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Beim Spielen an einem Dorfteich finden Kinder ein Schmuckstück aus der Wikingerzeit. Das Artefakt hatte sich zuletzt in Obhut einer Archäologiestudentin befunden, die kurz darauf vermisst gemeldet wurde. Kommissarin Pia Korittki und ihre Kollegen vom Lübecker K1 rollen den Cold Case wieder auf: Der furchtbare Verdacht bestätigt sich, als die Leiche der jungen Frau in einem Grab im Wald gefunden wird. Nun stehen die Dorfbewohner und die Mitarbeiter der Ausgrabung unter Mordverdacht. Dann verschwindet auch noch Pias Kollege Broders ...
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Seitenzahl: 486
Veröffentlichungsjahr: 2025
Beim Spielen an einem Dorfteich finden Kinder ein Schmuckstück aus der Wikingerzeit. Das Artefakt hatte sich zuletzt in Obhut einer Archäologiestudentin befunden, die kurz darauf vermisst gemeldet wurde. Kommissarin Pia Korittki und ihre Kollegen vom Lübecker K1 rollen den Cold Case wieder auf: Der furchtbare Verdacht bestätigt sich, als die Leiche der jungen Frau in einem Grab im Wald gefunden wird. Nun stehen die Dorfbewohner und die Mitarbeiter der Ausgrabung unter Mordverdacht. Dann verschwindet auch noch Pias Kollege Broders …
Eva Almstädt, in Hamburg geboren und aufgewachsen, hat schon als Kind und Jugendliche mit Begeisterung geschrieben. Nach der Schule absolvierte sie eine Ausbildung in den Fernsehproduktionsanstalten der Studio Hamburg GmbH und studierte Innenarchitektur in Hannover. Sie arbeitete danach im Bereich Wohnraumplanung, doch der Wunsch zu schreiben ließ sie nicht los. Anfang der 2000er Jahre zog sie mit ihrer Familie auf einen Bauernhof in Schleswig-Holstein. Dort entstand der Kriminalroman KALTER GRUND, der 2004 als Debüt bei Bastei Lübbe erschien. Der Krimi um die Lübecker Kriminalkommissarin Pia Korittki wurde zum Auftakt einer Reihe, deren Titel regelmäßig auf den Bestsellerlisten zu finden sind. Seit 2022 schreibt Eva Almstädt eine weitere Krimireihe mit Schauplatz Nordsee. Ermittler sind die Anwältin Fentje Jacobsen und der Journalist Niklas John. Obwohl die Autorin inzwischen wieder in Hamburg lebt, hält sie sich beim Schreiben an das Motto »Hauptsache Meer«.
EVAALMSTÄDT
O s t s e e d ä m m e r u n g
Pia Korittkis zwanzigster Fall
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Dieses Werk wurde vermittelt durch dieThomas Schlück GmbH, 30161 Hannover
Copyright © 2025 byBastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln, Deutschland
Bei Fragen zur Produktsicherheit wenden Sie sich bitte an:[email protected]
Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.
Textredaktion: Dorothee Cabras
Umschlaggestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de
Einband-/Umschlagmotiv: © EB Adventure Photography/shutterstock; LGieger/shutterstock; Reto Buehler/shutterstock
eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7517-7453-6
luebbe.de
lesejury.de
Trine ging noch ein paar Schritte weiter in das schwarze Wasser. Ihre Füße sanken tiefer in den Untergrund ein, als sie es erwartet hatte, und die Sedimente drangen seidig weich zwischen ihren Zehen hindurch. Der Teich war eiskalt und so trübe, dass sie nicht einmal mehr ihre Fußknöchel sah. Vereinzelt spürte sie spitze Steine und abgestorbene Blätter und Zweige unter ihren Fußsohlen. Es war ein bisschen ekelig, gruselig und deswegen umso aufregender.
»Geh nicht noch weiter rein, Trine!«, rief Vito. »Das wird da vorne gleich richtig tief. Das ist zu gefährlich!«
»Genau. Sie werden denken, dass wir ertrunken sind, und weinen und nach unseren Leichen suchen.«
»Das ist nicht witzig!«
»Natürlich nicht. Das Leben ist nicht witzig, Vito. Wenn wir überleben wollen, müssen wir uns Fische zum Abendbrot fangen.« Trine schwenkte den improvisierten Kescher aus einem alten Einkaufsnetz und einer Astgabel.
»Was, wenn uns jemand hier sieht?«
Die Stimme ihres neunjährigen Freundes klang ängstlich, was Trine umso mehr reizte, etwas zu riskieren. Sie war ganz in der Welt von Tom Sawyer und Huckleberry Finn auf dem Mississippi versunken … Von ihrer Oma in Bayern hatte sie einen Schuhkarton voller Kassetten und einen alten Rekorder geschenkt bekommen. Viele der Kinderhörspiele waren albern und »Babykram«, doch Tom Sawyer und Huckleberry Finn hatten es ihr angetan.
Trine ging weiter, bis das Wasser ihre Knie umspülte. Die Kälte kniff ihr in die Waden. Es schwappte über ihre hochgerollten Hosenbeine und zog kalt und feucht ihre Oberschenkel hinauf. »Wenn er uns findet, dann ist es aus mit uns, Vito. Deshalb müssen wir uns auf dieser Insel im Mississippi verstecken. Und wir müssen essen!«, setzte sie pragmatisch hinzu.
»Ich habe aber keine Lust mehr«, maulte Vito. »Immer nur Indianer Joe … Ich will lieber Harry Potter spielen. Und in diesem ollen Teich fängst du sowieso keinen Fisch.«
»Da, da war etwas!« Sie sprang ein Stück zur Seite.
»Wo?«
»An meinem Fuß. Etwas Großes!«
»Du spinnst doch. Hier gibt’s nichts ›Großes‹. Komm, lass uns aufhören für heute.«
Die zehnjährige Trine, die mit vollem Namen Katharina Seibold hieß, zuckte mit den Schultern. Sie wollte noch nicht nach Hause gehen. Doch die Sonne stand bereits tief am Horizont. Bald würde es dunkel sein.
Am liebsten möchte ich auf der kleinen Insel übernachten, dachte Trine, oder zumindest noch ein paar Stunden in meinem selbst gebauten Unterstand im dichten Unterholz bleiben, wo man mich vom Ufer aus nicht sehen kann. Sie könnten die aus dem Rucksack ihrer Schwester gemopsten Schokoriegel essen, den Tee aus Vitos Thermoskanne trinken und erst im Dunkeln zurück ins Dorf gehen. Dort würden sie sich dann leise in ihre Häuser schleichen.
Kurz tauchte in ihrer Vorstellung ein Bild von Tante Polly auf, die eine Laterne ins Fenster stellte, um ihrem Neffen Tom mit dem Lichtschein den Weg nach Hause zu weisen.
»Da war echt ein Fisch!«, behauptete Trine.
»Dann fang den blöden Fisch doch! Ich glaub das erst, wenn ich ihn sehe«, sagte Vito missmutig.
»Komm weiter rein, du musst mir helfen. Er hat mich schon zweimal gestreift«, flunkerte sie. »Er knabbert an meinem Bein. Vielleicht ist es ein Karpfen?«
»Du spinnst total!«, rief Vito, doch er krempelte seine Hosenbeine ein Stück weiter hoch. »Ih, ist das schleimig!«, rief er, als er auf sie zuwatete. »Autsch, ah! Da war was Scharfes.« Er hinkte einen Schritt. »Das war bestimmt eine Glasscherbe. Wenn ich mich schneide, bist du schuld!«
Trine rollte mit den Augen. »Wieso sollte hier Glas im Wasser sein?«
Vito bückte sich und tastete mit den Händen den Untergrund des Teiches ab.
»So vertreibst du unseren Fisch ja«, wandte Trine ein. Sie wollte nicht, dass Vito irgendwelchen Müll aus dem Hövelauer Teich ans Licht beförderte und damit ihre schöne Abenteuerstimmung zerstörte.
»Da, ich habe die verdammte Scherbe!« Vito fuhr mit der Hand im Wasser hin und her, um seinen Fund abzuspülen, und richtete sich auf.
»Das ist kein Glas«, sagte Trine, die näher getreten war. »Und auch kein Stein …«
»Komisch. Was ist es dann?« Vito beugte sich runter und säuberte den gefundenen Gegenstand nochmals im Wasser. Es war eine etwa zweimal drei Zentimeter große, unregelmäßig geformte bronzefarbene Scheibe. Nach der Säuberung zeigte sich, dass sie vier Löcher und schwach goldfarbene Verzierungen hatte.
Trine griff nach dem Fundstück und drehte es hin und her. »Da bist du draufgetreten?«
Er zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich ist es nichts. Nur altes Zeug, das irgendwer in den Teich geworfen hat.«
Trine wischte die Scheibe an ihrem Ärmel trocken und hielt sie in das spärliche Tageslicht, das noch durch die Bäume fiel. »Ich finde, das Ding sieht … besonders aus. Vielleicht gibt es ja noch mehr davon.«
Vito stieß einen verächtlichen Laut aus und blickte auf die Uhr. »Such doch selbst! Ich gehe jetzt nach Hause.«
»Spielverderber. Gerade, wo es spannend wird.«
»Du kannst das olle Ding behalten.« Er wandte sich ab. »Mir wird’s zu kalt.«
Auch Trine spürte ihre Füße im Wasser kaum noch. Sie steckte das seltsame Fundstück in ihre Jackentasche und folgte Vito ans Ufer. Dort legte sie den Kescher ab und setzte sich neben Vito auf einen Baumstamm.
