Ostseefinsternis - Eva Almstädt - E-Book

Ostseefinsternis E-Book

Eva Almstädt

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Beschreibung

Die blinde Helmgard Böttcher regiert ihre große Familie an der Ostsee mit fester Hand. Als ihre Enkelin auf dem Heimweg überfallen wird, lässt die Rache nicht lange auf sich warten: Ein junger Mann aus dem Nachbarort erleidet eine schwere Vergiftung und stirbt. Ausgerechnet eine Pflanze, die auch in Helmgards Garten wächst, war die Ursache dafür. Kommissarin Pia Korittki, die eigentlich ein entspanntes Wochenende mit ihrem Sohn Felix und ihrem Freund Marten in dessen neuem Haus an der Ostsee verbringen wollte, stößt bei den Ermittlungen in einen tödlichen Morast aus Hass, Lügen und alter Feindschaft ...

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumProlog1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel

Über dieses Buch

Die blinde Helmgard Böttcher regiert ihre große Familie an der Ostsee mit der festen Hand einer alten Patriarchin. Als ihre Nichte auf dem Heimweg überfallen wird, lässt die Rache nicht lange auf sich warten: Ein junger Mann aus dem Nachbarort erleidet eine schwere Vergiftung und stirbt. Ausgerechnet eine Pflanze, die auch in Helmgards Garten wächst, war die Ursache dafür. Kommissarin Pia Korittki, die eigentlich ein entspanntes Wochenende mit Felix und Marten in dessen neuem Haus an der Ostsee verbringen wollte, stößt bei ihren Ermittlungen in einen tödlichen Morast aus Hass, Lügen und alter Feindschaft …

Über die Autorin

Eva Almstädt, 1965 in Hamburg geboren und dort auch aufgewachsen, absolvierte eine Ausbildung in den Fernsehproduktionsanstalten der Studio Hamburg GmbH und studierte Innenarchitektur in Hannover. Seit 2001 ist sie freie Autorin. Die Autorin lebt in Hamburg.

EVAALMSTÄDT

O s t s e e f i n s t e r n i s

Pia Korittkis neunzehnter Fall

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Dieses Werk wurde vermittelt durch dieThomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Copyright © 2024 by Eva Almstädt

Diese Ausgabe © 2024 by Bastei Lübbe AG,Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für dasText- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Textredaktion: Dorothee Cabras, Grevenbroich

Umschlaggestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de

Einband-/Umschlagmotiv: © Axel jahnke /shutterstock; Pitroviz /shutterstock (2); © Werner Dieterich / Westend61 /Adobe Stock

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-5588-7

luebbe.de

lesejury.de

Prolog

Heute Nacht würde sie wohl zu Fuß nach Hause gehen müssen. Stella Böttcher schaute die schwach beleuchtete Straße hinunter. Von Benno und seinem mattgrauen Audi, den er stets in unmittelbarer Nähe des Restaurants parkte, war nichts mehr zu sehen. Das hatte sie erwartet. Doch die Enttäuschung über sein Verhalten brannte ihr noch bitter in der Kehle. Sie atmete tief die feuchte Nachtluft ein und versuchte, sich nach dem Streit zu beruhigen.

Eine Spätschicht am Samstagabend im Restaurant Gödeke Michels war anstrengend. Da brauchte sie nicht zusätzlich noch einen Geliebten, der unangekündigt dort aufkreuzte und sie von der Bar aus mit seinem Hundeblick verfolgte. Benno hatte sich so auffällig verhalten, dass jeder im Gastraum es mitbekommen hatte, einschließlich ihrer Chefin. Der halbe Ort würde morgen darüber tratschen.

Doch was danach passiert war, war noch schlimmer. Es war beschämend! Eine Böttcher lief keinem Mann hinterher. Schon gar nicht, wenn er verheiratet war. Stella hatte gewusst, worauf sie sich bei Benno Hagendorf einließ. Herrgott, wie hatte sie sich ausgerechnet in ihn verlieben können?

Die Erinnerung daran, wie sie ihn eben noch bedrängt hatte, seiner Frau Linda endlich reinen Wein einzuschenken, trieb ihr wieder die Schamesröte ins Gesicht. Als er nicht darauf eingegangen war, sondern ihr gesagt hatte, dass er nur kurz, auf eine Stunde, mit zu ihr nach Hause kommen wollte, hatte sie ihn zum Teufel gejagt. Und als wäre das alles noch nicht genug Pech für einen einzigen Samstagabend, wehte nun ein eiskalter Wind vom Meer herüber und trieb einen feinen Landregen vor sich her.

Stella überlegte, ob sie sich nicht doch ein Taxi rufen sollte. Nach sechs Stunden kellnern taten ihr die Füße weh – und Benno würde sie ja nun gewiss nicht mit seinem Auto nach Hause kutschieren. Doch ihr sauer verdientes Geld gleich wieder für eine Taxifahrt auszugeben widerstrebte ihr. Stella hatte die sparsamen Gene der Böttchers geerbt. Außerdem, und das gab den Ausschlag, standen die Chancen gut, dass der Fahrer sie kannte und ihren verzweifelten Zustand bemerkte. Das würde dem Klatsch und Tratsch im Ort nur noch weitere Nahrung geben.

Es stand also eine kleine Nachtwanderung an. Stella straffte die Schultern und wandte sich in Richtung der Kaltenbroder Seebrücke. Auf der neu angelegten Promenade bog sie nach rechts und nahm den breiten Weg am Dünengürtel entlang in Richtung Mole. An einem späten Samstagabend in den Herbstferien war Kaltenbrode menschenleer. Vor dem Kai bog sie nochmals nach rechts, ging an den Bootsstegen, der Surfschule und der Werft vorbei. Nachdem Stella den hohen Schiffskran passiert hatte, gelangte sie ins Naturschutzgebiet. Zu Fuß war dies der schnellste Weg zu ihr nach Hause. Hinter den Allfim-Werken, die zwischen dem Schutzgebiet und den Wohnhäusern an der Marina Kaltenbrode lagen, gab es einen schmalen Fußweg. Wenn sie dort entlangging, musste sie weder die Straße noch die Bahnlinie überqueren. Es hatte nur einen Nachteil: Im Naturschutzgebiet war es bis auf die wenigen versprengten Laternen entlang des Hauptweges stockdunkel.

Stella aktivierte die Taschenlampenfunktion ihres Handys und leuchtete den Weg aus. Sie kannte ihn so gut, dass sie ihn beinahe blind gefunden hätte. Wie ihre Großmutter Helmgard, die immer behauptete, trotz ihrer Blindheit mit den Ohren, dem Tastsinn und der Vorstellungskraft »sehen« zu können.

Helmgard war ein Schatz. Stella beschloss, ihre Großmutter am nächsten Tag endlich mal wieder auf einen Kaffee zu besuchen. Etwas Aufregendes hatte sie nach dem Streit mit Benno und aufgrund der Tatsache, dass sie seinetwegen alle anderen Männer abgewiesen hatte, sowieso nicht vor.

Hin und wieder sah sie durch die Bäume linker Hand die Ostsee schimmern. Am Ufer lagen einige Hausboote vor Anker. Hauptsächlich waren sie für Urlauber bestimmt, doch auch Arne Freiwald, der neue Arzt in Kaltenbrode, logierte dort, bis er etwas Passendes gefunden hatte. Sie hatte ihn nicht gerade nett behandelt. Bei der Erinnerung daran schämte Stella sich ein wenig. Sie ging schnell weiter, als sie auf Höhe seines Hausboots anlangte.

Der kühle Wind, der vom Meer herüberpfiff, durchdrang ihren schicken roten Mantel so mühelos, als wäre er eine Tüllgardine. Stella zitterte vor Kälte. Doch die frische Luft vertrieb auch den Ärger über Benno. Sie würde ihn ein paar Tage schmoren lassen und ihn dann wieder mit der Ehre ihrer Gegenwart beglücken …

Dort vorn, rechts neben dem Weg, stand die alte Kopfweide. Stella atmete auf. Sie hatte schon ungefähr die Hälfte des Heimweges geschafft. Plötzlich jedoch veränderte der Stamm der Weide seine Form. Stella schrie auf, als jemand mit seltsam abgehackten, statischen Bewegungen direkt vor ihr auf den Weg trat. Es war ein sehr großer Mann, wie es aussah, größer sogar noch als Benno, und irgendwie unproportioniert. Doch sie konnte nicht erkennen, wer es war, denn er trug eine Gesichtsmaske.

Sie war vor Schreck wie gelähmt. Lauf weg, solange du es noch kannst!, hallte es in ihrem Kopf. Los! Doch Stella konnte sich nicht rühren. Umzudrehen und den weiten Weg zurückzulaufen war keine aussichtsreiche Option. Also die Flucht in das undurchdringliche Dickicht? Zurück zu den Hausbooten? Erst als die Gestalt vor ihr den Arm hob und dabei einen länglichen Gegenstand in der Hand hielt, der aussah wie ein Holzhammer mit langem Stiel, drehte Stella sich um, um zu fliehen.

