnder Apologetik steckenbleibt.
Was sich da am nordöstlichen Rand des Heiligen Römischen Reiches (und bald schon weit über dessen Grenzen hinaus im Baltischen) eingekrallt hatte, das war die effizienteste, rücksichtsloseste und schlagkräftigste Militärorganisation ihrer Zeit, ein feudaltheokratisch orientierter Staat mit eigenen Gesetzen, geschriebenen und ungeschriebenen. Hier wurde nicht pazifiziert, hier wurde blutig annektiert, war ein Machtzentrum entstanden, das auf Eroberung aus war. Keine seiner imponierenden Investitionen in Bauten und Verwaltung, in Landwirtschaft und Manufaktur kann darüber hinwegtäuschen, dass sich mit dem Deutschen Orden im Ostseegebiet, im Culmer Land, in Pommerellen und hoch hinauf bis Riga eine skrupellose Gewalt eingenistet hatte, ein einziger zielgerichteter und für alle Nachbarn äußerst gefährlicher Expansionswille. Und die Trutze an der Nogat, die Marienburg – sie war der zu Stein, zu Türmen, Wällen, Mauern gewordene Ausdruck jenes geradezu ungeheuerlichen Überlegenheitsgefühls, das die Gestalten der vier Hochmeister auf dem Innenhof des Mittelschlosses auch noch in der metallenen Nachahmung ausströmen mit ihren steinernen Mienen, den Faltenwürfen ihrer Umhänge über der Rüstung, der ganzen erzgepanzerten Erscheinung.
Nein, diese Herren sind mir nicht sympathisch!
Das ist ein Satz, der sich mir nicht nur spontan während dieses ersten Besuches der Marienburg formte, sondern der auch bei allen folgenden Aufenthalten wiederkehrte – noch jedes Mal graute mir vor den Hochmeistern.
Was nicht das Mindeste ändert an der Faszination, die ihre Hinterlassenschaft auf mich ausübt, die Großartigkeit der Architektur und ihre erhabene Wucht – die Schlosskirche und die Vorburg; der mächtige Graben zwischen dem Hoch- und dem Mittelschloss; das Brückentor mit seinen spitzen, an Lübecks Holstentor erinnernden Bedachungen; der schlanke Finger des Buttermilchturmes; der Dansker, sozusagen die Sanitäranlage des Komplexes, über dem Fluss.
Aber mehr noch werde ich berührt, wenn der Alltag, wenn Arbeit, wenn Stätten des Gesindes sichtbar werden. Da ist der Brunnen mit dem Unterbau aus dem 14.Jahrhundert und einer Tiefenausschachtung, die für ihre Zeit eine technische Meisterleistung sondergleichen gewesen sein muss – verdursten jedenfalls konnte hier niemand. Dann die Küche mit ihrem überraschend niedrigen Gewölbe, das Massiv des eisernen Herdes, die Riesentöpfe, Holzschaufeln, irdenen Krüge, die Äxte, um Fleisch und Knochen zu zerteilen. Dann der Tisch! Eine tonnenschwere Platte, gedunkelt in Jahrhunderten, wie aus einem Stück und die Frage provozierend: Aus welchem gefällten Baummonument herausgesägt? Auch hier, und nicht nur in ihren Palästen, haben sie gesessen, die großmächtigen Herren, hier haben sie gefressen und gesoffen und ihre nächsten Pläne ausgekungelt – und sich mehr und mehr Sorgen gemacht. Denn der gut 200-jährige Kampf zwischen den Deutschrittern und den vereinten Polen und Litauern, er ging für den Orden verloren. Schon ein Jahrhundert nach Gründung der Marienburg, am 15.Juli 1410, läutete die Schlacht bei Grunwald (Grünfelde), die die deutschen Historiker im nahe gelegenen Tannenberg (Sztymbark) ansiedeln, den Niedergang ein – eines der großen, ganz und gar unvergessenen Daten in der Geschichte Polens.
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Sein Denkmal befindet sich südlich von Olsztynek (Hohenstein), seitab der Straße nach Warschau, vorbei an Seen, durch Felder, Wälder und jene unbeschreiblichen Baum- und Blätterkorridore, die den Ruhm des Landes ausmachen und von denen noch zu singen und zu sagen sein wird – den herrlichen Alleen!