Die Kinder rieben sich die Füße notdürftig mit den Händen trocken und zogen Strümpfe und Schuhe wieder an.
Trine schlüpfte hastig in ihre abgetretenen Leinenschuhe, damit Vito die Löcher in ihren geringelten Strümpfen nicht sah. Ihr Freund in seinen neuen Outdoor-Stiefeln stapfte schon auf die andere Seite der Insel zu. An der schmalsten Stelle des Teichs hatten sie zwei alte Bretter ausgelegt, um das Gewässer mit einigermaßen trockenen Füßen zu überqueren. »Vito, warte!«
»Ich muss nach Hause. Mama hat heute extra für uns Spaghetti Bolognese gekocht.«
Trines Magen zog sich zusammen. Nicht nur vor Hunger. Bei dem Gedanken daran, dass Vito sich gleich mit seiner Familie an den gedeckten Tisch in ihrem gemütlichen Haus setzen würde, überkam sie Neid, gemischt mit Selbstmitleid. Doch sie durfte es sich nicht anmerken lassen. Seit dem Tod ihrer Mutter vor mehr als zwei Jahren ließ sie sich nichts mehr anmerken. Mitleid wollte sie nicht. Es war besser so.
»Soll ich das Ding wirklich behalten? Du willst es nicht?«, fragte sie noch mal, um ihren Freund aufzuhalten.
Vito drehte sich mit zusammengezogenen Augenbrauen zu ihr um. »Ich weiß nicht. Vielleicht sollten wir es besser unseren Eltern zeigen? Sieht irgendwie wertvoll aus mit dem goldenen Muster.«
Trine schüttelte energisch den Kopf. »Die wollen dann bloß wissen, wo wir es herhaben. Und dann gibt’s Ärger.«
Sie hatten die kleine, dicht von Büschen und Bäumen bewachsene Insel überquert und verharrten hinter einem Busch. Dies war die gefährlichste Stelle, weil man das diesseitige Ufer von der Zufahrtsstraße des Gutes aus sehen konnte. Von jeher war ihnen, und auch allen anderen Dorfbewohnern, das unbefugte Betreten des Betriebsgeländes des landwirtschaftlichen Gutes Hövelau verboten. Doch das weitläufige Gelände mit dem Teich und den vielen alten Gebäuden übte eine große Anziehungskraft auf die Kinder aus.
»So ein Mist«, flüsterte Vito. »Da kommt einer!«
Trine duckte sich tiefer hinter den Busch und zog Vito mit sich. »Das ist Hubertus von Steben. Der darf uns auf keinen Fall sehen. Los, runter!«
Doch der Mann in dem olivfarbenen Parka, mit der braun-grün karierten Schiebermütze aus Harris-Tweed auf dem Kopf verließ den Weg und kam direkt auf sie zu. Er sah grimmig aus. Die Augen hatte er zusammengekniffen. Nach einem durchdringenden Pfiff trottete ein großer Hund zu ihm. Trine spürte, wie Vito neben ihr bebte.
»Der hat uns bestimmt schon gesehen«, flüsterte er.
Vito hatte Angst vor Hunden. Gleich würde er womöglich noch flennen wie ein Kleinkind. »Hubertus wird uns schon nicht fressen«, gab Trine zurück. »Und erschießen wird er uns auch nicht.« Doch da war sie sich nicht so sicher.
»He, ihr zwei! Kommt sofort her!«, rief Hubertus von Steben.
Die Kinder rührten sich nicht. In der Ferne erklang ein Motorengeräusch, wurde lauter, und ein dunkelgrauer Kleinlaster kam den Weg am Teich entlang und fuhr in Richtung Gut.
Hubertus von Steben hatte den Wagen auch bemerkt. Er schien den Fahrer zu kennen. Jedenfalls hob er die behandschuhte Rechte zu einem flüchtigen Gruß und winkte ihn weiter.
Trine stieß Vito in die Seite. »Los, komm!« Sie kroch rückwärts durch den Busch und lief zur Mitte der Insel, wo sie auf die Lichtung mit ihrem Unterstand zusteuerte.
Vito folgte ihr, blickte jedoch beunruhigt über die Schulter zurück, als er neben ihr stand. »Und jetzt?«
»Ich glaube nicht, dass er auf die Insel kommt. Der will sich doch keine nassen Füße holen.«
»Und wenn er den Hund zu uns rüberschickt?« Vitos Stimme klang ganz piepsig.
»Glaube ich auch nicht.«
»Das beruhigt mich jetzt ungemein, Trine«, sagte Vito aufgebracht.
Trine verdrehte die Augen. Manchmal klang ihr jüngerer Spielkamerad schon wie sein Vater, der Rechtsanwalt. »Hubertus von Steben geht bestimmt gleich wieder«, sagte sie. »Der hat doch gesehen, dass wir nur Kinder sind, und weiß, dass wir gleich nach Hause müssen.« Jedenfalls musste Vito pünktlich zu Hause sein. Ihr Vater saß bestimmt immer noch vor seinem Computer und spielte. Der würde kaum mitbekommen, ob seine jüngere Tochter zu Hause war oder nicht. Und ihre große Schwester Friederike war sicher noch bei ihrem neuen Freund. Dem tätowierten, den Trine nicht mochte …
Vito schlang die Arme um den mageren Körper. »Mir ist kalt, und ich habe Hunger. Außerdem wird es gleich dunkel. Auf der Insel zu spielen war eine echt blöde Idee von dir.«
Hunger, Pipi, kalt … So sind Mädchen halt, dachte Trine spöttisch. Von wegen Mädchen … Doch sie hütete ihre Zunge. Vito war nicht nur ihr bester, sondern auch ihr einziger Freund.
»Ich klettere auf den Aussichtsbaum und sage Bescheid, wenn die Luft rein ist.« Sie klang zuversichtlicher, als sie sich fühlte. Wer wusste, ob von Steben nicht wirklich seinen Hund auf sie hetzte? Er hatte bei ihrem Anblick wütend ausgesehen.
Ihre Mutter hatte ihn mal »die moderne Version eines mittelalterlichen Feudalherrn«, genannt, nachdem sie ihn im Schützenhof auf einer Veranstaltung kennengelernt hatte. Trine hatte nachgefragt, was ein Feudalherr sei, und ihre Mutter hatte es ihr ausführlich und spannend erklärt. Trine vermisste sie schrecklich.
Oben, in der Astgabel der alten Weide, war Trine hinter dicht hängenden Zweigen verborgen. Wenn sie sie ein wenig zur Seite bog, hatte sie einen guten Blick auf das Ufer jenseits der Insel.
Hubertus von Steben machte nach etwa fünf Minuten auf dem Absatz kehrt und ging mit seinem Hund bei Fuß zurück in Richtung der großen Scheune. Er sah sich noch zweimal zum Teich hin um und verschwand dann durch das Scheunentor aus ihrem Blickfeld.
Trine ließ sich an der Weide hinabgleiten, wobei sie sich den linken Oberarm aufschürfte. Sie landete neben Vito, der am Baumstamm lehnte und auf sein Handy starrte.
»Ich habe meiner Mutter geschrieben, dass ich ein bisschen später komme«, sagte er.
»Na toll. Wir können jetzt gehen. Die Luft ist rein.«
Vito stieß sich mit einem Seufzer vom Stamm ab. »Ich kriege bestimmt Ärger. Die warten alle schon mit dem Abendessen auf mich.«
Trine zuckte mit den Schultern. Auf sie wartete niemand.
Zu Hause angekommen, nahm Trine das Fundstück aus dem Teich aus der Jackentasche. Sie wischte noch einmal darüber, hielt es ins Licht der Deckenlampe und wusste immer noch nicht, worum es sich dabei handelte. Mit viel Fantasie konnte man anhand der Form und der Verzierungen einen Reiter auf einem Pferd und eine weitere Person erkennen. Es sah besonders aus, und es war ihres.
Sie wickelte das Fundstück in ein Papiertaschentuch und legte es ganz nach hinten in ihre Nachttischschublade, wo weder ihre Schwester noch ihr Vater jemals reinschauten – hoffte sie.
Ihrer Mutter hätte sie das seltsame Ding gezeigt. Cornelia Seibold hatte viel gelesen, auch historische Romane, und sich für Geschichte interessiert. Als eine Archäologiestudentin in die alte Tagelöhnerkate am Gut eingezogen war, hatte Trine gedacht, dass die beiden Frauen sich gut verstanden hätten. Ihrer Mutter war es nicht schwergefallen, mit Menschen in Kontakt zu kommen. Ihre fünfzehnjährige Schwester Friederike, von allen Fietsche genannt, war ihr in dieser Hinsicht ähnlich. Sie selbst hingegen …
Nun, sie hoffte, dass sie nicht zu sehr nach ihrem wortkargen, in sich gekehrten Vater kam. Er würde vielleicht wissen, was sie vorhin in dem Teich gefunden hatten. Aber entweder würde er darauf bestehen, dass sie es auf dem Gut abgab, weil es ihr nicht gehörte, oder er würde es ihr womöglich abnehmen und verkaufen. Er hatte vor ein paar Monaten seinen Job verloren. Seither war das Geld knapp. Trine wusste nicht genau, was eine Hypothek war, doch dass sie ihr Haus behalten mussten, leuchtete ihr ein.