Der erste Schlag traf sie so hart auf die Schulter, dass sie zu Boden ging. Ihr Handgelenk knackte, als sie versuchte, sich abzufangen. Der zweite Hieb erwischte sie am Hinterkopf. Ein greller Schmerz durchzuckte sie. Das konnte unmöglich wahr sein! Das passierte doch nicht ihr! Sie musste bei Bewusstsein bleiben. Stella wollte den Schmerz und die Panik aushalten. Sie musste sich wehren!

Sie hörte ihren eigenen, schluchzenden Atem und etwas Metallisches, das sie nicht deuten konnte. Der nächste Schlag traf sie in den Bauch. Als sie die Arme vor dem Körper verschränkte und sich zur Seite rollte, attackierte der Unbekannte ihre Arme und ihren Rücken. An Gegenwehr war nicht zu denken. Der Schmerz war höllisch. Sie stöhnte nur noch, versuchte, sich klein zu machen und ihren Körper irgendwie vor den Attacken zu schützen. Was wollte der Kerl? Er brachte sie ja um!

1. Kapitel

»Was machst du da, Felix?«

»Gar nichts.«

Pia Korittki runzelte die Stirn. Sie stand in der Küche am Herd und bereitete das Abendbrot für ihren siebenjährigen Sohn Felix und sich zu. Durch den Türspalt hindurch sah sie, wie er weiter verstohlen in seinem bereits gepackten Koffer herumwühlte.

Im Flur ihrer Lübecker Wohnung stand das Gepäck für zwei Wochen Urlaub bereit. Pia war nach einem Arbeitstag im Kommissariat schnell nach Hause gefahren und hatte alles für Felix und sich zusammengepackt. Nun wollte sie zügig das Abendessen auf den Tisch und danach Felix rechtzeitig ins Bett bringen. Der Plan war, am nächsten Morgen in aller Frühe loszufahren, um der Reisewelle aus dem Süden ein kleines bisschen voraus zu sein. Doch was zum Teufel machte ihr Sohn da? Er interessierte sich doch sonst nicht für Kofferinhalte.

Sie nahm den Topf von der Kochstelle und trat zu ihm in den Flur. »Suchst du etwas? Du kannst mich fragen. Ich weiß, was ich alles für dich eingepackt habe.«

Felix zog den Arm aus dem Koffer. »Ich suche aber gar nichts.« Er senkte den Blick.

»Und warum ist dein Koffer dann wieder offen?«

»Ich will da was rausnehmen«, gab er leise zu.

Oh! »Und was?«

»Ist doch egal!« Er gab dem Kofferdeckel einen kleinen Schubs, sodass er zufiel, und schaute sie herausfordernd an.

»Was ist denn los, Felix?«, fragte Pia. »Du kannst mit mir doch über alles reden.«

»Nee, das verstehst du nicht.« Sein Mund verzog sich. Ein sicheres Zeichen dafür, dass er mit den Tränen kämpfte.

Sie ging in die Hocke, um auf Augenhöhe mit ihm zu sprechen. »Versuch es einfach mal. Geht es um unseren Urlaub?«, wollte sie mit sanfter Stimme wissen.

Er nickte.

»Hat es mit Marten zu tun?« Pia wurde ein wenig flau bei diesem Gedanken. Marten war ihr Freund und neuer Lebenspartner, wenn sich weiterhin alles gut entwickelte. Sie war davon ausgegangen, dass Felix sich auf die Ferien zu dritt in Martens neuem Haus an der Ostsee freute. Sonst war er immer begeistert, wenn sie Zeit mit Marten verbrachten. Und sie selbst war heilfroh, dass es mit diesem Urlaub überhaupt geklappt hatte.

Seitdem ein Kollege in den Ruhestand gegangen war, war das K1 der Lübecker Bezirkskriminalinspektion chronisch unterbesetzt. Alle im Team hatten reichlich Überstunden angesammelt, und an einen längeren Urlaub war eigentlich nicht zu denken gewesen. Doch überraschend war nun doch ein neuer Kollege zu ihnen zum K1 gestoßen: Louis Schramm hieß er, war zweiunddreißig, ehrgeizig, dynamisch … und Pia schon deshalb höchst willkommen, weil sie nicht wieder während der Schulferien ihres Sohnes arbeiten musste. Doch kaum war die eine Schwierigkeit überwunden, drohte nun wohl eine neue …

»Nein, es ist nicht wegen Marten«, sagte Felix zu Pias Erleichterung.

»Okay. Kommst du mit mir in die Küche? Sonst brennt uns das Essen noch an.«

Felix warf einen letzten Blick auf seinen Koffer und nickte dann gnädig. Als er auf der Küchenbank saß und sie im Topf rührte, meinte er: »Die anderen Kinder fliegen alle in den Urlaub. Nach Spanien und in die Türkei und so …«

»Alle Kinder?«

Felix schob den Salzstreuer auf der Tischplatte hin und her. »Die, mit denen ich meistens zusammen bin.«

»Und du fährst an die Ostsee in ein Ferienhaus. Findest du das denn schlechter?«

»Ich nicht … Aber die anderen finden das, glaube ich, langweilig.«

Pia unterdrückte einen Seufzer. »Du würdest auch lieber erzählen können, dass du weit wegfliegst?«

Felix nickte, ohne aufzusehen.

»Du bist letztes Jahr mit deinem Vater in den Urlaub geflogen.« Hinnerk war mit ihm, seiner Frau Mascha und dem gemeinsamen Kind Rieke nach Spanien geflogen. Doch Pias Gefühl nach hatte sich Felix’ Begeisterung damals für diese Art von Urlaub in Grenzen gehalten.

»Aber das mit Spanien weiß doch jetzt keiner mehr«, maulte er.

»Geht es denn bei den Ferien darum, wie die anderen sie finden, oder darum, dass man selbst eine schöne Zeit und viel Spaß hat?«

»Du verstehst das nicht …«

»Doch, ich kenne das. Jeder möchte nach seinen Ferien seinen Freunden etwas besonders Tolles zu erzählen haben.«

Er nickte.

»Du könntest von dem Haus an der Ostsee erzählen, das Marten renoviert, von unseren gemeinsamen Ausflügen – vielleicht in den Hansa-Park? – und davon, dass du erfolgreich dein Bronzeschwimmabzeichen gemacht hast.«

Felix’ Gesicht verzog sich. Sie hatte offensichtlich etwas Falsches gesagt. Oder sie stieß langsam zum Kern des Problems vor, je nachdem. »Geht es um den Schwimmkurs?«

Ihr Sohn starrte vor sich auf die Tischplatte.

»Ich hatte dich so verstanden, dass du den Kurs für dein Bronzeabzeichen machen willst. In den Ferien hast du viel Zeit dazu.«

Nun kullerten erste Tränen. »Nein!«, stieß er hervor.

Schon das Seepferdchen zu machen war ein riesengroßer Angang für Felix gewesen. Doch Pia hatte gedacht, dass er am Ende des Kurses seine Angst vor dem Wasser überwunden hatte. Der Seepferdchenkurs lag allerdings auch schon wieder einige Zeit zurück. Ich bin seitdem nicht gerade oft mit ihm schwimmen gewesen, dachte sie reumütig. Wie sollte sich da seine neu gewonnene Zuversicht gefestigt haben? Es war in den letzten Wochen einfach zu viel los gewesen. Trotzdem. Sie hätte sich die Zeit dafür nehmen müssen!

»Was magst du denn an einem Schwimmkurs nicht?« Pia goss den Reis ab und gab ihn in eine bereitstehende Schüssel, die sie auf den Tisch stellte.

»Ich mag nicht, wenn mir immer so kalt ist.«

»Aber diesmal findet der Kurs im Hallenbad statt, nicht im Freibad. Es ist ein großes Spaßbad mit Rutschen und so. Sie nennen es ›Tropisches Badeparadies‹, und in den Tropen ist es doch warm.«

Felix sah nicht überzeugt aus. Pia stellte die Pfanne mit dem Geschnetzelten mit Gemüse auf den Tisch. Sie setzte sich zu ihrem Sohn. »Aber dass dir zu kalt sein könnte, ist noch nicht alles, was dir Sorgen bereitet, oder?«

»Ich …« Er schluchzte nun. »Ich hab solche Angst vor tiefem Wasser! Und bei Bronze muss man tauchen!«

Pia nahm ihn in den Arm. »Die Angst kann nur weggehen, wenn du es noch mal ausprobierst. Besonders, wenn dann jemand dabei ist, dem du vertraust. Wenn du magst, können wir es ja vor Kursbeginn schon mal ausprobieren.«

»Ich will aber nicht, dass Marten weiß, dass ich Angst habe.« Felix bewunderte Pias Freund und wollte also vor ihm gut dastehen. Was er nicht wusste, war, dass Marten ihn liebend gerne unterstützen würde. Ihm würde es gewiss nichts ausmachen, wenn Felix mal Angst hatte.