Die Gedenkstätte Grunwald ist schon kilometerweit vorher auszumachen, markiert durch eine Stele, eine Riesennadel, die sich scharf gegen den hellen Himmel abhebt und vom Eingang her, jetzt im Frühling eskortiert von wahren Milchblumenteppichen und grellem Vogelgezwitscher, über einen langen Anmarschweg erreicht werden kann. Aber nur, um sich von nahe als einfallsloses Dekor zu entpuppen, als entseelte Äußerlichkeit, sozialistischer Realismus in Reinunkultur. Der Horror wird noch verstärkt durch einen steinernen Block, aus dem kantige Profile, erschreckende Physiognomien herausgehauen sind – gewaltige Nasen, Ritter, Überwinder, Eisenmänner auch sie. Das geht fünf Stufen hoch, auf denen nun polnische Jugend tobt – der Nachlass einer überwundenen Epoche, für die, wie verschämt, ein Datum steht: Hier wurden am 14.Juli 1973, also 563Jahre nach der großen Schlacht, Rekruten der I. motorisierten Warschauer Division vereidigt.
Kehrt man sich von den Relikten des polnischen Stalinismus, der nadeligen Stele und den Hammernasen ein wenig ab, so fällt der Blick tröstlicherweise auf zwei flatternde polnische Wappen, deren eines nun wieder die Krone zeigt, Symptom der großen Wende von 1989. Auch hebt sich der Makel der Künstlichkeit sofort auf, gewinnt die Geschichte an Echtheit, wenn einem erklärt wird, was die Anhäufung unzähliger Steine rechts vor dem neuen Monument einmal gewesen war, nämlich Blöcke jenes Denkmals zur Erinnerung an das Jahr 1410, das während der deutschen Besetzung Polens zerstört worden ist.
Schließlich ein amphitheaterhaftes Halbrund mit der Darstellung der feindlichen Lager am Vorabend der großen Schlacht zwischen Polen, Litauern, Russen, Tataren auf der einen Seite und den Deutschrittern mit ihren großräderigen Planwagen auf der anderen. Auch hier Schulkinder, raufend, laufend, sehr miteinander beschäftigt und einfach zu jung, um wirklich beeindruckt zu sein. Ganz anders dagegen der gute Geist bei der Vorarbeit für dieses Buch und die überaus empfindsame polnische Patriotin – Barbara Barlog: Auch stalinistischer Kitsch, vermerkt sie, könne die Bedeutung des 15.Juli 1410 nicht verfälschen. Wohl wahr.
Grunwald sollte der Anfang vom Ende der Deutschritter werden.
1457, nach einem dreizehnjährigen Krieg, zog König Kasimir IV. in die Marienburg ein. An die 300Jahre wird sie die Residenz polnischer Könige sein, während sich der Orden nur dadurch retten kann, dass er sich 1525 in ein weltliches Herzogtum verwandelt und sich polnischer Oberhoheit unterstellt.
Aber die Burg bleibt Tummelplatz der großen europäischen Tragödie am Eingang in die mörderische Moderne, sie wird belagert, berannt und verbrannt durch Schweden, Kaiserliche, Sachsen und Franzosen. Schon bei der ersten Teilung Polens, 1772, fällt sie an Preußen, bleibt dort auch über die zweite, 1793, und dritte, 1795, und sieht sich erst eineinhalb Jahrhunderte später im Ergebnis des Zweiten Weltkriegs Polen zugeschlagen.
Zuvor, an seinem Ende, von Januar bis März 1945, war fast zwei Monate um die Marienburg gekämpft worden – mit den schwersten Zerstörungen im Lauf ihrer langen und wechselvollen Geschichte. Fotos von damals lassen eine Trümmerlandschaft erkennen, in der kein Stein auf dem anderen geblieben zu sein schien, ein geborstenes Tohuwabohu, dessen einzelne Bauelemente, so schien es, nie wieder zusammengefügt werden könnten, eine Mondlandschaft der Verwüstung. Als wäre es damit noch nicht genug gewesen, zerstörte ein Brand in der Nacht vom 7. auf den 8.September 1959 die Dächer auf dem Nord- und Westflügel des Mittelschlosses. Aber davon ist längst nichts mehr zu sehen. Überhaupt, wer den heutigen Zustand mit den alten Fotos vergleicht, kommt aus der staunenden Bewunderung für die Arbeit der polnischen Restaurateure nicht heraus.