Trine zog sich aus, legte ihre verschmutzten Sachen über einen Stuhl und huschte ins Bad. Sie besah sich die abgeschabte Stelle an ihrem Arm im Spiegel. Es schien nicht allzu schlimm zu sein.
Nach einer Katzenwäsche und einem schnellen Zähneputzen schlüpfte sie in ihr ungemachtes Bett. Auch sie war hungrig, doch sie wollte nicht noch mal runter in die Küche gehen. Von vorhin, als sie aus der Schule gekommen war, wusste sie, dass nur noch ein Stück Pizza von vorgestern, Tomatenketchup, Senf und etwas H-Milch sowie ein paar Flaschen Bier und Cola im Kühlschrank waren.
Sie vergrub ihr Gesicht in den Kissen und kniff die Augen zu. Morgen würde sie sich um ihren geheimnisvollen Fund kümmern. Vielleicht hatte sie Glück, und er war wertvoll. Sie malte sich aus, wie sie ihrem Vater verkündete, dass sie ihm Geld für ihr Haus geben könnte, und wie er sie daraufhin gerührt an sich drückte und sagte, dass nun alles gut werden würde. Doch sie fürchtete, dass niemals wieder alles gut werden würde. Und schlafen konnte sie um diese Uhrzeit auch noch nicht.
Trine tippte auf den Abspielknopf des Kassettenrekorders und ließ sich in die Welt von drei jugendlichen Amateurdetektiven in Rocky Beach entführen.
Die letzten Sonnenstrahlen des Frühlingstages fielen zwischen den Zweigen der alten Obstbäume auf den Rasen, wo sie lange, verzerrte Schatten warfen. Pia richtete sich mit einem leisen Stöhnen aus dem Beet auf und rieb sich den Rücken. Verstohlen sah sie sich nach ihrem Freund Marten um.
Als sie am Nachmittag hier angekommen war, war Marten schon fast mit dem Vertikutieren fertig gewesen. Seitdem harkte er Bahn für Bahn die Rasenfläche ab und befüllte mit dem losen Material Schubkarre um Schubkarre. Er bewegte sich kraftvoll und effizient, als hätte er sein Leben lang nichts anderes gemacht, doch allmählich sollte er doch auch mal müde werden, oder? Marten hatte seine Jacke ausgezogen und über die Astgabel eines der alten Apfelbäume gelegt. Unter seinem Shirt sah sie seine Schultermuskeln arbeiten, und er schwitzte bei der anstrengenden Arbeit. Morgen würde er nach der ungewohnten Tätigkeit wahrscheinlich Muskelkater haben.
Doch Marten hatte es ja so gewollt, als er sich das alte Haus mit dem großen Grundstück gekauft hatte. Auch ihr tat langsam der Rücken weh. Pia hatte erst zwei Drittel des Beetes vom Unkraut befreit. Inzwischen war es kurz vor halb acht. Die Tage wurden schon wieder deutlich länger.
Es war Zeit aufzuhören. Ihr Exfreund Hinnerk hatte ihr zugesagt, dass er ihren Sohn Felix spätestens um halb acht Uhr zu ihr bringen würde. Er hatte ihn heute in Lübeck von der Schule abgeholt. Hinnerk fuhr ihn ausnahmsweise schon am selben Abend wieder zurück, weil er übers Wochenende mit seiner Frau Mascha und seiner Tochter Rike Freunde in Heiligenhafen besuchen wollte.
Manchmal wunderte Pia sich, welche verschlungenen Wege ihr Leben genommen hatte, seit es Felix gab. Die Schwangerschaft vor acht Jahren war nicht geplant gewesen. Pia hatte zu dem Zeitpunkt gerade erst bei der Mordkommission der Lübecker Kriminalinspektion richtig Fuß gefasst. Außerdem war sie frisch von ihrem Freund Hinnerk getrennt gewesen und war danach während eines beruflich bedingten Aufenthalts in Italien Marten Unruh wiederbegegnet. Marten Unruh, ein Kollege, mit dem sie Jahre zuvor einmal kurz zusammen gewesen war.
Als sich nach all dem Wirrwarr herausgestellt hatte, dass sie schwanger geworden war, war sie bestürzt und ratlos gewesen. Marten hatte zu der Zeit weiterhin als verdeckter Ermittler im Ausland gearbeitet, und sie hatte ihn nicht erreichen können. Das war ihre Ausrede dafür gewesen, dass sie ihm lange nichts von der Schwangerschaft und Felix’ Existenz erzählt hatte.
Stattdessen hatte sich Hinnerk trotz der Tatsache, dass sie nicht mehr zusammen waren, stets gut um Felix gekümmert. Als er ihr mitteilte, dass er laut einem DNA-Test tatsächlich Felix’ Vater sei, hatte sie keinen Grund, das anzuzweifeln. Doch die Aussage stellte sich später als falsch heraus.
Felix wuchs in dem Glauben auf, dass Hinnerk sein Vater war und dessen jüngere Tochter Rike seine Halbschwester. Hinnerks neue Familie wurde auch zum Teil Felix’ Familie. Um ihm das nicht zu nehmen, stimmte Pia weiterhin seinen regelmäßigen Wochenendbesuchen bei Hinnerk zu.
Doch inzwischen spürte sie Martens Erwartung, dass Felix erfuhr, wer sein Vater war. Immerhin verbrachte sie mittlerweile beinahe jedes freie Wochenende hier bei ihm an der Ostsee, und Felix begleitete sie oft.
Marten war im Gegenzug unter der Woche oft bei Pia in Lübeck, auch wenn er inzwischen beim LKA in Kiel arbeitete und dann einen langen Arbeitsweg hatte. Doch bisher hatte Pia noch nicht den richtigen Zeitpunkt und die richtigen Worte dafür gefunden, Felix mitzuteilen, dass Marten sein Vater war und nicht Hinnerk. Das Ganze würde wahrscheinlich ein Schock für Felix sein und sein bisheriges Weltbild auf den Kopf stellen, egal, wie sehr er Marten mochte und vertraute. Diese Situation belastete Pia zunehmend.
Das Geräusch eines Autos, das vor dem Haus vorfuhr und bremste, riss sie aus ihren Gedanken. Pia streifte sich die Gartenhandschuhe ab und ließ sie und die kleine Hacke fallen. Marten hatte den Wagen ebenfalls gehört und drehte sich zu ihr um.
»Das sind bestimmt Felix und Hinnerk. Ich gehe erst mal allein zu ihnen«, sagte sie. »Mal schauen, wie die Stimmung so ist …«
Marten schirmte die Augen mit der Hand gegen die tief stehende Sonne ab. »Okay. Wie du meinst.« Er wusste um die zurzeit recht angespannte Situation. Obwohl Hinnerk mit Mascha und Rike eine eigene Familie hatte, reagierte er meistens ungewöhnlich gereizt, wenn er Marten begegnete. In gewisser Hinsicht konnte Pia das sogar verstehen.
Hinnerk hatte Pia einmal gestanden, dass er behauptet hatte, Felix’ Vater zu sein, weil man ihm mal diagnostiziert hatte, keine Kinder zeugen zu können. Dass es dann mit seiner Tochter Rike später doch noch geklappt hatte, kam angeblich einem kleinen biologischen Wunder gleich. Doch diese besonderen Umstände machten Hinnerk wohl empfindlich Martens Beziehung zu Felix gegenüber.
Pia lief um das Haus und erreichte die Zufahrt, als Felix aus dem Auto stieg. Er stürmte auf sie zu, sobald er ihrer ansichtig wurde, und sie hob ihn hoch und schloss ihn in die Arme. Lange würde sie ihn nicht mehr so mühelos hochheben können.
Hinnerk kam mit Felix’ Rucksack in der Hand auf sie zu. Pia ließ ihren Sohn hinabgleiten. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Mascha auf dem Beifahrersitz saß, aber keine Anstalten machte, ebenfalls auszusteigen. »Hallo, Hinnerk! Vielen Dank, dass du Felix hergebracht hast.«
»Kein Problem. Es lag ja beinahe auf dem Weg. Wir fahren gleich weiter nach Heiligenhafen.«
»Das hat ja gut gepasst.«
Er blickte mit einem wachsamen Ausdruck im Gesicht über Pias Schulter. »Na ja«, wiegelte er ab. »Das war jetzt aber eine Ausnahme. Felix sagt, dass ihr öfter hier seid …« Er steckte die Daumen in die Hosentaschen und sah sich mit zusammengekniffenen Augen um. »Ist die Hütte gemietet?«
»Nein, Marten hat das Haus gekauft.«
»Ganz schön abgelegen.«
Felix blickte leicht verwirrt zu Hinnerk auf. Dann zupfte er an seiner Hand. »Komm, ich zeig dir mein Baumhaus. Es ist noch nicht ganz fertig, aber …«
Hinnerk schaute Pia fragend an, ließ sich dann jedoch von Felix mitziehen. »Aber nur ganz kurz«, hörte sie ihn zu ihm sagen. »Mascha und Rike warten ja im Auto auf mich.«
Pia folgte den beiden in den Garten. Sie hatte ein ungutes Gefühl. Hinnerk betrachtete mit vor der Brust verschränkten Armen das Baumhaus in der alten Weide. Auf Felix’ Bitte hin stieg er widerstrebend die ersten drei Sprossen der Leiter hinauf, um sich das Innere des Holzhäuschens anzusehen.