Wie sich herausgestellt hatte, war Marten Felix’ biologischer Vater. Nicht Hinnerk, wie sie alle lange Zeit angenommen hatten … Doch der richtige Zeitpunkt, es Felix zu erzählen, war noch nicht gekommen. Pia wurde noch mulmiger zumute, wenn sie daran dachte, dass es irgendwann so weit sein würde.

»Möchtest du, dass erst mal nur ich mitkomme, bis du dich traust zu tauchen?«, fragte sie ihn.

Er vergrub den Arm an ihrer Schulter. »Ich will da nicht hin, Mama!«

»Warst du deshalb an deinem Koffer?«

»Jaaaa. Ich wollte meine Badehose wieder rausholen.«

Pia unterdrückte ein Lächeln. »Keine schlechte Idee. Aber ich glaube, du würdest dich am Ende der Ferien ärgern, wenn du es nicht versucht hättest. Und stell dir mal vor, wie stolz du bist, wenn du dann dein Bronzeabzeichen hast.«

»Ich muss da nicht hin, wenn ich nicht will. Oder, Mama?«

»Nein, ich zwinge dich nicht dazu. Du schaust dir den Kurs einfach mal an, machst probeweise einmal mit, während ich dabei bin, und dann entscheidest du dich.«

»Versprochen?«

»Ja, ich verspreche es dir. Versuchst du es dann?«

»Na guuuut.«

»Das freut mich. Und nun lass mich deinen Teller füllen. Ich habe mir echt Mühe beim Kochen gegeben.« Sie zwinkerte ihm aufmunternd zu. Ihre nicht gerade überbordenden häuslichen Fähigkeiten, insbesondere was das Kochen betraf, waren eine Art Running Gag zwischen ihnen.

»Na gut. Ich krieg es schon irgendwie runter«, sagte er mit einem spitzbübischen Lächeln.

Pia war erleichtert, dass er sich wieder gefangen hatte. »Kröte«, gab sie liebevoll zurück.

»Krötenmutter!«

Hanjo Hagendorf stellte das benutzte Abendbrotgeschirr der Mädchen auf der Arbeitsplatte über dem Geschirrspüler ab. Damit hatte er seinen Haushaltpflichten Genüge getan. Die Babysitterin, die heute Abend kam, würde sich hoffentlich die Mühe machen, das Geschirr einzusortieren, bevor seine Frau sich wieder aufregte.

Pamela war nach oben gegangen, um sich umzuziehen und zu schminken. Die siebenjährigen Zwillinge Melia und Livia saßen nebenan vor dem Fernseher, wo sie ihre allabendliche Folge Turtle Valley schauen durften. Hanjo freute sich auf das Essen, zu dem sie an diesem Freitagabend eingeladen waren. Er könnte sich noch schnell einen Drink machen, um sich darauf einzustimmen. Im Kühlschrank standen noch Rum und Cola, und er mixte sich mit Limettenspalten, Rohrzucker und Crushed Ice einen Cuba Libre.

Selbst wenn nachher die anderen Leute allesamt langweilig waren – und er langweilte sich schnell –, würde es guten Wein geben und wahrscheinlich auch Grappa. Und einige der Frauen würden High Heels, Kleider mit tiefem Ausschnitt und roten Lippenstift tragen. Und sie dufteten gut.

So war das immer bei Pamelas Clique. Sie bestand hauptsächlich aus Leuten, die im IT-Bereich oder als Berater für sonst irgendetwas arbeiteten. Es lohnte kaum die Zeit und Mühe, ihnen zuzuhören, wenn sie von ihren »Jobs« und »Deals« und »Coachings« erzählten.

Hanjo war in der Runde mit seiner Hoch- und Tiefbaufirma ein Außenseiter. Ein Mann, der notfalls noch selbst mit anpackte und sein Geld mit echter Arbeit verdiente. Er wusste, wie der Hase lief, und ließ sich von keinem aus Pamelas Clique ein X für ein U vormachen.

Es klingelte an der Haustür. Hanjo stand mit seinem Glas in der Hand an die Arbeitsplatte gelehnt da und lauschte, ob jemand öffnen würde. Doch er hörte weder Pamelas klackernde Schritte auf der Treppe, noch stürzten seine Kinder zur Tür. Hanjo verzog das Gesicht und machte sich selbst auf den Weg.

»Vivien!«, stieß er amüsiert hervor. Die kleine, resolute Gestalt auf der Schwelle seines Hauses war seine Nichte zweiten Grades. Sie würde also mal wieder bei ihnen »babysitten«. Der ausdauernde Landregen hatte ihr die kurzen braunen Locken in die Stirn geklatscht. Ihre kräftige Gestalt steckte in Parka, Ringelpulli und einer hellen Jeans.

Vivien Hagendorf war die Tochter seines Cousins Robert, aber so genau nahm man es in der Familie mit den Verwandtschaftsgraden nicht. Er bezeichnet sie der Einfachheit halber meistens als seine Nichte und sie ihn als ihren Onkel. Alle mit dem Namen Hagendorf, die in Kaltenbrode und Umgebung wohnten, gehörten irgendwie zusammen.

»Hi Hanjo, ich habe gehört, bei euch ist Not am Mann«, sagte sie.

Er hob die Hände. »Ich weiß nur, dass Pamela und ich heute Abend ausgehen. Um alles andere kümmert sich meine Frau.«

»Wie schön für dich«, antwortete Vivien mit leisem Spott. »Nun, ich passe derweil auf eure Zwillinge auf.« Sie streifte sich die matschigen Stiefel von den Füßen und reichte ihm den Parka.

Er warf das nasse Ding über einen Stuhl neben der Garderobe. »Die Kinder sind schon im Wohnzimmer.«

Pamela kam in einem roten Hosenanzug die Treppe hinunter. Ihr schwarzer Pagenkopf glänzte im Licht des modernen Kronleuchters, den Hanjo ihr zu ihrem Vierzigsten geschenkt und der gefühlt ein Vermögen gekostet hatte. Auch jetzt, sieben Jahre später, und nach der Geburt der Zwillinge, sah sie immer noch atemberaubend aus.

»Schön, dass du da bist, Viv«, sagte seine Frau. »Lisa, die eigentlich heute Abend kommen sollte, hat mir nämlich am späten Nachmittag noch kurz vor knapp abgesagt«, fügte sie an Hanjo gewandt hinzu.

»Dann kannst du ja froh sein, dass Vivien kurzfristig einspringt, Pamela«, erwiderte er. »Sonst müsste ich allein zu Franziska und Gerold gehen, und das wäre doch wirklich schade, so hübsch, wie du dich gemacht hast.«

Sie musterte seine Jeans und den grauen Pullover. »Und du willst so gehen?«

»Es ist doch nur ein Abendessen unter Freunden.« Er betonte das Wort »Freunde« mit hochgezogener Augenbraue, weil er der Ansicht war, dass Menschen wie Franziska und Gerold niemals seine Freunde sein konnten.

»Wenn du das so empfindest …« Sie befestigte einen funkelnden Ohrring an ihrem rechten Ohrläppchen.

»Ich sag schon mal den Kindern Hallo.« Vivien ging rasch in Richtung Wohnzimmer.

»Du weißt doch, dass die Zwillinge sie nicht mögen. Vor allem Livia nicht«, raunte Hanjo seiner Frau zu, nachdem seine Nichte im Nebenraum verschwunden war. Die Geräusche des Fernsehers wurden von zweistimmigem Gemaule übertönt. Er grinste vielsagend.

»Sie kommt schon klar«, sagte Pamela fest. »Vivien lässt den beiden halt nicht alles durchgehen. Was ja auch mal ganz gut ist.«

»Letztes Mal hat Livia geblökt, sie will eine hübsche Babysitterin!«

»Wirklich? Wie peinlich! Was haben die beiden denn gegen Vivien?«

»Sie hat keine langen blonden Haare und keine Modelfigur wie Barbie«, antwortete Hanjo.

»Aber so oberflächlich sind unsere Töchter doch nicht«, protestierte Pamela.

Hanjo hob die Schultern.

Vivien kam mit roten Wangen aus dem Wohnzimmer zurück.

»Alles in Ordnung?«, erkundigte sich Pamela rasch.

»Ja, ja«, antwortete Vivien. »Um wie viel Uhr sollen die Mädchen denn im Bett sein?«

Sie würde sie pünktlich zu Bett schicken. Die Rache folgt auf dem Fuße, dachte Hanjo.

»Spätestens um neun«, antwortete seine Frau.