Und so stehe ich denn am Abend dieses Tages am anderen Ufer der Nogat, die wie von Zauberhand geglättet daliegt, gegenüber der Burgkomplex in seiner ganzen Wuchtigkeit, die Mauern sanft gerötet und die Silhouette des Hochschlosses gegen die untergehende Sonne abgehoben wie ein ungeheurer Scherenschnitt. Dann verdunkelt sich der Himmel, und von dem Symbol geschichtlicher Wandlungen, der Siege und der Niederlagen, der Dauer und des Wechsels, bleibt drüben nur eine erhabene Ahnung. Aber ich gehe noch nicht, sondern denke: Deutschland … Polen. Denke: Europa … Denke: Wann wird Frieden sein, endlich, gesichert, unumkehrbar? Wann?
Denn ausgestanden, wirklich ausgestanden, ist die alte Konfrontation immer noch nicht.
Die Backsteinungetüme – sie sind die eigentlichen Wahrzeichen Ostpreußens.
Wo immer Menschen gebaut, sich versammelt, sich niedergelassen haben, recken sie sich hoch – Kirchen, Festungen, oft Glaubens- und Wehrburgen in einem. Unabhängig davon, dass es hier nur noch eine verschwindende Minderheit von Deutschen gibt, egal auch, ob einst evangelischen oder katholischen Ursprungs – ich habe diese Bauwerke als grunddeutsch empfunden. Sie waren und sind das Herzstück der Altstadt, des Orts- oder Dorfmittelpunktes, wo immer sie sich erheben, und das in unendlicher Distanz zu allem, was später gebaut wurde. Gar nicht zu reden von der unbeschreiblichen Öde jener Wohnplantagen, die wie in der DDR in Plattenbauweise hochgezogen wurden und die, so notwendig sie sicher gewesen sind, mit ihrer abschreckenden Architektur inzwischen fast alle Kommunen in Polen verunzieren. Die Wahrzeichen, um die es mir diesmal geht, die roten Kolosse der Fortifikation und des Glaubens, manche schief, wie vom Alter gebeugt, grüßen schon von der Ferne übers Land hin.
Etwa »Klein-Marienburg«, die alte Feste über Nidzica (Neidenburg) in den Masuren, Baudauer 66Jahre, von 1310 bis 1376, heimgesucht durch Feuersbrünste, Erstürmungen und Belagerungen, auch vergeblichen wie der tatarischen des Jahres 1656. Auf Natursteinfundament die Ziegel. Aus der Mauer buckeln noch Kanonenkugeln heraus wie steinerne Busen, Orden gleich, die sich nach der Art soldatischer Ruhmsucht martialisch angeheftet wurden.
In dieser Stadt ist, so wird hier stolz verkündet, Ferdinand Gregorovius, der große Besinger Italiens, geboren, aber nicht gestorben – das geschah, siebzig Jahre später und fernab von hier, in München.
Als ärgerten sie sich immer noch darüber, vollführen die Krähen in den Baumwipfeln um die Neidenburg zu allen Tag- und Nachtzeiten eine lärmende Kakophonie, sodass man sich fragt, warum die Anwohner sich ihrer nicht längst schon mittels Giftes, Fangnetzes oder auch Einzelabschusses entledigt haben.
Noch imposanter als die Festung an der Nida (Neide) – die Schlossburg in Lidzbark Warmiński (Heilsberg), seit 1350 Residenz der Bischöfe von Warmia (Ermland). Söller, Wälle, Kreuzgänge unter Arkaden, kopfsteingepflasterte Höfe, Ehrwürdiges neben Komischem: im Vorschloss, weiblich und geköpft, eine Statue, von deren historischem Schicksal nichts zu erfahren ist als »In memoriae sanctae Catarina virg. et mart«. Unmittelbar nach der Ungewissheit, die diese Lektüre hinterlässt, fällt der betrübte Blick des Beschauers auf einen Polizeiwagen, der, irgendwie kränkend, hier im Vorschloss postiert ist. Kein Zufall. Denn wie um der Banalität die Krone aufzusetzen, hat sich zwischen all der gotischen Pracht, den alten Wohnpalästen, den Kapitellen und Wallgräben, die Polizei einquartiert.
Dennoch kann die Moderne dem Überkommenen nicht wirklich etwas anhaben, sogar der Parabolspiegel nicht, der aus dem Fenster des großen Söllers an der Außenmauer der Burganlage hervorsticht.