Marten kam hinzu, und auch Pia trat näher. Die Männer begrüßten einander, als Hinnerk wieder auf festem Boden stand. Dieser erwiderte den Gruß reserviert. Dass Felix ihm voller Stolz und Enthusiasmus schilderte, wie Marten und er das Baumhaus gemeinsam gebaut hatten, machte die Situation offensichtlich nicht besser.
»Ist es nicht zu gefährlich für Felix?«, wandte Hinnerk sich an Pia. »Ich meine die Höhe.«
»Er ist vorsichtig und sehr geschickt. Du solltest ihn mal beim Turnen sehen. Ich will ihn nicht in Watte packen.«
»Ich weiß, wie gut Felix turnen kann«, presste Hinnerk hervor. »Bei mir im Garten klettert er immer in die alte Kastanie, so hoch, dass es Mascha schon beim Zusehen mulmig wird.«
»Dann ist das mit der Höhe und Gefährlichkeit des Baumhauses ja geklärt«, sagte Marten ruhig.
Hinnerk ging nicht darauf ein, sondern sprach wieder ausschließlich zu Pia. In seine Tonlage hatte sich ein aggressiver Unterton gemischt. »Felix hat mir erzählt, dass du überlegst, in Zukunft noch öfter hier zu sein.«
Pias Sohn blickte verunsichert von Hinnerk zu ihr.
»Komm, Felix. Hilfst du mir, die Schubkarre wegzubringen?« Marten lächelte ihm aufmunternd zu. »Ich habe die aus Versehen zu voll beladen.«
Pia war erleichtert, als sich ihr Sohn ein Stück von ihnen entfernt in die Schubkarre heben ließ und sich von Marten damit herumfahren ließ. So musste der Junge sich das unerfreuliche Gespräch zwischen Hinnerk und ihr nicht weiter anhören. »Ich hätte es dir lieber selbst gesagt. Aber ja, wir werden in Zukunft wohl an den Wochenenden oft bei Marten sein. Felix und ich fühlen uns hier sehr wohl.«
Hinnerk schnaubte. »Ihr wollt doch nicht etwa ganz herziehen?«
»Ich weiß es ehrlich gesagt noch nicht. Aber nein, ich glaube, eher nicht.«
»Sagst du das nicht auch nur so? Ich habe das Gefühl, dass du mir etwas verschweigst!«
»Ich verschweige dir gar nichts. Ich muss mir selbst erst mal klar darüber werden, was ich will und was sinnvoll ist, bevor ich dich informiere«, antwortete Pia.
»Bei Felix klang es aber schon so, als würde er bald hier einziehen«, beharrte Hinnerk.
»Er ist ein Kind. Für ihn ist es stimmungsabhängig, was er gerade will und was nicht. Aber von dieser Entscheidung hängt so einiges ab. Seine Schule und nicht zuletzt auch die Frage, wie die Wochenenden dann organisiert werden können.«
»Ach, tu doch nicht so!« Er kickte einen Erdklumpen vor seinem Schuh weg.
Pia zog die Augenbrauen zusammen. »Was meinst du?«
»Seit dieser Kerl mit im Spiel ist, ist es nicht mehr dasselbe mit Felix.«
»Er heißt Marten. Und es war auch nicht mehr dasselbe für Felix, als du mit Mascha zusammengekommen bist«, erwiderte Pia.
»Das war doch etwas ganz anderes. Mascha und ich sind jetzt verheiratet!«
»Ach ja, das ist so anders?«
»Willst du etwa auch noch einen Polizisten heiraten, Pia? Reicht nicht ein Polizist in Felix’ Leben?«
Sie wurde wütend und versuchte, langsam und ruhig zu atmen. Pia war nur froh, dass Marten Felix wohlweislich ein Stück entfernt von ihnen beschäftigte und ihn so von dem unschönen Streitgespräch fernhielt. Gleichzeitig schien Marten aufmerksam zu beobachten, was vor sich ging. An seiner Körperspannung sah sie, dass er bereit war einzugreifen, falls es nötig werden würde. Als könnte sie nicht selbst mit Hinnerk fertigwerden.
»Weißt du, was? Ich diskutiere das hier und jetzt nicht mit dir. Es ist nicht der passende Zeitpunkt«, sagte sie.
Hinnerk machte eine Bewegung, als wollte er sie am Arm packen, überlegte es sich jedoch nach einem scharfen Blick von Pia gerade noch rechtzeitig anders und ließ die Hand wieder sinken. »Wie du meinst. Aber das Thema ist damit noch nicht erledigt, Pia.« Sein Blick flog kurz zu Marten. »Ich lasse mir Felix nicht wegnehmen. Von niemandem.«
Marten hatte ihren Sohn inzwischen ins Haus geschickt und ihm nachgesehen, bis er durch die Terrassentür verschwunden war. Jetzt blickte er zu ihnen herüber. Pia musste nun nicht nur ihren aufgebrachten Exfreund beruhigen, sondern womöglich auch noch Marten daran hindern, sich einzumischen.
»Ich werde dir Felix nicht wegnehmen. Das ist nicht meine Absicht«, sagte sie in gedämpftem Tonfall. »Aber du gehst jetzt besser. Ich glaube, Mascha und Rike sitzen seit zehn Minuten im Wagen und warten auf dich.«
Er runzelte die Stirn, nickte dann jedoch. »Sei froh, dass ich keine Zeit mehr habe. Und ich will mich noch von Felix verabschieden. Wo ist er denn hin?«
»Er ist ins Haus gegangen. Ich schicke ihn noch mal zu dir zum Auto raus, damit ihr Tschüss sagen könnt.«
»Du denkst, du hast alles im Griff, Pia, was?« Er stapfte in Richtung seines Wagens davon.
»Das habe ich wohl eher nicht …«, murmelte sie leise. Sie atmete aufgebracht ein und aus.
Marten stand auf einmal neben ihr. »Alles in Ordnung?« Er legte ihr eine warme Hand zwischen die Schulterblätter.
»Für den Moment schon. Aber wir werden sehen«, sagte sie. »Ich muss Felix noch kurz zu Hinnerk rausschicken, damit sie sich verabschieden können.«
»Was hat ihn denn so wütend gemacht?«
»Erzähle ich dir später.«
Marten musterte sie nachdenklich. »Ich räum die Sachen hier draußen weg. Und zum Abendbrot lade ich euch zum Essen ein.«
»Wir können auch Brote essen.«
»Nein, du siehst so aus, als bräuchtest du eine kleine Aufmunterung.« Er blickte ihr in die Augen. »Nein, eher eine mittelgroße …«
Pia lächelte. »Dann gehen wir zum Italiener«, sagte sie. »Nudeln helfen immer.«
Trine saß im Bett und balancierte auf den Beinen eine Schale mit Schokomüsli und H-Milch als Frühstück auf einem Tablett, als es an der Haustür klingelte. Sie warf einen Blick auf den Wecker: halb zehn Uhr morgens. An einem Samstag konnte das eigentlich nur ein Paketbote sein, der ein Päckchen für ihre Nachbarn in der Haushälfte nebenan loswerden wollte.
Sie schaltete den Kassettenrekorder aus und lauschte, ob ihr Vater oder ihre Schwester zur Tür gingen. Sie hoffte, dass ihr Papa schon aufgestanden und angezogen war. Am vergangenen Abend hatte er wieder bis spät in die Nacht vor dem Computer gesessen. Als sie um halb vier einmal aufgewacht und zur Toilette gegangen war, hatte sie die Geräusche eines Computerspiels aus dem Wohnzimmer gehört. Und ihre Schwester schlief wohl noch oder hatte bei einer Freundin übernachtet.
Es klingelte erneut, diesmal mit Nachdruck. Trine schwang die Beine aus dem Bett. Die Müslischale neigte sich beim Abstellen bedenklich zur Seite, und Milch schwappte auf das Plastiktablett. Sie setzte es auf dem Fußboden ab und war mit wenigen Schritten am Fenster.
An der Straße vor dem Haus parkten weder ein Auto noch ein Lieferwagen. Nicht einmal ein Lastenfahrrad. Doch als Trine sich ganz an die Seite des Fensters stellte, konnte sie unten im Eingangsbereich breite Schultern und einen dunkelblonden kurzen Haarschopf erkennen. Als der Mann zurücktrat, um am Haus heraufzuschauen, wich sie schnell zurück.
Es war Hubertus von Steben, der Vito und sie gestern beinahe auf seinem Grundstück erwischt hätte. Oh, Mist! Ihr Herz klopfte schneller. Sie könnte zurück ins Bett gehen und so tun, als hätte sie nichts gehört. Doch das würde nur einen Aufschub des drohenden Ärgers bedeuten.