»Viel Spaß und gutes Gelingen«, raunte er Vivien zu.

»Den werde ich haben«, erklärte sie entschlossen. »Euch auch viel Spaß!«

Pamela hatte unterdessen ihren langen cremefarbenen Mantel übergezogen. Sie drehte sich zu Hanjo um. »Apropos ›Spaß‹: Ich habe Vivien versprochen, dass du sie heute Nacht nach Hause fährst. Du kannst also nicht so viel trinken wie sonst.«

»Aber ich kann das kurze Stück auch wirklich zu Fuß gehen«, protestierte Vivien, die offensichtlich nicht der Grund für Hanjos erzwungene Abstinenz sein wollte.

»Du kannst doch nachts nicht mehr allein durch die Gegend laufen! Nicht nach dem, was am letzten Samstag passiert ist«, entgegnete Pamela.

»Du meinst diesen sogenannten ›Überfall‹ auf Stella Böttcher?«, fragte Hanjo. »Herrgott, die Frau arbeitet in einem Minirock in einer Kneipe, und danach läuft sie in diesem Aufzug mitten in der Nacht allein durch den Wald nach Hause …«

»Durchs Naturschutzgebiet.«

»Das ist doch so gut wie das Gleiche. Wundern muss sie sich da nicht, wenn irgend so ein Kerl denkt, er könne sich einfach mal bedienen.«

»Hanjo!«, rief Pamela aus. »Rede heute Abend bloß nicht so einen Mist! Es steht wohl auch noch gar nicht fest, ob sie überhaupt vergewaltigt worden ist.«

»Was für ein Motiv sollte denn sonst dahinterstecken?«, erwiderte Hanjo.

»Wer weiß? Und was soll das überhaupt heißen? Von wegen: Sie müsse sich nicht wundern. Findest du etwa, dass Stella Böttcher es nicht anders verdient hat, weil sie da in einem kurzen Rock langgelaufen ist?«, gab Pamela in schneidendem Ton zurück.

»Natürlich nicht«, räumte er rasch ein. »Was mit Stella geschehen ist, tut mir leid. Selbst einer Böttcher darf so etwas in Kaltenbrode nicht passieren. Da kommt gleich die ganze Gegend in Verruf. Wenn ich den Kerl erwische, der sie überfallen hat, dann wird der sein blaues Wunder erleben. Das weißt du auch, Pam. Ich meinte eben nur, dass Vivien sich keine Sorgen machen muss. Sie hat kaum achthundert Meter bis zu ihrem Haus zu gehen. Aber wenn du denkst, dass das zu gefährlich für sie ist, kannst du sie ja selbst nachher heimfahren.«

»Das ist wirklich nicht notwendig«, murmelte Vivien.

»Doch, das ist es«, gab Pamela ärgerlich zurück.

Hanjo zwinkerte Vivien zu und folgte seiner Frau nach draußen. Er warf einen letzten Blick zurück. Seine Nichte wirkte trotz ihrer fünfunddreißig Jahre nicht mehr ganz so selbstsicher wie bei ihrem Eintreffen. Der Gedanke an das, was Stella Böttcher in Kaltenbrode passiert war, ging offensichtlich nicht spurlos an ihr vorbei.

»Ich fahre hin, du zurück.« Pamela öffnete die Fahrertür.

»Nein. Die Regel besagt: Wer hinfährt, muss auch zurückfahren.«

Seine Frau stieg ein und legte vorsichtig den Gurt über ihren Mantel. »Diese Regel ist mir neu.«

»Oder was hältst du hiervon: Wer schneller trinkt, muss nicht mehr fahren.«

»Hanjo – raub mir nicht den letzten Nerv!«

2. Kapitel

Obwohl es nur einen knappen Kilometer entfernt war, fuhr Stella neuerdings mit dem Auto zu ihrer Großmutter. Helmgard Böttcher wohnte am Ortsrand von Kaltenbrode auf einem kleinen Gutshof. Das dazugehörige Land war verpachtet, die Ställe standen leer, doch ihre Großmutter hing an dem hundertjährigen Wohnhaus mit den Sprossenfenstern und vor allem an dem ausgedehnten Garten mit den Gewächshäusern.

Stella parkte auf dem Innenhof zwischen den u-förmig errichteten Gutsgebäuden, sah sich nach allen Seiten um und stieg aus. Es war bereits dunkel, doch das Haus wurde von zahlreichen Scheinwerfern angestrahlt. Seitdem sie aus dem Krankenhaus entlassen worden war, hatte sie es vermieden, sich allein draußen aufzuhalten. Bisher war sie nur am helllichten Tag kurz zum Supermarkt gefahren, um Lebensmittel einzukaufen, oder zur Apotheke. Einen Besuch bei sich zu Hause erlaubte sie ausschließlich einer sehr engen Freundin, ihrem Vater und ihrem Bruder Carl. Alles andere war ihr noch zu viel.

Körperlich würde alles gut heilen, hatten ihr die Ärzte versichert. Was der kürzliche Angriff auf sie mit ihrer Psyche machte, stand auf einem anderen Blatt.

Stella klingelte, wartete einen Moment und wurde von Eduard Seiler, Helmgards langjährigem Lebensgefährten, eingelassen. Eddie war ein kleiner, wendiger Mann Anfang siebzig mit silbergrauen Haaren und einem Dreitagebart.

Stella war froh, dass er den »Vorfall« nicht erwähnte, sondern sie einfach begrüßte, als wäre dies ein Tag wie jeder andere. Er begleitete sie zu Helmgard ins Wohnzimmer.

Ihre Großmutter saß im Schein einer beige-grünen Stehlampe in ihrem Sessel und zog sich, als Eduard und sie näher kamen, die Kopfhörer von den Ohren, mit denen sie ihre geliebten Hörbücher hörte. Sie fühlte die alten Holzdielen unter ihren Füßen vibrieren, wenn sich jemand näherte, hatte sie ihrer Enkeltochter einmal erklärt. Ein weiterer Grund für Helmgard, in dem alten Bauernhaus wohnen zu bleiben.

»Hallo Stella. Wie schön, dass du dir die Zeit nimmst, mich zu besuchen!«, bemerkte sie und deutete auf das gegenüberliegende Sofa. »Setz dich doch.«

»Soll ich euch eine Flasche Wein aufmachen, Helmgard?«, schlug Eduard vor, nachdem Stella ihre Großmutter begrüßt hatte.

»Seit wann trinke ich abends noch Wein, Eduard?« Helmgard Böttcher sah mit ihrem starren Blick fragend in seine Richtung. Ihre scharfen Gesichtszüge und das modisch frisierte graue Haar ließen sie elegant und auch ein wenig unnahbar erscheinen.

»Ich habe eher an deine Enkelin gedacht«, entgegnete er. »Möchtest du vielleicht ein Glas Wein, Stella?«

»Nein, danke, Eddie«, antwortete sie. »Ich darf wegen der Medikamente, die ich noch nehme, keinen Alkohol trinken. Und ich bin heute auch mit dem Auto da.«

»Aber so ’n kleiner winziger Schluck ist doch Medizin und fällt schon nicht ins Gewicht!«

»Du kannst jetzt unbesorgt zu deinem Skatabend gehen, Eddie.« Helmgard hob vage eine kräftige, von Altersflecken überzogene Hand. »Wir kommen bestens klar.«

»Ich verstehe, ein Frauenabend.« Er verabschiedete sich mit einer kleinen, galanten Verbeugung von Stella, die in wirkungsvollem Kontrast zu seinem Outfit stand: ausgebeulte Lederhose, kariertes Flanellhemd und ein dicker, mehrfach um den Hals gewundener Schal.

Es hatte etwas gedauert, bis die Böttchers sich an einen Altrocker mit Dreitagebart und einer zweifelhaften Vergangenheit als Helmgards neuen Lebensgefährten gewöhnt hatten. Inzwischen akzeptierten sie ihn. Er war ein wortgewandter, humorvoller Zeitgenosse, und vor allem war er Helmgard treu ergeben. Und das Familienoberhaupt der Böttchers ließ sich sowieso von niemandem etwas vorschreiben, schon gar nicht, mit wem es seine Zeit verbrachte.

Stella fragte sich, ob sie selbst je so eine liebvolle und dauerhafte Partnerschaft erleben würde wie ihre dreiundsiebzigjährige Großmutter. Bisher sah es jedenfalls nicht danach aus.