Den gleichen Eindruck von Unantastbarkeit habe ich angesichts der verkehrsumtosten Kirche von Lidzbark Warmiński, einem ungeheuren Bauwerk in glänzend erhaltenem Zustand, das mich mit seinem Dreietagenturm etwas an den Hamburger Michel erinnert.
Drinnen, an der Stirnfront der Empore für den Organisten, ist die Kirche mit einem kolorierten Großfoto des polnischen Papstes geschmückt, während draußen – ich komme gerade noch rechtzeitig hinzu – die goldene Figur auf der Spitze des gewaltigen ermländischen Glaubensmonuments in eine Wattewolke sticht, die am Himmel langsam von Nord nach Süd driftet.
Dann, noch am ehesten dem Vorbild an der Nogat ähnelnd, in der Mitte zwischen Tolkmicko (Tolkemit) und Braniewo (Braunsberg) gelegen, ganz himmelstürmende Gotik – die Kathedrale von Frombork (Frauenburg)!
Mit Ecktürmen, Bastionen, Wallgräben, Fallgittern, mit Mauern, babylonhoch, ist es die zu Backstein erstarrte Riesenwoge einer hochfahrenden Gesinnung, deren Bauherren nichts über sich duldeten, sondern nur den Blickwinkel nach unten kannten, über die geduckten Dächer der Ortschaft und hin über die Ewigkeit der nahen See.
In einer Parkanlage davor – Nikolaus Kopernikus: weit über Lebensgröße, auf einem Steinsockel neben einem Felsblock, hohlwangig, mit geschlossenen Augen, starker Nase und langem Haupthaar, der Begründer des nach ihm benannten sonnenzentrischen Weltbildes. In Kenntnis der erdzentrischen Kirchenlehre erschienen seine »Sechs Bücher über die Kreisbewegungen der Weltkörper« vorsorglich nicht vor seinem Todesjahr, 1543. So ging der Kelch der Inquisition an ihm vorbei, obschon Kopernikus hier in Frauenburg auf die Spur jener kosmischen Wahrheit kam, die der bekennende und unbeugsame Giordano Bruno dann am 17.Februar 1600 auf dem Campo de’ Fiori von Rom mit dem Feuertod zu büßen hatte.
Kopernikus, Astronom, Kanzler des Frauenburger Domkapitels und Bistumsverweser, hatte hier in einem der Herrenhäuser gewohnt, außerhalb der Mauern, auf der anderen Seite des westlichen Domgrabens – lang, lang ist’s her. Auf dem Wege dahin werde ich abgelenkt durch ein wundervolles Bild der Gegenwart.
Auf dem Dachgestühl eines Turms sehe ich ein Storchennest, flügelschlagende Insassen, noch keine Jungen, nur das Elternpaar, deren einer Teil sich erhebt, abfliegt, Kreise zieht und zurückkehrt. Worauf der andere – Storch oder Störchin? – es ihm oder ihr nachtut. In der gleichen Ellipse wie eben, rauschend, in vollkommener Ruhe segelnd, als werde hier ein touristisches Programm absolviert, so landet der Vogel mit demonstrativ geschwellter Brust in dem geräumigen Nest auf dem Wehrturm.
Die beiden waren, ich hatte gezählt, das 19. und 20. Exemplar ihrer Gattung seit meiner Ankunft in Ostpreußen vor zehn Tagen. So viele Störche hatte ich in Deutschland während meines ganzen bisherigen Daseins nicht erlebt. Es ist nur eines von vielen Zeichen, dass die Natur hier eine andere Musik spielt, einen bei uns fast vergessenen Klang hat, und sei es um den Preis der »Rückständigkeit« – die aber wird nicht andauern. Was dann? Wie groß werden die unvermeidlichen Schäden des sogenannten Fortschritts sein? Gedanken, Befürchtungen wie diese sind in Ostpreußen von der ersten Sekunde an da und werden mich nicht mehr verlassen.