Sie hörte ein Poltern, als ihr Vater die Holztreppe hinunterstapfte. »Ja, ja, schon gut. Ich komme ja!«
Die Haustür wurde geöffnet, und der Mann war vom Fenster im Obergeschoss aus nicht mehr zu sehen. Offensichtlich hatte ihr Papa ihn eintreten lassen. Sie hörte gedämpft Stimmen. Dann rief ihr Vater etwas lauter: »Trine! Kommst du bitte mal!«
Und sie war noch im Schlafanzug. »Gleich, Paps.«
»Nein, jetzt sofort.«
»Ich bin in einer Sekunde da.« Sie schnappte sich den alten rosa Morgenmantel, ein Erbstück von ihrer Schwester, der an einem Haken hinter der Tür hing, und schlüpfte in die Hausschuhe in Form von Bärentatzen. Die schlecht gedämmte Doppelhaushälfte aus den Dreißigerjahren war fußkalt. Sie trugen alle das ganze Jahr über dicke Hausschuhe.
Mit grummelndem Magen schlich Trine die Treppe hinunter. Ihr Vater und von Steben waren anscheinend in die Küche gegangen.
Ihr Papa stand am Kühlschrank und hatte sich gerade eine Flasche Cola herausgeholt. Immerhin trug er an diesem Morgen einen Jogginganzug und war rasiert.
Hubertus von Steben lehnte ihm gegenüber an der vollgestellten Arbeitsplatte. Er wirkte deplatziert in ihrem Haus, hatte aber eine gleichgültige Miene aufgesetzt. Wut und Ärger, die Trine am vergangenen Tag an ihm wahrgenommen hatte, versteckten sich hinter »milder Arroganz«. Sie freute sich, dass ihr dieser Ausdruck aus einem ihrer Hörspiele eingefallen war, aber das war wohl auch der einzige Grund zur Freude an diesem Morgen.
Von Steben kniff die Augen zusammen und musterte sie. »Guten Morgen. Du bist Katharina, nicht wahr?«
»Ja, das ist meine Jüngste. Wir nennen sie Trine«, sagte ihr Vater.
»Ich war eben bei deinem Freund Vito, Katharina.«
Sie verkniff sich ein »Wie schön für Sie«. Immer, wenn sie sich unwohl fühlte, hatte sie das Bedürfnis, frech zu werden. Das hatte ihr schon oft Ärger eingebracht.
»Ihr wart gestern bei mir am Teich. Ich habe euch gesehen«, sagte von Steben ernst.
Sie nickte. Wenn er vorher bei Vito gewesen war, war Leugnen zwecklos.
»Ihr wisst, dass es zu gefährlich ist, auf dem Gutsgelände zu spielen. Deswegen stehen da auch die Verbotsschilder. Ihr könnt doch sicher lesen?«
»Ja, können wir«, stieß sie hervor.
Von Steben wandte sich an Trines Vater. »Ich dulde nicht, dass Kinder auf meinem Grundstück spielen. Was ist, wenn ihnen dort etwas passiert? Oder wenn etwas kaputtgeht, was dann ersetzt werden muss? Sorgen Sie dafür, dass das nicht wieder vorkommt.«
»Natürlich«, antwortete ihr Vater, nachdem er die Flasche abgesetzt hatte. »Du hast es gehört, Trine.«
»Sie haften für Ihre Kinder, Herr Seibold.«
»Schon klar.« Ihr Vater bedachte sie mit einem strengen Blick. »Es kommt nicht wieder vor.«
Von Steben sah von einem zum anderen. »Also gut. Zum Glück ist vorerst nichts passiert. Die Eltern des Jungen haben volles Verständnis für meine Intervention und unterstützen mich. Sie sollten Ihrer Tochter auch noch einmal ins Gewissen reden.«
»Mach ich, mach ich. Du hast es gehört, Trine!« Ihr Vater zwinkerte ihr zu. Trines Herz flog ihm in diesem Moment zu. Von Steben runzelte die Stirn.
Sie starrte auf die plüschigen Bärentatzen an ihren Füßen. Der Mann sollte jetzt gehen. Dann war alles gut. Sie würden halt nicht so schnell wieder auf der Insel spielen, Vito und sie. Oder noch besser aufpassen, damit sie nicht erwischt wurden. In gewisser Weise erhöhte das die Spannung. Doch so, wie sie Vito einschätzte, traute er sich wohl erst mal nicht wieder dorthin.
Von Steben trat einen Schritt vor und strich sich über den Jackenärmel, der mit der Arbeitsplatte in Kontakt gekommen war. »Das haben wir geklärt. Nichts für ungut, Katharina.« Er wandte sich zur Tür. »Nur eines noch: Vito hat mir gesagt, dass ihr ein recht interessantes Ding in meinem Teich gefunden habt.«
Sie sah erschrocken auf.
»Was auch immer es ist: Es gehört mir oder besser gesagt meiner Familie. Das ist dir doch klar?«
»Das war nur Müll«, erwiderte Trine. »Eine alte Scherbe. Wir haben Tom Sawyer gespielt und so getan, als wäre es ein Schatz …«
»Mark Twains Tom Sawyer und Huckleberry Finn?« Ein amüsiertes Lächeln hellte seine eben noch gelangweilten Züge auf.
»Kennen Sie die Bücher?«
»Natürlich«, sagte von Steben. »Es freut mich, dass ihr noch Interesse an den guten alten Geschichten habt.« Er blickte sie zum ersten Mal richtig an.
»Unsere Katharina ist eine richtige Leseratte«, warf ihr Vater ein.
Trine zuckte mit den Schultern. Würde von Steben jetzt endlich gehen?
Er beachtete ihren Vater nicht, sondern schaute ihr in die Augen. »Du hast mich verstanden, Katharina. Egal, was ihr in unserem Teich gefunden habt: Ich will es zurückhaben.«
»Ich … habe es leider nicht mehr«, stammelte Trine. Eine warme Woge stieg ihr zu Kopf. »Auf dem Nachhauseweg habe ich es mir noch einmal angeschaut. Es war wirklich nur eine alte Scherbe. Ich habe sie in den Graben geworfen.«
Hubertus atmete langsam aus, als strapazierte das Gespräch seine Geduld über alle Maßen. Dann sagte er: »Vito hat mir euer Fundstück genau beschrieben. Das war nicht nur eine alte Scherbe. Und egal, was es ist: Es gehört der Familie von Steben.«
»Trine kann ja heute noch mal danach suchen gehen und bringt es Ihnen, sobald sie es gefunden hat«, schlug ihr Vater vor.
»Wie denn, wenn ich das heilige Grundstück nicht betreten darf?«, hätte Trine am liebsten gerufen. Stattdessen starrte sie trotzig auf die Magneten an der Kühlschranktür. Ein englischer Schulbus und eine Maus.
»Also gut. So machen wir es«, sagte von Steben. »Danke für Ihre Kooperation, Herr Seibold.«
»Was ist denn in den gefahren?«, fragte Trines Vater, als Hubertus von Steben das Haus verlassen hatte. »Was spielt der sich so auf? Und was um Gottes willen habt ihr da bloß im Teich gefunden?«
»Ach, das war wirklich nichts.«
»Trine.« Ingo Seibold versuchte, streng zu gucken.
»Musstest du ihm unbedingt sagen, dass ich es suchen gehe?«, begehrte sie auf, doch sie schämte sich sofort dafür, als sie seinen betrübten Gesichtsausdruck sah.
»Diebstahl bleibt Diebstahl. Und wir sind auf die Leute hier angewiesen. Ich wollte, es wäre anders …«, murmelte er und strich ihr über das zerzauste Haar.
»Ich finde das Ding bestimmt nachher wieder«, murmelte sie. »Und dann bring ich es zurück. Du kannst dich auf mich verlassen.«
»Zeig es mir vorher ruhig einmal.«
»Geht klar, Paps.«
»Wer war das eben, Hubi?«, erkundigte sich Monika von Steben bei ihrem Sohn. Seine Mutter war eine Minute zu früh die Treppe heruntergekommen. Hubertus hatte gerade erst die Tür hinter dem Nachbarn, der stundenweise für ihn arbeitete, geschlossen. Sie hatte wohl noch etwas von dem Gespräch mitbekommen. Nur, wie viel?
Insgeheim ärgerte Hubertus sich, dass Jork Althoff an diesem Tag an der Vordertür geklopft und einfach so die Halle betreten hatte. Noch ärgerlicher war allerdings, dass die kleine Katharina Seibold seinem Angestellten das Fundstück gegeben hatte, anstatt es ihm persönlich zu überreichen. Es schien sich um ein antikes Stück zu handeln. Das war interessant, konnte aber auch Unannehmlichkeiten bedeuten. Wie er damit weiter verfuhr, das wollte er allein entscheiden. Rasch ließ er es in seiner Jackentasche verschwinden.
»Niemand. Also … Es war nur Jork, der etwas wegen der Drainage mit mir besprechen wollte.«
»Jork Althoff? Wie geht es ihm?«, erkundigte sich seine Mutter, während sie nach ihrer Lederjacke an der Garderobe griff.
»Gut anscheinend.« Er half ihr hinein. »Wieso fragst du?«
Sie nahm ihre schwarze Baskenmütze vom Haken und setzte sie auf. Innerlich rollte Hubertus mit den Augen. Seine Mutter war mit ihren einundsechzig Jahren eine fitte und auch noch recht jung wirkende Frau. Doch von jeher machte sie so gar nichts aus sich. Sie kleidete sich meistens wie die Studentin, die sie in den Achtzigern gewesen war.