»Der Überfall auf dich macht auch Eduard schwer zu schaffen, Kind«, bemerkte Helmgard jetzt, da sie allein waren. »Als er gehört hat, was dir passiert ist, ist er wutentbrannt in die Scheune gelaufen. Ich dachte, er will noch einmal auf seine alte Güllepumpe steigen und mit hundertsechzig Sachen über die Autobahn rasen – wie damals, als unsere Hündin Laika vergiftet worden ist. Ich befürchte immer noch, dass er sich persönlich an dem Übeltäter rächen will.«

Stella wusste, dass mit der »Güllepumpe« Eduards betagte Honda gemeint war. »Fährt sein altes Motorrad denn noch?«

»Ich habe deinen Bruder Carl vor ein paar Jahren gebeten, irgendein unverzichtbares Teil des Motorrads unauffällig zu entfernen. Also: nein. Die Maschine springt nicht mehr an.«

»Listig warst du ja schon immer, Großmutter.«

»Das ist reine Fürsorge, Schätzchen. Und dir geht es wirklich wieder einigermaßen gut? Du kommst allein klar?«

»Das komme ich. Mach dir bitte keine Sorgen. Ich habe nur ein paar Prellungen und eine leichte Gehirnerschütterung. Und ein verstauchtes Handgelenk.« Sie tastete nach ihrem bandagierten Arm. Es hatte keinen Sinn, ihrer Großmutter etwas vorzumachen. Selbst wenn sie sie nicht sehen konnte, hörte Helmgard bestimmt, wie sie bei jeder falschen Bewegung auf dem Sofa scharf die Luft einsog.

»›Nur‹? Du solltest das nicht herunterspielen, Stella. Du musst dir erlauben, wütend zu sein. Wütend ist besser als traurig oder ängstlich zu sein. Die werden den Kerl finden, der dich überfallen hat. Das hat der nicht umsonst gemacht!«

»Ich hoffe es. Aber sicher ist das nicht. Die Polizei scheint noch keine Ahnung zu haben, wer das war. Und ich habe sein Gesicht ja wegen der Maske nicht sehen können. Es ging alles so schnell. Es war nur ein großer Schatten, der plötzlich auf mich zugesprungen ist. Er hat mit einer Art Holzhammer auf mich eingeschlagen, und ich bin zu Boden gegangen. Kurze Zeit später habe ich das Bewusstsein verloren.«

»Haben sie nicht irgendwelche nützlichen Spuren vom Täter sichergestellt, Fasern oder Hautschuppen oder so etwas? Davon reden sie doch immer im Fernsehen.«

»Sie haben es zumindest versucht.«

»Bist du denn auch richtig von einem Arzt untersucht worden?«, fragte Helmgard vorsichtig.

»Du meinst, hinsichtlich einer möglichen Vergewaltigung?«, erwiderte Stella gepresst. Sie wollte es unbedingt vermeiden, über Einzelheiten zu sprechen. Meistens gelang es ihr, die Gedanken darüber abzublocken, obwohl sich die Erinnerungen natürlich nicht so leicht ausschalten ließen, wie sie ein Gespräch abwürgen konnte. »Ich glaube nicht, dass es eine Vergewaltigung war«, sagte Stella mit fester Stimme.

»Darüber bin ich sehr froh, mein Kind.« Doch Helmgard klang nicht überzeugt.

»Ich finde es grauenhaft, darüber nachzudenken, was die Leute jetzt so reden …«

Helmgard nickte. »Menschen vermuten meistens das Schlechteste. Daran kann man schwer etwas ändern. Aber du darfst dich davon nicht unterkriegen lassen.«

»Ich versuch’s. Das Problem ist nur, dass es vollkommen unverständlich ist, was der Täter sonst mit seinem Angriff auf mich bezweckt haben soll. Es war ja offensichtlich kein Raubüberfall. Feinde habe ich auch nicht … Zumindest nicht, dass ich wüsste.«

»Könnte es nicht ein Mann gewesen sein, den du mal abgewiesen hast? Es gibt Leute, die können keinerlei Zurückweisung ertragen. Besonders nicht von einer Frau.«

»Das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen. Meine Freunde und Bekannten sind doch alle ganz vernünftig.«

»Du weißt nie, was in den Menschen so vor sich geht.«

»Es sieht ganz danach aus«, bestätigte Stella matt.

Helmgard legte die Hand mit den hervortretenden Adern erst tastend, dann sanft auf Stellas Arm. »Du weißt, dass du jederzeit mit mir reden kannst. Über alles. Ich verstehe mehr von alldem, als man mir in meinem Alter vielleicht zutraut.«

Stella schmunzelte trotz der Anspannung. »Ich traue dir alles zu, Großmutter.«

»Daran tust du recht.« Nun flammte auch in ihrem Gesicht ein schwaches Lächeln auf.

»Die Polizei denkt, dass der Täter vielleicht durch irgendwas gestört worden ist und von mir abgelassen hat, bevor es zu einer Vergewaltigung gekommen ist«, fügte Stella nach einer kleinen Pause leise hinzu. »Doch was sollte das für eine Störung gewesen sein, mitten im Naturschutzgebiet? Jemand, der zu der Zeit auch dort draußen war und den Überfall bemerkt hat, hätte mir doch sicher geholfen oder die Polizei verständigt. Das ist aber nicht passiert.«

»Vielleicht ist der Täter auch von einem Hund gestört worden, der frei herumgelaufen ist?«

»Oder er hat es nicht gekonnt«, sagte Stella grimmig. Das jedenfalls war die Hoffnung, an der sie festhielt. Als sie wieder zu sich gekommen war, war der Angreifer verschwunden gewesen. Sie hatte ihr Handy gesucht, mit dem sie ja geleuchtet hatte, es aber nicht gefunden. Dann hatte Stella sich mühsam aufgerappelt und war nach Hause gehumpelt, die ganze Zeit voller Angst, ihr Angreifer könnte noch irgendwo in der Nähe sein. Ihr Haus war vom Ort des Überfalls aus eines der nächstgelegenen gewesen. Erst von dort hatte sie die Polizei alarmiert.

Bei der Untersuchung, zu der man ihr dringend geraten hatte, waren allerdings Spuren von Sperma in ihr sichergestellt worden. Doch das war keine Überraschung. Stella hatte am Tag zuvor mit Benno geschlafen. Aufgrund der Spurenlage hatte sie das auch der Polizei erzählen müssen. Sie hasste es, gegenüber Fremden solch intime Dinge preiszugeben, während der Täter irgendwo unbehelligt saß, vielleicht ein Bier kippte und sich seines Lebens freute.

Mit ihrer Großmutter darüber zu reden stellte zu ihrer Überraschung beinahe eine Erleichterung dar. Bei Helmgard hatte Stella das Gefühl, dass sie sie verstand und sie niemals verurteilen würde. Und es tat gut, beim Reden keine mitleidigen Blicke auf sich zu spüren.

Ihre Großmutter schien konzentriert an ihr vorbeizustarren, in Richtung der Blumenvase schräg hinter ihr auf dem Tisch. »Die ärztliche Untersuchung hat also nichts ergeben, was auf eine Vergewaltigung hindeutet?«, hakte sie mit zusammengezogenen Augenbrauen nach.

»Nichts so richtig Eindeutiges. Nur die allgemeinen Verletzungen und meine kaputte Kleidung. Der Täter hat meinen Mantel und die Bluse aufgerissen, die ich immer zum Kellnern trage. Mein Rock war nach dem Überfall hochgeschoben, die Strumpfhose zerfetzt. Aber das war alles. Wie sollte der da …«

»Du kannst mir alles sagen, Stella.«

»Bei der Untersuchung wurden Spermaspuren in meiner Vagina sichergestellt. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass die nicht vom Täter stammen. Ich hatte am Tag zuvor Sex mit …« Stella brach ab, trotz ihres Vertrauens zu ihrer Großmutter unsicher, ob sie darüber sprechen sollte.

»Stella, ich weiß, dass die jungen Frauen damit heute nicht mehr bis zur Ehe warten.« Helmgard verzog spöttisch das Gesicht. »Haben sie das je?«

»Es wird dir aber nicht gefallen.«

»Ach, was …«

»Ich habe eine Beziehung mit Benno. Wir schlafen schon seit ein paar Wochen miteinander.«

Helmgard zog die Hand weg. »Du meinst aber nicht Benno Hagendorf?«

»Wie viele Männer mit diesem Vornamen kennst du?«, entgegnete Stella schärfer, als sie es beabsichtigt hatte. »Natürlich Benno Hagendorf.«

»Wenn ich dir etwas fürs Leben mitgegeben habe, dann war das der Rat, dich von den Hagendorfs fernzuhalten.«

Stella schnaubte. »Das ist aber gar nicht so leicht. Die sind in Kaltenbrode einfach überall.«

»Deshalb muss man sich trotzdem noch lange nicht mit dem Feind verbrüdern und mit ihm ins Bett steigen!«, erwiderte Helmgard ungewohnt hart.