Zuvor, auf der Hinfahrt nach Frombork, zwischen Elbląg (Elbing) und Tolkmicko, hatte die Natur wie aus unerschöpflichem Füllhorn eines ihrer Wunder nach dem anderen offenbart. Links und rechts der Landstraße eine explodierende Vegetation, geradezu urwaldhaft – Tannen, Kiefern, Fichten, Laubbäume, von einer Dichte und Fülle, wie ich sie in diesen Breitengraden noch nie gesehen hatte, Stamm und Blattschmuck von prachtvoller Gesundheit. Auf einem Sandpfad ging es weiter, bis der neben einer riesigen Eiche an einem Försterhaus endete. Dieser Ort liegt höher. Ich stieg aus, im Rücken eine Front aus Fichten und Birken, nach vorn der Blick frei aufs Meer.
Unten dann, trat ich zum ersten Mal an das Ufer des Frischen Haffs.
Der Himmel war bedeckt, die Schwalben flogen tief. Ein kleiner Hafen. Zwischen zwei Molen geht es aufs offene Wasser. Ich betrat die rechte Mole, an deren Ende ein ehemaliges Leuchtfeuer seine rostzerfressenen Metallglieder hängen ließ. Eine Möwe hob schwerfällig ab, als ich mich näherte. Draußen, in mäßiger Höhe, mit anmutig gebogenem Hals, ein Fischreiher.
Die Nehrung drüben, im Norden, war nur noch ein fahler Strich am Horizont.
Am selben Strand, aber viel weiter östlich, im russischen Teil Ostpreußens – die alte Brandenburg.
Nur die Senkrechten stehen noch, oben auf den Rändern wucherndes Grün, leere Fensterhöhlen, gotische Bögen, Berge von heruntergebrochenen Backsteinen, Reste einer Grundmauer, die einst die ganze Anlage einschloss – die Burg, eines dieser Wahrzeichen Ostpreußens, muss ein imposantes Bild geboten haben, sowohl von See her als auch von der Landseite.
Da hinauf führt ein steiler Weg. Drinnen, im Burgareal, hat die Natur gesiegt, Bäume, Sträucher, wucherndes Gebüsch und ein Hund, der hier herumstrolcht und drohend verharrt. Ich steige hinab, gehe in den Ort – Uschakowo (Brandenburg).
Hier ist gekämpft worden, vor fünfzig Jahren, aber noch heute spürbar. Die Ruine einer Kirche, daneben ein Ehrenmal der Roten Armee, die Namen Gefallener auf zwanzig Tafeln, wie üblich. Sonst ist alles verwildert.
Tiefer in den Ort hinein. Brennnesseldschungel entlang der Holzzäune, keine Menschenseele zu sehen. Dafür Hühnermajestäten, seltsam keck, darunter ein wahrer Troubadour von Hahn, der nicht kräht, sondern brüllt. Uralte, verdorrte Misthaufen an den Rändern der Dorfstraße, Abflussrohre ohne Funktion, Verschläge, getürmte Scheite – Holz, Holz, Holz.
Auf die Brücke mit dem stählernen Halbbogen von Ufer zu Ufer – bei Uschakowo fließt die Frisching in das Haff. Dessen gekräuselte Wellen grenzen sich von hier oben deutlich gegen das austretende Wasser ab, bis weit draußen ist die Strömung zu erkennen, eine natürliche Barriere gegen den Wind von seewärts, der Schaumkronen wirft.
Rechts von der Brücke, am gegenüberliegenden Ufer, ein Schrebergarten, in dem ein alter Mann, eine Blechschüssel in der Hand, Rosen schneidet. Dahinter bewegt sich im Wind sausend das Geäst einer mächtigen Eiche.
Links, zum Haff zu, gelbe Seerosen an beiden Seiten des Flusses, vertäute Boote, geduckte Holzhäuser, in der Luft Möwen.
Von hier, von der Brücke aus, lässt selbst das Burgskelett noch auch bei geringer Vorstellungskraft ermessen, welch eindrucksvollen Anblick die heile Feste hoch über Fluss und Dächern geboten haben muss. Dass sie, längst jenseits von Gut und Böse, die Jahrhunderte überdauerte, hat ihr nichts genutzt: erst das unsere hat sie restlos zuschanden gemacht.
Vorbei an einem Tümpel, auf dem eine Ente schwimmt, die rote Augen, einen weißen Kopf und schwarzes Gefieder hat, noch einmal nach vorn, ans Ufer.