Monika von Steben warf einen Blick in den halb blinden antiken Spiegel und zog die Mütze zurecht, bis sie keck seitlich auf ihren kurzen braunen Haaren saß. »Warum sollte ich nicht fragen? Er ist unser Nachbar, und du verbringst viel Zeit mit ihm. Ich hatte ihn jetzt ein paar Tage nicht gesehen.«
»Ich verbringe Zeit mit ihm, weil er für uns arbeitet. Also wirklich, Mutter! Ich würde meine Zeit lieber mit anderen Leuten verbringen.«
»Tatsächlich?« Sie lächelte spöttisch. »Mit wem denn?«
»Na, mit … euch natürlich.« Das Wort »unseresgleichen« schluckte er herunter, damit sie sich nicht zu einer Diskussion über Gleichberechtigung und soziale Verantwortung mit ihm herausgefordert fühlte. Wenn seine Familie sich ein wenig mehr für die Landwirtschaft und das Gut interessieren würde, müsste er all dem hier nicht sein gesamtes Leben opfern.
Zu seinem Leidwesen waren sich weder sein Vater noch seine Mutter der besonderen Verantwortung bewusst, die Gut Hövelau und die Familiengeschichte für sie alle bedeutete. Wenn er seine nächsten Angehörigen so beobachtete, dachte Hubertus oftmals, dass sich sicher eine erkleckliche Anzahl ihrer Ahnen ihretwegen in ihren Gräbern auf dem Familienfriedhof umdrehten.
»Was hat Jork dir denn da eben gegeben, Hubi?«
»Nichts Besonderes, Mutter. Etwas, was zwei Kinder gestern bei uns im Teich gefunden haben.«
»Welche Kinder? Haben sie auch Namen?«
»Katharina Seibold und Vito Zell. Du kennst sie nicht«, antwortete er.
»Doch, natürlich. Die Zells sind doch Rechtsanwalt und Schulsekretärin, und dem armen Ingo Seibold ist vor zwei Jahren die Frau an Krebs verstorben. Er muss sich seitdem allein um seine zwei Töchter kümmern. Ich wollte mich längst mal wieder bei ihm erkundigt haben, wie er inzwischen zurechtkommt.«
»Eine gute Idee, Mutter«, sagte er in dem Versuch, sie von dem Gegenstand in seiner Jackentasche abzulenken. »Das Haus der Seibolds wirkte etwas verwahrlost auf mich. Die Kleine – Katharina heißt sie wohl – war heute Vormittag um halb zehn noch im Schlafanzug.«
»Ach, es ist ja Wochenende. Aber woher weißt du das denn? Warst du dort?«
»Ja. Doch ich muss jetzt dringend los. Die Saisonarbeiter warten auf dem Feld auf mich.«
»Moment noch, Schatz!« Sie fasste ihn am Arm. »Ich bin gern informiert, was vor sich geht. Du kümmerst dich um den Betrieb und die Geschäfte, ich mich um die Menschen. Was für ein Gegenstand aus dem Teich ist so wichtig, dass Jork extra herkommt, um ihn dir persönlich zu übergeben?«
Hubertus zog die Fibel aus der Tasche und legte sie ihr etwas unsanft in die geöffnete Hand. Seine Mutter gab nie nach. Da konnte er auch gleich tun, was sie von ihm verlangte, und danach seiner Wege gehen.
Sie drehte die unregelmäßig geformte Scheibe in dem Licht, das durch das Bleiglasfenster neben der Eingangstür in die ansonsten düstere Halle fiel. »Ein interessantes Stück. Ist sie aus Bronze mit goldenen Verzierungen? Sie sieht alt aus. Was denkst du, worum es sich handelt?«
»Es könnte eine antike Gewandfibel sein, Mutter. Frühes Mittelalter vielleicht?«, teilte er ihr widerstrebend mit.
»Oh, Hubi, das ist aber aufregend!«
»Aufregend? Es kommt vor allen Dingen ungelegen«, erwiderte er. »Das Ding wurde auf unserem Grund und Boden gefunden.«
»Ich dachte, du und dein Vater, ihr interessiert euch für die Vergangenheit von Gut Hövelau.«
»Wenn ich den Fund der Denkmalschutzbehörde melde, kommen die vielleicht auf die Idee, hier irgendwelche Ausgrabungen durchzuführen. Das könnte den landwirtschaftlichen Betrieb empfindlich stören. Und außerdem wäre es unangenehm, so viele Fremde hier zu haben.«
»Aber ist man nicht dazu verpflichtet, etwaige Funde der Denkmalschutzbehörde zu melden?«, fragte Monika.
»Das ist nicht so einfach«, stieß Hubertus hervor. »Denk mal an das, was vor zwei Jahren passiert ist.«
Seine Mutter brauchte eine Sekunde, bis sie begriff. Dann sah sie ihn erschrocken an. »Du glaubst, es könnte etwas mit der vermissten Archäologiestudentin zu tun haben, der wir die Kate vermietet hatten?«
»Es wäre möglich«, räumte Hubertus ein.
»Oje, ich verstehe!«
»Was wäre möglich?« Hubertus’ Vater, Justus von Steben, musste den letzten Satz mit angehört haben, als er aus der Tür des Esszimmers getreten war. »Und was ist das hier? Eine spontane Familienratssitzung?«
»Hubertus hat mir gerade dieses antike Schmuckstück gezeigt, Justus.« Monika von Steben reichte ihrem Mann die Fibel. »Katharina, die Tochter von Ingo Seibold, hat es angeblich in unserem Teich gefunden.«
»In unserem Teich? Du meine Güte!«
»Mutter meint, wir sollten es der Denkmalbehörde melden.« Hubertus legte eine gehörige Portion Skepsis in seine Stimme. Das letzte Wort darüber würde wohl oder übel sein Vater haben.
»Meinst du wirklich, Monika?« Justus von Steben betrachtete die Fibel stirnrunzelnd.
»Wir dürfen nichts überstürzen«, sagte Hubertus. »Das Ding lag vielleicht seit Jahrhunderten im Morast des Teichs, da kommt es auf die eine Woche mehr oder weniger auch nicht mehr an.«
»Das ist ein Argument. Und die Behörden legen einem bekanntlich nichts als Steine in den Weg. Wir reden am Sonntag noch mal in Ruhe darüber«, entschied Justus.
Hubertus runzelte die Stirn. Er trug als designierter Erbe für alles die Verantwortung, während seine Eltern in dieser Hinsicht ein eher sorgenfreies Leben führten.
»So machen wir es«, bestätigte seine Mutter und gab Ehemann und Sohn jeweils einen Kuss auf die Wange. »Bis später, ihr zwei.«
Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss. Die beiden Männer sahen sich an. Der Jüngere war sportlich, aber tadellos gekleidet, in dunkler Jeans, hellblauem Hemd und olivgrüner Steppjacke. Der Ältere trug eine zerbeulte Cordhose, einen alten Norwegerpullover und ein flattriges Halstuch, das er sich um den kurzen, beinahe nicht vorhandenen Hals gewunden hatte.
Hubertus hielt seinem Vater die flache Hand mit dem Siegelring der Stebens am Ringfinger hin. »Gibst du sie mir zurück?«
Justus von Steben wog die Fibel in seiner Hand. »Soll ich sie nicht lieber wegschließen?«
»Ich kümmere mich darum, Vater.«
»Wir sollten vorerst wirklich niemandem davon erzählen.« Justus von Steben klang nun nachdenklich, beinahe besorgt.
»Jork Althoff weiß leider schon darüber Bescheid. Ebenso die Seibolds und auch die Zells. Spätestens heute Abend redet das ganze Dorf darüber.«
»Wir werden ja sehen.« Justus von Steben zögerte. »Deine Mutter und ich wollen später im Schützenhof eine Kleinigkeit essen gehen. Wir berichten dir morgen, was die Leute so reden.«
»Ihr wollt in die Dorfkneipe gehen, um Schnitzel und Bratkartoffeln zu essen?«
»Eine Idee deiner Mutter …«
»Das ist mal wieder typisch.« Hubertus verzog das Gesicht.
»Vorsichtig, mein Junge«, mahnte Justus. »Und warum auch nicht? So wissen wir wenigstens, was genau geredet wird. Du wirst mir vielleicht noch dankbar sein.«
Monika und Justus von Steben betraten den Schützenhof in Hövelau um kurz nach acht Uhr. Dass sie damit wohl etwas zu spät dran waren, merkten sie erst, als sie sahen, dass alle Tische bereits besetzt waren. Der Geräuschpegel in dem saalartigen Speiseraum war infernalisch, und die Luft roch nach Bier und Bratkartoffeln.
»Hast du das geahnt?«, raunte Monika ihrem Mann zu, der wie vom Donner gerührt stehen geblieben war. »Mit so vielen Leuten habe ich nicht gerechnet.«
»Es ist Samstagabend.« Justus sah sich um. »Was machen wir nun?«
Monika wurde einer Antwort enthoben. Ilona Kästner, die ein voll beladenes Tablett trug, sprach sie im Vorbeigehen an: »Hallo, ihr beiden! Wollt ihr etwas trinken oder auch essen?«
»Sowohl als auch, meine Liebe. Ich freue mich schon den ganzen Tag auf eure Bratkartoffeln«, antwortete Monika.