»Siehst du denn nicht, dass sich die Dinge ändern?«

»Wie du weißt, Stella, sehe ich so gut wie gar nichts. Doch das heißt nicht, dass ich keine Ahnung habe von dem, was in Kaltenbrode vor sich geht. Im Gegenteil. Ich werde nicht von dem Offensichtlichen geblendet. Und ich rate dir, den Hagendorfs fernzubleiben. Sie bringen nichts als Unheil über uns.«

»Du glaubst doch nicht, dass mich einer von denen …« Stella brach kopfschüttelnd ab. Das ging ihr jetzt zu weit.

»Wir werden es herausfinden«, sagte Helmgard.

»Lasst Benno in Ruhe, hörst du?« Stella erhob sich. »Er hat damit nichts zu tun!«

»Warte, Stella! Wenn du dir so sicher bist, dann ist Benno vielleicht eine Ausnahme. Ich war nur so … überrascht und enttäuscht.«

»Enttäuscht?«

»Du bist ein gescheites Mädchen. Du bist mein ganzer Stolz. Und du hast doch die Wahl. Warum ausgerechnet einer von den Hagendorfs?«

»Benno ist anders als die anderen aus der Sippe«, behauptete Stella. »Nicht so ein Arsch wie Wolfgang oder so ein Angeber wie Hanjo.«

»Es freut mich, dass du wenigstens diese Einschätzungen mit mir teilst.«

»Diese Fehde zwischen den Böttchers und den Hagendorfs … Das geht nun schon mein Leben lang. Und ich weiß nicht einmal, wie es ursprünglich dazu gekommen ist.«

»Glaubst du, ich würde die ganze Familie Hagendorf meiden – wegen nichts?«

»Ich weiß es einfach nicht, Großmutter.«

»Vertrau mir bitte. Es gibt Gründe.«

»Ich liebe Benno«, sagte Stella.

Helmgard kniff die Augen zusammen. »Schätzchen. Neben allem anderen, allen Zweifeln an seiner Herkunft und seinem Charakter … Benno ist ein verheirateter Mann. Sein Schwiegervater ist gleichzeitig sein Chef. Er ist auch deshalb mit Linda zusammen, weil er scharf auf die Firma ist. Glaubst du, er gibt sein gesamtes Leben für dich auf?«

Stumm schüttelte Stella den Kopf. Als ihr klar wurde, dass ihre Großmutter das ja nicht sehen konnte, antwortete sie: »Das verlange ich ja auch gar nicht von ihm. An dem Abend vor dem Überfall hatte ich sowieso Schluss mit ihm gemacht. Es ist vorbei.«

»Und wie hat er es aufgenommen?«, fragte Helmgard.

»Na, wie wohl? Benno war sauer und ist davongebraust. Das ist alles.«

Helmgard wiegte langsam den Kopf. »Wenn du meinst, Kind.«

3. Kapitel

Auf der Fahrt in Richtung Norden hatte sich der Himmel immer weiter zugezogen. In Lübeck war es noch leicht bewölkt gewesen, mit vereinzelten, sonnigen Momenten, doch nun hingen dunkle Regenwolken über ihnen. Felix, der auf der Rückbank auf seiner Sitzerhöhung saß, blätterte in einem Buch und sah so gut wie gar nicht hinaus. Als Pia endlich in die schmale Straße einbog, die zu Martens Haus führte, begann es zu regnen, und als sie auf das immer noch zugewucherte Grundstück fuhr, ging ein prasselnder Regenschauer nieder.

Pia hielt vor dem Haus und schaltete den Motor aus. Sie drehte sich zu ihrem Sohn um. »Ich schätze, wir müssen zum Eingang rennen.«

»Ist Marten schon da?« Felix legte das Buch zur Seite und löste den Gurt.

»Bestimmt. Da vorn steht sein Auto.«

»Auf die Plätze, fertig …« Felix riss die Tür auf und sprang aus dem Wagen. »Los!« Er flitzte in Richtung Eingang.

Bei diesem Wetter sah das alte Bauernhaus immer noch ein wenig desolat aus. Die Eingangstür hatte Marten durch eine neue dunkelgraue Tür ersetzt, doch von den Fensterrahmen blätterte die Farbe ab, und aus der Regenrinne pladderte an verschiedenen Stellen Wasser. Wollte Marten das alles renovieren lassen? Das würde doch ein Vermögen kosten. Wenn Pia nicht gewusst hätte, dass man von der Terrasse aus bei klarer Sicht jenseits der Hügel die Ostsee schimmern sah, hätte sie das Projekt glatt als zu aufwendig verworfen. Doch ihr Freund war so begeistert … und immerhin war es sein neues Zuhause. Felix und sie waren hier nur zu Gast.

Pia lief ihrem Sohn hinterher. Das Gepäck konnte warten, bis der Regen aufgehört hatte. Marten öffnete ihnen, nahm Felix in den Arm und half ihm, die feuchte Jacke und die Schuhe auszuziehen. Auch Pias Haare und Jacke trieften nach dem kurzen Stück durch den Regen vor Nässe.

»Endlich!«, flüsterte er ihr ins Ohr, als er sie in die Arme zog. »Ich hatte schon befürchtet, dass ihr bei diesem Wetter lieber auf die Malediven fliegt …«

»Ich lasse mir doch nicht entgehen, wie du dich hier abrackerst.« Schon in der Diele sah man eklatante Veränderungen zu ihrem letzten Besuch. Die alten Teppichböden und Tapeten waren verschwunden, die Wände verputzt und hell gestrichen, die Dielen abgeschliffen und versiegelt.

Pia und Marten küssten sich, doch Felix zog schon an Martens Arm. »Wo ist mein neues Zimmer, Marten?«

Widerstrebend lösten sie sich voneinander. Ihr letztes Zusammensein lag schon wieder eine Woche zurück. So war das eben mit einer Wochenendbeziehung. Pia redete sich ein, dass die Sehnsucht nacheinander die Liebe frisch hielt. Doch sie vermisste Marten unter der Woche, vor allem wenn es im Beruf besonders stressig zuging. Der Idealzustand war das nicht. Immerhin hatte sie jetzt endlich zwei Wochen Urlaub und Felix Schulferien … Ungestörte Zeit, in der sie sich als Paar, als Familie und als frischgebackene Hausbewohner einander annähern konnten.

Felix’ Zimmer befand sich im ersten Stockwerk, wie auch ein großes, neues Badezimmer, ein Schlafzimmer für sie beide und ein Gästezimmer. Ihr Sohn nahm freudestrahlend sein neues Reich in Besitz. Es gab eine bunte Kletterwand mit einer dicken Matratze darunter, einen Schreibtisch am Fenster und ein Bett, das an eine Schiffskoje erinnerte.

»Das hast du richtig toll hinbekommen«, sagte Pia. »Ich bin begeistert.«

Marten lächelte erfreut. »Ach, ich hatte ein bisschen Hilfe.«

»Von wem denn?«

»Das verrate ich doch nicht.«

Ein Anflug von Eifersucht durchzuckte Pia. Wen hatte er um Einrichtungstipps gebeten? Eine Frau? Die Farbzusammenstellungen waren durchaus gekonnt und nicht unbedingt minimalistisch männlich. Modern, aber auch zu dem alten Haus passend … Selbst bei dem trüben Wetter wirkten die Räume hell und gemütlich.

»Ich habe mir nur ein paar Einrichtungsbücher und DIY-Videos angeschaut«, räumte er ein.

»Du hättest mich fragen können«, murmelte sie.

»Das habe ich. Mehrmals. Du hattest zu viel zu tun. Was ich gut verstehe, so unterbesetzt, wie das K1 in letzter Zeit immer war. Und ich wollte es für die Ferien mit euch hier schön haben. Glaubst du, ich hätte euch auf eine Baustelle eingeladen?«

»Der- oder diejenige hat dich aber gut beraten«, sagte sie, um sich ihre Gefühle nicht anmerken zu lassen. Er hatte doch nicht etwa eine Innenarchitektin engagiert?

»Keine Sorge, Pia. Für dich ist noch genug zum Planen und Aussuchen da. Wir brauchen noch eine neue Küche. Außerdem habe ich eine spezielle Überraschung für dich …«

»Was denn für eine?«, rief Felix und sprang auf der Matratze unter der Kletterwand auf und ab wie ein Flummi. Das Wort »Überraschung« war ihm natürlich nicht entgangen.

»Lass uns deine Mutter noch ein wenig auf die Folter spannen«, schlug Marten ihm vor, als wäre Pia gar nicht da. »Sie tut immer so cool, doch sie kann die Anspannung kaum aushalten. Wir trinken erst mal mit ihr gemütlich Kaffee, oder?«

Felix grinste. »Ich muss das Weihnachten ja auch immer aushalten. Ihr könnt doch Kaffee trinken, und ich guck mir Mamas Überraschung an.«

»Guter Versuch. Aber nein. Wir trinken erst unten zusammen einen Kaffee und du einen Kakao oder Saft. Ich habe uns auch Franzbrötchen besorgt.«

»Müssen wir heute eigentlich noch einkaufen fahren?«, fragte Pia.