Zartes Grün wächst in das Wasser hinein und reckt amphibisch die Hälmchen über den Spiegel hoch. Zur Mündung der Frisching hin ein Schilfgürtel, in dem Vögel nisten, Scharen von Vögeln. Sie fliegen herbei, verschwinden darin und steigen geräuschvoll wieder auf. In ihrer Nachbarschaft, bis über den Euter verdeckt, wie herrenlos und gänzlich deplatziert, eine Rotbunte. Zwei kleine Mädchen, die gebadet haben, trocknen sich zähneklappernd gegenseitig ab.
Übers Frische Haff hin, weit entfernt – die Nehrung. Und irgendwo da drüben, im Norden, da muss es liegen – Pillau, das heute Baltijsk heißt.
Der Name dürfte jedem, der im letzten Winter des Zweiten Weltkrieges dort oder in der Nähe war und überlebte, heute noch kalte Schauder den Rücken heruntertreiben. Damals, im Januar 1945, öffnete sich der Vorhang für den letzten, den ostpreußischen Akt des Kriegsdramas.
Aber begonnen hatte das Stück lange vorher.
Jenseits der beiden großen deutschen Schicksalsdaten, des 30.Januar 1933 und des 1.September 1939, stieß ich im Verlauf der Arbeit auf drei spezifisch ostpreußische.
Das erste – der 11.Juli 1920 – führt zu Franciszek Kiwicki in Jedwabno (Gedwangen). Ich suche Informationen über die erste große Volksabstimmung kurz nach dem Ersten Weltkrieg, bei der es darum ging, ob die Bezirke Allenstein und Marienwerder bei Deutschland bleiben oder Polen zugeschlagen werden sollten.
Franciszek Kiwicki, 1919 geboren, kann selbst keine Erinnerung mehr daran haben. Aber es gibt etwas in der überlieferten Geschichte, die das weit zurückliegende Ereignis über das Jahrhundert hin in frischer Erinnerung bewahrt hat. Damals war ein Kiwicki von einem Deutschen erschossen worden – fünf Tage nach dem Plebiszit. Die Sippe hatte zu dem Teil der masurischen Bevölkerung gehört, der für Polen votierte.
Das geschah in Hartigswalde (Dłużek), der Geburtsstätte von Franciszek Kiwicki und damals Wohnort der Familie, vier Kilometer von Jedwabno entfernt. Wir wollen später dorthin.
Freundlicher Empfang durch den heute 75-jährigen, aber beneidenswert rotwangigen Franciszek vor seinem Haus. Dann geht es, vorbei an riesigen Stapeln gespaltener Holzscheite, in ein Zimmer, das vollgestopft ist mit Insignien der Sippenchronik und ihrer Traditionen. Fotos von Männern in polnischer Uniform, polnische Orden; vor allem aber, an den Wänden, auf Schränken, zwischen Ührchen, Gläsern und Stofftieren, koloriert oder schwarz-weiß – Heiligenbilder. Der Gekreuzigte, Jesus von Nazareth, vielfach variiert, auch Johannes der Täufer in mehrfacher Ausgabe, an Zahl jedoch übertroffen von den Reproduktionen Marias, der Mutter Gottes. Aber auch sie sieht sich weit abgeschlagen durch die fotografische oder gemalte Allgegenwart eines Landsmanns von Franciszek Kiwicki, Haupt der römischen Kurie und Oberhirte aller Katholiken – den Papst! Johannes Paul II. in allen Formaten, klein und groß, gerahmt und mit offenen Rändern, in Kalendern (jeden Monat ein anderes Foto), in Zeitungsausschnitten, Buchdeckeln und Illustrierten.