Die Wirtin krauste die Stirn. »Es ist alles voll. Ihr hättet früher kommen oder einen Tisch reservieren sollen.«
»Wir können ja erst mal was trinken und dabei auf einen freien Tisch warten«, schlug Justus vor. Monika vermutete, dass ihrem Mann der Magen knurrte. Sie hatten am Mittag nur einen Rest Suppe vom Vortag gegessen, und ihre Teestunde war auch ausgefallen.
Ilona Kästner zuckte mit den runden Schultern. »Wie ihr meint. Aber es kann dauern.«
Monika und Justus wollten sich gerade zwischen einige athletische Mittsechziger in Fahrradmontur an den Tresen zwängen, als ihnen Andreas Weitz, einer ihrer Nachbarn, von einem der Tische am Fenster her ein Handzeichen gab. Monika ging zu ihm und seiner Frau hinüber. Andreas und Carina Weitz hatten je einen kleinen Salatteller und ein Glas Wein vor sich stehen.
»Wollt ihr euch zu uns setzen?« Carina Weitz tupfte sich den makellos geschminkten Mund mit der Serviette ab. »Wenn wir ein bisschen zusammenrücken, passen auch vier Leute an den Tisch.«
»Und es kann dauern, bis wieder etwas frei wird«, ergänzte ihr Mann gut gelaunt. »Hier ist eben ein ganzer Fahrradclub eingefallen.«
»Oh, wie nett von euch! Da sagen wir nicht Nein!« Sie winkte Justus, der ihr zögerlich folgte und das Paar am Tisch begrüßte.
Monika nahm an Andreas Weitz’ Seite Platz. Justus setzte sich neben dessen Frau. Er wirkte weniger begeistert. Monika wusste, dass er während seiner Mahlzeiten nicht gerne mit »fremden« Leuten redete. Davon bekam er angeblich Verdauungsprobleme. Doch er sollte sich gefälligst nicht so anstellen. Der seit Ewigkeiten in Hövelau ansässige praktische Arzt und seine Frau waren wohl kaum als »Fremde« zu bezeichnen. Man kannte sich seit Langem, man respektierte sich. Doch früher war es zwangloser gewesen. Aber Monika wollte sich ihr Verhältnis zu den langjährigen Nachbarn nicht von dem Verhalten ihrer Kinder trüben lassen.
»Wie geht es Hubertus?«, fragte Carina, die möglicherweise das Gleiche dachte. »Ich hoffe, eurem Sohn geht es gut.« Ihre Tochter Penelope war mit Hubertus verlobt gewesen, hatte die Verlobung dann aber wieder gelöst. Zu Penelopes Gunsten musste Monika zugeben, dass Hubertus zwar gekränkt und auch etwas geknickt gewesen war, doch nicht in dem Maße, wie sie es in dieser Situation erwartet hätte.
Justus war es inzwischen gelungen, ihnen etwas zu trinken zu bestellen.
»Hubertus hat ein seltsames …«, sagte Monika.
»Ein seltsames Projekt im Sinn!«, fiel ihr Justus ins Wort.
Monika sah ihren Mann perplex an. Dann verstand sie. Diese dumme Geheimniskrämerei! Sollte er allein sehen, wie er da halbwegs sinnvoll wieder herauskam.
»Was meinst du damit?«, erkundigte sich Andreas auch sogleich. »Was für ein Projekt?«
Justus wand sich ein bisschen. »Er will auf dem Gut wohl noch eine weitere Ferienwohnung ausbauen«, sagte er.
»Lohnt sich das denn mit den Ferienwohnungen?«, fragte Carina.
Monika kam ihrem Mann nun doch zu Hilfe. »Ach, lasst uns heute Abend nicht vom Betrieb oder von Geschäften reden. Wie geht es eurer Tochter?«
»Großartig. Sie hat ihr Zweites Staatsexamen bestanden und ist nun im Praktischen Jahr. Ihr zweites Tertial leistet Penelope an der Universitätsklinik in Heidelberg ab, und es gefällt ihr sehr gut!«
»Wollte sie nicht Handchirurgin werden?«, fragte Monika, die sich daran erinnerte, dass Hubertus das mal erwähnt hatte.
»Ja, das ist immer noch ihr Ziel«, berichtete Carina.
»Wow! Eure Tochter war schon immer ein erstaunliches Mädchen«, stellte Justus neidlos fest. Er bestellte bei Ilona Kästner, die erneut an ihren Tisch getreten war, ihrer beider Abendessen: Schnitzel mit Bratkartoffeln und einen kleinen gemischten Salat.
Carina Weitz musterte ihn währenddessen, als suchte sie bei dem Kompliment für ihre Tochter einen versteckten Haken. Doch Monika kannte ihren Mann besser. Er war offen und direkt und meinte es genau so, wie er es sagte. Dass Penelope damals nach einjähriger Verlobungszeit entschieden hatte, doch nicht die zukünftige Gutsherrin und Frau von Steben zu werden, nahm er ihr nicht übel.
Für Justus als einzigem Sohn seiner adligen Eltern war das Erbe stets mehr eine Last als eine Freude gewesen. Er hatte das Gut nach ein paar halbherzigen Versuchen, es zu führen, einem Verwalter überlassen, der es mehr oder weniger heruntergewirtschaftet hatte. Nun war er heilfroh, den Staffelstab so früh an seinen Sohn Hubertus übergeben zu können. Dafür widmete er sich umso intensiver seinen Forschungen.
»Ich habe eben zufällig etwas von Ferienwohnungen gehört«, sagte die Wirtin und steckte ihren Block weg. »Noch mehr Touristen?«
»Für euch wäre das doch nur von Vorteil«, meinte Andreas Weitz. »Das sind alles neue Gäste.«
»Wir mögen lieber Stammkundschaft«, gab Ilona Kästner zurück. »Auf die ist wenigstens Verlass!«
»Danke, Ilona. Was denkst du, wie lange es mit unserem Essen heute dauert?«, fragte Monika freundlich, aber bestimmt. Es fehlte noch, dass die Wirtin wieder mit der alten Leier anfing.
»Der Koch hat viel zu tun.« Ilona Kästner kniff die Augen zusammen. »In einem Dorf steht man füreinander ein und hilft sich gegenseitig.« Als keiner am Tisch auf ihre spitze Bemerkung reagierte, machte sie auf dem Absatz kehrt und ging.
Monika seufzte leise, und Justus legte ihr mitfühlend die Hand auf den Arm. Nachdem die Studentin Mira Schneider, der sie die renovierte alte Kate vermietet hatten, unter merkwürdigen Umständen aus dem Ort verschwunden war, war Ilona Kästner davon ausgegangen, dass sie sie nun ganz selbstverständlich an Ilonas Nichte vermieten würden. Die Frau hatte zu der Zeit im Schützenhof gearbeitet und sich über ihren langen Arbeitsweg aus Kiel beklagt. Eine Wohnung in Hövelau wäre ideal für sie gewesen.
Doch nach Mira Schneiders Verschwinden hatte Justus die Kate zu einer Ferienwohnung umgebaut, weil er meinte, feste Mieter machten nichts als Probleme.
Die Wirtsleute hatten auf diese Entscheidung so empört reagiert, als hätten sie beziehungsweise ihre Verwandte ein Anrecht auf einen Mietvertrag gehabt. Zu allem Unglück war dieser Streit dann in Hövelau in aller Munde gewesen, und nahezu jeder hatte seine Meinung dazu kundgetan. Endlich war Ruhe um die alte Kate und die unglückseligen Geschehnisse von vor eineinhalb Jahren eingekehrt, und nun fing Ilona Kästner wieder davon an!
Sie plauderten noch über dies und das, und es gelang ihnen, die problematischen Themen weitestgehend zu umschiffen. Ihr Essen wurde serviert, und der Abend versprach doch noch recht angenehm zu werden.
»Da ist ja Jork Althoff«, rief Andreas Weitz, als er sich im Restaurant umschaute. Er hob leicht die Augenbrauen. »Ich glaube, er sucht wen.«
»Wen soll der alte Eigenbrötler schon suchen? Wenn, dann höchstens meinen Sohn Hubertus«, antwortete Justus gleichgültig.
»Glaube ich nicht. Die zwei haben doch vorhin noch …« Monika brach ab. Das Thema, über das sie noch nicht sprechen sollten und wollten, wurde allmählich zu einem großen rosa Elefanten im Raum.
Jork Althoff setzte sich an die Bar. In dem Moment erhob sich Ingo Seibold von seinem Platz und ging mit entschlossener Miene auf Althoff zu.
Monika war besorgt. In dieser Hinsicht hätte doch eine gute Gutsbesitzerfrau aus ihr werden können. Auch wenn sie dafür die falsche Partei wählte, überhaupt nicht so aussah und sich meistens auch nicht so benahm. Doch zumindest hatte sie versucht, Ingo Seibold ein wenig beizustehen, als seine Frau verstorben war und er plötzlich allein mit seinen zwei Töchtern dagestanden hatte.