»Nein. Heute Abend gehen wir essen. Und für morgen habe ich alles da. Du hast doch Urlaub.«

»Das ist aber ungewohnt.« Pia folgte ihren beiden Männern die frisch gewachste Holztreppe hinunter ins Erdgeschoss. »Ungewohnt, doch nicht schlecht, wenn mal jemand anders die Planungen übernimmt.«

Marten hatte recht, stellte sie im Erdgeschoss fest. Hier unten gab es noch einiges zu tun.

Nachdem sie Kaffee und Saft getrunken hatten und jeder ein Franzbrötchen verspeist hatte, brach die Sonne durch die Wolken und ließ die Regentropfen auf Blättern und Grashalmen draußen glitzern. Sie holten das Gepäck ins Haus.

»Und jetzt Mamas Überraschung!«, jubelte Felix. »Sie ist schon total gespannt. Oder, Mama? Wie geht es dir? Jetzt weißt du mal, wie das ist, wenn man sich so ewig gedulden muss!«

»Oh, mir geht es großartig.« Pias zurückhaltende Miene war eher der Tatsache geschuldet, dass sie Überraschungen nicht so sehr mochte. Sie wusste nicht, ob es ihr gefallen würde, musste jedoch in jedem Fall irgendwie freudig erregt reagieren, wenn sie den Erwartungen entsprechen und den Urlaub nicht gleich mit einem Missklang beginnen wollte.

Was hatte Marten sich nur für sie ausgedacht?

Er verband ihr die Augen mit einem Tuch. Was kam denn nun? Als er sie an der Hand aus dem Haus führte, ohne dass sie etwas sehen konnte, spürte sie ein gewisses Unbehagen in sich aufsteigen. Eine Panikattacke war das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte. Sie zwang sich, länger aus- als einzuatmen. Eine Polizistin, die vor einer Situation mit einer Augenbinde Beklemmungen bekam – das war ja lächerlich! Wie schon so oft wünschte Pia sich ihr altes, unkompliziertes Selbst zurück. Das aus der Zeit vor ihrer Entführung, als sie diese Situation einfach auf sich hätte zukommen lassen oder vielleicht sogar genossen hätte.

Sie verließen das Haus durch die Terrassentür und stapften über den Kies, der unter ihren Füßen knirschte. Der Wind war frisch, doch der Regen hatte aufgehört. Sie mussten einige Meter gehen. Es gab ein Nebengebäude, erinnerte Pia sich, in das sie bisher nur einmal kurz hineingeschaut hatte.

Marten entriegelte eine Tür und zog sie mit sich in einen Raum. Felix stieß einen überraschten Ausruf aus, gefolgt von einem anerkennenden »Oh!«. Es hallte ein wenig, und die Luft war hier wärmer. Immerhin, bei ihrem Sohn war die Überraschung wohl gut angekommen. Pia hatte erwartet, dass das Licht, das durch das Tuch drang, im Gebäude schwächer sein würde, doch es blieb beinahe genauso hell wie draußen. Was war hier passiert?

»Moment! Gleich ist es so weit.« Marten fasste sie an den Schultern und drehte sie im Kreis. Seine Stimme klang vergnügt. Auch Felix juchzte vor Freude. Bei Martens festem, warmem Händedruck auf ihren Oberarmen entspannte sie sich ein bisschen. Er löste den Knoten am Hinterkopf und zog das Tuch von ihren Augen weg.

Pia blinzelte. Es war tatsächlich ein heller Raum. Das Licht kam von oben. Ein großzügiges mehrteiliges Dachflächenfenster zwischen alten weiß gestrichenen Balken. Durch die schrägen, regennassen Scheiben war ein Stück blauer Himmel zu sehen. Sie befanden sich in dem ehemaligen Schuppen, doch er war komplett verwandelt. In einem neuen, gusseisernen Ofen an einem Stützbalken in der Mitte des Zimmers brannte ein Feuer. Unter dem Fenster stand eine Staffelei mit einem großen, mit Malerleinen bespannten Keilrahmen darauf. Daneben befanden sich ein Servierwagen aus Metall und ein alter Holzhocker. In einer Ecke stand ein Sofa mit Beistelltisch und darauf ein großer Wiesenblumenstrauß in einem Krug.

»Wow!«, sagte Pia ehrlich beeindruckt.

»Es ist noch ziemlich provisorisch. Immerhin habe ich es rechtzeitig geschafft, das mit dem Ofen und den Dachfenstern zu organisieren. Der Fensterbauer muss zwar noch mal kommen, weil sie sich jetzt noch nicht fernsteuern lassen. Da oben reicht ja niemand heran. Aber es ist dein neues Atelier, Pia.«

»Mein Atelier?«

»Ich will hier auch malen!« Felix hüpfte auf und ab. »Oder meine Eisenbahn aufbauen.«

»Ich habe doch seit Ewigkeiten nicht mehr gemalt, Marten.« Pia hatte plötzlich einen Kloß im Hals. »Aber es ist wunderschön!« Sie umarmte und küsste ihn. Doch der große Aufwand, den er nur für sie betrieben hatte, machte sie beklommen.

»Darf ich wieder rüber in mein neues Zimmer gehen?« Felix spürte offensichtlich, dass seine Mutter und Marten einen Moment zu zweit haben sollten.

»Ja, klar. Wir kommen gleich nach«, antwortete Pia.

»Echt cool, Marten!« Felix nickte weltmännisch und verließ den Schuppen oder das Atelier, je nach Betrachtungsweise.

Marten grinste. »Zumindest Felix konnte ich hiermit ein bisschen beeindrucken.«

»Ich bin auch beeindruckt. Es ist wunderschön geworden. Mit diesem tollen Raum kann man einiges anfangen …«

»Er ist nur für dich zum Malen, Pia.«

»Aber ich weiß nicht, ob ich je wieder malen werde«, wandte sie mit einem flauen Gefühl im Magen ein.

»Ich kenne doch deine Bilder von früher. Die waren gut! Wo sind die überhaupt?«

»Auf dem Dachboden in Lübeck hinter allerlei Gerümpel.«

»Dann holen wir sie her!«

»Marten, erinnerst du dich nicht mehr daran, was ich im Wesentlichen gemalt habe?«, fragte Pia.

»Es waren Motive, die mit deinem Beruf zu tun hatten«, antwortete er, ohne zu zögern.

»Genau. Die Bilder waren nur für mich. Die waren nicht zum Anschauen oder Ausstellen …«

»Das kann ja auch so bleiben. Felix muss hier keinen Zutritt haben.«

Pia kniff die Augen zusammen. »Du hast ein Atelier ausgestattet, damit ich darin meine Albtraumbilder male?«

Nun blickte er doch etwas verlegen drein. »Das kann sich ja irgendwann ändern. Dann malst du vielleicht Rapsfelder und die Ostsee?«

»Irgendwann. Du fürchtest doch, dass ich erst mal so weitermachen werde wie damals?«

»Es hat dir geholfen, oder etwa nicht?«

»Darum geht es also«, sagte Pia.

»Was hast du denn?«

»Du hoffst, dass es mir besser gehen wird, wenn ich ein bisschen male«, brach es aus ihr hervor. »Du willst mir hiermit zu verstehen geben, dass ich etwas tun sollte.«

Marten starrte sie an. »Ich will dir gar nichts ›zu verstehen geben‹. Ich wollte dir eine Freude machen mit dem Atelier. Wenn du es nicht willst, kann ich hier genauso gut mit Felix die Modelleisenbahn aufbauen oder an einem alten Auto schrauben.«

Pias Gedanken flogen zu ihrem alten Landrover, der bereits in einer kleinen Remise auf Martens Grundstück stand. Er hatte ihrem ehemaligen Verlobten Lars gehört, der vor über drei Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen war. Aus Sentimentalität behielt sie das Auto. Sie konnte sich nicht von ihm trennen, auch wenn sie es nur selten fuhr. Sie tat Marten hier gerade gewaltig unrecht. Doch die Trauer und die Scham darüber, dass sie nach ihrer zwölf Monate zurückliegenden Entführung immer noch nicht wieder vollkommen gesund war, wogen zu schwer.

»Du musst mir hier keinen Therapieplatz einrichten. Ich mag alte Autos!« Pia drehte sich von ihm weg. Er sollte ihre Verzweiflung nicht sehen. Die stets im Hintergrund ihres Bewusstseins lauernde Panik war durch Martens Überraschung für sie, das Atelier und seine Anspielung auf ihre Probleme wieder aufgeflammt. Festen Schrittes und mit roten Wangen verließ Pia den Schuppen.

Das Foyer der Schulaula war voller Menschen. Benno Hagendorf ließ den Blick suchend über die Anwesenden schweifen. Seinen Vater, der mit seinen eins siebenundneunzig noch etwas größer war als er selbst und bestimmt auch vierzig Kilo schwerer, müsste er doch leicht ausmachen können.