Zwischen all dem berichtet Franciszek Kiwicki von der Familienchronik und dem eigenen Leben, ohne zeitliche Ordnung, von Wesentlichem und Unwesentlichem, aber bei beidem mit punktueller Erinnerungskraft. Das ungute Verhältnis zwischen der Gruppe, der sich die Kiwickis zugehörig fühlten, zwar deutsche Staatsbürger, aber polnischen Ursprungs, und den anderen, der »reinen« Deutschen. Ein Stachel aus der Knabenzeit, Mitte der Zwanzigerjahre dem noch nicht schulpflichtigen Franciszek zugefügt in der Ortsbäckerei von Hartigswalde, hingeschleudert vor siebzig Jahren, aber noch immer im Ohr haftend: »Für euch Polen gibt’s kein Brot.« 1936 dann, nach einem Besuch in Polen, der Entschluss, nicht nach Deutschland zurückzukehren; das Frühstück am Morgen des 31.August 1939 – Marmelade, ein Ei, der Kaffee zu schwach! –, ein Tag vor Kriegsausbruch. Am nächsten plötzlich Schießereien auf dem Marktplatz von Thorn (damals zum »polnischen Korridor« gehörend), vom Kirchturm herab, Deutsche, die sich zu früh hervorgewagt hatten – die Wehrmacht kam nicht so rasch wie erwartet. Standrechtliche Erschießung, fünf Männer und eine Frau. »Ihre Gesichter«, sagt Franciszek Kiwicki, als wäre die Exekution gestern gewesen, »ihre Gesichter!« Weiter mit memorierten Fetzen: Gefangener der deutschen Invasoren, eingesperrt in einer Kirche von Gdingen (Gdynia), deren Sprengung angedroht wurde (er ahmt die Stimme und den Wortlaut nach, in einem ungenauen, verlorenen Deutsch). Ein Deutscher bewahrte ihn vor einem anderen, einem Gestapomann. Die Kraftprobe zwischen den beiden, auch das erzählt, als hätte es sich vor 24Stunden ereignet. Flucht nach Warschau, Schwarzmarkthandel mit Nahrungsmitteln, bei dem ein Koffer mit der Anschrift eines deutschen Offiziers eine große Rolle spielte. Kampf im Untergrund, dreimal verletzt – eine Handbewegung hin zu den diversen Auszeichnungen, die im Zimmer verstreut sind, an Fotos befestigt, an die Wände geheftet, an Uniformen gesteckt.
Mit Franciszek Kiwicki begegnet mir ein Phänomen, das mir schon bei Sieglinde H. aufgefallen war, mich die ganze Reise begleiten und mir immer wieder begegnen wird, bei Polen wie bei Deutschen hier: ein ungeheures, geradezu sekundengenaues Erinnerungsvermögen an längst Vergangenes. Gespeichert aber sind nicht etwa sämtliche Ereignisse von damals, sondern nur ganz bestimmte. Es handelt sich um eine selektive Wahrnehmungsfähigkeit, die ganz auf das eigene Leid konzentriert ist und sich so selbst den Zugang zum Leid der anderen versperrt – von Ausnahmen abgesehen.
Als wollte er sich als eine solche ausweisen, ja sie demonstrieren, springt Franciszek Kiwicki auf, geht quer durch den Gemüsegarten und wahre Wälder von Brennnesseln hinterm Haus auf ein Gelände zu, das trotz seiner Verwahrlosung sofort als Friedhof zu erkennen ist.
Krumme Staketen; alte Gräber, deren Inschriften verwittert oder herausgeschlagen worden sind; Dornen, verrostete Ketten, der Boden überdeckt mit einem Grün, aus dem nur noch Fragmente von Steinen ragen, Sarkophage, halb versunken, eine Stätte grenzenloser Verlassenheit – der evangelische Friedhof aus der Zeit des deutschen Gedwangen.
Hier wachsen die Brennnesseln so hoch, dass man sich mit den bloßen Armen in Acht nehmen muss.
Umso gespenstischer das einzige Grab, das gepflegt wirkt, blumengeschmückt, mit lesbarem Namen versehen – Bernhard Schulz. Familienangehörige, so Franciszek Kiwicki, kämen hierher seit der Wende in Polen, also seit 1989, und kümmerten sich um das Grab. Sonst sei von den ehemaligen Einwohnern bisher niemand aufgetaucht, aber das vielleicht ja, weil keiner von ihnen mehr lebe.
Ich habe immer Schwierigkeiten gehabt mit Bestattungsritualen, habe eine elementare Skepsis gespürt, weil falsche Gefühle so nahe neben echten liegen, Getue, Heuchelei und Verfeierlichung ganz dicht bei wirklichem Schmerz und Trauerbeflissenheit in großer Nähe zu Empfindungen, für die es keine Worte gibt. Totensonntag, Buß- und Bettag und andere offizielle Weihedaten hatten die Ablehnung nur noch vertieft. Aber hier, auf diesem Schatten von Friedhof in Jedwabno, gibt es keine Zwielichtigkeit mehr, keine Ungewissheit – hier ist nichts als unendliche Traurigkeit.