Sie ahnte, wie schwer er sich mit der Erziehung tat, und inzwischen war er angeblich auch noch arbeitslos. Monika fürchtete, er könnte sich in Schwierigkeiten bringen, dem wütenden Blick nach zu urteilen, den er Althoff zuwarf. Seibold ließ sich nicht oft in der Öffentlichkeit blicken, und außerdem schien er zu viel getrunken zu haben.
Monika erhob sich und stellte sich in Jork Althoffs Nähe an die Bar, als wollte sie noch etwas bestellen.
Tatsächlich rempelte Seibold Althoff beinahe an, fing sich aber rechtzeitig an der Rückenlehne von dessen Barstuhl ab, was den anderen dazu brachte, sich zu ihm hinzudrehen.
»Was soll das, meine Tochter abzufangen?«, fragte Seibold aufgebracht.
»Ich weiß nicht, wovon du sprichst, Ingo.«
»Meine Tochter Trine … wollte vorhin zu Hu… Hubertus von Steben, und du hast sie nicht durchgelassen!«
»Hat deine Tochter dir das so erzählt, ja?«, fragte Jork Althoff.
»Du willst doch wohl nicht behaupten, dass Trine lügt?«, sagte Ingo ärgerlich.
»Deine Kleine hat eine lebhafte Fantasie.«
Monika richtete sich auf. Musste sie eingreifen? Doch keiner der Männer würde gut auf ihre Intervention reagieren. Sie blickte zu Justus, der sich angeregt mit den Weitz unterhielt und nichts von der sich anbahnenden Eskalation mitbekam. Nur Ilona Kästner hatte die beiden Männer ebenfalls ins Visier genommen.
»Es steht dir nicht zu, dir ein Urteil über eine meiner Töchter zu erlauben«, fuhr Seibold auf. »Halt dich von ihnen fern!«
»Es gibt nichts, was ich lieber täte. Aber wenn deine Tochter auf Privatgelände herumstreunt und noch dazu andere Kinder dazu ermuntert mitzumachen, geht es mich sehr wohl etwas an.«
»Genau: Es sind Kinder!«, erwiderte Ingo wütend. »Und Kinder wollen spielen. Da ist nichts dabei.«
»Aber wir Erwachsenen haben die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass ihnen nichts Schlimmes dabei passiert!«
Monika bekam eine Gänsehaut bei Althoffs Worten.
Ingo atmete hörbar tief durch. »Trine sollte Hubertus vorhin etwas geben. Das hatten wir heute Vormittag so mit ihm besprochen. Aber du hast es ihr abgenommen!«
Dieses verdammte antike Ding, dachte Monika. Es stiftete nichts als Unruhe. Sie wollte, es wäre für alle Zeiten in den Tiefen des Teichs geblieben. Doch nun war es da und beanspruchte ihrer aller Aufmerksamkeit. Sie mussten damit fertigwerden.
»Ich habe es Hubertus schon übergeben. Kein Grund, sich aufzuregen. Aber du solltest deine Klappe darüber halten, verstanden?« Jork Althoff starrte Ingo Seibold an.
Sie hatten »das Ding« nun in ihrem Besitz, das stimmte. Und damit war es das Problem der von Stebens. Doch Katharinas Vater war anscheinend noch immer aufgebracht.
Monika ging auf ihn zu und sagte so leise, dass niemand anders sie hören konnte: »Es ist wirklich in Ordnung, Ingo. Hubertus hat das Teil von ihm bekommen.«
Seibold schien kurzfristig aus dem Konzept gebracht zu sein. Er starrte Monika stirnrunzelnd an. Dann nickte er. Er sah richtiggehend krank aus. Seine Augen waren gerötet, und seine Haut war fleckig. Sein Haar musste dringend mal wieder gewaschen werden. Sie sollte sich bei Gelegenheit bei Katharina und Friederike blicken lassen und schauen, ob bei den Mädchen alles in Ordnung war.
»Ich weiß, es sind schwierige Zeiten. Wenn du reden willst …«, schlug sie vorsichtig vor.
»Nein, ich komme klar«, antwortete er kühl. »Und ich habe auch noch etwas mit Frau Zell da vorne zu klären.« Er stand so ruckartig auf, dass sie seinen Stuhl festhalten musste, damit er nicht polternd umfiel, und ging davon.
»Was möchtest du haben?«, fragte Ilona Kästner Monika harsch. Ihrem Gesicht war deutlich anzusehen, wie viel sie von Monikas Einmischung hielt.
»Äh, wir hätten gern noch eine Flasche von dem Weißwein für unseren Tisch«, antwortete sie.
Die Wirtin nickte. »Und ich kümmere mich um Ingo. Ich kenne das schon. Du regst ihn nur auf.«
Monika schluckte eine empörte Entgegnung herunter. Vielleicht hatte Ilona recht, und die Wirtin konnte besser mit der Situation umgehen als sie. Immerhin führte Ilona Kästner den Schützenhof seit dreißig Jahren. Monika ging langsam zu ihrem Tisch zurück, wobei sie in einem Bogen auch bei den Zells und Ingo Seibold vorbeikam, der anscheinend versuchte, mit dem Paar zu diskutieren.
»Wir mussten es von Steben erzählen. Was denkst du denn?«, sagte Markus Zell in bemüht ruhigem, doch deutlichem Tonfall.
Seine Frau schaltete sich ein, doch sie redete so leise auf Ingo ein, dass Monika sie nicht verstehen konnte.
Umso lauter klang Ingo Seibolds Antwort durch den Raum: »Das könnt ihr nicht machen! Trine und Vito kennen sich schon seit der Krabbelgruppe!«
Monika hörte, wie Markus Zell so etwas wie »gefährlicher Einfluss« und »zu weit gegangen« zu ihm sagte. Seine Frau nickte dazu mit selbstgerechter Miene.
Ingo drehte sich abrupt um und stürmte aus dem Saal. Er schien den Tränen nahe zu sein. Jork Althoff huschte ein Lächeln übers Gesicht, und er drehte sich betont langsam wieder zu seinem Bierglas um.
Pia hob die Heckler & Koch SFP9CC, visierte ihr Ziel an und betätigte den Abzug. Sie federte den Rückstoß ab und senkte die Waffe. Die Patronenhülse war mit einem Klicken auf den Betonfußboden gefallen. Die neue Dienstwaffe war besonders kompakt, aber sie lag ihr noch nicht so gut in der Hand.
Doch ihre letzten Schüsse waren deutlich zielsicherer gewesen. Näheres würde sie sehen, wenn sie die Scheibe inspizierte.
Sie blickte auf die Uhr. Es war an der Zeit, aufzuhören und ins Präsidium zurückzukehren, auch wenn sie lieber weitergeübt hätte. Was sagte es über sie aus, dass sie so gerne schoss und sich jedes Mal auf das Schießtraining freute? Das Schießen sollte doch für einen Polizisten nur Mittel zum Zweck sein.
Erstaunlicherweise hatte ihr langjähriger Kollege Heinz Broders sich heute bereit erklärt, in der Mittagspause mit zum Training zu kommen. Normalerweise erfand er fantasievolle Ausflüchte, wenn es um körperliche Betätigung ging, und hatte immer Wichtigeres zu tun, als Sport zu treiben oder sich im Gebrauch seiner Schusswaffe zu üben.
Kriminalhauptkommissar Heinz Broders und sie teilten sich seit ein paar Jahren ein Büro. Sie hatten mittlerweile bei vielen Ermittlungen ein bewährtes Zweierteam gebildet. So verschieden sie in mehrfacher Hinsicht auch waren, Pia hatte sich im Laufe der Jahre an ihre gute Zusammenarbeit gewöhnt und wollte sie nicht missen.
Sie ergänzten sich gut. Wo Pia manchmal – sie arbeitete hart an sich und diesem Thema – noch zu emotional reagierte und darauf drängte, schnell Ergebnisse zu erzielen, war Broders der besonnenere Part. Er war älter und erfahrener als sie, hatte zu ihrer Verwunderung anscheinend aber nie den Wunsch gehabt, eine leitende Funktion innerhalb der Gruppe zu übernehmen.
Stattdessen vertiefte er sich in die ihm zugewiesene Ermittlung, arbeitete systematisch und gründlich und hatte eine sehr gute Menschenkenntnis. Seine scharfe Zunge und seine schonungslosen Analysen menschlicher Schwächen waren im Team allerdings gefürchtet. Er fiel Pia jedoch niemals in den Rücken, wenn sie hin und wieder über das Ziel hinausschoss. Stattdessen redete er Klartext mit ihr, ohne es im Team gegen sie auszuspielen. Mit anderen Worten: Er war ein toller, verlässlicher Kollege, der sie förderte und in gewisser Weise auch erdete. In den gemeinsamen Jahren beim K1 war er ihr auch als Mensch sehr ans Herz gewachsen. Allerdings hatte Broders es Pias Ansicht nach im Laufe der Zeit an Engagement und Feuer mangeln lassen, was seine eigene Laufbahn anging.
Ein Feuer, das seit letzter Woche anscheinend wieder in ihm zu glimmen begonnen hatte. Sie ließ sich ihre Scheibe heranfahren und löste sie ab. Zufrieden mit dem Ergebnis ging sie einen Stand weiter, wo Broders noch ein paar Schüsse abgab.