An diesem Abend gab Bennos jüngste Schwester Grit ein Klavier- und Gesangskonzert, und seine Mutter hatte die gesamte Familie herbeordert. Grit tat Benno ein wenig leid. Sie würde heute nach längerer Zeit wieder vor Publikum spielen und singen. Das war sicher aufregend genug. Aber das auch noch unter dem gestrengen Blick der Eltern tun zu müssen … Benno beneidete sie nicht.

Er erblickte seine älteste Schwester Insa, die mit einem Tablett mit Gläsern und kleinen Flaschen auf den Saal zusteuerte. Seine Mutter hatte sie wahrscheinlich Getränke holen geschickt. Das war so ihre Art, die drei Töchter herumzukommandieren. Immerhin wusste er nun, wo er sie alle finden würde.

Nichtsdestotrotz freute Benno sich auf das Konzert. Grit war seine Lieblingsschwester. Vor allem aber freute er sich über die Ablenkung und darüber, dass er seiner Frau Linda wenigstens für einen Abend mit einer guten Ausrede entkommen war. Linda machte sich nichts aus der »Hausmusik« seiner Familie, wie sie es nannte. Und vor allem machte sie sich nichts aus seiner Familie. Einzig mit seinem Vater verstand sie sich erstaunlich gut. Vielleicht, weil er in seiner tyrannischen Art ihrem eigenen Vater glich.

Diese Woche hatte Linda ihn quasi noch keinen Moment aus den Augen gelassen. Doch hier wusste sie ihn ja unter anderweitiger Beobachtung.

Ich sollte ein schlechtes Gewissen meiner Ehefrau gegenüber haben, dachte Benno, als er zwischen den Leuten hindurch in Richtung Saal ging. Die anerkennenden und neugierigen Blicke einiger Frauen streiften ihn. Das kannte er schon. Er sah gut aus, und wenn er angespannt war, hielten ihn die Leute für arrogant, was bei manchen Damen offenbar gut ankam.

Vor dem Eingang zum Saal zeigte er seine Eintrittskarte vor, die Grit ihm hatte zukommen lassen. Wenig später fand er seine Familie, die neben der zweiten Reihe stand, wo sie mit ihren Jacken Plätze reserviert hatten. Auch Grit war noch unter ihnen, anstatt sich in der »Künstlergarderobe« auf ihren Auftritt vorzubereiten. Gab es so etwas an einer Schule?

Seine Mutter redete eindringlich auf ihre Jüngste ein. Wahrscheinlich würde sie Grit mit ihren Ermahnungen noch bis hinter die Bühne verfolgen.

Die Vierundzwanzigjährige nickte ergeben und strich sich hin und wieder die lange dunkelblonde Mähne nach hinten. Schwer vorstellbar, dass Grit in dreißig Jahren vielleicht wie ihre Mutter aussehen würde. Sie war nur fünf Jahre jünger als Stella, fiel ihm dabei ein. Doch sie hatte seines Wissens noch keinen Freund gehabt, zumindest nicht offiziell. Wahrscheinlich nahm jeder Aspirant bei dem Gedanken, durch eine Beziehung mit Grit über kurz oder lang ihrem Vater, Wolfgang Hagendorf, gegenüberzustehen, sofort Reißaus.

Wolfgang Hagendorf trug wie fast immer ein kariertes Hemd und eine Lederweste darüber. Sein großes, kantiges Gesicht war gerötet. Grits ältere Schwestern, Paula und Insa, standen nun neben ihm. Sie sahen ihm recht ähnlich. Alle waren schwer gebaut, mit breitem Gesicht und kleinen Augen, die glatten Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Beide Schwestern waren verheiratet und gerade schwanger, Paula bereits zum zweiten Mal.

Benno war froh, dass er und Grit eher ihrer feingliedrigen Mutter ähnelten.

Er begrüßte sie kurz und versuchte, mit unbeteiligter Miene an seinem Vater vorbeizukommen.

»Warte mal.« Wolfgang Hagendorf zog ihn ein Stück zur Seite. »Warum bist du so spät dran?«

»Wieso spät? Das Konzert hat doch noch nicht angefangen. Außerdem komme ich direkt von der Arbeit«, erwiderte Benno gereizt. Sein Vater arbeitete im Bauamt und ließ mittlerweile anscheinend den Griffel fallen, wann immer es ihm passte. Was wusste er schon von unzufriedenen Kunden, unzuverlässigen Handwerkern und einem anspruchsvollen Chef, der zugleich der Schwiegervater war?

»Ich habe heute zufällig Volker getroffen.«

»Ja und?« Benno schwante nichts Gutes. Volker, einer der Cousins seines Vaters, mischte sich in alles ein.

»Er war letzte Woche samstagabends mit seiner Frau im Gödeke Michels.«

»Schön für ihn.«

Das Gesicht seines Vaters verzog sich unheilvoll. Es war unklug, ihn auch noch zu reizen, doch Benno konnte nicht anders. Er hoffte, dass Grits Konzert nun beginnen und ihn vielleicht retten würde, wenn er diese Unterhaltung nur noch etwas länger hinauszögerte.

»Du weißt, dass Stella Böttcher an dem Abend, an dem sie überfallen wurde, im Gödeke gekellnert hat.«

Es wäre unklug, das zu verneinen. »Was man so hört, ist sie auf dem Heimweg durch das Naturschutzgebiet überfallen worden.«

»Was man so hört?« Sein Vater trat einen Schritt näher. Benno konnte seinen Atem riechen. Zwiebeln, Bier und noch etwas anderes …

Benno wandte sich zur Seite und blickte angestrengt zur Bühne. Grit war aus dem Zuschauerbereich verschwunden. Sie musste jetzt jeden Moment hinter dem Vorhang auftauchen. »Ganz Kaltenbrode spricht von nichts anderem als von dem Überfall. Selbst bei mir im Architekturbüro in Eutin …«, sagte er.

»Weich mir nicht aus, Benno. Volker meint, du warst an dem Abend auch in dem Restaurant.«

Es war naiv gewesen zu hoffen, seiner Familie käme das nicht zu Ohren. Selbst die Polizei hatte ihn deswegen bereits befragt. Doch den hässlichen Streit hatten Stella und er weitestgehend draußen hinter dem Restaurant geführt. Davon wussten nur sie beide … Ob sie Stillschweigen bewahren würde? Auch wenn der Druck durch die Polizei, die den Täter finden wollte, zunahm?

Benno hatte noch keine Gelegenheit gehabt, mit Stella darüber zu sprechen. Die Übereinkunft, die sie zu Beginn ihrer Beziehung getroffen hatten, musste unbedingt weiter bestehen. Wenn seine Affäre mit Stella herauskäme … Ihm brach der Schweiß aus.

»Ich war nur kurz auf ein, zwei Bier im Gödeke Michels. In Kaltenbrode gibt es außerhalb der Saison nicht gerade viele Möglichkeiten.«

»Du solltest samstagabends zu Hause bei deiner Ehefrau sein.«

»Das war ich anschließend auch.« Er schaute wieder Hilfe suchend zur Bühne. Von Grit immer noch keine Spur.

»Stimmt es, dass du was mit der kleinen Böttcher hast?«, fuhr sein Vater ihn viel zu laut an. Ein paar Konzertbesucher auf den Randplätzen blickten neugierig zu ihnen herüber. Applaus erklang.

Seine Mutter Meike, die wie bei jedem Konzert ihrer Tochter einen Stehplatz direkt neben der Bühne bezogen hatte, um hinterher besser Manöverkritik üben zu können, winkte ihnen hektisch, sich endlich hinzusetzen. Wolfgang verzog wütend das Gesicht, zwängte sich dann aber an den Beinen der anderen Konzertbesucher vorbei zu seinem Stuhl. Benno hatte sich wohlweislich ein paar Plätze entfernt einen Sitz reserviert.

Seine beiden anderen Schwestern saßen wie ein Schutzwall zwischen seinem zornigen Vater und ihm. Doch auch sie sahen so aus, als wären sie lieber einhundert Kilometer entfernt. Mindestens eine von ihnen würde heute Abend noch in Tränen ausbrechen. Das war immer so, wenn sein Vater anwesend war.

4. Kapitel

Für einen Montagabend war es im Gödeke Michels ungewöhnlich voll. Arne Freiwald rechnete nicht damit, dass Stella an diesem Abend hier arbeitete. Nicht nach dem, was ihr neulich Nacht passiert war. Und der Montag war sowieso nicht ihr Tag. Trotzdem ertappte er sich dabei, wie er hoffnungsvoll nach ihr Ausschau hielt.

»He, Doktor, darf ich mich zu dir setzen?« Oliver Behr, der Bürgermeister von Kaltenbrode, trat mit einem frisch gezapften Pils zu ihm.