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Das Geburtshaus Franciszek Kiwickis in Dłużek, nach kurzer Fahrt erreicht, erweist sich als ein einstöckiges Gebäude, dessen Wellblechdach teils vermoost, teils verrostet ist. Alle im Ort und in der Umgebung wussten damals, dass die Kiwickis bei der Volksabstimmung am 11.Juli 1920 für Polen votieren würden. Die Familie war alteingesessen, einige ihrer Mitglieder führten kleine Läden, die Eltern einen Tanzsaal – »Salon wäre zu viel gesagt«. Davon steht heute nichts mehr, ausgenommen das Haus, in dem Franciszek Kiwickis Wiege stand – »aber das war seinerzeit mehrgeschossig«.
Über die Straße und einen schmalen Ufersaum hinweg – der See. Vorn ein Steg, die Planken so morsch, dass man sie besser nicht betritt, drüben am anderen Ufer Bäume – Ahorne, Tannen, Birken. Davon fast verdeckt ein Haus: der Tatort. Denn von dort war damals eine Gewehrkugel abgefeuert worden auf die Heimstatt der Kiwickis, ohne einzuschlagen, aber in gefährlicher Nähe vorbeipfeifend. Daraufhin war Franciszek Kiwickis Onkel zum Hartigswalder Bürgermeister gegangen, hatte sich bei dem beschwert, dass »so einfach in der Gegend herumgeballert« werden könne, und dann, angesichts äußerst geringen Entgegenkommens auf dem Amt, den Rückweg angetreten. Als er vor dem Haus der Kiwickis angekommen war, tötete ihn ein zweiter Schuss. Der Schütze hieß Stenzel. Von einem Verfahren gegen ihn oder gar einer Verurteilung weiß der betagte Neffe nichts zu berichten. Der Mörder blieb unbestraft.
Am Straßenrand ragt eine mächtige Eiche auf. Einst so etwas wie ein Symbol des Hartigswalder Deutschtums, ist heute im Schatten ihres ausladenden Grüns ein weißes Schild befestigt, auf dem in polnischer Sprache und schwarzer Schrift zu lesen steht: »An dieser Stelle wurde am 16.Juli 1920 Robert Kiwicki von einem deutschen Chauvinisten erschossen. Er war Mitglied einer gesellschaftlichen Organisation, die während des Plebiszits vom 11.Juli 1920 für Polen gestimmt hatte.«
Franciszek Kiwicki steht vor dem Schild, mit dem Rücken zum See, und sagt: »Die Tafel ist oft abgenommen worden, ich weiß nicht von wem, aber ich habe sie immer wieder angeheftet.« Dann geht er langsam auf das Haus zu, in dem er geboren wurde. Er hatte davon gesprochen, es zu kaufen, weil er dort, wo er geboren sei, auch sterben wolle. Aber die Bürokraten hätten ihm Steine in den Weg gelegt – »Behörden in Polen machen immer Schwierigkeiten, ganz egal, worum es sich dreht. Es ist ihre Aufgabe, Schwierigkeiten zu machen«, fügt er grimmig an.
Ich trete noch einmal an das Ufer des Sees. Links, übers Wasser, das Haus, aus dem damals das tödliche Projektil abgefeuert worden war, inzwischen längst von Busch und Baum verdeckt, keine freie Schussbahn mehr. Rechts, am anderen Ufer des Jezioro Dłużek, einst Hartigswalder See, in einiger Entfernung ein Campingplatz; Zelte, Rauchfahnen, Geschrei, erste Frühlingsurlauber in Masuren.
Schwalben huschen dicht über die Wasserfläche, die glatt daliegt. Hinten widerspiegelt sich darin der Wald, hier vorn schwimmen alte Kähne, zernagt von Wind und Wetter.
Auf der Straße ein Panjewagen mit Gummireifen, auf dem Kutschbock ein Mann, die Zigarette im Mund. Das Pferd bleibt stehen, schüttelt die Mähne, wiehert. Der Mann steigt ab, ruckt an der Deichsel, danach geht es zuckelnd weiter.
Auf der Seeoberfläche dann und wann Blasen, Plätschern, verursacht von Fischen, die nach Insekten schnappen. Auf der Chaussee nach Westen, gleich hinter dem Ort, Trumme von Eichen, Mammutbäume, für deren gewaltige Lebensdauer die Zeit, die seit dem Plebiszit verstrichen ist, nicht viel mehr als eine kurze Spanne bedeutet.
In meiner Reihe der drei ostpreußischen Schicksalsdaten ist der 11.Juni 1920 das erste.